Allein unter Deutschen - Tuvia Tenenbom - E-Book

Allein unter Deutschen E-Book

Tuvia Tenenbom

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Beschreibung

Tuvia Tenenbom, aufgewachsen als Sohn eines Rabbiners in Jerusalem, begibt sich auf Entdeckungsreise durch Deutschland: von Nord nach Süd, von Ost nach West, in die Stadt, aufs Land, in die Kirchen und in die Kneipen. Auf seiner Suche nach der deutschen Identität schreckt er vor keiner Begegnung zurück. Er interviewt Helmut Schmidt, Giovanni di Lorenzo und Kai Diekmann, er ist zu Gast in einem rechtsradikalen Club, er begleitet linke Autonome auf Erste-Mai-Demonstrationen. Er beobachtet die Biertrinkernation im WM-Sommer 2010, er besucht Synagogen, die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald, den Weltkirchentag, die Passionsspiele in Oberammergau. Er spricht mit Studenten und Professoren, mit Bankern und Industriellen, mit Politikern und Künstlern, mit Bürgermeistern und Schrebergartenbesitzern, mit Obdachlosen und Junkies. Quer durch alle gesellschaftlichen Schichten stellt er immer wieder die gleichen, drängenden Fragen: Wie ist es um den Nationalstolz der Deutschen bestellt? Wie gehen sie mit der deutschen Vergangenheit, wie mit dem Antisemitismus um? Wie reflektiert und kritisch sind sie dabei? Tenenbom nimmt in seinem sarkastischen, provokanten Reisebericht kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, uns den Spiegel vorzuhalten. Auf unterhaltsame Weise führt er mit scharfer Beobachtungsgabe die deutschen Marotten vor und enthüllt dabei intelligent und komisch zugleich die Seele des Landes und seiner Bewohner. Es treten auf: Helmut Schmidt, Giovanni di Lorenzo, Jens Jessen, Horst Tomayer, André Schiffrin, Charles Schumann, Kai Diekmann, Holger Franke (»Rote Grütze«), Adolf Sauerland, Helge Schneider, Paul Bauwens Adenauer, Peter Scholl-Latour u.a… - - In der eBook-Ausgabe sind aus rechtlichen Gründen 4 Passagen geschwärzt. - -

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Seitenzahl: 483

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel I Sleep in Hitler’s Room.

Einige der dort veröffentlichten Gespräche wurden aufgrund des Einspruchs der Interviewten nicht in die vorliegende deutsche Übersetzung übernommen. Auch wenn diese Interviews jeder Überprüfung standhalten würden, habe ich auf sie verzichtet, um langwierige rechtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden.

Unter denen, die nicht in dem Buch erscheinen wollten, finden sich folgende Personen: Stanislaw Tillich, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen; Joachim Herrmann, Innenminister von Bayern; Zülfiye Kaykin, Staatssekretärin für Integration beim Minister für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen; Volkhard Knigge, Direktor der »Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora«; Dietrich-Daniel Gaede, Leiter der Abteilung Gedenkstättenpädagogik an der Gedenkstätte Buchenwald.

T.T.

Tuvia Tenenbom

Allein unter Deutschen

Eine Entdeckungsreise

Mit Fotos von Isi Tenenbom

Aus dem Amerikanischen von Michael Adrian

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4659.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Copyright © by Tuvia Tenenbom 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlagfoto: Isi Tenenbom

Umschlaggestaltung: Regina Göllner und Hermann Michels

eISBN 978-3-518-79310-7

www.suhrkamp.de

Dieses Buch ist meiner Frau Isi Tenenbom gewidmet,die mich auf dieser Reise begleitete,unterwegs an die 2000 Fotos machte,mich in schwierigen Stunden liebevoll tröstete,und zusammen mit mir lachte, als alles getan war.

INHALT

Vorbemerkung

KAPITEL 1In dem einer, der Cola light mit Eis trinkt, wohl ein amerikanischer Kapitalist sein muß

KAPITEL 2Dem zu entnehmen ist, daß man in Rom Bescheid weiß: Schon die alten Juden aßen Schinken und Muscheln

KAPITEL 3In dem ich in Deutschland lande, wo gerade REVOLUTION! gemacht wird, und ich mit der radikalen Linken marschiere

KAPITEL 4In dem ich mich im Kampf gegen den jüdischen Teufel den Rechtsradikalen anschließe

KAPITEL 5In dem ich bei Deutschlands Geisteselite zu Gast bin und mich mit Altkanzler Helmut Schmidt sowie Giovanni di Lorenzo, dem Chefredakteur der ZEIT, unterhalte

KAPITEL 6In dem deutsche Technik auf Disney trifft und Geld dabei herauskommt

KAPITEL 7In dem wir Katholiken und Protestanten in freudiger Erwartung sehen, den »Leib Jesu« zu verspeisen, während die Juden die Nacht durchmachen, um sich anders verköstigen zu lassen

KAPITEL 8In dem wir von einem ungewöhnlichen Ansinnen hören: Schatz, laß uns da heiraten, wo sie die Judenvernichtung beschlossen haben!

