Allein mit allen - Botho Strauß - E-Book

Allein mit allen E-Book

Botho Strauß

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Beschreibung

Botho Strauß ist einer der eigensinnigsten und deshalb prägendsten Schriftsteller der deutschen Literatur. Er hat sich dem Gängigen stets widersetzt und ist dabei der genaueste Beobachter unserer Gesellschaft geworden. Sebastian Kleinschmidt, langjähriger Leiter der Literaturzeitschrift "Sinn und Form", hat ein überraschendes Buch zusammengestellt, das den Geist des Autors, die Art seines Denkens und Fühlens, seine Weltgestimmtheit, ja die Logik seines Herzens umfassend repräsentiert: Freiheit und Geschichte, Mann und Frau, die Menge, das Haus und die Stille. Und besonders die Zuwendung zu Natur und Landschaft eröffnet einen ganz anderen Weg zu einem Werk, das einzig dasteht in der Gegenwart Deutschlands.

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Hanser E-Book

Botho Strauß

Allein mit allenGedankenbuch

Herausgegeben vonSebastian Kleinschmidt

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24792-5

Alle Rechte dieser Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2014

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München.

Motiv: J.G. Dillis, Cumuluswolken, © Städtische

Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München,

Dauerleihgabe des Historischen Vereins von Oberbayern

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Inhalt

Prolog

I Poetik der Reflexion: Formen, Figuren, Gesten

II Vom Geist: Verstehen, Gestimmtheit

III Von der Person: Gesicht, Stimme, Blick

IV Menge, Typus, Einzelner

V Menschenart, Bewußtsein, Verhalten

VI Vom Gespräch: Schweigen, Hören, Fragen, Sprechen

VII Kommunikation, Gegenkommunikation

VIII Technik, Medien, Künstlichkeit

IX Kunst, Religion, Philosophie

X Liebe, Sexus, Mann und Frau

XI Politik, Freiheit, Geschichte

XII Unruhe des Wissens

XIII Von der Erziehung

XIV Traum, Gedächtnis, Erinnerung

XV Autorschaft, Sprache

XVI Zeit und Zeiten

XVII Alter und Tod

Epilog

Sebastian Kleinschmidt:Gedankenabenteuer. Nachwort

Editorische Notiz

Nachweise

Prolog

Abend für Abend öffnet die Schrift ihre Zelle, und der Blick zieht über das weite Land. Von der Terrasse, der Reling vor den sanften Wogen des Kornfelds, blickt man nach Südost in die gestaffelte Perspektive, im Vordergrund die Rosenecke, darauf im nächsten Grund die Hainbuchen-Pergola, dann der Erlengürtel, der in der Senke den moorigen See umgibt, dahinter aufsteigend wieder ein Kornfeld, die Brüche darin mit Solitären und dunklen Büschen, etwas ferner die Wipfel-Linie des Forsts und endlich im letzten Grund die Hügel-Welle kurz vor der Oder und dem angrenzenden Polen.

So erstreckt sich, frei von Siedlung und Bauwerk, das harmonische Land, in das man sich selbst erstreckt, die weitläufige Umfassung, die dem Ausblickenden zur erweiterten Herberge wird.

Also stand ich im lichten Abend und winkte nach allen Seiten Menschen zu einem Menschenauflauf zusammen, damit man sich mit mir erfreue, erhebe und in die Perspektive übergehe. Natürlich war weit und breit niemand zu sehen und fand sich keine Seele zum Übereinstimmen.

IPoetik der Reflexion: Formen, Figuren, Gesten

Ich nehme an, daß die meisten Menschen ihr Leben nicht unter ein Thema stellen. Was ihnen zur Hauptsache wird, wechselt mit den Jahren, manchmal mit den Wochen. Sie sind, aufs Ganze gesehen, multithematisch.

Das ist die tiefere Verbindung, die dies lasterhafte Schreiben zu ihnen, zum Leben selbst unterhält, das ebenfalls nicht formlos ist, nur weil es weder geschlossene Geschichten noch ein Hauptthema kennt, sondern seine Formen und Figuren in bizarrer Streuung entwirft, wie Eisenspäne sich ordnen im Magnetfeld, und die Späne sind die Bilder und Bewandtnisse, Erinnerungen, Träume, Reflexionen, Idiosynkrasien und Sentimentalitäten!

O dies Alles auf einmal! Totum simul! O dies Drunterunddrüber! Es zu ordnen hieße eine lebendige Ordnung zerstören.

Einsichten sind nur dann eine Freude, wenn sie flüchtig sind, wenn bedeutungslos viele aufeinanderfolgen, eine Schnur von Reflexen im Fluß. Im Grunde unerklärlich, wie man so lange an immer denselben, an einigen besonderen festhalten konnte – als wäre der Verstand ein Verfestiger oder Fotograf und nicht selber das Wasser. Die Kaskade. Nie sollte es um Erkenntnis gehen, sondern stets nur um Schärfung des gedanklichen Gespürs, ja, man sollte den Verstand von seiner tierischen Wurzel: der Witterung ausstreben lassen. Das emsige Bezügeschaffen ist eine Nachahmung des Nestbaus und der ständigen Höhlenbesserung.

Gedanken sind Sternschnuppen, das Hirn nichts als ein Sternschnuppenfangkorb.

Die besten stürzen lautlos an unserer Lebenssphäre vorbei. Zufällig erblickt jemand am Himmel der Nacht, wie das lichte Gedachte vorbeischießt und erlischt.

Manche Werke und Bilder sind aber Brocken, die beständig unseren Planeten umkreisen.

Der Gedanke, der abschweift, abirrt, läßt den Sitz des Magneten, des geheimen Attraktors ahnen. Er bietet daher eine tiefere Orientierung als der, der stur die Linie hält.

Kommen und Gehen, Auf und Ab, Wiege und stetes Schwanken. Dieselben Dinge nähern sich, entfernen sich. Dieselben Dinge sind heute ein Geheimnis, morgen eine öde physische Gegebenheit. Das Erkennen schaukelt wie ein leerer Kahn auf den Uferwellen. Du kannst dich nicht dagegen wehren, dreimal in der Minute vom Nichts berührt und vom Leben zurückgerissen zu werden.

Mit der Schrift ziehen, wohin sie will, in ein fremdes, unbeschriebenes Land. Sie ist der Schatten, der uns vorausfällt.

Ich fülle nur die kleinen Lücken, die meine Lieblingsautoren in ihren Büchern ließen.

Was ich schreibe, hätten auch sie noch schreiben können. Dann und wann haben sie einen verspäteten, posthumen Einfall – dafür gibt es mich.

Jeder nennt es anders, Sudelhefte, Cahiers, Aufzeichnungen, Gedankenbuch. Bei mir ist es Die Streu, auf der ich schlafe, die ich schlafe.

Die einen sind intelligent und reden eine Welt herbei, die sich bereden läßt. Die anderen sind Künstler, machthungrig, potent, blindlings schaffend, radikal, als gäbe es nicht das Nichts. Daneben werden sich einige wenige zu den Schriftfortsetzern zählen, den emsigen Mönchen, die Geschriebenes mit intelligenten Fehlern kopieren, woraus sich möglicherweise, irgendwann, wie bei den Kopierfehlern in der Evolution, eine neue Gattung des Bemerkens entwickelt. So wie das wachsame Lesen bereits die Spezies »Randläufer« hervorbrachte, jenes schillernde Autor-Insekt, das links und rechts der Buchseiten auf dem Weißen krabbelt und dort, was es von den Texten verzehrt und verdaut hat, prompt in schriftlichen Absonderungen hinterläßt. Sein Organismus ist vor allem kommentatorischer Art, und er kann sich nur auf diesen schmalen Rändern der Welt erhalten.

Wenn ich den Erfolg meiner Autor-Tätigkeit dem eines Handzettelverteilers in der Antarktis verglich, so war mir wohl nicht gegenwärtig, daß auch dort bereits Massenexpeditionen unterwegs sind.

Dennoch bietet so ein kleines Buch, richtig abgefaßt, heute vielleicht die letzte Chance, mit dem ein oder anderen Menschen in Verbindung zu treten, ohne mit ihm kommunizieren zu müssen.

Ein Fragment des Epikur, das Seneca in seinen 7. Brief an Lucilius einfügt, mag hierfür als Motto dienen: Haec ego non multis, sed tibi: satis enim magnum alter alteri theatrum sumus.

Das ist nicht für die vielen, sondern nur für dich. Wir sind einer dem anderen großes Theater genug.

