Allein unter Amerikanern - Tuvia Tenenbom - E-Book

Allein unter Amerikanern E-Book

Tuvia Tenenbom

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Beschreibung

Seit über drei Jahrzehnten lebt Tuvia Tenenbom in New York. Als er sich 2015 für seine neue Großreportage erstmals auf eine Reise quer durch die USA begab, ahnte er nicht, was ihn erwarten würde: »Ich hätte nie gedacht, dass die Vereinigten Staaten so völlig anders sind, als ich immer angenommen hatte. Lange Jahre war ich überzeugt, dass ich sie ziemlich gut kennen würde. Aber ich bin mir da nicht mehr so sicher. Erst jetzt entdecke ich so nach und nach das wahre Amerika, Stück für Stück, Mensch für Mensch, Staat für Staat.«
Tenenbom reiste von Florida bis nach Alaska, von Alabama bis nach Hawaii, vom Deep South und Bible Belt bis an die Großen Seen und die Westküste, sprach mit Politikern und Predigern, mit Evangelikalen, Mormonen und Quäkern, mit Rednecks und Waff ennarren, Kriminellen und Gefängnisinsassen, mit Indianern und Countrymusikern, Antisemiten und Zionisten, mit Obdachlosen und Superreichen und vielen, vielen mehr.
Die USA rühmen sich, »das Land der Freien und die Heimat der Tapferen« zu sein. Das wahre Amerika jedoch, so Tenenboms bestürzende Erkenntnis, ist weder frei noch tapfer, sondern ängstlich darauf bedacht, alle Freiheiten einzuschränken. Es ist in sich zutiefst gespalten, rassistisch und hasserfüllt. »Kann sich die Menschheit auf die USA verlassen? Ich würde es nicht tun.«

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Tuvia Tenenbom

ALLEIN UNTER AMERIKANERN

Eine Entdeckungsreise

Fotos, Organisation, Beratung: Isi Tenenbom

Aus dem amerikanischen Englischvon Michael Adrian

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4734

Deutsche Erstausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Copyright © by Tuvia Tenenbom 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Regina Göllner und Hermann Michels

Umschlagfotos: Isi Tenenbom

eISBN 978-3-518-74834-3

www.suhrkamp.de

Für Isi, meine tapfere Frau

Dafür, dass du jeden Moment der Reise mit deiner liebevollen Stimme kröntest

Dafür, dass du jedes Bild mit deiner glänzenden Linse einfingst

Dafür, dass du begeistert nach dem Unbekannten jagtest

Dafür, dass du bist, wie du bist

INHALT

Vorbemerkung

1. ETAPPEAuf der 1000 Menschen zusammenkommen, um Ich liebe dich zu sagen

2. ETAPPEAuf der eine heterosexuelle Frau ihren Mann »Partner« nennt, um die Schwulen nicht zu verärgern

3. ETAPPEAuf der eine schwarze Familie in ein besseres Haus zieht

4. ETAPPEAuf der Schwarze Schwarze töten, weil sie Niggas sind, und du Deutscher bist, wenn du nicht weißt, wer du bist, dich aber in einen Indianer verwandelst, wenn du vom richtigen Moskito gestochen wirst

5. ETAPPEAuf der ein paar tausend Christen die Juden lieben, die deshalb zu Tausenden angeflogen kommen, um neben ihnen zu sitzen

6. ETAPPEAuf der das Büro des Bürgermeisters falsche Visitenkarten druckt, um die dämliche Presse an der Nase herumzuführen

7. ETAPPEAuf der jede Familie mindestens 100 Schusswaffen haben sollte

8. ETAPPEAuf der auch Somalier, Menschen wie jeder andere, Ihnen in den Kopf schießen dürfen sollten

9. ETAPPEAuf der Klimawandel Rechte für Palästinenser bedeutet

10. ETAPPEAuf der sich indianische Trunkenbolde und Vergewaltiger im Knife College amüsieren, mit freundlicher Unterstützung des Steuerzahlers. Nebst einer guten Nachricht: Bald wird die Polygamie legalisiert!

11. ETAPPEAuf der ein betrunkener Bürgermeister hässlichen Frauen nachstellt und den Mittelpunkt des Universums ausruft

12. ETAPPEAuf der sich, wie alle 1500 Kilometer, ein ausgezeichnetes amerikanisches Restaurant findet

13. ETAPPEAuf der Journalisten nur in Begleitung junger Hostessen pinkeln dürfen

14. ETAPPEAuf der sexy Weiße auf schwarze Huren stehen

15. ETAPPEAuf der das Rauchen, sofern man mitten auf der Straße mitten im Verkehr steht, gestattet ist

16. ETAPPEAuf der die schönsten Teenager Mormonen sind

17. ETAPPEAuf der, wer an Ostersonntag geboren wurde, die Toten wieder zum Leben erwecken kann

18. ETAPPEAuf der 10000 Menschen zusammenkommen, um im selben Moment zu schreien

19. ETAPPEAuf der es wirklich toll ist, Iraker mit gefrorenem Fisch zu schlagen

20. ETAPPEAuf der die Juden kommen und dich aufessen, wenn du nicht artig bist. Und 50 Millionen Deutsche verschwunden sind – alle geschmolzen …

21. ETAPPEAuf der ein Mann ohne Zähne ein himmlisches Lächeln hat

22. ETAPPEAuf der Sie, wenn Sie Sex haben wollen, vor jedem einzelnen Schritt die mündliche Einwilligung Ihres Partners einholen müssen

23. ETAPPEAuf der sich 23 Prozent der Befragten für zehn Millionen Dollar eine Woche lang prostituieren und 16 Prozent ihre amerikanische Staatsbürgerschaft aufgeben würden

24. ETAPPEAuf der die Menschen durch die Straßen zogen, johlten und tanzten und feierten, als die Atombombe auf Hiroshima fiel

25. ETAPPEAuf der Liberale deutlich länger leben als Konservative

26. ETAPPEAuf der Menschen, die mit dem Herrn sprechen, Muffins essen

27. ETAPPEAuf der jede Schildkröte im Schildkröten-Krankenhaus krankenversichert ist

28. ETAPPEAuf der es die schönsten Frauen der Welt in Puerto Rico gibt und die Juden mit Geldzählen beschäftigt sind

29. ETAPPEAuf der 1000 Menschen zusammenkommen, um Ich hasse dich zu sagen

Epilog

Danksagung

VORBEMERKUNG

Vor 35 Jahren landete ich in den USA, mit 400 Dollar in der Tasche. Seitdem hat es Amerika gut mit mir gemeint. Von Anfang an habe ich an den amerikanischen Traum geglaubt, der für mich auch in Erfüllung gegangen ist. Ich schulde diesem Land etwas, nämlich Dankbarkeit.

Geboren wurde ich in Israel, einem Land, in dem ich nur meine Kindheit und Jugend verbrachte und wo man mich darauf vorbereitete, Rabbiner zu werden wie mein Vater. Vor über 30 Jahren jedoch kehrte ich Israel den Rücken und ging in die Vereinigten Staaten von Amerika – nach New York City, um genau zu sein –, um dort in den folgenden 15 Jahren an mehreren New Yorker Universitäten verschiedene Studienabschlüsse und halbe Studienabschlüsse zu sammeln und das Rabbinat lieber anderen zu überlassen. Heutzutage lebe ich immer noch in New York, aber auch in Europa, vor allem in Deutschland, und in anderen Teilen der Welt. Bald aber werde ich für einen längeren Zeitraum in den USA bleiben und eine sechsmonatige Reise durch das Land unternehmen.

Ich bin künstlerischer Leiter des Jewish Theater of New York, das ich vor rund zwei Jahrzehnten gegründet habe und wo fast 20 meiner Stücke uraufgeführt wurden. Zugleich bin ich auch journalistisch tätig und schreibe seit nunmehr sieben Jahren für Die Zeit und Zeit Online. Im Suhrkamp Verlag erschienen zwei Bücher von mir, Allein unter Deutschen und Allein unter Juden, die beide auf der Spiegel-Bestsellerliste landeten. Zwischendurch schreibe ich regelmäßig für die liberale jüdische Wochenzeitung Forward aus New York.

Nach dem Erfolg der beiden Bücher bat mich mein engagierter Lektor, Winfried Hörning, die Reihe um ein drittes zu ergänzen. Hatte das erste Buch von Deutschland und das zweite von Israel gehandelt, wünschte Winfried nunmehr ein Buch über Amerika.

Deshalb werde ich bald kreuz und quer durch die Staaten reisen.

Die Idee hinter dieser Buchreihe ist recht einfach: Ich bereise sechs Monate lang ein Land, spreche mit so vielen Menschen wie möglich und porträtiere den Charakter des Landes und seiner Bewohner. So einfach dieser Grundgedanke ist, so anstrengend ist es, ihn umzusetzen. Das erfordert ein Arbeitspensum von mehr als 16 Stunden täglich, ohne freie Tage oder Wochenenden. Doch lohnt sich die Mühe, und zwar sehr. Ich lerne liebend gerne neue Leute kennen, und je mehr ich kennenlerne, desto besser.

Mir ist bewusst, dass es etwas anderes sein wird, Amerika zu bereisen als Deutschland oder Israel. In Deutschland und Israel konnte ich öffentliche Verkehrsmittel benutzen, um Menschen an den verschiedensten Orten aufzusuchen. Amerika aber ist riesig, und die meisten seiner Einwohner sind nicht per Bus oder Bahn unterwegs, sondern mit dem Auto. Wenn ich mich hier unter die Leute mischen und ihnen begegnen will, muss ich zu ihnen auf die Straße, Auto fahren. Es gibt dabei nur ein kleines Problem: Ich habe seit Jahrzehnten nicht mehr am Steuer gesessen und werde es nun jeden Tag tun müssen. Hoffentlich baue ich keinen Unfall. Und erst recht nicht mehrere.