KAPITEL 9In dem wir dem Besuch eines amerikanischen Propheten und einer Hochzeit mit Engeln beiwohnen

KAPITEL 10In dem wir einen Streifzug durch die deutsche Kultur unternehmen und einem Komiker, einem westlichen Scheich, Museumskids, Jurastudenten, Jesus Christus und natürlich König Ludwig II. begegnen

KAPITEL 11In dem wir Näheres über die Ursprünge der Rauchverbotspolitik erfahren und noch dazu lernen, wie man sich mit Hilfe eines Wasserhahns die Hände wäscht

KAPITEL 12In dem schnelle Schlitten in Museen stehen, Junggesellen sich an nackten Statuen erfreuen, arme Schlucker eine Nobelbar besuchen, Kuba zur einzigen Demokratie erklärt wird, erdolchte Frauen sexy sind und man seinen Doktor in Liegestützen machen kann

KAPITEL 13In dem die Deutschen ihre Nationalmannschaft lieben und ein Mercedesboß seine Mama

KAPITEL 14Aus dem hervorgeht, wie der Emir von Katar mein Freund wurde und China den Zweiten Weltkrieg beendete

KAPITEL 15In dem ich den Mann mit dem größten Penis interviewe, dessen Zeitung täglich von zwölf Millionen Menschen gelesen wird

KAPITEL 16In dem ein alter Jude seinen Gedanken, eine junge Dame ihren Küssen und eine deutsche Band ihrem englischen Liedgut freien Lauf lassen, während die Linken den Reiz einer Siedlungsbewegung für sich entdecken

KAPITEL 17In dem ich die größte Moschee besichtige, den komischsten Bürgermeister und den witzigsten Klavierspieler kennenlerne und endlich begreife, wie sexy ein Tattoo und wie wichtig eine Dusche sein kann

KAPITEL 18In dem begründet wird, warum Juden so gerne auf Tote schießen

KAPITEL 19In dem sechs Millionen Touristen dank engagierter deutscher Journalisten über den »israelischen Terrorstaat« ins Bild gesetzt werden, 11000 Jungfrauen gegen 11000 tote Juden stehen und die Saudi Mecca Theater Company uns schließlich alles verrät, was wir schon immer über Sex wissen wollten

KAPITEL 20In dem die bekannte Tatsache erörtert wird, daß zwei Juden, die sich irgendwo auf der Welt über den Weg laufen, sofort einen Draht zueinander haben

KAPITEL 21In dem wir vom Unterhaltungszentrum des KZ Buchenwald zu einer Demonstration gegen Israel geführt werden

KAPITEL 22In dem man uns sagt, daß die Israelis Nazis sind

KAPITEL 23In dem sich so manche Frage stellt, nicht zuletzt die, wer den BH erfunden hat, wer sich eine Vase für 100000 Euro leisten kann und warum sich das echteste Heilige Grab in Görlitz befindet

KAPITEL 24In dem bewiesen wird, daß Ahmadinedschad ein Jude ist

KAPITEL 25In dem es uns nach Sylt verschlägt, wo die reichen Deutschen Gold essen

Danksagung

Vorbemerkung

Mein ursprünglicher Plan für diesen Sommer war recht einfach: Ich wollte die schönen Tage des Jahres bei der Hamas in Gaza verbringen. Schon letztes Jahr hatte ich dort hinfahren wollen, doch es kam nicht dazu. Erst sagten mir die Palästinenser, ich sei willkommen, während die Israelis sagten, sie würden mich nicht über die Grenze lassen. Als die Israelis dann ihre Meinung änderten, änderten die Palästinenser ihre auch. Das ist in dieser Gegend normal. Dieses Jahr habe ich daher beschlossen, gar nicht erst zu fragen, damit niemand mehr solche Spielchen mit mir spielen kann.