Nachdenklich also – dem anderen nach, der vor mir dachte. Man sucht den Anschluß an die »Rede des Vorgängers«, Hypolepsis, Wiederaufnahme des roten Fadens, Anknüpfung. Man zeigt immer weniger Neigung, dazwischenzureden, sich in laufende Sprache einzuschalten.

Als Autor von Sätzen bleibt mir keine Wahl – ich muß hypoleptisch, d. i. anknüpfend sein. Episch wäre ich ein Experimentierer gewesen. Anknüpfen aber war mein Handwerk.

Seit er überhaupt denken kann, ist er bemüht, sein Denken zu verlangsamen, ihm gewisse Manieren beizubringen, es zu Ruhe und Ordnung anzuhalten. Ohne Erfolg. Es ist von Grund auf liederlich; nicht unbegabt, doch zu nichts nütze. Es ist flüchtig und launenhaft wie die Pubertät eines verwöhnten Sprößlings aus begütertem Haus. Es sträubt sich beharrlich, irgend etwas geduldig zu prüfen und zu wenden, wirklich zu begreifen und zu behalten; es möchte in einem unentwegten Zustand der Erregung bleiben, in dem ein paar hingesprengte Gedanken einen gloriosen Erkenntnisreichtum vorgaukeln.

Auch daß er seine Gedanken kaum je zu Ende denkt, sondern auf einen geheimen Ergänzer vertraut, dem sich mühelos fügt, was er für ihn, wie Futter, lose ausstreut.

Er bemerkte stets Blässe und ›körnige Rückstände‹ bei Leuten, die sich derart entschieden gaben. Er selbst konnte es nicht mehr. Es versagte ihm die Position in den Knien. Vielleicht waren es Anzeichen einer tieferen Schwächung, und vielleicht war diese gemeint, wenn er angab, unter ›zunehmender Synchronizität‹ zu leiden. Weitgehende Auflösung von Gegensätzen, auch des sogenannten persönlichen Geschmacks. Das Ziel mochte sein: Verschwommenheit neu zu gewinnen, ähnlich der, die das Kind erlebt, bevor ihm Zeit, Ding, Gesicht geschieden sind. Oder wie üppige, ziellose Vermehrung von Empathie, von Identifikationsquellen überschwemmt … Wer wäre er, wenn nur Entsprechung, keinmal Gegensatz?

Er war jedenfalls bereit, der ›Schwächung‹ nichts entgegenzusetzen – außer seinem empfindlichsten Bemerken. Wie Forßmann, der Arzt, einst seinen Katheter, so wollte er nun ebenfalls im Selbstversuch die Sonde des Gedankens einführen ins Herz der Unvernunft.

Sosehr man sich auch übertreffen möchte, Zeit und Markt, oder pathetischer gesagt: das Schicksal seiner Gegenwart scheinen es einem Schriftsteller zu verwehren, zur reinen Gegenstandslosigkeit, zur freien themenlosen Szenerie, zur entgrenzten Impression, wie sie ihm als letzte und höchste künstlerische Ungezwungenheit vielleicht vorschwebt, also zum Verschwimmen sämtlicher Konturen zu gelangen.

Ein für seine fortgeschrittenen Jahre seltsam unempfängliches Bewußtsein hatte zuletzt eine Unruhe gestiftet, hatte ein Entgegenfiebern immer feiner und nervöser werden lassen, ohne daß er im geringsten hätte angeben können: wem denn entgegen? Das Schreiben selbst, das immer vorwärtsstrebt, zog ihn mit sich. In diesem Sog hatten sich Fühlen und Sehen in ihren feinsten Elementen so geordnet, daß sie unwiderstehlich zu einem namenlosen Ziel strebten, zu einem aus reiner Anziehungsenergie bestehenden Ziel.

Man muß in dem Bewußtsein leben, daß man den Reichtum und die Verbreitung von hochrangiger Literatur auf der ganzen Welt als Zeitgenosse niemals einschätzen kann. Der Zugriff auf diesen gewaltigen Speicher bleibt randomisiert, die Entdeckungen werden vom Zufall gesteuert. Kein Ranking und kein Dogma ordnet die Menge. Es lohnt auch nicht, gegen die sogenannte Unübersichtlichkeit vorzugehen, es handelt sich in Wahrheit um Fülle und Strom. Sich zurechtzufinden ist hier ein falsches Verlangen. Eintauchen und sich davontragen lassen, darin aufgehen und sich erfüllen, das wäre eher die angemessene Erfahrung.

Zuweilen empfindet man sich gut sortiert und in beschwingter Ordnung. Alles fachlich bestens unterteilt, leicht verfügbar, jede Sparte präzis von der anderen getrennt, dort steckt Vergil, hier die Nanotechnik. Und in diesem Wohlstand des Sortiertseins kippt plötzlich ein Wozu? uns um, und alle Fächer kippen mit uns um – die ganze schöne Wissensharmonie endet mit einem Schlag in verworrenem Schutt.

Das Netz trägt in sich das größte Durcheinander, in das die Welt versetzt werden könnte. Ein Durcheinander, in dem nichts mehr zu unterscheiden ist, weder wahr von falsch, noch Faktum von Fiktion, noch heute von gestern und morgen. Als wäre auf trivialste Weise das Werk von Borges ausgebeutet worden von Millionen Zernagern des Alphabets, die hier und da noch Twitter, Blogger etc. heißen. Immer ist es das Eine und Ganze, das falsche Alles, das in jeder Sekunde die Gefahr birgt, die Welt in heillose Verwirrung zu stürzen.

Jedes Wissen und Gesetz muß nach Vico einmal ernste Poesie gewesen sein. Und ›zersetzt‹ sich wieder zu solcher, möchte man hinzufügen. Um diese Zersetzung zu beschleunigen, gibt es uns Würmer und Mikroben, die Fortschreiber, deren ›fehlerhafte‹ Überlieferung das unpoetische Wissen ihrer Zeit verdirbt, zu Faulstoff wandelt und wieder zur Krume einer poesia seriosa.

Ich dachte: es wächst und wächst, es strebt noch inniger ineinander. Ich ahnte nicht, daß alles, was ich dachte, immerzu wuchs und zusammenwuchs und mit der Zeit ein undurchdringliches Dornengestrüpp bildete, in dem ich wie der greise Merlin einsaß und nie wieder herauskommen konnte.

*

Gang am Nachmittag über die starren Felder, auf dem verharschten Schnee. Dort Büschel von Raps, hier der angefrorene Weizen. Die Vögel turnen und eilen zwischen den Ästen und Zäunen, als entzöge sich morgen die Welt und Eiswülste verschlössen ihnen jede Rinde. Am Rande des Sees stand ich in doppelter Sonne. Vom Eis strahlte sie schlierig weiß, oben schmolz sie hinter den knöchernen Bäumen. Als sie nun sank, überschwemmte die Hügelkuppe, auf denen fünf Rehe ihren Schattenriß zeigten, ein blaugraues Rosenlicht.

Windstille und Sturm, ihr Wechsel verändert den Raum einschneidender als Tag und Nacht. Den brüllenden Böen ausgesetzt, hier auf dem Hügel, wird man fast taub. Aber wenn kein Lüftchen sich regt, auch wiederum sehr hellhörig.

IIVom Geist: Verstehen, Gestimmtheit

Der Geist spielt viele Rollen des Verstehens. Wo immer man ihm eine Bühne freiräumt von überflüssigem Dekor, von Systemen und Ideologemen, wird er sich als der große wandelbare Mime erweisen, den sein zeitbedingter Ort nicht fesselt. Er kann der unverständige Hiob und der moderne Psychoanalytiker von einer auf die andere Minute sein. In der einen hintergeht er die Mode der Aufklärung, in der anderen versetzt er sich forschend in die Technik seiner eigenen Erkenntnisapparatur. Der Geist ist niemandes Zeitgenosse – und Historiker in jedem einzelnen Zugriff, jedem Nu des Begreifens. Auch Tag und Nacht wälzt er um nach eigenem Gesetz.