Was wird mir in Amerika begegnen? Ich weiß es nicht, möchte aber eines vorweg anmerken. Was mir auch begegnet, was ich auch entdecke, wird zweifellos von der Ausbildung beeinflusst sein, die ich genossen habe: den Jahren, die ich damit verbrachte, den Talmud, Mathematik, Literatur, Religion, Theater, Journalismus und Informatik zu studieren. Andere Menschen mit anderem Hintergrund können womöglich zu anderen Schlussfolgerungen gelangen – was ich respektiere.

Wie viele New Yorker weiß ich nicht viel über die anderen 49 Bundesstaaten, aus denen Amerika besteht. Natürlich habe ich als jemand, der nicht nur in New York, sondern auch in Europa lebt, das eine oder andere Vorurteil über Amerikaner übernommen. Wie Sie sicher wissen, sollen Amerikaner oberflächlich und einfältig sein. Stimmt das? Bald werde ich es hoffentlich herausfinden.

Und noch ein paar Dinge möchte ich gerne in Erfahrung bringen.

In den letzten Jahren, insbesondere seit den Präsidentschaften von George W. Bush und Barack H. Obama, hat sich dieses Land schubweise immer stärker polarisiert. Besonders für ein Land wie die USA, die sich oft als Schmelztiegel verstehen, widerspricht das jeder Logik. Etwas aber scheint aus dem Lot geraten zu sein, und jetzt wollen die Amerikaner einander in einem Hexenkessel schmelzen sehen, nur nicht sich selbst. Wer genau sind die Parteien, die sich hier bekriegen? Wer sind die amerikanischen Konservativen und wer die amerikanischen Liberalen? Wofür stehen sie?

Als Jude fällt mir unweigerlich ein großer politischer Unterschied zwischen Amerika und Europa auf. Europäische Länder pflegen im Allgemeinen eher für die Palästinenser zu sein als für Israel. Amerika ist hingegen allzu oft die einsame Stimme in internationalen Foren, die dem jüdischen Staat immer noch die Stange hält, und ich bin höchst neugierig, ob auch das amerikanische Volk insgesamt zu Israel steht.

Da ich zeitweise in Deutschland lebe, möchte ich zu gerne noch etwas anderes herausbekommen. Ich habe irgendwo, ich weiß nicht mehr wo, gelesen, dass 50 Millionen Amerikaner Deutschland als das Land ihrer Vorfahren bezeichnen, was Deutschland tatsächlich zur Nummer eins auf der Liste der Herkunftsländer der Amerikaner machen würde. Stimmt das? Wenn ja, wer sind die »Deutschamerikaner«, und welchen Einfluss haben sie gegebenenfalls auf Amerika?

Amerika jenseits der New Yorker Stadtgrenzen ist ein einziges Fragezeichen für mich. Ich weiß, dass die Menschen in diesem Land in ihrer überwiegenden Mehrheit gläubig und zumal christlichen Glaubens sind. Aber wer in Gottes Namen sind sie wirklich?

Es gibt viele Megakirchen in diesem Land, wie man an einem beliebigen Sonntag mit einer TV-Fernbedienung in der Hand unweigerlich feststellen wird. Ich habe aber noch keine einzige mit eigenen Augen gesehen, was ich unbedingt ändern will. Von Tausenden Menschen umgeben zu sein, die an einen uralten Juden glauben, sollte doch ein echtes Erlebnis werden.

Dann sind da noch die Ureinwohner Nordamerikas. In New York habe ich oft von der großen Spiritualität der amerikanischen Ureinwohner, also Indianer, reden gehört. Ich hatte aber noch nie die Gelegenheit, auch nur einen Indianer kennenzulernen, geschweige denn ein Reservat aufzusuchen. Ich hoffe, dass ich diese Leute in den nächsten paar Monaten zu sehen bekomme und ebenfalls von ihnen inspiriert werde.

Natürlich will ich auch Muslime treffen, Juden, Mormonen, Zeugen Jehovas und was sonst noch für Zeugen außerhalb New Yorks leben. Werden sie anders sein als die Bewohner dieser Stadt? Und lachen Sie nicht, aber ein paar Rednecks – weiße reaktionäre Hinterwäldler – möchte ich schon auch kennenlernen. Schreckliche Menschen sollen das sein, habe ich gehört, also will ich ihre Bekanntschaft machen. Als Mann des Theaters weiß ich, dass die Schurken die spannendsten Charaktere sind, und ich kann es kaum erwarten, ihnen zu begegnen.

Damit bin ich wohlgemerkt noch nicht am Ende meiner Wunschliste, denn es gibt noch viele andere, mit denen ich auf Tuchfühlung gehen möchte: ausgelassene Ku-Klux-Klan-Anhänger, religiöse Umweltschützer, gutaussehende Bandenmitglieder, waffenschwingende Konservative, sentimentale Liberale, seelenlose Kapitalisten, Rauchverbotseiferer, Cannabisfreunde, fanatische Atheisten – und alles dazwischen.

Werde ich sie alle treffen? Ich weiß es nicht.

Werde ich durch sämtliche 50 Staaten reisen?

Nein. Der Tag hat nur 24 Stunden, und ich werde nicht alle 50 Staaten besuchen können. Ich werde aber versuchen, mehr als die Hälfte zu schaffen. In Anbetracht der schieren Größe dieses Landes und der Zahl der Staaten, die mich interessieren, werde ich Ihnen sicher nicht über all meine Erlebnisse, Begegnungen und die von mir aufgesuchten Orte berichten können, aber ich werde mir allergrößte Mühe geben, Ihnen zumindest eine repräsentative Auswahl von alldem vorzulegen.

Eines noch: Der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten ist Barack H. Obama. Wenn diese Zeilen gedruckt sind, wird Präsident Obama allerdings nicht mehr lange im Amt sein. Trotzdem werde ich, wann immer der Anlass danach verlangt, über ihn und seine Regierung sprechen, weil Präsidenten in den USA viel mehr sind als nur die Individuen, die sie natürlich auch sind; sie verkörpern eine nationale Stimmung, eine Denkweise, ein Bündnis und eine Loyalität, die ihre Amtszeit lange überdauern.

Ich liebe Amerika, aber meine Voreingenommenheit soll mein Urteil nicht trüben. Um das Land so fair wie möglich zu porträtieren, habe ich keinen Plan erstellt, welche Orte ich aufsuchen und welche Menschen ich treffen will. Ich lasse mich treiben, wohin es mich verschlägt.

1. ETAPPEAuf der 1000 Menschen zusammenkommen, um Ich liebe dich zu sagen

5597551 Kunden zählt die New Yorker U-Bahn an einem durchschnittlichen Werktag laut Metropolitan Transportation Authority.

Die eins da am Ende, das bin ich.

Ich nehme die U-Bahn zur Penn Station.

Wenn ich U-Bahn fahre, pflege ich etwas zu tun, was ein New Yorker im Traum nicht täte: Ich betrachte die Leute um mich herum. New Yorker tun das nicht. Wo auch immer ihre Körper sich begegnen – im Aufzug, im Zug, im Café oder bei Macy’s –, ihre Blicke tun es nicht. Die eiserne Regel lautet: Wenn man sein Gegenüber nicht kennt, denkt man nicht einmal daran, ihm ins Auge zu schauen.

Ich halte mich nicht an diese Regel.

Ich kam vor 35 Jahren von Israel nach New York und benehme mich immer noch wie ein ahnungsloser Ausländer.

Um ehrlich zu sein, habe ich vor Jahren versucht, mich zumindest ansatzweise an diese Regel zu halten. Ich schaute Frauen an, vor allem wenn sie attraktiv waren, nicht aber Männer. Sozusagen wie ein Halbahnungsloser. Aber die Zeiten haben sich geändert. Wenn man heute eine Frau anblickt, ob attraktiv oder nicht, könnten die Gesetzeshüter darin eine sexuelle Belästigung erkennen und einen in null Komma nichts ins Gefängnis stecken. Um für diesen Fall eine Art Alibi zu haben, mustere ich auch die Männer.

Schließlich erreicht die Bahn die Penn Station, einen großen Verkehrsknotenpunkt. Draußen sehe ich einen Mann, der, aus welchem Grund auch immer, einen BH anhat und diesen hochintelligenten Spruch von sich gibt: »Beweg deinen verdammten Nuttenarsch hier raus.« Er ruft das zu jemandem oder etwas, das ist nicht wirklich klar, aber niemand beachtet ihn.

Und das ist die zweite Regel in New York: Du mischst dich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute ein. Wenn jemand vor dir auf den Boden pinkelt und eine unangenehme Pfütze deinen Weg kreuzt, dann hast du es nicht gesehen.

In deine Richtung zu pinkeln ist okay, dich anzuschauen nicht.

So ist das Leben nach New Yorker Art.

Mit dem Einbruch der Nacht zieht es die Obdachlosen zur Penn Station. Sie bevölkern die Bürgersteige der umliegenden Straßen. Sie schlafen auf den Gehwegen dieser Stadt, die niemals schläft. Manche bringen Kartons mit und basteln sich eine Pseudobehausung, während andere nur Plastiktüten haben, um sich vor Ratten, Straßenlampen und dem Wind zu schützen.

In Israel sah ich streunende Katzen auf den Bürgersteigen, hier sind es Menschen.

Ich kenne die Gegend. Mein Büro ist gleich da über die Straße.