Ich war bestens vorbereitet. Ich hatte mir sogar die privaten Telefonnummern einiger führender Hamas-Vertreter geben lassen. Sie würden mir, einem guten Deutschen, ganz sicher helfen, sollte ich auf der anderen Seite der Grenze in Schwierigkeiten geraten.

Bin ich ein Deutscher, ein guter gar? Eigentlich nicht. Aber wann immer ich mich in arabischen Landen aufhalte, behaupte ich, ich sei Deutscher. Mit Philosophie oder Politik hat das rein gar nichts zu tun, nur mit meinem Selbsterhaltungstrieb. Als ich nämlich in Jordanien einmal einen meiner Gastgeber fragte, was er täte, wenn ich ein Jude wäre, zögerte er keine Sekunde und antwortete, er würde mich auf der Stelle töten. Daraus zog ich meine Lehre und bin seit diesem Tage ein Deutscher.

Meine arabischen Freunde, Christen wie Muslime, lieben mich dafür. »Ihr seid gute Leute«, sagen sie mir. »Was ihr Deutschen mit den Juden gemacht habt, war echt gut.«

Es gibt dabei jedoch ein kleines Problem. Ich bin kein Deutscher. Ich komme, unter uns gesagt, aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden. Der Großteil meiner Familie, der meines Vaters und der meiner Mutter, starb im Krieg. Auf deutschen Befehl. Mein Vater war noch ein Baby, als er aus Europa vertrieben wurde, meine Mutter überlebte im Konzentrationslager. Ich frage mich, was meine Eltern sagen würden, wenn sie wüßten, daß ich mich als Deutscher ausgebe.

Was heißt es überhaupt, ein Deutscher zu sein?

Hin und wieder habe ich versucht, mir darüber klarzuwerden. Zufälligerweise bin ich Journalist, und eine der Zeitungen, für die ich regelmäßig schreibe, ist Die Zeit. Durch sie habe ich einige deutsche Journalisten kennengelernt, allesamt hervorragende Leute, von denen mir aber nur die wenigsten bei der Frage weiterhelfen konnten, was es heißt, »ein Deutscher« zu sein. Zufälligerweise bin ich auch noch Bühnenautor und Regisseur, was mich einige Male nach Deutschland führte, wenn meine Stücke hier aufgeführt wurden. Auch bei diesen Gelegenheiten war die Zahl der Bekanntschaften zu gering, um die »deutsche Mentalität« zu erfassen, falls es so etwas gibt. Wie dem auch sei, eines weiß ich: Deutschland hat vielleicht meine Vorfahren umgebracht, mir aber rettet es gelegentlich das Leben. Das ist mein persönlicher kleiner »Deutschlandkomplex«, vermute ich mal.

Wie ich so über diesen Komplex nachdenke, ruft mich eine junge Dame aus einem deutschen Verlag an. Sie fragt mich, ob ich nach Deutschland kommen, ein paar Monate durchs Land reisen und ein Buch über meine Erfahrungen schreiben möchte. Es solle kein Forschungsbericht werden und auch kein Reiseführer. Nein, nein. Sie stelle sich vielmehr eine Sammlung erster Eindrücke vor. Meiner ersten Eindrücke. Wie ich es sehe. Meine Gedanken. Ein Jude aus New York besucht Deutschland.

Vielleicht, weil ich so oft »ich bin Deutscher« gesagt habe, träume ich seit einiger Zeit davon, mir eines Tages ein kleines Haus in Berlin zu kaufen. Ein Deutscher wie ich sollte in der Hauptstadt residieren, finden Sie nicht auch? Und wenn ich das Angebot der Dame annehme, was mit einem mehrmonatigen Aufenthalt in Deutschland verbunden ist, entwickle ich vielleicht ein Gefühl dafür, wie es so ist, in Deutschland zu leben –

Okay, junge Lady, ich komme!

Kapitel 1  In dem einer, der Cola light mit Eis trinkt, wohl ein amerikanischer Kapitalist sein muß

Mein Büro liegt mitten in Manhattan, direkt gegenüber der Penn Station, einer stark von Touristen frequentierten Gegend. Was liegt da zur Vorbereitung auf meine Deutschlandreise näher, als mit ein paar deutschen Touristen zu schwatzen? Vielleicht können sie mir ja das eine oder andere über ihre Kultur beibringen.