Es tut gut, den ersten Satz des Tages bei Dávila zu finden: »Um ein Buch auf angemessene Weise zu lesen, muß man zu seiner Familie gehören.« Nun ist man eingestimmt. Man muß sich nicht wehren, man darf sich noch einen Augenblick Geborgenheit gönnen. Für die »Familie« hat heute schon einer die Abwehr geleistet … Wie liest man eine Sammlung kleiner weiter Sätze? Klappt man nach jedem ›Treffer‹ das Buch zu und denkt über den Satz nach? Nein, man liest ein paar Seiten, prüft, was einem das Merkwürdigste war, nimmt die Stelle wieder auf. Man arbeitet an der Aneignung. Konsumieren ist unmöglich. Nichts für Leseratten. Nichts für Besserwisser. Etwas anderes als Zustimmung läßt der Stil nicht zu. Seine Ausdruckskraft macht den Leser notwendig zum Ja-Sager. Erst allmählich, durch die Litanei des Ja-Sagens erhebt sich die Zustimmung zur Einsicht. Die bezeugte Gefolgschaft wandelt sich in Souveränität, insofern die Freude über die gewonnene Einsicht als Tonikum dem gesamten Geist zugute kommt.

Das höchste Bewußtsein wird zuletzt mit allem einverstanden sein, einfach mit allem.

Jede Einsicht propagiert, die Dinge so und nicht anders zu sehen, anstatt mit lockendem Ton in das ewig Sichablösende aller Einsichten einzustimmen. Aber der Geist, zumal der geistreiche, genießt eben nichts lieber als diese Anfälle von Orientierungswahn.

Gewitztes, Funken, die aus längst niedergebranntem Feuer stieben, werden immer willkommen geheißen. Tastende Gedanken erregen gewöhnlich wenig Neugier. Dabei wäre ein Tasten auch für die hellsten Köpfe die redlichste Voraussetzung, um sich fortzubewegen im ungeläuteten Dunkel.

Nur das Unwillkürliche seiner Gestimmtheiten hat mich am Geist interessiert, die blitzenden Abstürze, die heiteren Aufschwünge in molkiggrüne Gipfelnebel. Es gibt kein Wissen als nur das gestimmte. Stimmungsvolle, stimmungsschwache Auffassungstoren, die wir alle sind, da und dort einen goldenen Zierat erwischend, fast immer ihn verfehlend, und dennoch so tun, als ob … wir wüßten.

Der Nüchterne denkt anders als der Selige, der Vermissende anders als der Begehrende. Nicht einmal in formaler Logik findet unser Denken einen stimmungsfreien Bereich. Jede Harmonie versetzt es in Erregung.

Wenn ich nur wüßte, wie man den Einklang fängt, der frei herumschwirrt, der mich sucht wie ich ihn …

Das Leeresausen, der Taumel, der Koller, der Panikschub, der Sturz ins Bodenlose … Menschen, die ihre zentrale Gestimmtheit verloren – wie Instrumente, die keine Stimmung mehr annehmen. Sie tragen das Aevum des Erloschenseins im Gesicht. In der Vergangenheit gab es einige wirksame Gemütsmoden, Gestimmtheiten der Moderne. Warten. Angst. Ekel. Wahn.

Der Lamien-Geist der Jetzigen ernährt sich von den Exkrementen des Daseins, den Tatsachen (samt ihren virtuellen Doubletten). Seit zweihundert Jahren hören wir vom zunehmenden Tempo, der wachsenden Beschleunigung in der jeweils »modernen Zeit«. Nur dies Denken selbst, ein Pfuhl fruchtloser Deutungen, steht und bleibt. Tempi nehmen vor allem auf horizontalen Oberflächen zu. Die transzendente – die anagogische Bewegung ist zu allen Zeiten gleich schwer und langsam.

Ein Pessimist, der nicht trunken, ein Hoffnungsprediger, der nicht bitter ist, verdient unsere Verachtung, schreibt Cioran. Seit längerem ist er der einzige, bei dem ich in Herzensfragen des Geistes Rat suche. Stil und Inbrunst sind hier eins wie bei keinem. Gedanken wie Engelsstürze. Und gerade sie erfüllt ein hinaufführender (anagogischer) Sinn. Die Sprache der vollkommenen Desillusion bleibt doch als Sprache die schönste Illusion und erhebt sich zu einer dichtungsskeptischen Dichtung.

Die kompromißlose Inanspruchnahme durch einen Autor, so wie kein Mensch im persönlichen Umgang sie mir abverlangt, ist für mich der ausschlaggebende Lesegrund. Gebt mir einen Stilisten – und ich verstehe die Welt!

Das Genaue ist das Falsche. Das Genaue ist haloabschneidend. Es läßt den Hof, den Nimbus nicht zu. Unsere Lebenssphäre ist das Vage und das Ungefähre.

Nebel befeuchtete den Lehm, aus dem Gott den Menschen formte. Er blieb eine Beimischung seines Geistes.

Es wird vielleicht nie gelingen, die vorsprachlichen Prozesse, die uns zum Sprechen bringen, manchmal zum Sprechen tragen, in präzise Formeln zu fassen, wir bleiben immer undeutlich und instabil im Vorhof der Sprache. Die Worte weichen von ihrem Vor-Satz ab und fliehen in assoziative Verläufe. Diese produktive Unpräzision, die Halo-Form des Zu-Sagenden sowie (beim Sprechen) die Wolke des Mitzuverstehenden bilden wiederum die Voraussetzung für den Fortschritt, es noch einmal anders und wiederum anders zu sagen als gehabt. Deshalb gibt es dichte Sprache nur als ein genuines Abschweifen.

Der Geist besteht aus Entgleiten. Wo er an etwas festhält, verstößt er gegen seine Natur, das ewige glissando der Erkenntnisse. Seine einzige und ursprüngliche Leidenschaft ist es, vom Hundertsten ins Tausendste zu gelangen.

Selbst wenn ich Zutreffendes dächte, wäre Zutreffendes an sich kein lohnendes Ziel.

Es wäre die Übung wert, seine Gedanken so lange abzurichten, bis sie in völlig isolierter Manege und in nicht mehr ableitbaren Zeremoniellen sich bewegen. Alle Zusammenhänge haben enttäuscht.

Alles Denken ist ein Begradigungsdelirium.

Haben Sie sich nie Gedanken gemacht, weshalb …?

Nein, es ist uns entgangen. Unbefragtes, das aus gesunder Nachlässigkeit intakt blieb. Reservate des Undurchdachten braucht ein lebendiges Leben. Es kann uns teuer zu stehen kommen, wenn wir von einem hergelaufenen Aufklärer daraus vertrieben werden und gezwungen, uns zu schämen.

Das Gute aber ist: das Undurchdachte erneuert sich regelmäßig im Fortschritt des Wissens.

Es ist das Wiedergesehene überhaupt erst gesehen. Keine Bewegung, weder des Herzens noch des Geistes, ist mächtiger als die von Verschwinden und Wiederkehr. Nicht umsonst gilt der Wiederkehr unsere höchste sakrale Erwartung.

A l l e s – Rauschwort des Thales wie des Imbezilen. Der Weise und der Idiot lieben gleichermaßen die totalitäre Emphase in den beiden Wörtchen: alles, nichts. Durch den abgerissenen Ton hören sie in die Kugel hinein.

Nichts ist episch, alles ist lyrisch.

Man möge so viele Lichter, Intelligenzen prüfen, wie es gefällt: das poetische bleibt das beste. Es entspinnt sich nun bald außerhalb der Gedichte und Prosawerke. Lyrik wird dann etwas so Übergeordnetes sein, daß wir uns lediglich in ihrer Erwartung befinden können. Sie wird einmal aus jeglicher Erkenntnis erwartet. Von einem Gedicht kann man ebensowohl wie vom Geist sagen: es gäbe in ihm zur Erwartung keine Gegenregung mehr. Wenn diese an die Stelle der Hoffnung tritt – und sie ist ja weder düster noch hell, sondern von Grund auf horchend mit allen Sinnen und Geweben –, dann kann in den Aufenthalt des Menschen das Unbewegte zurückkehren, das gänzlich nach außen- und aufgerichtet ist, bereit wie ein Parabolspiegel, die schwächsten Wellen des Raums zu empfangen.

Dabei gehört dieses Komplexe, das uns jeden Begriff von Anlaß und Ursache, von Anfang und festem Verlauf zu rauben scheint, genauso dem poetischen Sinn wie das offenbar Schöne, das vor den Augen still steht, der ganz und gar geäußerte, (wieder) einfältig gewordene, wunderliche Gegenstand – die Rose unter den Dingen. Denn der (fromme) ictus, der Einschlag, und das lange Weben sind zwei Formen der Weltverarbeitung, die einander nicht behindern dürfen, eher möchten sie wechseln wie Werk- und Feiertag des Verstehens.