Ich mag New York. Vor allem mag ich es wegen der Berechenbarkeit seiner Bewohner. Hier leben Millionen von Menschen, von denen einige Schwarze sind, einige Spanier, einige Weiße, einige Asiaten, einige Juden, einige Russen, und ein paar Mormonen gibt es auch. Mit wem auch immer man es zu tun bekommt, man kann sicher sein, dass er, egal was man zu ihm sagt, mit einer der folgenden Formeln reagieren wird: »That’s awesome!« »Oh, my God!« »Really?« »Great!« »Oy!« »Yo, man!« »Cool!« »Absolutely!« »Love it!« sowie »What a fucking fuck motherfucker!«

Berechenbarkeit.

Natürlich darf man nicht »Schwarze«, »Spanier«, »Juden«, »Asiaten« oder »Araber« sagen, weil diese Wörter nicht PC sind, nicht politisch korrekt. Selbst »Obdachlose« kann man nicht mehr sagen. Man muss Afroamerikaner, Hispanics, amerikanische Juden, Amerikaner asiatischer Abstammung, amerikanische Muslime und »anders Ausgestattete« sagen, womit die Obdachlosen gemeint sind. »Weiße« kann für sich stehen, weil sie sich immerhin diese Regel ausgedacht haben, und »Mormonen« kann auch für sich stehen, weil Mormonen unter PC-Gesichtspunkten derzeit nicht zählen. Warum nicht? Darum nicht.

Politisch superkorrekte Leute sprechen übrigens von »Kaukasiern«, wenn sie Weiße meinen; sie wünschen an Weihnachten jedermann Happy Kwanzaa (lange Geschichte) und würden mir niemals direkt ins Gesicht sagen, dass ich dick bin, obwohl ich es nun einmal bin.

In politisch superkorrekter Sprache können Sie mich gerne als »anders Dünnen« bezeichnen, wenn Sie sich dadurch besser fühlen.

Hoppla, beinahe hätte ich eine andere wichtige Gruppe vergessen, die Gays & Friends, zu denen auch Lesben, Bisexuelle und Transgender gehören. Diese Gruppe, auch unter den Kürzeln LGBT oder LGBTQ (das Q steht für Queer oder für Questioning) bekannt, ist eine der heiligsten auf Erden. Wenn man sich über sie lustig macht, wird man geächtet, verliert seine Arbeit und seinen Ehepartner.

Warum? Darum.

Es gibt auch asexuelle Menschen in New York, aber die zählen nicht.

Darum.

Diese Regeln, die nur ein Auszug aus einer langen Liste weiterer Regeln sind, verleihen New York seinen ganz besonderen Kitzel und erklären auch, warum ein Apartment von der Größe eines kleinen Klos 5000 Dollar im Monat kostet.

Die New Yorker sind darüber hinaus für ihre Geschäftigkeit bekannt. Tatsächlich ist jeder New Yorker und jede New Yorkerin, die ich kenne, extrem beschäftigt, selbst wenn er oder sie nichts zu tun hat und seit fünf Jahren arbeitslos ist.

Sollte ich mich nicht auch beschäftigen?

Vielleicht, sage ich mir, sollte ich ein paar Leute in dieser Stadt interviewen, bevor ich mich auf meine lange Reise begebe. So zum Warmwerden.

Nun, warum nicht?

Gegenüber meinem Büro befindet sich ein Irish Pub, den ich jetzt betrete, um mir meinen ersten Interviewpartner zu suchen.

Ich finde ihn in einem Bild von einem Luftwaffenoffizier, einem gutaussehenden jungen Schwarzen, der sich prächtig mit einer Schönen zu amüsieren scheint und fröhlich Bier trinkt, während er sich über eine Portion Fish and Chips hermacht.

Ich spreche ihn an.

Die amerikanische Nationalhymne, sage ich zu ihm, bezeichnet Amerika als Heimat der Tapferen. Was bedeutet das?

»Wir treten jeden in den Hintern.«

Warum?

»Weil wir es können.«

Damit das klar ist: Er ist nüchtern. Gott weiß, was er erst von sich geben wird, wenn der Alkohol ihm zu Kopf steigt.

Ich kehre in mein Büro zurück. Es ist nicht schön, eine Reise in diesem Ton zu beginnen.

Brandy, eine kluge Frau, die davon träumt, Schriftstellerin zu werden, besucht mich in meinem Büro, und ich bitte sie, mich an ihrer Weisheit teilhaben zu lassen und mir ein oder zwei Fragen zu beantworten.

Freudige Zustimmung.

Warum ist Amerika 2003 in den Irak einmarschiert?, frage ich sie.

»In Amerika stellt niemand solche Fragen! Du verstehst Amerika nicht. Nach dem Warum zu fragen ist so unamerikanisch!«

Aber warum ist Amerika in den Irak einmarschiert? Ich meine, was glaubst du?

»Das willst du wirklich wissen? Gut. Es gab da einen Schurken, wie hieß er nochmal, und wir gingen da hin, um ihn zu bekämpfen, und als wir da waren, kamen weitere Gründe hinzu, warum wir da waren, und das war’s.«

Brandy ist eine Amerikanerin, hier geboren und aufgewachsen, und so sieht sie sich selbst: »Ich mag die schlechten Seiten an Amerika. Die Gier, die großen Autos, die Empörung, wenn Bedürfnisse nicht unmittelbar befriedigt werden. Und dafür ziehen wir in den Krieg.«

Ich muss mir mehr Mühe geben, sage ich mir, und mir Menschen suchen, die Positives über dieses Land zu sagen haben. Wenigstens für den Anfang!

Um dieses noble Ziel zu erreichen, werde ich wohl oder übel meinen dicken Hintern bewegen, mein Büro verlassen und über meine Komfortzone an der Penn Station hinausgehen müssen.

Nur wohin?

Nun, warum nicht auf eine Pressekonferenz?

New York ist der Ort, an dem Dinge bewegt werden: in Privatclubs, in denen sich die Reichen treffen, um zu entscheiden, welches Projekt sie als Nächstes finanzieren werden. Auf Geschäftsessen, bei denen sich die Superreichen mit den von ihnen bezahlten Politikern treffen. Und dann gibt es da noch diese Pressekonferenzen, die Journalisten dazu verleiten sollen, wohlwollend über dieses oder jenes Thema zu schreiben.

Ich bin unzählige Male bei solchen Geschäftsessen von Entscheidern und Veranstaltungen in Reichenclubs gewesen, von denen die meisten inoffiziell waren. Über Pressekonferenzen aber kann man berichten. Und so gehe ich auf die Pressekonferenz einer PR-Firma, deren einziger Existenzzweck darin besteht, Journalisten Zuneigung für Homosexuelle einzuflößen.

Schon lustig, wie die Dinge funktionieren.

Einer der Journalisten auf der Pressekonferenz, ein ausländischer, hat folgende Frage: Erst vor wenigen Tagen habe der Moskauer Oberrabbiner kundgetan, er würde zwar keine Schwulen töten, ihre Tötung aber billigen. Wird diese PR-Firma, wüsste er gerne, etwas in dieser Angelegenheit unternehmen?

Merkwürdige Geschichte. Wenn sie stimmt, möchte ich nach Moskau fliegen und diesen Rabbiner interviewen. Das klingt reichlich bizarr. Aber stimmt es auch?

Um das herauszufinden, besuche ich den einen Mann in New York, der es mit größter Wahrscheinlichkeit wissen müsste. Abe Foxman, den Vorsitzenden der Anti-Defamation League (ADL), kenne ich zufälligerweise persönlich.

Abe hat keinen Schimmer, wovon ich spreche. Er hat noch nie etwas von dieser Geschichte gehört und weiß nicht, warum jemand so etwas erzählen sollte.

Vielleicht, sage ich mir, ist dieser ausländische Journalist ein klein bisschen antisemitisch. Überraschen würde es mich nicht, weil ich die europäischen Medien kenne, die oft genug antisemitisch sind.

Was mich auf die Frage bringt: Ist Amerika antisemitisch?

Nein, Abe zufolge.

»Während in Europa der Antisemitismus zugenommen hat«, berichtet er mir, »ist er hier zurückgegangen.«

Abe sollte es wissen. Seine Organisation, die ADL, gibt regelmäßig beträchtliche Summen für Umfragen aus, die das Ausmaß an Antisemitismus weltweit ermitteln sollen. »Derzeit«, sagt Abe mir, »ist Amerika nicht dagegen gefeit, aber die Verbreitung antisemitischer Einstellungen liegt bei zehn, zwölf Prozent.«

Schön. Aber das heißt nicht, dass sich die amerikanischen Juden in diesem Land sicher fühlen. Tatsächlich tun sie das nicht; nicht einmal die berühmteren unter ihnen, Produzenten und Regisseure etwa, glaubt man Abe. Speziell diese Juden produzieren unzählige Filme und Schauspiele über jeden Bereich der amerikanischen Gesellschaft, aber kaum etwas über Juden oder Israel. »Nenn mir die Filme über Israel! Du kriegst keine fünf zusammen!«, sagt Abe.

Fünf ist ein bisschen übertrieben, aber im Grunde hat Abe recht. Hat er auch recht mit seinen zehn, zwölf Prozent? Ich weiß es nicht, also frage ich ihn: Werde ich auf meiner Reise denselben geringen Prozentsatz an Antisemitismus in diesem Land vorfinden wie die Erhebungen seiner Organisation?

Nein.

»Du wirst viel häufiger mit antisemitischen Einstellungen konfrontiert werden«, antwortet Abe. »Bestimmt doppelt so häufig. Warum? Weil du ihnen in deinem unnachahmlichen Stil ihre Hemmungen nehmen wirst. Sie werden dir ihre innersten Gefühle offenbaren, also ihre Vorurteile. Die Amerikaner haben Vorurteile, nur sind sie nicht so dumm, sie zu zeigen oder entsprechend zu handeln.«

Ich freue mich über Abes Komplimente. Zugleich bin ich überrascht, aus seinem Mund zu hören, wie unzuverlässig die Untersuchungen seiner Organisation sind.