Europäer sind im allgemeinen politisch interessierter als Amerikaner. Sie lassen sich liebend gerne auf Gespräche und Debatten über Politik ein, und die Deutschen bilden da keine Ausnahme. Mir gefällt das. So setze ich mich mit ein paar deutschen New-York-Besuchern zusammen. »Wir Deutschen sind gezwungenermaßen Kapitalisten, Kapitalisten wider Willen, während ihr Amerikaner willige Kapitalisten seid.« Sie lieben und hassen Amerika zugleich. Sie lieben die Beatles, erzählen sie mir. Ich mache mir nicht die Mühe, sie daran zu erinnern, daß die Beatles keine Amerikaner waren, warum sollte ich? Sie finden die Amerikaner, die sie kennengelernt haben, toll, verraten sie mir obendrein. Und sie lieben New York. Lieben es einfach. Sie sind andererseits sehr kapitalismuskritisch. Kapitalismus ist schlecht. Bier hingegen ist gut. Ich bestelle mir eine Cola light mit Eis, sie bestellen Bier. Sie sehen das Eis und sagen: »Typisch amerikanisch!« Für sie ist man Amerikaner, wenn man Cola mit Eis bestellt. Und das ist das zweite, was ich heute lerne. Nämlich wer ich eigentlich bin: ein Amerikaner. Kein Deutscher, kein Araber, kein Jude. Ein Amerikaner. Gut zu wissen.

Mein Ticket ist bezahlt, die Koffer sind gepackt, da ruft drei Stunden vor dem planmäßigen Abflug das Reisebüro an. »Fahren Sie gar nicht erst zum Flughafen«, sagt man mir. »Ihr Flug wurde gestrichen.« Gestrichen? Yep. In Island ist irgendein bescheuerter Vulkan ausgebrochen und überzieht Europa mit Aschewolken. Ich dachte, das Thema Aschewolken über Europa hätte sich seit dem letzten Krieg erledigt, aber diese hier sind anders. Nämlich höchst gefährlich für Flugzeuge oder so; ich bin kein Ingenieur. Ich weiß nur, daß eine Wolke aus Asche zwischen mir und Europa steht, zwischen den Kapitalisten und den Kapitalisten wider Willen. Und der europäische Luftraum liegt zur Hälfte am Boden. Ich bin bereit, jedes beliebige Ticket zu nehmen, das mich nach Europa bringt, und kann auf einen Flug in drei Tagen umbuchen. Kostenpunkt: 917 US-Dollar. 100 Dollar mehr als der annullierte Flug, aber das ist in Ordnung. Ein paar Stunden später wird genau dieses Ticket noch ein bißchen teurer. Das ist Kapitalismus, könnte man sagen. Die Lufthansa würde sich glücklich schätzen, mich für schlappe 9800 Dollar ans selbe Ziel zu bringen. Aber die Lufthansa ist deutsch, also kann das ja so recht kein Kapitalismus sein.

Kapitel 2  Dem zu entnehmen ist, daß man in Rom Bescheid weiß: Schon die alten Juden aßen Schinken und Muscheln

Drei Tage später hebt mein Flieger ab. Angehörige meiner Familie verschwanden in den Aschen Europas, ich hingegen trickse jetzt die Aschewolke aus. Ich bin ein amerikanischer Held. Ich werde Europa besiegen! Deutschland wird zu meinen Füßen liegen wie ein offenes Buch. Das jedenfalls ist der Plan.

Ich sitze jetzt im Bauch des Flugzeugs. In vier Stunden lande ich in Rom. Von dort fliege ich nach Budapest. Und von Budapest nach Hamburg. Ein kleiner Umweg nach Deutschland, aber ein sicherer Weg an der dämlichen Wolke vorbei. Wir Juden sind seit Tausenden von Jahren auf Wanderschaft, wir kennen die sichersten Wege. Und tatsächlich, schließlich landet dieser amerikanische Held, ein weltreisender Jude, in Rom. Wohlbehalten. Sicher. Pünktlich. Perfekt. Ich laufe hinüber zu meinem Anschlußflug. Ich bin am Gate. Das Flugzeug nicht. Ich bin allein am Gate. Alle übrigen Fluggäste sind am anderen Ende des Flughafens, wie mir bald klar wird. Also nichts wie hin. Ich bin kein Polizist und weiß nicht recht, wie man Menschenmengen zählt, aber meiner vorsichtigen Schätzung nach sind hier etwa zehn bis 20 Millionen versammelt. Ich laufe zu ihnen hinüber und versuche, ein Gespräch mit ihnen anzuknüpfen. Worauf sie sich bereitwillig einlassen würden. Ob ich Italienisch spreche? Ja klar, als alter Lateiner.