»Blind sind der Menschen Gedanken, wenn einer ohne die Musen mit Verstandeskünsten allein den Weg sucht.« (Pindar)

Flüchtig die tieferen Dinge berühren, mit fluchtbereiten Gedanken oder manchmal wie ein Blinder, der mit den Händen nur eben nach bekannten Stellen tastet, um den weiteren Weg zu finden. Nur leicht gestreift, nur beiläufig erwähnt. Nur eben so. Nur gerade so eben. Umgang mit Ideen etwa so, wie wenn dich Blicke wacher Frauen streifen.

Der Geist, der nicht aufweht leicht wie Staub, hat vergessen, woher er kommt, wohin er will.

Ja, er ist undiszipliniert und ungeschult – er hält an sich fest.

Das Verneinen ist stets ein Verstehen; das Ja aber, gesetzlos und wild, weiß gar nichts.

Ja heißt: nicht verstanden zu haben. Nicht verstanden: was dir zustieß und was dir eingeträufelt wurde; nicht verstanden, aus welchen Mixturen dein ureigner Eindruck, zu leben, hergestellt wurde, das einfache Ja, das du bist. Irgendwann wird dir in diesen Eindruck gemischt Endlichkeit. Das Herz allen Nichtverstehens, dein unbegreifliches Ende. Im Nichtverstehen liegt der wache Sinn für den Tod, der so oft verdämmert, schwindet, verlorengeht, um am Ende so stark zu sein wie ein Verstehen.

Ich wundere mich. Ich wundere mich einfach. Dieses Sichwundern, das weder Bejahung noch Verneinung kennt, wird immer umfassender. Es untermischt sich dem Denken, dem Handeln, dem Lieben. Es ist eine Gestimmtheit, die offenbar mehr erfährt, als ich denkend, handelnd oder liebend zu erfahren imstande bin. Vielleicht ist es die unabänderliche Verfassung eines Menschen, der zu einem gewissen Zeitpunkt ungelegen ins Haus trat, da alle anderen dort die Bedingungen des Wohnens bereits unter sich ausgehandelt hatten.

Es gibt ein sicheres Mittel, seinen eigenen Geisteszustand zu prüfen: wenn einem die gleiche Meinung, gegenüber verschiedenen Menschen geäußert, nicht schal im Munde wird, unglaubwürdig, signalhaft-stereotyp, rundweg unfruchtbar und falsch, so ist man der Fühllosigkeit als einer Provinz der Dummheit ein gutes Stück nähergekommen. Das heißt nicht, daß man in seinen Äußerungen zum Assimilationsgespenst werde, aber die Tatsache »des anderen«, seine Gegenwart verlangt, daß eine Meinung für ihn differenziert, neu bestimmt und, weil dies einer Prüfung gleichkommt, dann oft genug gar nicht erst geäußert wird. Im Gegenüber allein findet die wesentliche Verständigung statt, die Sache selbst tut nichts zur Sache.

Es wird ja um einen kleinen faktischen Informationskern eine ausgedehnte Hülle von »Erkenne mich nicht!«-Mitteilungen geschlungen: um sich zu bergen, verständigt man sich.

Die Verweigerung von Verständigung kann sich eben auch darin vollziehen, daß man jemanden mit Verständlichkeiten überhäuft.

Er erschrak inzwischen vor den meisten Gedanken allein ihrer Plausibilität wegen. Wäre so manches nicht bis zum Ersticken komplett und zugespitzt dahingeschrieben, er hätte gewiß beim Lesen leichter atmen können, hätte hin und wieder »es öffnet sich« sagen dürfen statt immerzu gezwungenermaßen »es stimmt«. Daß man bereit war, für eine gewisse Aufwallung von Klarheit, ja für eine einzige blutige Folgerichtigkeit ein ganzes Bündel, ein lebendiges Gemenge von mitaufsteigenden Gedanken zu unterdrücken, hinzuopfern, das schien ihm nur zu beweisen, daß uns keineswegs der gesunde, sondern vielmehr nur der begradigte Menschenverstand regiert. Erkenntnisse aber waren das Lose selbst, entstiegen dem Rhythmus der Gedankenflucht, einem subideellen Geistesleben, in dem weder die eine noch die andere Auffassung sich halten oder fixieren ließ.

Kaum ein Satz, eine Wendung in der Sprache wohldurchdachter Mitteilungen, etwa in Zeitungs- oder Zeitschriftenaufsätzen, die ihm nicht auf Anhieb das Abgegriffene einer ganzen Denkart offenbarten; kaum etwas, das er nicht auf schmerzliche Weise als unterpoetisch oder myzellos ausgedrückt empfand und als lineare Untat verabscheute. Nie war ihm dies unausgesprochen mittönende »bekanntlich« fast aus jedem Sagen, seine Öde und Gehabtheit anzeigend, so auffällig entgegengetreten als gerade zu einem Zeitpunkt, da die Erschütterungen jahrzehntealter Gewißheiten und ein bewegtes Weltgeschehen eigentlich verlangt hätten, daß man seine Gedanken in jeder Richtung neu erprobte.

Überzeugungen, Gesinnungen, ideelle Bekenntnisse, Programme und Weltbilder, all die provisorischen Abgeschlossenheiten, die aus dem Ungleichgewicht des Geistes resultieren – im wesentlichen figuriert der Geist als der Komödiant des Geistes. In der Nähe, unter Aufsicht des Unbefragbaren bleibt ihm nichts, als beständig die Rollen zu wechseln.

Wir sind die Frommen des Verstehens, die Empathetiker. Uns lösen sich große, alte, ärgste Unverträglichkeiten in einer weiten Schale mit feinsten, modernsten Differenziermitteln auf. In der Ungerichtetheit der Schale vermehren sich unsere Affinitäten. Wie sollte jetzt noch jemand Heine gegen Platen halten? Nur noch der ganz Eigenmächtige oder der ganz Bornierte zieht sich hier mit Wertung aus der Affäre. Und dergleichen Entschiedenheit wirkt ja oft recht ledern und albern in einer historischen Situation, in der man sich den Zumutungen einer neuartigen, strapaziösen Toleranz erst einmal aussetzen sollte.

Alles Kluge ist gedacht, es muß nur noch verbreitet werden. Die Verbreitung entkräftet es aber. Außerdem bleibt nichts klug, was nicht durch einzelne hindurch schöpferisch erneuert wird. Kolportierte Klugheit gibt es nicht.

Für mich können Menschen ohne den gedankenlosen Untergrund einer großen Empfindungskraft niemals klug sein.

Wahrscheinlich ist John Miltons Gesang immer noch die wohltuendste Weise, die Welt zu verstehen. Ohne Teufel und Engel verheddert sich der Menschengeist in unerschöpflichen Komplexitäten. Er muß nicht hinter die Metaphern schauen. Dort ist nur technisches Gewinde. Es besteht kein Grund zu zweifeln, daß die inszenierte Welt des blinden Dichters das Ganze faßt und dahinter nur ein Wissen-Wie beginnt, dem dieses Ganze auseinanderfällt.

Man bedenke den kolossalen Aufwand an Geisteszauber und wie gering am Ende sein Einfluß auf die Taten der Menschen war.

*

Der warme Atem der Weide am Abend. Die heitere Dünung am Himmel, das rotgoldene Wolkenvlies, am Boden schon die Nachtskulpturen der Bäume und Sträucher. Ein Turmfalke jagt eine Handvoll Spatzen, die im Gebüsch verschwinden. Er hockt zur Erde, seine Fänge, als hielten sie Beute, greifen und krallen, das ganze Programm des Schlagens läuft leer in den Muskeln ab.

Langer Gang unter grauem Gewölk, schwere Daunendecke, querfeldein, am Schwanensee, ein Bruch mit sechzehn stolzen Exemplaren. Am Ufer etwas wendig Schwarzes, vielleicht der Otter, auf dem Durchzug zum Odertal? Auf der anderen Seite des Feldwegs im Bruch nistet die Seeschwalben-Kolonie. Schwarzweiß, wild flatternd, sehr klagende Rufe. Finger zu kalt und klamm, um darauf zu pfeifen.

IIIVon der Person: Gesicht, Stimme, Blick

Jeden Menschen verschließt ein eigenes Siegel, das nirgends herstammt, das keine Familie, keine Ahnen, keine Zugehörigkeit aufruft. Versiegelt und verschlüsselt das Partikulare und Individuelle. Jeder sein eigenes Wappentier, hinter dem ein hoher und feiner Verschnitt von allgemeinen Eigenschaften, von typischen Begegnungen, Bewußtseinsübereinkünften, Handlungsmustern zusammengefaßt wird. Aber wie sieht es aus, das unzählig je eigene Wappen? Das Symbol, der äußere Verschluß des Einzigen, Verschluß seiner inneren Vielfalt? Es ist ja sein Gesicht! Das Gesicht ist das Wappen, das jedermanns »Familie«, seine Bestimmung, sein Schicksal nach außen bekannt macht.