Ich verabschiede mich von ihm, werde ihn aber bald wiedersehen. Abe wird den Vorsitz der ADL, den er über ein Vierteljahrhundert lang innehatte, bald niederlegen, und in rund einer Woche wird im Waldorf-Astoria ein Abschiedsfest zu seinen Ehren ausgerichtet, ein »Tribute to Abe Foxman«.

Als der Tag gekommen ist, komme ich natürlich auch.

Wow! Was für eine Party!

Im Saal drängen sich vielleicht 1000 Menschen. Sie alle sind hier, um Abe »Ich liebe dich« zu sagen. Er revanchiert sich, indem er sie bewirtet.

Und wie!

Ich war schon auf vielen Veranstaltungen im Waldorf, aber diese hier übertrifft sie alle. Erstens: das Essen. Ich habe bis zu dieser Ehrung noch nie Piroggen mit Honig probiert. »Köstlich« ist ein zu schwaches Wort. Schon im Empfangsbereich finden sich, wohin das Auge blickt, Berge von Essen aller Art, aller Sorten, allen Geschmacks und aller Größen. Abe liebt große Größen und legt Wert auf den allerbesten Geschmack, und an diesem Abend lässt er uns alle an seinem Geschmack und seiner Vorstellung von einer Portion teilhaben. Ich habe noch nie so viele Sushis gesehen wie hier. Und sie schmecken so gut! Und die Torten, o Gott, die sind ja fast so groß wie Brooklyn!

Zweitens: die Leute. Unter anderem sieht man hier die Botschafterin der Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen, Samantha Power, und die Sicherheitsberaterin Susan Rice; beide halten Lobreden auf Abe. Zu weiteren Rednern, die ihre anerkennenden Worte vorab aufgezeichnet haben, zählen Präsident George W. Bush und Präsident Barack H. Obama.

Ich weiß nicht warum, aber mir gefällt dieses S&S-Team, Samantha und Susan. Ich werde mich an ihre Fersen heften, vor allem, wenn was zu futtern in ihrer Nähe ist.

Vom Essen abgesehen habe ich zwei Fragen: Was liegt so hochrangigen Staatsvertretern, von den beiden Präsidenten ganz zu schweigen, an einem Juden, der in Ruhestand geht? Würde ein Jude im heutigen Europa so viel Respekt genießen wie dieser Amerikaner Abe? Ist etwas besonders an dem Verhältnis Amerikas zu seinen Juden?

Über diese Fragen grüble ich, als die neusten Nachrichten über uns hereinbrechen. Weit weg von hier, in Charleston, South Carolina, betritt ein weißer Mann eine schwarze Kirche, zieht eine Pistole und erschießt neun Menschen.

Wenn man den Medien hier glauben kann, ist Amerika geschockt und erschüttert.

Es ist Zeit, dass ich New York verlasse und Amerika aufsuche, das mir noch unbekannte Amerika.

Ich packe meine Koffer und mache mich reisefertig.

Fertig zur Reise wohin?

Mein erster Impuls ist es, nach South Carolina zu fahren, aber bei näherem Nachdenken komme ich zu dem Schluss, dass ich dafür noch nicht bereit bin. Ich muss erst mehr wissen, mehr lernen, bevor ich in den Süden aufbreche.

Gegenüber von meinem Büro haben Arbeiter den Bahnhof mit großen Werbebannern überzogen: »XOXO. Philadelphia«.

Das klingt eigentlich nach einer guten Idee!

In Philadelphia wurde schließlich die Unabhängigkeitserklärung verkündet und die Verfassung mit ihren berühmten einleitenden Worten »Wir, das Volk der Vereinigten Staaten« beschlossen, was Philly zur Geburtsstadt der USA macht.

Und da sollte meine Reise nicht beginnen?

Die Unabhängigkeitserklärung, 1776 von den 13 amerikanischen Kolonien angenommen, verkündet, dass die Kolonien kein Teil Großbritanniens mehr sind, sondern die unabhängigen Vereinigten Staaten von Amerika, ein neues Rechtssubjekt, das durch genau diese Erklärung geschaffen wurde. Die Erklärung ist, wenn ich das ergänzen darf, ein sprachgewaltiges Dokument und umfasst einige der denkwürdigsten Passagen, die je von Menschenhand niedergeschrieben wurden: »Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.« So hieß es einen Tag nach der Verabschiedung der Erklärung in ihrer deutschsprachigen Fassung im Pennsylvanischen Staatsboten.

Ich habe all das vor vielen Jahren gelernt, kurz vor meiner Einbürgerung in diesen Staat, und auf einmal ist es alles wieder da. Wenn ich mich nicht irre, erblickten die Verfassung und die Unabhängigkeitserklärung das Licht der Welt in einer sogenannten Independence Hall in Philadelphia. Die sollte ich mir anschauen.

Philadelphia, here I come!

2. ETAPPEAuf der eine heterosexuelle Frau ihren Mann »Partner« nennt, um die Schwulen nicht zu verärgern

Um meine Reise in positiver Stimmung anzutreten, verschiebe ich das Rendezvous mit dem Lenkrad, das mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für einen schweren Autounfall bei meinem ersten Fahrversuch verbunden ist. In einer Woche oder so werde ich mich auf einen Fahrersitz zwängen oder mir einen Privatjet mit eigenem Piloten zulegen.

Ich nehme den Zug nach Philadelphia.

Nach einer angenehmen Zugfahrt bin ich in der Tat schon bald in Philadelphia.

Ich steige aus und laufe durch die Straßen der Vereinigten Staaten von Amerika.

Meine Reise ins Unbekannte hat begonnen.

Vor mir sehe ich einen Straßenprediger, einen schwarzen Mann mit einer Botschaft. Wenn du nicht an Jesus glaubst und um Vergebung bittest, sagt er, »dann kommst du in die Hölle. Wenn du dir sagst: Ich werde überleben, denn der Prediger hat für mich gebetet, dann funktioniert das nicht. Du warst auf der Schule. Du hast ein bisschen was gelernt. Du kannst lesen, was Jesus gesagt hat! Du sagst, ich mache mich zum Narren, weil ich hier an einer Straßenecke predige, während bei dir zuhause die Bibel verstaubt!«

»Du« bin in diesem Falle ich, weil ich ihm als Einziger zuhöre. Ich bleibe noch ein Weilchen und lausche ein wenig. Als ich gehe, bedankt er sich bei mir, was mich rührt. Ich bin womöglich seit langem der Einzige, der ihm zugehört hat.

Ich spaziere weiter und stoße schon bald auf das National Museum of American Jewish History. Wie kommen denn die Juden hierher?

Ich lasse mich weiter durch die Straßen von Philadelphia treiben, das seine Einwohner »Philly« nennen, und stelle fest, dass ich, wohin ich auch meinen Fuß setze, unweigerlich in einem Schlagloch lande. Nachdem ich 52 Schlaglöcher gezählt habe, reicht’s mir.

Ich gehe in mein Hotel, das Hilton an Penn’s Landing.

Auf sämtlichen Fernsehschirmen im Empfangsbereich geht es um den Mord in der schwarzen Kirche in Charleston. Der Weiße heißt Dylann Roof, die Kirche Emanuel A.M.E. (African Methodist Episcopal). Und Amerika ist verschreckt.

Ich aber muss locker bleiben.

Ich nehme meinen Zimmerschlüssel entgegen, eine Plastikkarte, und verfüge mich in mein neues Domizil. Dort sticht mir als Erstes ein Hinweis ins Auge, der mich darüber in Kenntnis setzt, dass es 300 Dollar Strafe kostet, wenn ich in meinem Zimmer rauche.

Mord, Hölle, Geldstrafe. Das fängt ja gut an!

Ich versuche, mich an den Tisch zu setzen, und nehme auf einem Drehstuhl Platz, der interessant aussieht, aber vor allem nicht mehr aufhört, sich zu drehen, bis er ganz unten ist und ich auf dem Boden.

Ich rufe die Rezeption an und bitte um Rat. Die Hotelleute sagen mir, dass sie einen Techniker schicken; er würde sich den Stuhl angucken.

Einen Techniker?

Ja, Techniker.

Ich liebe diese politisch korrekte neue Welt von heute. Früher wurde diese Art »Techniker« als Zimmermädchen, Reparateur, Reinigungskraft, Hausmeister oder mit einem Haufen anderer präziser Fachausdrücke bezeichnet. Heute ist es ein »Techniker«!

Mein Techniker lässt sich Zeit, sodass ich erst mal runtergehe, eine rauchen.

Sie können draußen rauchen, sagt mir ein Hotelangestellter am Eingang, aber nur im Raucherbereich.

Draußen, stelle ich fest, befindet sich vor dem Hotel eine unsichtbare Linie – gezogen wahrscheinlich von den berühmten Technikern dieses Hotels –, die rauchende und nichtrauchende Völker voneinander trennt.

Also, das ist aber so was von rassistisch, sage ich zu dem Hotelangestellten, einem Schwarzen.

Ein Weißer, ein typischer Streithammel, schreit mich an. »Warum zum Teufel nennen Sie das rassistisch? Sind Sie kein Amerikaner und verstehen Sie kein verdammtes Englisch oder was? So etwas Blödes. Sie Dummkopf!«

Ich finde ein solches Verhalten schockierend und frage mich, ob das »amerikanisch« ist.

Ich wünschte, der Straßenprediger wäre hier, um uns zu retten.

Eine Frau, vielleicht seine Frau, zieht den Mann weg.

Die hier Umstehenden starren mich an, als wäre ich Dylann Roof.

Ich lasse sie starren, rauche drei Zigaretten und kehre anschließend auf mein Zimmer zurück, um dort tief und fest einzuschlafen.

Am nächsten Morgen mache ich bei einem Verfassungsrundgang mit. Fragen Sie mich nicht, was das ist. Ich weiß es nicht, aber der Name beeindruckt mich.