Nein, natürlich nicht, kein einziges Wort!

Da fühlt sich Ihr amerikanischer Held plötzlich wie ein amerikanischer Soldat in Afghanistan. Man hat ihn hierher verfrachtet, und er möchte für sein Leben gern so schnell wie möglich wieder weg, weiß aber nicht, wie er das anstellen soll. Der jüdische Reisende in mir entdeckt mit einemmal ein Englisch sprechendes Individuum. Einen jungen Zigeuner. Auch er ist auf dem Weg nach Budapest, erzählt er. Prima! Recht schönen Dank an meine Glückssterne! Kann er mir erklären, wie ich nach Budapest komme? Ja, klar! Er führt mich zu einer Warteschlange. Sie ist leider länger als die Chinesische Mauer. Immer noch besser als ein verwaistes Gate, sollte man meinen. Was macht man angesichts einer solchen Schlange? frage ich ihn.

»Hinten anstellen und warten«, antwortet er.

Und wie lange?

»Drei Tage«, läßt er mich in makellosem Englisch wissen. Wenn ich möchte, kann ich auch dort schlafen, wo er die Nächte verbringt.

Und das wäre wo?

»Direkt hier, auf dem Boden. Hab schon ein Weilchen keine Dusche mehr gesehen, aber das Leben ist schön.« Seine Freundin ist bei ihm.

Wo genau?

»Irgendwo hier«, sagt er, deutet auf die Millionen und macht sich davon.

Da fällt mir inmitten dieses Chaos ein unscheinbarer kleiner Zettel auf, der an einer Schnur über etwas Schalterähnlichem hängt und von Hand mit dem Wort »Budapest« beschriftet ist. Dorthin muß ich mich wohl wenden. Bei näherer Betrachtung erweist sich die Chinesische Mauer nämlich als eine Ansammlung vieler verschiedener Schlangen. Ich stelle mich in meiner an. Ein Italiener verrät mir, daß der Flughafen von Budapest geschlossen ist, am Abend aber wieder geöffnet wird. Er wird einen Platz in einem Abendflug bekommen, vertraut er mir an, weil er Leute kennt. »Kennen Sie auch Leute?« fragt er mich.

Von was für Leuten redet er?

»Aus der Branche.«

Wenn’s sonst nichts ist. Der Leiter des Budapester Flughafens ist mein Zwillingsbruder, nur weiß er das dummerweise noch nicht. Ob mein neuer italienischer Freund wohl so freundlich wäre, diese Info an seine Ansprechpartner in der Luftfahrtindustrie weiterzuleiten? »Das wird Sie eine Stange kosten«, sagt er mir.

Mit dem Handy in der Hand entfernt sich mein neuer Berater, ruft hier an, ruft dort an. Er muß nicht Schlange stehen. Ich schon.

Rom ist europäisch, kommt mir in den Sinn. Womöglich sozialistisch, auf die eine oder andere Weise. Vielleicht sind sie hier ebenfalls Kapitalisten wider Willen. Wie die Deutschen. Also, tröste ich mich, kann ich hier immerhin etwas über die Wege der Widerwilligen lernen. Wie sie es machen. Eigentlich ein Glücksfall, rede ich mir zu, daß ich hier mitten in China gestrandet bin. Ich schaue mir die Leute um mich herum etwas näher an. Etliche Amerikaner stehen in meiner Schlange. Und alle sitzen sie im heiligen Rom fest.

Die Stunden verstreichen, und ich nähere mich dem kleinen Zettel über dem Behelfsschalter, an dem ein italienischer Ticketverkäufer sitzt und die Massen abfertigt. Der Mann nimmt Kreditkarten entgegen und stellt neue Flugtickets aus. Die Leute hier haben wohlgemerkt schon für ihre Flüge bezahlt. Diese Flüge sind aber gestrichen, so daß man die Wahl hat, entweder mit dem Zigeuner und seiner Freundin hierzubleiben und zu warten, bis die gebuchten Fluglinien den Betrieb wiederaufnehmen, oder seine Dollars beziehungsweise Euros für alle möglichen Kombinationen von Flügen mit anderen Gesellschaften lockerzumachen. Rom ist demokratisch. Man hat die freie Wahl.