Es gibt keine Wissenschaft vom menschlichen Gesicht. Auf diesem Feld der untrüglichen Anzeichen stellt sich jeder Messung im Detail das halluzinierte Ganze eines lebendigen Wesens in den Weg.

Immer wieder spiegeln Menschengesichter etwas, das unmöglich allein aus ihrem Inneren stammen kann, aus ihrem oft zeitgemäß beschränkten Gemüt. Das Gesicht spricht bis zuletzt, wenn sonst am ganzen Menschen keine Gebärde und Sprache mehr. Es ist auch dann noch zum Widerschein von etwas sehr Fernem fähig. Von etwas sehr Fernem und Unpersönlichem. Alles Geheime steht im Gesicht.

Das Gesicht, im Laufe der Evolution von der Erde abgehoben, ist nicht nur das aktivste soziale Organ des Menschen, es ist auch der einzige Körperteil, der, von Maske und Schleier einmal abgesehen, so gut wie immer unbekleidet bleibt, es ist die Blöße selbst, die höchste Instanz und das eigentliche Gebilde der ›ungeschützten Vorderseite‹ des aufrecht gehenden Menschen. Daher glauben wir im Gesicht den ganzen Menschen unverhüllt vorzufinden und erleben doch dieses Ganze in seinem sinnlichsten Anschein, ohne es klar fassen und deuten zu können, sowenig wie wir die wahre Bedeutung eines Traums ohne Kenntnis seiner symbolischen Strukturen ermitteln können. Das Gesicht, insofern es Durchschein der Seele ist, bedeckt daher oft ein rätselhafter Schleier von Gesichten.

Das Gesicht muß wie der Traum gelesen werden; das Gesicht ist die Traumsprache jeder Begegnung. Eine weitreichende Handlung, wenn ein Mensch blickt, ein weitreichender Widerhall, wenn ein anderer lächelt. Ein weitreichendes Strahlenfeld aber auch: die unendlichen Schattierungen des Fremdseins in einem dich anblickenden Auge. Jene tiefgegründete Vorsicht und jenes elementare Mißtrauen, die das Auge, unsere höchste Blöße, immer bewahrt, wo der Mund, die Finger, der ganze Körper schon längst über die gröbste Befangenheit hinwegkamen.

Kein Zweifel, das Strahlen des Grußes, die Aufrichtigkeit des ersten Lächelns und des ersten Schritts aufeinander zu, die wehrlose Aufmerksamkeit füreinander besitzen eine Unschuld, die man nie wieder, die das Herz nie wieder vergißt. Welche Verdüsterung, welche Grimassen und Exaltationen auch später dieses Gesicht entstellen werden: falls die Begrüßung der wirkliche Anfang eines Zusammengehens war, dann werden sie über das erste Antlitz dahinhuschen wie Nachtmahre oder ein elbisches Schattenspiel. Und auch, wenn es, mit Schlamm beworfen, sich gräßlich verzerrt und vor Schmerz versteinert, wird es wiederauftauchen, wenn der Schmutz langsam abrinnt. Oder die Kälte und das maßlose Entsetzen, die seine Züge verfremden, auch sie werden ihm nichts anhaben, all der zeitliche Trug, wenn das erste Grüßen jene Unschuld besaß und ein Erstes und Ganzes war. Wenn dabei der gesamte Mensch voranschritt, mit all seinem Gedächtnis und Erwarten, paktschließend, ohne zu wissen, in welcher Sache … und sein Gesicht ein einziges Ablichten ist, mit dem er in Sekundenbruchteilen den anderen erfaßt und empfängt. Wie wenig davon gelangt bis in unsere Gedanken! Wie unbeholfen setzen wir später die Bruchstücke eines ursprünglichen Eindrucks zusammen, wenn wir uns, sei es aus Sympathie, sei es aus Ablehnung, nachträglich von jemandem ein Bild machen wollen, von ihm, den wir nur im Ganzen kennen und daher in den Einzelheiten, die wir von ihm erzählen, immer verfehlen werden.

Das verschworene Von-Angesicht-zu-Angesicht, das zwischen Diu, dem Neugeborenen, und mir begann am Nachmittag seiner Geburt, löst sich ganz allmählich, doch unaufhaltsam. Die Augen entfernen sich zuerst. Nichts ist differenzierter als ihr unermeßlich langsamer Lichtschwund. Er nimmt mit der Sprache seinen Anfang. Nur die ganz Wenigen, Dichter, finden den Ausgleich: ihnen gibt die Sprache mehr Licht ins Auge, als sie in der Kindheit besaßen. Scheu und Schönheit ihres Auges nehmen zu.

Aus tausend Überblendungen von Gesichtern taucht auf das eine geliebte Gesicht. In tausend zerstreuten Goldkrumen verbirgt sich der Lauf des einen geschlossenen Rings. Durch den Zickzack, die Wirren hastiger Episoden geht der Atem einer langen Epopöe. Aus Myriaden von Galaxien sieht uns ein Kinderkopf mit weltenleeren Augen an. Tausend Lebchen wimmeln gleichzeitig in einer Biographie und vermehren sich wie Bakterien in einer Pfütze. Jeder ist tausend anderer Durchhaus. Wo einmal fester Ort, steife Zeit waren, sind jetzt nur Sprünge und Funken. Wo einmal zwei getrennte Kammern für Gut und Böse waren, sind jetzt membranhäutige Übergänge, durch die Dämonen wechseln, sich vermischen und vertauschen …

Denn Augen sind in allem, in Händen, Haar und Hüfte, die Augen von Knie und Brust, von Hals und Schuh, sie alle werfen ihre Leuchtturmsblicke …

Der einzige dunkle Punkt der ganzen Menschensexualität ist und bleibt das offene Gesicht. Die tiefere Erscheinung, die Gesichte des Gesichts haben mir noch immer eine gehorsame Huldigung abverlangt, sie haben meine Begierde unterbrochen und bis zur reinen Unlust abgewiegelt. Das Gesicht – wo es denn ein aufgetanes, schauendes ist – beugt den blinden Drang, es bleibt ein letzter, uneinnehmbarer Bezirk der Keuschheit, des dunklen Erkennens, der gläubigen Furcht. Und dabei ist es doch verwirrend genug, daß wir draußen, im zivilisierten Bereich der Straße gerade mit dem natürlichsten Reiz, dem überbetonten Rücken angelockt werden, um dann erst später, drinnen, hinter den Vorhängen die Kehrseite der Verlockung zu erblicken, die Warnung: das Gesicht. Dürfen wir überhaupt von wahrer Vereinigung sprechen, solange sich unsere Vergnügungen vor der Schwelle der Keuschheit abspielen, solange das Antlitz als Wärter des Rückens, die Huldigung als Zensur der Lust empfunden wird?

Denn wie oft liebte ich nicht ein helles und wachsames Gesicht, ein sprechendes, und es erweckte all mein aufrichtiges Verlangen – und ließ es nach kurzer Zeit ganz geknickt zurück. Denn jene Augen des Leibs blickten daneben reizlos und blind. Oder umgekehrt war ich einem schönen Körper, einer hohen Gestalt verfallen und sah dazu in ein fleischliches Gesicht, das ich nicht einmal küssen wollte, so unsauber, so trüb und unflätig erschien es mir. Zwischen diesen gegensätzlichen Wirkungen irrt meine Lust hin und her und wird mir wohl immer den erlösenden Ausgleich vorenthalten. Und mich immer daran hindern, auf Dauer nur einem anderen Menschen anzugehören. Denn selbst bei all meiner Andacht vor dem menschlichen Gesicht – wie viele ihrer, die mir einmal nahekamen, habe ich nicht längst vergessen! Wie schnell vergessen! Es kommen immer wieder neue. Und viele gewinnen ihre eigentliche Leuchtkraft nur im Vorüberziehen. Wenn sie in der Menge erscheinen und wieder verschwinden, haben sie oft ihre froheste Botschaft schon vergeben. Es kommen immer wieder neue. Nie werde ich, wie der wahrhaft Liebende, durch die Vielen hindurch die Eine suchen. Mich erinnert jede Eine immer nur an die Vielen.