Der Leiter, ein junger Mann, sagt, dass wir auf diesem Rundgang »in die Fußstapfen der Gründerväter treten«, also der der Vereinigten Staaten von Amerika.

Unterwegs spricht unser Leiter vom »Mut« derer, die die Unabhängigkeitserklärung unterzeichneten. Damals sei das Landesverrat gewesen.

Was brachte die Leute dazu, so mutig zu sein?, frage ich ihn.

»Sie wollten keine Steuern an die Briten zahlen.«

Manche würden das Kapitalismus nennen; er nennt es Mut.

Er liebt diese Menschen, das sehe ich, und ist mächtig von ihnen eingenommen. »Thomas Jefferson«, ein weiterer Gründervater und der dritte Präsident der Vereinigten Staaten, »erfand den Drehstuhl«, sagt er mit liebevoller Stimme.

Wenn nur Thomas heute noch am Leben wäre, denke ich bei mir, dann hätte ich ihn bitten können, meinen Stuhl zu reparieren!

Wir kommen an der Independence Hall vorbei, der »Geburtsstätte der Vereinigten Staaten«, wie uns unser Führer in Erinnerung ruft, gehen aber nicht hinein. Wir sind Rundgänger und müssen unseren Rundgang fortsetzen. Und als wir an Benjamin Franklins Haus vorbeidefilieren, informiert uns unser Führer, dass »Ben die Bifokalbrille erfand«.

Die waren schon erstaunlich erfinderisch, diese frühen Amerikaner. Drehstuhl, Bifokalbrille, aber kein Techniker. Techniker kamen später.

Wir laufen um immer neue Bauten herum, Museen und historische Stätten, aber das meiste, was dieser Touristenführer sagt, geht mir zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Er redet wie eine Maschine, hunderttausend Details pro Sekunde, und ich beginne die anderen Teilnehmer unseres Rundgangs in Augenschein zu nehmen.

Hier ist ein gutgekleideter Mann aus Seattle, vermutlich im Rentenalter. Ich unterhalte mich ein wenig mit ihm, und er sagt, dass er zum ersten Mal in Philly ist.

Was empfinden Sie, wenn Sie hier herumlaufen?

»Stolz.«

Auf was?

»Auf meine Nation.«

Ist Amerika eine »Nation«? In mehr als drei Jahrzehnten New York ist mir dieser Gedanke nicht einmal in den Sinn gekommen.

Langsam aber sicher erreichen wir den Friedhof Christ Church und machen dort neben Ben Franklins Grab halt, auf dem viele Ein-Cent-Stücke liegen.

»Wenn Sie einen Penny auf Ben Franklins Grab werfen«, erläutert uns unser Führer einen alten Glauben, »kriegen Sie etwas von seiner Intelligenz ab.«

Ich werfe einen Penny.

Der mir Glück bringt: Der Rundgang ist zu Ende.

Auf einem Grabstein lese ich: »David Salisbury Franks (ca. 1740-1793). Jüdischer Offizier mit Auszeichnung und Adjutant von Gen. Benedict Arnold im Unabhängigkeitskrieg.«

Ein weiterer Jude in Philly.

Ich spreche eine Gruppe von drei Leuten an und frage sie, was an Amerika besonders ist, falls an Amerika etwas besonders ist.

»Oh, ja, natürlich. Etwas ganz Besonderes!«

Erklären Sie mir das, bitte.

Die jüngste unter ihnen, die 23-jährige Ann, sagt: »In diesem Land kann jeder vom Tellerwäscher zum Millionär werden. Wie weit unten man auf der sozialen Leiter auch steht, wenn man sich anstrengt, kann man die höchste Stufe erreichen.«

Glauben Sie, dass Sie persönlich die oberste Stufe erreichen werden?

»Ja!«

Was ist die oberste Stufe der Leiter?

»Gymnasiallehrerin.«

Wow! Das ist ganz schön weit oben!

Ich verabschiede mich, und unsere Wege trennen sich.

Und jetzt, da ich endlich auf eigene Faust unterwegs bin, suche ich die Independence Hall auf – deswegen bin ich ja eigentlich nach Philly gekommen. Ich betrete das Gebäude.

Das ist nicht, was ich erwartet habe.

Erwartet habe ich, dass die Independence Hall in Stil und Gestaltung großzügig ist, prächtiger noch als das Waldorf-Astoria in New York. Das ist aber nicht der Fall. Der Plenarsaal gleicht eher einer alten Gaststätte in einem osteuropäischen Dorf, in dem das Essen nur Pennys kostet, als einem superbedeutenden historischen amerikanischen Bauwerk. Vielleicht deutet er darauf hin, dass dieses gewaltige Land bescheidene Anfänge hatte.

Die Liberty Bell, die im Turm dieses Gebäudes hängt, ist nicht das Original, sagt man mir. Die echte Liberty Bell befindet sich fünf Gehminuten von hier und steht auf dem Boden des Liberty Bell Center.

Also auf zum Center.

Die Inschrift auf der Glocke lautet: »Verkünde Freiheit im ganzen Land für alle seine Bewohner.«

Interessant.

Diese Worte stammen aus der Bibel, aus dem dritten Buch Mose, und beziehen sich auf das Heilige Land Israel.

Versuchten die tiefgläubigen Gründer dieses Landes etwa, ein neues Israel in der Neuen Welt zu erschaffen? Vielleicht, nur vielleicht, war das der Anfang von Amerikas Beziehung zu den Juden. Das Ganze hat nicht erst mit Samantha begonnen.

Ich kehre zum Hotel zurück. Im Raucherbereich, dessen genaue Lage ich inzwischen ja kenne, spreche ich ein weißes Paar mittleren Alters an. »Es gibt Gegenden in dieser Stadt«, sagt mir der Mann, »in die Sie nicht gehen wollen, wenn Sie keine Waffe haben. Schauen Sie sich auf Channel 6 die Action News an, dann wissen Sie Bescheid.«

Wie heißen Sie?

»James.«

Tragen Sie eine Waffe bei sich, James?

»Ich besitze eine Waffe, habe sie aber gerade nicht dabei.«

Ich gehe auf mein Zimmer, um mir James’ Channel 6 anzugucken. Und finde Folgendes:

»Die Polizei sucht nach dem Bewaffneten, der einen 50-Jährigen in einer Gasse in der Nähe seiner Wohnung im Stadtteil Frankford von Philadelphia erschossen hat.«

»Offiziellen Angaben zufolge wurde einem Jugendlichen in Philadelphias Stadtteil Juniata Park ins Bein geschossen.«

»Die Polizei in Südwest-Philadelphia sucht nach einem Mann, den sie verdächtigt, eine Frau vergewaltigt zu haben, die auf den Bus wartete.«

Dr. Techniker kommt vorbei und wirft einen Blick auf meinen Stuhl, hat aber keinen Schimmer, wie er ihn reparieren soll. Er dreht ihn hin und her, ohne dass etwas passiert. Wenn der ein Techniker ist, bin ich Ben Franklin.

Können Sie ihn reparieren?

»Kann ich nicht.«

Aber er wird versuchen, ihn zu ersetzen.

Das ist Philly heute: Techniker, Vergewaltigung und Mord.

Irgendjemand da draußen muss sich all diese Menschen zu Herzen nehmen und für Phillys verlorene Seelen beten, finden Sie nicht auch?

Ich jedenfalls tue es und suche am Sonntagmorgen die beste Kirche von Philly. Ich entscheide mich schließlich für die Religiöse Gesellschaft der Freunde, weltweit bekannt unter dem Namen »Quäker«.

Ich werde gleich an einem Gottesdienst der Quäker – oder vielmehr an einer »stillen Andacht«, wie sie das nennen – teilnehmen und bin ganz schön aufgeregt. Ich weiß nicht einmal, warum.

Die Quäker spielten eine große Rolle beim Aufbau der Vereinigten Staaten von Amerika. Zunächst einmal war der Gründer von Pennsylvania, William Penn, ein Quäker; er sah diesen Staat als Zufluchtsort für die Quäker vor. Auch wurden die von ihm aufgestellten Prinzipien für Pennsylvania, wie etwa Gleichheit und Religionsfreiheit, später zu obersten Grundsätzen der USA.

Woher ich das weiß? Ich lese das hier in diesem Quäkerhaus. Aber Schluss mit Geschichte. Es ist Zeit für die Andacht.

Kein Kreuz, Halbmond oder sonstiges Symbol findet sich in diesem Gebetsraum – oder wie immer man diesen Raum nennen soll, in dem sich rund 60 Menschen zu einem Gottesdienst versammelt haben. Es liegt auch nirgendwo ein Gebetbuch aus. Drei bis vier Reihen von Bänken, auf denen sich die Besucher gegenübersitzen, stehen auf jeder der vier Seiten des Raums.

Sie sind still. Sie sind stumm.

Eigentlich geschieht hier nichts.

Warten sie auf die Wiederkunft des Herrn? Vielleicht. Jedenfalls sagt niemand etwas oder gibt irgendein Lebenszeichen von sich.

Die Zeit verstreicht, und nichts passiert.

Warten sie auf jemanden? Sieht nicht danach aus. Sie denken nach.

So verstreicht noch mehr Zeit. Langsam.

Und dann erhebt sich eine Dame, eine weißhäutige Dame in ihren Sechzigern, und spricht: »Ich möchte meine Gefühllosigkeit gestehen. Als ich die Nachrichten hörte, was in South Carolina passiert ist, tat mir das weh, aber ich litt nicht darunter.«

Sie redet von Dylann Roof.

Niemand sagt etwas.

Wieder herrscht vollkommene Stille.