Das Aug in Aug ist die unveränderliche Blöße und das Licht der Unerreichbarkeit zwischen zwei Menschen. Diejenigen, die imstande sind, sich von Angesicht zu Angesicht zu lieben, werden vielleicht nichts vom anderen sehen und nur an ihn glauben. An das ganz Leibhaftige des anderen. Aug in Aug fällt das erste und das letzte Wort, verlieben und hassen sie sich. Augen in solcher Stellung zueinander verlieren ihre Beobachtungsschärfe, ihren Spähneid, sie lesen, sie forschen, sie messen oder beurteilen nichts mehr. Sie sind die übergeordnete Blöße von Mann und Frau, gleich ob sie nun Kleider tragen oder sich im Bett umarmen. Die Augen werden sich nie berühren. Sicher, es wechselt die Stärke des Scheins, es wechselt die Temperatur des Anblicks – und wie oft tragen wir nur ein schwaches flackerndes Lichtlein über einem volltönenden Mund … Aber dann sind auch die Augen bloß Kleider.

Man fragt sich, weshalb die Katze einem in die Augen schaut. Sie kann darin nicht lesen. Aber wohl ist es etwas Tieferes, Früheres als der menschliche, der humane Schimmer, den wir lesen können, und dieser Schimmer ist für das Tier durchsichtig hin auf das ferne Feuer, das ihn wirft.

Je länger zwei miteinander sind, um so häufiger werden die verstohlenen Blicke, mit denen einer den anderen wie einen Unbekannten betrachtet. Das Unbekannte an ihm geht aber gerade aus der Gewöhnung und der Dauer der Zeit hervor, seinem unbegreiflichen Bleiben.

Ein Teil der Seele hat sich die Landschaft gewählt, ein anderer das menschliche Gesicht, um sich selbst zu erfahren. Sie hat sich die Schönheit, derer sie bedarf, selbst ermischt, Vertrauens-, Wärme-, Erregungswerten gehorchend, die, will sie leben, ständig stimuliert und bestätigt werden müssen. Das Verlangen entwirft die Gegenstände, die es befriedigen. Die Seele ernährt sich von Spiegelungen.

Irgendwann nur noch schemensichtig und von Schatten verführt. Dann wird die ganze, die volleibliche Person eine ästhetische Last. Wie das Neugeborene nur Größerem ausgesetzt ist und der Mensch eigentlich unter Kolossen zur Welt kommt, so wird der späte Blick von allem nur den Umriß erkennen, lauter Menschen, denen die innere Füllung fehlt.

»Sie sehen dich nicht, denn Schemen sehn sie nur«, nämlich die Mütter in Faust II.

Alles, was wir sehen, gehört zu einem unermeßlichen Gesicht, das uns erblickt. Wir unterscheiden seine Kerben, Falten, Winkel, wenn wir ein Stückchen von der Welt genau erkennen wollen. Alles Starren, Spähen, Ausschauhalten sucht, fortwährend vergeblich, zu enthüllen jenes gewaltige Gesicht, das uns erblickt.

Gewiß kann man leben, ohne zu sehen, als Blinder. Aber ein Lebewesen, das nie gesehen wird, kann es auf Erden nicht geben. Irgendeiner Libelle müssen wir auf dem Facettenauge einmal erschienen sein, einem Hund im verschwommenen Raster, oder im Busch das Beuteschema eines hungrigen Tigers erfüllt haben, um zu existieren.

Gesichtslöschenden Kräften sind wir ausgesetzt. Wie die Schwefelsäure in der Luft, in der von giftigen Gasen gedunsenen Luft die antiken Säulenschäfte und die Marmorgesichter ebenfrißt, so zersetzt, verstumpft die Pest der vielen Fotos, der Fernsehschimmer, die Blow-ups der Reklamewände den Glanz unseres Blicks. Den Glanz nur? Alles Wesen, das im offenen Auge lag, hat sich von dort zurückgezogen: Suche und Wissen, Vertrauen und Berechnung, Güte und Gier. Wir sehen nicht und sehen auch nicht aus.

Das Vermissen beginnt, wenn du der Menge entgegengehst, entgegen den Passanten, den fremden Gesichtern, und gewahrst, wie viele unlesbar und abgerieben und leicht zu verwechseln sind.

Und plötzlich sieht dich wissender als der beste Freund, wärmer als der eigene Vater von einer matten Daguerreotypie ein Unbekannter an. Da ist es auf einmal, das sehende Gesicht, das nicht erkennt, um sogleich zu zerstören, das dich hält und einberaumt in seine Ferne, und du weißt, wohin du auch weitergehst, einem solchen wirst du im erlebten Leben nie begegnet sein.

Merkwürdig, als ich noch in Deutschland herumfuhr, fiel mir auf, wie viele junge Menschen nicht mehr aufschauen, den Fremden unterwegs nicht ansehen, den Tausch der Blicke nicht mehr für nötig halten. Nicht weil sie so geduckt oder verklemmt gewesen wären, im Gegenteil, sie trotten inzwischen eher angstfrei durch die Räume. Vielleicht ist es gerade das, und eine elastische Selbstgewißheit, eine anhaltende Solidarfühlung lassen die urtümliche Beachtung des Fremden überflüssig werden. Sein plötzliches Erscheinen erregt weder Scheu noch Neugier. Es wird ganz einfach nicht bemerkt. In anderen Ländern kann man dagegen nach wie vor in Blicken schwimmen.

In der Übermüdung, in der Erschöpfung bleibt der Blick manchmal etwas zu lange an den Augen des anderen hängen. Es scheint für ihn, der nicht so müde ist, unendlich viel zu bedeuten.

Wo aber das Auge seine soziale Wachheit verliert und nicht mehr blitzschnell zwischen freundlich und feindlich, schön und häßlich, nützlich und unnütz entscheiden muß, da verliert es auch an Glanz und Schärfe und wird deshalb noch lange nicht von innen heraus zu strahlen beginnen. Wenn solche Schwächung, solche Augenblässe auch in den Gesichtern junger Schauspieler auftritt, dann werden wir nicht mehr viel im Kino sehen. Denn das Auge des Schauspielers belichtet den Film.

Wozu habe ich meine Augen, wenn ich doch immer nur weit Zurückliegendes sehe?

In alten Zeiten, als die Menschen ihre Augen geduldiger auf geschlossene Pforten richteten, sahen sie mehr kommen.

Ich seh seit Jahr und Tag keine Menschen mehr, die gerade blicken können. Ich seh sie alle nur ihr Essen in sich gabeln und wie sie ihr Gehirn verziehen und Witze überlegen, geschulte Bemerkungen über nie geschaute Dinge. Frauen gehen, ohne nur das leiseste Suchen zu empfinden, vorbei. Entweder ihr Gesicht ist von zielloser Selbstbehauptung versiegelt oder von namenlosem Grauen. So sind sie längst zu Schwestern der Tatbestände geworden, trüber Rückstand ausgeglühter Mühe, und ein Versprechen zu Besserem werden sie niemals mehr sein … Und doch bleibt nur ein Ort, wenn du den gesamten Horizont abgehofft hast, ein Ort auf der Welt aller Sehnsucht wert, kein Haus in der Heide, kein noch so guter Garten und nicht die Freiheit, sondern allein das Ganz Andere Gesicht. Einmal so angesehen werden, daß sich alle Schmutzreste der Seele lösen. Einmal den guten Blick, den zivilisierenden, der uns einen kleinen Innenhof mit Frieden erfüllte! Oh, da muß man sich aber gut ansehen, muß sich geduldig in den Augen liegen, um die Gewißheit zu gewinnen, daß man wahrlich nicht Angst voreinander zu haben braucht. Da genügt nicht nur ein Stich mit den Augen oder ein klägliches Streifen – das vermehrt ja nur die bösen Strahlen der Welt! – oder ein ungezügeltes den eigenen Worten Zuhören der Augen … Die Liebe wartet aufs Augenlicht. Wenn Augenlicht scheint, bist du glücklich. Da mögen wir noch so oft die nassen Bäuche aufeinanderklatschen, mit den Leibern fuhrwerken und zappeln wie die Bisamratte, wir kommen der Sache doch niemals näher als mit den Augen, die sich nicht reinigen lassen …

Wenn ich mich frage, was ich in der Sprache zu suchen habe, so ist es gewiß nicht die Sprache selbst und noch viel weniger ihr schöner Zweck, andere mit Erzählen zu unterhalten. Mir macht Sprache Gesichte, aus ihr entsteht Gesehenes, also etwas, das letztlich aus ihr heraus- und hervortreten will. Wirksam wird sie nur als Konzentrat, das süchtig macht nach mehr Sicht und mehr Gesicht, nach der vollkommenen Einheit von sinnlichem und übersinnlichem Gesicht.

Nicht der Blick erweitert dein Sehen, sondern das Entziffern.

Das sprechende Gesicht ist dem sprechenden Mund übergeordnet.

Noch einmal die einfachen Eingänge benutzen, die zum Menschen hineinführen durch Stimme, Gang und Gesicht.

Einsamkeit ist keine geringere Täuschung als Freundschaft. Die Stille erfüllt ein Stimmengewirr. Den Stimmen ist nichts gültig. Termiten des Widerhalls, lassen sie nichts Lebendiges übrig auf ihren Wegen.

Wenn er allein war, hörte er hinter die Stimmen, die Tonfälle, die Betonungen, die Ausspracheeigentümlichkeiten, und manchmal vernahm er die verborgensten Winke aus den erinnerten Stimmen, und sie verrieten ihm jetzt erst das erstaunliche Geheimnis, das ihm die Leute mitteilen wollten, als sie ein paar belanglose Worte an ihn richteten. Er hörte nur in der Stille, wie sie sprachen, wie es geklungen hatte, und erfuhr nachträglich, was ihm wirklich Eindruck gemacht, wo das Unbewußte zum Unbewußten gesprochen hatte …

Nicht mit Worten, nicht mit der Sprache, sondern mit den tönenden Charakteristika, mit dem gesamten Imponiergehabe der Stimme teilt sich mir der andere mit, ein unaufhörliches lautliches Eindruckmachen, das unterschwelliger wirksam ist als Auge und Hände, mischfreudiger als Semantik oder Gebärde, damit verrät sich der andere immerzu und tut es doch auf undurchdringliche Weise.

Ein Schauspieler braucht demjenigen, zu dem er auf der Bühne spricht, niemals Eindruck zu machen, alles ist verabredet. Seine Stimme benötigt keine gespielte Unsicherheit, kein geheimes Fahnden, kein Werben oder Drohen dem Partner gegenüber. Sie ist immer für das Publikum verlautet, mit dem er nicht spricht. Und vor ihm schirmt sie sich ab mit bewußter Gebärde, mit Stil und Ausdruckskunst, Führung und Allüre, die gegen jede unverhoffte Frage und Antwort schützen. Deshalb vertraut niemand der Stimme eines Schauspielers, wenn er ihr im Alltagsleben begegnet. Sie spricht nicht zu uns, sie sucht uns nicht, sie hat so viele Merkmale des Individuellen verloren.

Viele Schauspieler haben mit ihrem Gesicht, ihrer Stimme, ihren Armen eine Menge zu sagen, aber in den Füßen haben sie keinen Geist. Es ist schon merkwürdig, daß Gänge auf dem Theater das Liederlichste sind, was man gewöhnlich in Inszenierungen zu sehen bekommt. Selbst bei einem guten Schauspieler bin ich oft darüber verblüfft, daß er nicht bemerkt, wie konventionell und ausdruckslos er geht oder einfach fürchterlich unbesonnen. Offenbar gehört es nicht mehr zu seinem Programm, zu kontrollieren, was ein Gang ist.

Homer nennt den dünnen Klang der Stimme des Totenschattens ein trizein – ein Zwitschern, ein Zirpen. Daran wird man erinnert, wenn man durch die Straßen geht und das hohe Fiepen der Fernsehbildröhren hinter den Fenstern hört.

Stimme, Augen, Fingerspitzen, womit der Mensch sich als unverwechselbar ausweist, die Cachets, Siegel, Icons, Schilder, Wappen, die keine Familie, keine Ahnen, keine Zugehörigkeit aufrufen und hinter denen ein hoher und feiner Verschnitt von allgemeinen Eigenschaften, geteilten Übereinkünften, typischen Verhaltensweisen zusammengefaßt wird. Das fragmentierte Allgemeine als das Innerste des Individuums.

Man sieht Lichter glitzern auf dem düstersten Strom. Also muß man die Stellen des schönen Widerscheins erwischen, die im Betragen der Menschen unversehens auftauchen. Man muß sie säuberlich isolieren und in den Rang kleiner Riten oder Artefakte erheben, um ihre Wiederholbarkeit zu provozieren.

Man fragt sich, weshalb die vielen Close-ups der reicheren Gefühle, mit denen uns Filme unentwegt beschäftigen, anders als die Gewaltimpacts so wenig Einfluß auf unser Gehabe nehmen.

Die Außen-Figur wird ja bei den meisten Zeitgenossen, paradox gesagt, unbewußt vom Intellekt gesteuert. Es handelt sich um Gänge, Haltungen, eine gesamte Betragenskonvention, die nicht auf der Irrationalität von Bewegung und Erscheinung gründet, wie jeder Schauspieler sie beherrschen sollte, sondern auf zweckgerichteten Innerlichkeiten wie Vorteilssucht, Interessenverfolg, Gesinnungsvergütung etc. Aus diesen Antrieben entweicht ein Geist und wird zu einer Wolke, die als anonymer Intellekt über alle niederrieselt, so daß auch jene eine nachlässige Figur abgeben, die ihn selbst gar nicht besitzen. Es ist, als wollte man aus der Überzahl an Brillenträgern unter den Passanten auf die Errichtung einer Gelehrtenrepublik schließen.

Jeder Mensch entbietet uns eine chaotische Fülle geheimnisvoller Winke.

Keiner ahnt vom anderen, worauf er hinaus will.

Daß wir (uns) rasend Enthüllen/Verhüllen, das ist ein Atemsturm.

Die Gliedrigkeit, das ist der Nimbus, der uns Menschen umgibt, wenn uns die Qualle sähe.

Der gesamte Aufbau von zahllosen, wie nur? zusammenpassenden, wie nur? auf erstaunliche Distanz noch ineinanderwirkenden Gliedern. Vom Fußknöchel bis zum Nasenbein, wie alles stimmt! Das knochenharte Geschöpf scheint der Qualle unendlich leichter als sie selbst zu sein. Doch zugleich erkennt sie nur Entwurf in ihm, nur ein Modell. Ein Modell? Für was denn weiter? Was wird nach dem Entwurf gebaut, der wir für diese Qualle sind? Was folgt auf uns? Der Gliedrigkeit ist nichts mehr abzufordern, sie ist bis ins Feinste abgestimmt und aufgefächert, biegsam in der Liebe und vor Behördentischen steif und unbeugsam. So ist es denn das Nächsthöhere unseres wunderlichen Schattens, in das die Qualle Einblick hat und all die anderen Wirbellosen, die in dunklen Höhlen unseres Hirns noch überleben.

So ist es mit den Händen, die nicht mehr greifen, formen, fassen. Oder werken. Sie sehen nur noch aus. Sind ganz Expression. Als ob sie um Sprache ringende Organe wären. Attribute, verlegene Anhängsel einer Grundverlegenheit. So wie man sie zum x-ten Mal betrachtet bei längerem Aufenthalt während einer Reise: so sind sie wirklich. Das ist alles, was von der Menschheit erstem Werkzeug übrigblieb. An dir hängen blieb.

Niemand wird von sich behaupten können, er nenne ein einmaliges, unverwechselbares Wort sein eigen. Ein solches Privatwort wäre unter allen Umständen ein sinnloses, unnützes Wort. Wohl aber kann sich jemand durch eine unverwechselbare Geste auszeichnen, ohne daß diese bedeutungslos sein muß; er darf sogar mit einiger Sicherheit annehmen, daß die gewisse Geste, in der besonderen Art ihrer Erscheinung, einmalig ist und auf der ganzen Welt nirgendwo als nur bei ihm anzutreffen.

Das Allürenfeld, der Sphärengürtel der Person, der Staub von seinem Stern, der einen gewöhnlichen Menschen heute umgibt, besteht aus Brocken und Versprengtem von Serien und Shows, Ablagerungen von Spielen, die die Unterhaltungen und Interessenhorizonte der Leute regelmäßig durchqueren, möglicherweise auch ihre Sexualität. Früher waren es gesellschaftliche Konventionen, ein sich selbst organisierendes »man« beeinflußte das persönliche Allürenfeld. Die Kinder, die Leute – sie ahmen nichts nach, sie werden nicht spielerischer vom unentwegten Anschauen der Spiele, sie werden nur farbloser und konsumpingliger, sie wissen genau zu unterscheiden und aufzulisten, was sie sahen, was sie mochten, was sie verdroß.