Dies sind die Wurzeln Amerikas, richtig geraten. Quäker. Stille Quäker. Nie hätte ich gedacht, dass Amerika in Stille wurzelt. Manchmal denke ich, dass die Amerikaner das lauteste Volk auf Erden sind. Aber vielleicht liege ich da falsch.

Ich lerne dazu.

Die Uhr tickt weiter, und nichts passiert.

Welche Geduld diese Menschen haben!

Und dann steht plötzlich ein weißer Mann auf, er ist ungefähr im gleichen Alter wie die Frau, und sagt: »Ich habe im Fernsehen gesehen, dass einige von ihnen sagen, dies sei der Beginn eines Glaubenskriegs. Was genau das ist, was auch der Sohn Osama Bin Ladens sagte. Wir müssen darum beten, dass dies keinen Erfolg hat.«

Er setzt sich wieder hin.

Niemand spricht.

Alles schweigt.

Die Uhr klickt und tickt weiter, aber es passiert nichts.

Dann macht eine schwarze Frau, die ein wenig jünger ist als ihre beiden Vorredner, den Mund auf, allerdings im Sitzen: »Ich habe im Fernsehen gesehen, wie manche Sprecher sagten, das, was in South Carolina passierte, sei eine christenfeindliche Tat gewesen. Eine christenfeindliche Tat? Das war keine christenfeindliche Tat, das war ein rassistisch motiviertes Verbrechen, ein Rassemord. Rassemord!«

Keine Reaktion.

Stille.

Mehr Stille. Und noch mehr Stille. Eine weiße Frau steht auf und stimmt der schwarzen Frau zu. Dann erhebt sich ein Mann und sagt: »Wir haben jede Menge Kuchen, alle sind eingeladen.«

Essenszeit.

Neben mir sitzt eine Lady namens Audrey.

Alle machen sich über den Kuchen her, während ich mich mit Audrey unterhalte.

»Sind Sie Deutscher?«, fragt sie mich.

Woran haben Sie das erkannt?

»Das ist wirklich nicht schwer zu erkennen. Ich sehe ja Ihre Kleidung, Ihre Tasche, Ihre ganze Art.«

Ich wusste gar nicht, dass ich so deutsch bin!

Audrey ist eine Quäkerin, eine fromme Quäkerin.

Erklären Sie mir die Quäker, bitte ich sie.

»Quäker ist ein englisches Wort, ›to quake‹, zittern. George Fox, einer der Gründerväter der Quäker, zitierte die Bibel mit den Worten, man müsse vor dem Herrn zittern, woraus sich das Wort ›quake‹ und später ›Quäker‹ entwickelte. Der ursprüngliche Name war Religiöse Gesellschaft der Freunde. Wie Sie in der Andacht sehen konnten, ist es ruhig; man spricht nur, wenn man ein Bedürfnis danach hat, wenn etwas in einem zittert, etwas, das einen dazu bringt, den Mund aufzumachen und zu sprechen.«

Sind Sie eine Nachfahrin der ursprünglichen Quäker?

»Nein, ich wurde nicht als Quäkerin erzogen.«

Katholisch oder so?

»Nein, nein. Meine Eltern waren reformiert.«

Reformiert? Wer sind die Reformierten?

»Reformjuden.«

Ach! Sie sind also jüdisch erzogen worden?

Sie sieht mich an, als hätte ich gerade ihr größtes Geheimnis entdeckt und wäre dabei, es hinauszuposaunen.

Sind Sie jüdisch?

»Meine Eltern, sie waren reformiert.«

Noch eine Jüdin in Philly. Diesmal eine lebendige.

David, ein Mitglied der Gemeinde, schließt sich uns an. Er ist mit Präsident Obama sehr zufrieden, sagt er, weil Obama den Palästinensern wohlgesinnt ist.

Ich gehe zum Kuchentisch und angle mir einen halben Berliner; er ist wirklich gut, mehr Marmelade als Teig, und ich genieße schweigend jeden Bissen. Gott segne die Quäker!

Ich hole mir einen eher mittelmäßigen Kaffee und setze mich hin, um mich mit anderen Quäkern zu unterhalten. Sie sind fast alle weiß, lieben alle die Schwarzen und interessieren sich sehr für sie. Das zumindest sagen sie mir. Ich gebe mich als Tourist zu erkennen und bitte sie um Tipps.

»Gehen Sie nicht nach Germantown; dort ist es nicht sicher«, antwortet einer von ihnen, und alle stimmen zu.

Ich notiere mir »nach Germantown gehen« und höre ihnen weiter zu.

Sie alle, lassen sie mich wissen, lieben Obama.

Und warum?

Weil er »die Palästinenser stärker unterstützt, den Israelis gegenüber mehr Härte zeigt und das Embargo gegen Kuba aufhebt«.

Kuba ist ein Nachbar Amerikas, aber der letzte Punkt auf der Liste von Obamas guten Taten.

Ich überfliege die aktuellen Nachrichten, um zu sehen, ob irgendetwas besonders Schreckliches in Israel passiert ist, das ihre starken Gefühle bezüglich dieses Lands erklären könnte. Unter den heutigen Schlagzeilen finde ich aber nur einen Bericht auf Channel 6: »Nach einer Schießerei auf einem Straßenfest in West-Philadelphia mit zehn Verletzten, darunter zwei Kindern und einem einjährigen Säugling, fahndet die Polizei nach zwei Verdächtigen.«

Während den Philadelphiern um mich herum die Palästinenser, die zigtausende Kilometer entfernt von ihnen leben, keine Ruhe lassen, scheint kein einziger Quäker hier zu zittern, weil in Gehweite von ihnen auf Menschen geschossen wird.

Warum interessieren sich diese Menschen so für Israel? Keine Ahnung.

Alles, was ich weiß, ist: Ich muss nach Germantown.

Dort angekommen, gehe ich in eine Seitenstraße, in der Leute in Gruppen auf den Eingangsstufen und Veranden kleiner Häuser sitzen. Alles Schwarze. Deutsche finden sich hier nicht, nicht einer. Die einzige weiße Farbe ist die der Wände. Ich mache bei einer Gruppe halt, vielleicht sind es Angehörige einer Familie, und beginne ein Gespräch mit ihnen.

Wie ist das Leben in Germantown?, frage ich sie. Eine bessere Frage fällt mir nicht ein.

»Das Leben ist gut hier«, verrät mir eine Frau. »Vor 30 Jahren war es schlecht, aber jetzt ist es gut.«

Das freut mich zu hören.

»Wer sind Sie?«

Ich bin ein deutscher Reporter und bin hierher nach Germantown gekommen, um zu sehen, wie Sie leben.

»Unser Bürgermeister ist nicht gut, er ist korrupt, aber sonst ist es in Ordnung«, ergänzt sie.

Wie kommen Sie mit den Weißen klar?

»Sehr gut.«

Der Mann neben ihr hört diesem kurzen Austausch zu und unterbricht uns.

»Woher kommen Sie?«

Aus Deutschland.

»Wie lang sind Sie schon hier?«

Gerade eingetroffen.

»Noch nie hier gewesen?«

Noch nie. Ich bin Journalist und kam hierher, um der Welt über Sie zu berichten. Ich habe soeben gehört, dass in Germantown alles gut ist. Stimmt das? Ist es das, was ich der Welt erzählen soll? Was immer Sie sagen, werde ich berichten. Mir ist es gleich.

»Sie wollen die Wahrheit hören?«

Nur die Wahrheit, mein neuer Freund.

»Das hier ist eine Scheißgegend.«

Warum das?

»Weil die einen zusammenschlagen können, wie sie scheiße wollen.«

Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht, mache aber weiter. Geben Sie mir ein Beispiel, sage ich.

»Weil die Polizei, die interessieren nur Knarren, die interessiert nur Gewalt. Wir, um uns kümmern die sich einen Scheißdreck. Die kümmern sich nur keinen Scheißdreck um uns, wenn wir eine Waffe tragen.«

Ein anderer Mann, Horise, sagt: »Es wurde geschossen. Vier Schüsse. Zwei Kids, zehn und zwölf Jahre alt; zwei Erwachsene, eine Frau, ein Mann.«

Ich weiß nicht, wovon er redet, frage aber auch jetzt nach: Heute?

»Um halb fünf Uhr morgens. Vor ein paar Stunden.«

Was war der Grund?

»Kein Grund. Könnte mit Waffen zu tun haben. Du suchst nach deinem Feind. Kein Feind in deinem Block? Dann ziehst du weiter und schießt. Hoffentlich kriegst du ihn. Wenn nicht, wird irgendjemand erschossen, der zufällig da war. Wenn du die Person nicht kriegst, die du suchst, hältst du dich an ihren Bruder, ihre Schwester oder ihre Mutter. Wie auch immer du ihn kriegst.«

Ich verstehe, glaube ich. Jemand wollte jemanden erschießen, weil er aber diesen Jemand nicht fand, erschoss er jemand anderen, ein paar andere Jemands.

Wie oft passiert das hier?, frage ich.

»Alle zwei Tage.«

Kennen Sie irgendjemanden persönlich, der hier getötet wurde?

Der erste Mann antwortet: »Mein Kumpel, mit dem ich mein ganzes Leben lang aufgewachsen bin, wurde vor zwei Wochen erschossen, im Hinrichtungsstil.«

Was heißt »Hinrichtungsstil«?

»In den Kopf.«

Hat die Polizei den Mörder geschnappt?

»Nein.«

Horise: »Der Mörder wird nie geschnappt. Deshalb weißt du nie, wann er wiederkommt.«

Das ist ein verdammt hartes Leben –

»Du lebst dein Leben in vollen Zügen, weil du nie weißt, wann Schluss ist. Du bist besser bescheiden und versuchst nur zu überleben.«

Der erste Mann ergänzt: »Wir leben jeden Tag im Krieg. Eine Menge von dem, was auf der Straße geschieht, kommt nicht in die Nachrichten.«

Horise: »Wenn ein Bruder (ein Schwarzer) durchs Viertel läuft und von mehreren Schüssen getroffen wird, ist das keine Nachricht wert.«

Beide wurden sie zu diesem oder jenem Zeitpunkt von der Polizei inhaftiert, behaupten aber, das liege nur an der Rasse. »Die stecken mich in eine Schublade, weil ich schwarz bin«, sagt Horise.