Daß das Wesen eines Menschen ihn äußerlich umgibt wie die Ringe den Jupiter. Nichts Inneres! Alles ist gesprengte, hinausgestreute Begabung, wie Brocken zerschellter Asteroiden, Einschläge von Werken und Menschen. Der andere, sofern er der Gegenwärtige ist: seine Biographie ist nur der Sphärengürtel seiner Anwesenheit. Oft genügt ein Blick, eine Strahlenprobe, um seine ganze Geschichte zu wissen. Was einer erlebt hat, seine Vergangenheit, teilt sich aber meist sehr viel enttäuschender mit als die Merkmale und Reste, die davon in seinem Orbit schweben, Eigenart der Augen, der Stimme, der Hände. Was in der Hülle des anderen tatsächlich Ausstrahlung besitzt, ist wahrscheinlich weniger sein persönlich Erworbenes als vielmehr der Feinstaub des allgemeinen Formenerbes, also das, was aus der Tiefe der menschlichen Zeit über ihn gestreut ist.

Mit wem wir auch zusammengehen, irgendwann ist uns der Mensch bekannt. Wir wundern uns, wie doch der andere (nie wir selbst) Zug um Zug sich automatischer verhält. Sein Wesen können wir im ganzen aus dieser Nähe nicht mehr gut erkennen, dafür blicken wir jetzt um so deutlicher ins Netzwerk von Trieb und Triebverstörung, von Motiv und Scheinmotiv, denn mit dem Alter scheint das Innengerüst nicht mehr bloß schüchtern durch. Wir sehen etwas furchtsam hin und denken rücksichtslos: nicht mehr viel Hülle und Balg an dem, was jener da ist, kaum noch Zeichen der zwecklosen Erscheinung, wo bleibt das Unverhoffte und die autonome Handlung? Das Drahtgespinst der Psycho-Puppe, dem Knochenmann nicht unähnlich, ist aus der ehrlichen Haut hervorgetreten und hat den Platz des freien Spielers eingenommen. Erschreckend manchmal, wie wenig Gestalt noch und wie durchsichtig an seinen abgewetzten Stellen der äußere Anschein, dort wo, vielgenutzt, Schönheit, Wirkung und Wille waren.

Die Sprache des Mundes tummelt sich im Strom, den alle reden und der für das Veränderliche das älteste Symbol darstellt. Die Sprache des Körpers bleibt dagegen überwiegend altmodisch. Hier kommt das meiste aus vorderen Tagen auf uns, ist rituell und angestammt, verändert sich eher schwerfällig oder nimmt nur im Zusammenhang mit neuen Geräten seltsame Floskeln auf, wie etwa die gestreckte Hand mit der Fernbedienung, die nicht zeigt oder deutet, sondern den Kontakt sucht, den Impuls losschickt. Oder die Hand am Ohr, die ein flaches Smartphone verbirgt und die unwillkürlich an eine im Schlafzauber erstarrte Körperbewegung aus dem Dornröschenmärchen gemahnt, nämlich an eine für alle Zeit am Ohr festgewachsene Hand.

Der Eindruck der »angewachsenen« Hand am Ohr (früher kam sie vor allem dorthin, wenn einer sich verlegen am Ohrläppchen zupfte) führt dazu, daß ich einen Menschen in seinem gesamten Verlauf, in seinem epischen Raumzeitverhalten als unterbrochen wahrnehme. Ich sehe ihn durch und durch angehalten und sogar in seinem Ausschreiten angehalten wie eine Giacometti-Figur.

Wer empfände es nicht als Wunder, daß in der eigenen Brust sein Herz, das fremdeste, ob er wacht oder schläft, liebt oder lügt, ohne Unterbrechung, ohne jeden Einhalt oder Stillstand, tätig ist, millionenmal schlägt im Verlauf eines gesunden Daseins von durchschnittlicher Dauer? Einer begrenzten Zahl also gehorcht es. Aber das Pausenlose – lebt es? Kein Gedanke, kein Finger, kein Fuß, die nicht in bemessenen Abständen zur Ruhe kämen und, um tätig zu sein, auch ausruhen müßten. Das Ding in den Häuten ist das eigentliche Geheimnis des Herzens, das Ungerührte, dessen Namen wir für jedwede Erschütterung des Lebens verwenden.

Das Herz ist nicht in demselben Sinne »fleischlich«, wie wir von fleischlicher Begierde sprechen. Das Herz ist der strengste Asket, ist die jedes menschliche Verständnis von Arbeit hinter sich lassende absolute Arbeitsmacht auf Erden, in dieser Lebenswelt. Es ist so mager, so eingelagert, so in sich gekehrt – ein Klausner, der Tag und Nacht schuftet.

Ich liebe, ich bewundere mein Herz, seitdem ich es auf dem Echographen sah. Die Mitralklappe – und überhaupt: wie alles klappt! Und das nun schon über etliche Jahrzehnte. Die Muskelwände etwas verdickt. Aorta ohne Verkalkung. Dieser Ring, diese Wulst, kontrahierend, auslassend – könnte etwas besser auslassen. Ich sah das dunkle, feuchte, fleischliche Zentralorgan mit großer Ehrfurcht. Und das ist nun die Metapher der Metaphern! Das ist das Allvermögend-Allerfleißigste der Lebenswelt – außer seinem herrscherlichen Dienst bedient es noch die Literatur. Das Unermüdliche – das bin nicht ich. Der unvergleichlich Andere ist es, in meiner Brust. Gewölb und Ringschlund. Herzstillstand, wenn dies arbeitsamste aller Wesen aufgibt, absoluter Bruch mit seiner ungeschichtlichen Geschichte, keine Mäßigung, Pause, Schonung, kein Aufschub möglich.

*

Ging am Nachmittag zu den Krähen im Nebelschnee, hinüber zum westlichen Waldsaum. Dumpf-dumpfes Licht. Überall vergorenfarbene Eisschlieren in den Brüchen und die Kuhpfade waren geronnene Schlammbäche. So wenig an Vorkommnissen, daß ich oft tagelang der sonderbaren Handbewegung einer Postbotin nachhänge. Oder fast ein halbes Jahr im Hall-Raum eines Freudenseufzers lebe, den im vergangenen Sommer mein Sohn ausstieß, als er von seiner Ferienreise zurückkam und das Haus und die Hügel mit seinen Blicken umarmte: Wieder da!

Warum fliehen die schwarzen Droher so hoch oben vor mir? Nur weil dieser einzelne Mensch so senkrecht vom Grund absteht? Welche Aura umgibt uns im Furchtsinn der Tiere? Sobald sie uns nicht sehen und wir fahren im Auto vorbei, das unsere Gestalt und Witterung verbirgt, so rührt sich keiner vom Ast. Auch die Greifvögel nicht. Aber geht man allein und preßt seine schweren Tritte in den gefrorenen Schnee, kreischen sie und schwingen davon.

Wenn Thoreau hoffte, daß die Welt ihn nicht mehr verändere, so stehe ich umgekehrt auf dem höchsten Hügel der Gegend und möchte ein bis ins Unterste von der Welt Durchstöberter sein in meiner Freiheit.

In Konstantin Leontjews Schrift »Der Durchschnittseuropäer«, in der sehr früh schon von der »Raserei der sterilen Kommunikation« die Rede ist, fand ich das folgende Zitat John Stuart Mills:

»Wenn das letzte wilde Tier verschwindet, wenn kein freier wilder Wald mehr bleibt, dann wird auch die ganze Tiefe des menschlichen Geistes vergehen; denn es ziemt den Menschen nicht, nur unter seinesgleichen zu sein, und der Nutzen, der aus der menschlichen Siedlungsdichte und häufigen Kommunikation zu ziehen war, ist längst erschöpft.«

Die Weite macht aus mir einen Giganten des Raumgefühls, wie wenn ich kilometerlange Arme hätte, die das Land umgreifen wollen. Ich kann nicht mehr in Straßenhäuser gehen, ohne überall anzustoßen.

Ich habe das Schöne stets so dankbar erfahren, als verdiente ich nur das Schreckliche.

IVMenge, Typus, Einzelner

Jedes hochentwickelte Individuum begibt sich, um seine geschichtliche Einsamkeit ertragen zu können, in den Schutz irgendeines Typus, der uralt und unvergänglich ist.

Am Einzelnen tritt weit mehr Typisches in Erscheinung als Individuelles. Die Mentalität vereint, was die Gene streng getrennt. Alle meinen wir dasselbe.