Horise erklärt mir, wie man in der Hood (dem Schwarzenviertel, dem Schwarzenghetto) trotz aller Gefahren überlebt: »Wenn du das Gefühl hast, wann auch immer, wenn du im Herzen spürst, etwas is’ nich’ in Ordnung, dann renn schnell. Hör auf dein Herz!«

Wir machen ein Gruppenfoto. Horise’ Freund macht den Dreifingergruß (der Bandenmitgliedschaft anzeigt), Horise aber drückt seine Hand runter. »Keine Banden jetzt!«, sagt er zu ihm.

Rachel, eine junge Frau, spricht mich an: »Mein Traum ist, von hier wegzugehen.« Die US-Behörden, erzählt sie, »behandeln Minderheiten sehr, sehr schlecht. Hat alles mit der Hautfarbe zu tun.«

Für die Menschen in Germantown habe ich etwas von einem Ufo. Soweit sie sich erinnern, ist noch nie ein weißer Mann durch diese Straßen gelaufen. Diese Gegend, begreife ich, ist de facto segregiert. Nur für Schwarze. Weiße kommen vielleicht einmal mit dem Auto hier durch, wenn ihr Navi sie durch das Viertel dirigiert, aber sie werden keinesfalls aussteigen und sich hier die Beine vertreten.

Diese »Hood« bietet einen traurigen Anblick.

Ich war in meinem Leben schon in Armenvierteln. Ich habe mich immer wieder in Flüchtlingslagern im Nahen Osten aufgehalten, und der Unterschied zwischen ihnen und diesem Schwarzenviertel ist eklatant: Hier herrscht der Todesengel uneingeschränkt.

Jetzt verstehe ich auch, warum die Quäker mir davon abrieten, hierherzukommen. Sie lieben das Bild, das sie von sich selbst gezeichnet haben, das eines teilnahmsvollen Völkchens. Nehmen sie aber wirklich Anteil? Sie werden keinen Finger rühren, um ihren armen, sterbenden Nachbarn zu helfen. Aber sie sorgen sich, natürlich, zutiefst um die »Palästinenser«.

Es gibt dafür ein treffendes Wort: Scheinheiligkeit.

Ich verlasse Germantown und kehre in mein Hotel zurück.

In der Nähe des Hotels befindet sich das Independence Seaport Museum und dem gegenüber ein Geldautomat, auf den jemand ein Wort gekritzelt hat: »Jude«. Die Bedeutung ist klar: Bei einer Geldmaschine muss ein Jude dahinterstecken.

Als ob ich noch mehr Hässlichkeit bräuchte, nachdem ich in Germantown war.

Ich kam nach Philly, um etwas über Amerikas Geburt zu erfahren, und verlasse es mit Bildern des Todes; ich kam auf der Suche nach Toleranz und finde Vorurteile.

Ich bereite mich darauf vor, aus Philly abzureisen.

Nur wie? Ein Privatjet ist keine wirkliche Option, was bedeutet, dass ich ein Auto mieten muss. Was bedeutet, o mein Gott, dass ich Auto fahren muss!

Ich werde das schaffen.

Ich schleppe mich zu einer Autovermietung und hole mir einen roten Chevrolet Cruze. Ein kleiner, aber, hoffe ich doch, vielversprechender Wagen.

Ich liebe Rot. In Europa verbindet man Rot mit Kommunisten, in den Vereinigten Staaten verbindet man Rot mit Kapitalisten, ich aber mag die Farbe aus keinem politischen Grund, ich liebe sie einfach so.

Philadelphia, PA, ist der Ort, an dem der Zweite Kontinentalkongress die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten verabschiedete und an dem die Verfassung der Vereinigten Staaten ausgearbeitet und unterzeichnet wurde. So viel wissen wir jetzt, oder?

Dann gibt es da noch Gettysburg, PA, eines der blutigsten Schlachtfelder des Amerikanischen Bürgerkriegs, wo Präsident Abraham Lincoln im November 1863 die später als »Gettysburg Address« berühmt gewordene Rede hielt; sie gilt bis heute als eine der wichtigsten Reden der amerikanischen Geschichte.

Der Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 zwischen dem Süden und dem Norden, zwischen den Konföderierten Staaten von Amerika und den Unionisten, machte Amerika zweifellos zu dem, was es heute ist.

Ich fahre nach Gettysburg, um mich auf die Spuren dieses Teils der amerikanischen Geschichte zu begeben.

Ich bin noch keine halbe Stunde mit dem Auto unterwegs, als ich beinahe einen Unfall mit einem Sattelschlepper baue. Glücklicherweise sitzt da ein geübter Fahrer am Steuer, der im letzten Moment die Spur wechselt. Er hupt mich ordentlich an, aber das habe ich verdient.

Ich fahre einfach weiter, weiter und weiter und fühle mich mit der Zeit etwas entspannter. Morgen schon, so hoffe ich, wird mir kein Sattelschlepper mehr ausweichen müssen.

Ich mache kurz an einer Raststätte halt und suche mir ein konkretes Ziel aus, das ich in Gettysburg ansteuern möchte. Wie sich herausstellt, gibt es in Gettysburg Leute, die Leute wie mich am Frontverlauf der Schlacht von Gettysburg entlangführen.

Perfekt!

Ich verabrede mich mit einem dieser Menschen, einem Mann namens Paul. Paul setzt sich zu mir in mein rotes Auto und weist mir den Weg. Von Zeit zu Zeit halten wir an, steigen aus dem Cruze aus, und Paul nennt mir die genaue Zahl der Toten und die Zahl der in einem bestimmten Abschnitt des Schlachtfelds explodierten Artilleriegranaten. Er lässt mich auch wissen, dass nicht alle Toten beerdigt wurden. Wahrscheinlich, sagt er, befinden sich sterbliche Überreste wie Knochen und dergleichen direkt unter meinen Füßen.

Na vielen Dank.

Persönlich steht Paul auf der Seite der Unionisten des Nordens, nicht auf der der Konföderierten des Südens. Wenn er aber Besucher aus dem Süden herumführt, hütet er seine Zunge. »Die Emotionen schlagen immer noch hoch«, erklärt er mir, und Besucher aus dem Süden stoßen sich an seiner Verwendung des Wortes »Bürgerkrieg«.

Haben sie denn eine andere Bezeichnung für den Krieg?

»Ja. Sie nennen ihn den Krieg der nördlichen Aggression.«

Manche Menschen, informiert mich Paul, weigern sich sogar, den Boden zu betreten, auf dem vor 150 Jahren die Union auf diesem Schlachtfeld kämpfte.

Ich habe damit kein Problem. Ich fahre und laufe auf dem Boden herum, auf dem beide Seiten des Krieges kämpften, mache bei dieser und jener Kanone, dieser und jener Angabe von Gefallenenzahlen halt, bis sich auf einmal vernehmlich mein Bauch meldet.

Ich habe kein Problem damit, es mit irgendeinem Nord- oder Südstaatler aufzunehmen, vor meinem Bauch aber gebe ich klein bei. Er ist hier der König.

Ich suche mir ein feines Restaurant.

Ich bin nicht der einzige Gast in diesem Restaurant, nur damit Sie’s wissen.

Robert am Tisch hinter mir ist einer von den Amerikanern, die die Gettysburg Address auswendig können, mit nur wenigen Fehlern. Woher ich das weiß? Er sagt es mir.

Was ist die wichtigste Zeile der Rede?, frage ich ihn.

»Auf dass diese Nation nicht von der Erde verschwinden möge«, antwortet er.

Ein paar Wörter hat Robert hier und da ausgelassen, beispielsweise »auf dass diese Nation, unter Gott, eine Wiedergeburt der Freiheit erleben soll – und auf dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von der Erde verschwinden möge« – aber das geht für mich in Ordnung.

Wir unterhalten uns.

Mehr als eine halbe Million Menschen verloren ihr Leben in diesem Krieg, wenn ich mich recht erinnere. Worum ging es in dem Krieg?

»Um die Sklaverei.« Die Südstaatler wollten ihre schwarzen Sklaven behalten; die Nordstaatler wollten die Sklaverei abschaffen.

Seine Frau Kim ist da anderer Ansicht. Sie sagt, dass die Menschen in den Südstaaten der Meinung waren, die Bundesregierung nehme den Staaten zu viel Macht weg, und dass sie für die Rechte ihrer Staaten kämpften.

Robert und Kim sind in fast allen Dingen unterschiedlicher Auffassung. Robert glaubt, dass Amerika Israel unterstützt, weil die Juden in Amerika amerikanischen Politikern Geld geben. Es gibt eine starke jüdische Lobby hier, behauptet er, und die Juden bezahlen die Politiker dafür, dass sie auf Israels Seite stehen. Kim hingegen denkt, dass Palästina bereits existiert, in Jordanien, und dass die Palästinenser sowieso keinen Frieden mit Israel wollen.

Auch beim Essen trennen sich die Wege der beiden.

Als es an den Nachtisch geht, bestellt Kim einen großen Teller Schokoladenkuchen mit Eis, Robert hingegen nichts. Mir ist schon oft aufgefallen, dass weiße Intellektuelle, die Partei für die Palästinenser ergreifen, auf »gesunde« Ernährung Wert legen und Schokoladenkuchen mit Eis aus Prinzip ablehnen. Die Israel-Freunde hingegen haben keine Grundsätze und essen alles.

Kim genießt den schweren Kuchen und das fettreiche Eis sichtlich, ihr Gesicht strahlt vor Wonne. Robert holt sein Smartphone heraus und liest, während sie isst.

So wie ich.

Der Kampf zwischen den Konföderierten und den Unionisten, lese ich auf meinem Smartphone, bewegt in Amerika immer noch die Herzen. Soeben meldet Fox News:

»Die Gouverneurin von South Carolina, Nikki Haley, forderte am Montag die Entfernung der Konföderiertenflagge von staatlichen Einrichtungen, die das Recht des Bürgers, diese Fahne hochzuhalten, verteidigen.«

Dies ist natürlich eine Reaktion auf das weitverbreitete, undatierte Foto, das Dylann Roof mit einer Konföderiertenflagge zeigt. Ohne die Konföderiertenflagge, so wohl ihre Schlussfolgerung, hätte Dylann niemanden getötet.

Mit vollem Magen kreuze ich mit Cruze in Gefilde jenseits der Toten und Schokoladenkuchen von Gettysburg.

Wir kommen nach Grantsville, Maryland.

Ich weiß auch nicht, was uns hierher verschlagen hat. Wir fuhren nach Norden, oder war es doch Westen, und landeten hier. Hauptsache, Cruze scheint es recht zu sein, mich dahin zu bringen, wo immer es ist, und beschwert sich nicht über Maryland.

Ist das eine nette Stadt?, frage ich eine junge Frau, während sie an einer Tankstelle Müllsäcke aus verschiedenen Mülltonnen in einen großen Container lädt.

»Ich liebe diese Stadt«, sagt sie mir. »Ich bin hier aufgewachsen. Keine Verbrechen hier, und jeder kennt jeden.«

Nur wenige Schritte von uns entfernt steht ein Pick-up, auf dem in Großbuchstaben Folgendes zu lesen ist:

»Dodge the father

Ram the daughter

You stay home and stroke it

I’ll go to her house and ram it.«

Was soll das denn heißen? »Umgeh’ den Vater, stoß’ die Tochter?« Klingt nach einer Vergewaltigungsszene, und ich dachte, hier gibt’s keine Verbrechen –

Sie lacht. »Da geht’s nicht um eine Frau, sondern um ein Auto. Einen Dodge, verstehen Sie?«

Ehrlich gesagt, nein. Dieser Pick-up mit seinem ausgesprochen reizenden Poem würde in New York City keine acht Sekunden überleben. Jemand, ein weißer Verfechter der freien Rede mit einer Professur an der Universität Columbia oder sein minderjähriges mexikanisches Hausmädchen, würde diesen Pick-up im Handumdrehen steinigen, bis er ein kleines Häuflein unkenntlichen Schrotts ist.

Das macht mich neugierig auf diesen Ort.

Ich sollte erst mal herausfinden, wo ich eigentlich bin.

Im Tankstellen-Shop treffe ich auf Tim, einen Arbeitslosen, und bitte ihn, mir zu sagen, wo genau ich hier bin. »Das hier ist die Stadt der Rednecks«, erklärt er mir. »Nicht viel los hier, aber wenn Sie die Straße hochfahren, haben Sie eine schöne Aussicht.«

Was ist ein Redneck?

»Sie wissen nicht, was ein Redneck ist?«

Sagen Sie’s mir.

»Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Neulich war ein Schwarzer hier, und alle haben gegafft. Ein paar sprachen ihn an und fragten ihn, ob er irgendwas bräuchte, um ihm dann zu sagen, er könne es sich woanders besorgen. So sind Rednecks.«

Was würde passieren, wenn ein Muslim oder ein Jude hierherzöge?

»Ich würde ihnen raten, nicht hierherzukommen.«

Was ist das Problem mit Muslimen?

»9/11.«

Und mit Juden?

»Keine Ahnung. Bin noch nie einem begegnet.«

Aber der Jude sollte sich besser nicht hier blicken lassen –

»Würd ich mal sagen.«

Da kommt eine Frau vorbei. Tim fragt sie: »Wie würdest du Redneck beschreiben?«

»Fragt die Kids da drüben«, antwortet sie und zeigt rechts hinter sich. »Die nennen sich selber Rednecks und sind sehr stolz drauf.«

Eins der »Kids« ist Brooke, eine attraktive 18-Jährige, die nach eigenen Aussagen kein Redneck ist, sondern ein »Country Girl«. Denn: »Mädchen nennt man nicht Rednecks, man nennt sie Country Girls.«

Mein Spieltrieb regt sich.

Spielen wir ein Wortespiel: Ich sage ein Wort, und Sie sagen mir, was Sie damit verbinden. Okay?

»Okay.«

Schwarz.

»Ich weiß nicht.« Sie gluckst.

Muslim.

»Da bin ich mir nicht sicher.«

Versuchen wir’s nochmal: Schwarz.

»Stadt.«

Muslim.

»Ein anderes Land.«

Das können Sie besser!

»Besser?«

Ja.

»Okay.«

Muslim.

»Krieg.«

Jude.

»Holocaust.«

Schwarz.

»Geld.«

Wie bitte??

»Viele Schwarze haben viel Geld.«

Wie sind sie zu dem Geld gekommen?

»Sie verkaufen viele Drogen.«

Würden Sie einen Schwarzen, einen Muslim oder einen Juden heiraten?

»Nein.«

Was haben Ihre Eltern Ihnen über Schwarze, Muslime und Juden erzählt?

»Dass ich sie nicht mit nachhause bringen soll. Sie mögen sie nicht.«

Wie sieht es mit Leuten aus, die christlich erzogen wurden, die Religion aber nicht mehr ausüben? Gibt’s ein Problem mit denen?

»Nein.«

Kann man irgendworan feststellen, ob jemand ein Redneck ist?

»Ja. Rednecks haben ihre Baseballcaps gebogen.«

Ich habe keine Ahnung, was »gebogen« hier bedeutet, und bitte sie, mir zu zeigen, wie eine solche Kappe aussieht. Sie nimmt ihre ab, faltet den Schirm einmal längs fest zusammen, setzt sie mir auf und zieht sie rechts ein Stück runter. »Das ist ein Redneck.«

Ich bin ein Redneck! Und verdammt stolz darauf!

Der neue Redneck liest jetzt erst mal Zeitung. Die New York Times meldet: »Ein lang ersehnter Sieg für die Schwulenbewegung: Am Freitag entschied der Oberste Gerichtshof, dass die Verfassung bundesweit das Recht auf die gleichgeschlechtliche Ehe garantiert.«

Eine bedeutende Nachricht für die Homosexuellen! Vorausgesetzt natürlich, sie lassen sich nicht vom Moskauer Oberrabbiner trauen.

Ich fahre, fahre und fahre. Amerikas Straßen sind endlos.

Ich meide Autobahnen, so gut es geht, und nehme lieber Nebenstraßen. So sehe ich mehr von Land und Leuten.

An der Straße, die ich gerade entlangfahre, stehen überall Kirchen, und wo keine Kirche steht, sieht man gewaltige Reklametafeln. Auf einer ist zu lesen: »Am Anfang schuf Gott« – die ersten Worte der Schöpfungsgeschichte. Andere Plakatwände ermutigen dazu, an Jesus zu glauben.

Ich schalte das Radio ein, nehme den erstbesten Sender. Eine Pfarrerin unterweist uns Hörer in den Vorzügen des Schweigens. Schweigen sei die beste Medizin. Und so sülzt sie immer weiter über die Bedeutung des Schweigens, anstatt uns davon einmal ein sekundenlanges Pröbchen zu gönnen.

Diese Dame müsste ich einmal in eine Quäkerkirche bringen!

Unterdessen fahre ich, während sie redet. An einem Ort namens Ligonier schalte ich das Radio ab und steige aus meiner roten Lady aus. Ich bin wieder in Pennsylvania. Na so was. Cruze hat mich hierhergebracht.

Ligonier. Was zum Kuckuck ist Ligonier? Ich habe noch nie von Ligonier gehört, aber es existiert.

Ich gehe in ein Café, um mir eine gehörige Dosis Koffein zu besorgen, und begegne dort Michelle. Ich weiß über Michelle so viel wie über Ligonier, sie aber weiß alles über mich. So zum Beispiel, dass ich ein »europäischer Intellektueller« bin.

Wie schnell das geht, vom Redneck zum europäischen Intellektuellen!

Um sie nicht zu enttäuschen, stelle ich ihr eine intellektuelle Frage: Ist Ligonier rot (republikanisch) oder blau (demokratisch)?

Sie mustert mich eingehend, versucht zu ergründen, welcher Partei und Ideologie europäische Intellektuelle wie ich anhängen könnten, und sagt schließlich: »Dies ist eine liberale Stadt. Die meisten hier wählen demokratisch.«

Sie hält mich also für einen Liberalen, denke ich mir, und versuche ein kleines Spiel mit ihr. Ich bin Deutscher, sage ich, und Deutsche sind rot. Haben die Einwohner von Ligonier, frage ich, Obama gewählt?

»Um ehrlich zu sein«, sagt sie jetzt, »ich weiß es wirklich nicht. Ich verstehe nichts von Politik, wissen Sie. Schmeckt der Kaffee? Einen wunderschönen Tag noch.«

Sie geht ab.

Lesley, eine Dame, die ich noch nie zuvor gesehen habe, setzt sich zu mir, als ob wir uns seit biblischen Zeiten kennen.

Die Ligonier-Ladys mögen mich! Ich glaube, hier bleibe ich.

Lesley sagt mir, dass Ligonier eine Redneck-Stadt ist, was röter ist als rot.

Lesley trägt keine Baseballmütze, gebogen oder nicht, also nehme ich an, dass sie keine Redneck ist. Ich halte aber lieber den Mund und lasse sie reden.