Nach einer Ewigkeit bin ich an der Reihe. Der italienische Angestellte läßt mich wissen, daß meine Linie nicht fliegt, eine andere aber sehr wohl, und er mir für zusätzliche 500 Euro gerne einen Platz suchen wird. Heute abend. Falls noch welche frei sind, was er erst prüfen muß. Wenn nicht, kann ich auch erst mal in Rom bleiben; ein Zwei-Sterne-Hotel in der Nähe des Flughafens kostet 300 Euro die Nacht. Oh, er hat einen Platz gefunden. »Für heute abend. 500 Euro, bitte. Der Platz ist jetzt verfügbar.« Großartig, der Flughafen von Budapest ist geöffnet! »Im Moment«, sagt er.

Wie meint er das?

»Der Flughafen ist jetzt geöffnet, Tickets kosten 500 Euro für den Abendflug, schließt jedoch der Flughafen von neuem, dann kommen Sie morgen wieder, und wir verhandeln über einen neuen Flug.«

Ist der dann umsonst?

Nein! »Er kostet dann noch mal 500 Euro.«

Noch mal 500 Euro?

»Ja.« Dieser Ticketverkäufer nimmt bloß Geld, er gibt einem keins zurück. So sind die Regeln. »Hier kaufen Sie Tickets«, erklärt er mir. »Wenn ich Ihnen ein Ticket verkaufe und der Flug nicht stattfindet, dann wenden Sie sich an die Fluggesellschaft und reklamieren dort. Nicht bei mir. Haben Sie Gepäck? Wollen Sie es mitnehmen? Das kostet extra. Zehn Euro pro Kilo. Wie viele Kilo haben Sie?«

Nun, ich bin hier in Europa und passe mich wohl besser an. Auch wenn es ins Geld geht. Mit meinen Koffern komme ich auf satte 1000 Euro. Für einen Flug, den ich bereits bezahlt habe.

Dieser Ticketverkäufer hat genug von mir, das sehe ich ihm an der Nasenspitze an. Er hat nun wirklich Besseres zu tun, als seine Zeit mit New Yorker Kapitalisten zu verplempern. »Falls Sie nicht täglich 500 Euro zahlen wollen«, teilt er mir mit, »könnte ich Sie auch auf einen Flug in vier Tagen buchen.«

In vier Tagen?

Ja. »Vorher ist nichts frei. Alles ausgebucht. Ihre Fluggesellschaft fliegt zwar morgen früh, und der Flug würde Sie nichts kosten, weil es ja Ihre Gesellschaft ist, er ist aber ausgebucht. In den nächsten drei Tagen ist alles ausgebucht. Was wollen Sie machen?«

Ich bin mir nicht sicher, was Kapitalismus wider Willen, auch Sozialismus oder Sozialdemokratismus genannt, genau bedeutet. Sicher bin ich mir jedoch, daß ich die Lektion des heutigen Tages nunmehr beenden muß. Wie zufällig lasse ich jenem hilfsbereiten Herrn meinen Presseausweis vor der Nase baumeln, so daß er ihn schwerlich übersehen kann.

»Ein Ticket hätte ich noch«, sagt er streng. »Aber nur eins! Für den Flug morgen früh. Ohne Aufpreis. Nur dieses eine. Wollen Sie’s? Mehr als dieses eine kann ich Ihnen nicht geben!«

Ja. Eigentlich wollte ich meinen ganzen Harem mitnehmen, aber ich begnüge mich mit diesem einen Ticket.

In der Innenstadt von Rom finde ich nahe der amerikanischen Botschaft ein Vier-Sterne-Hotel für ungefähr ein Drittel des Preises, den das Zwei-Sterne-Hotel am Flughafen kosten sollte. Hat wohl mit Sozialismus zu tun. Das Hotel hat Charme und ist ganz wunderbar. Mein einziges Problem ist, daß mir meine Koffer fehlen. In der Kleidung, die ich auf dem Leib trage, habe ich schon geschlafen. Und bin ich eine Menge rumgelaufen. Kurz gesagt, sie müffelt. Ich drehe den Wasserhahn auf und weiche sämtliche Klamotten, die ich anhabe, im Waschbecken ein. Ich fühle mich großartig: Ich habe das Schicksal überlistet! Mein jüdisches Erbe hat die Oberhand behalten. In diesem Augenblick klingelt mein Handy. Alvaro ist dran, ein italienischer Journalist.

»Wie wäre es, wenn ich mit meinem Motorrad vorbeikomme, und wir machen eine Spritztour durchs nächtliche Rom?«

Ich werfe einen Blick auf meine eingeweichte Kleidung, einen anderen auf mein Handy und entscheide blitzschnell. »Ich bin dabei.«

Die erste Nacht meiner Deutschlandreise werde ich nicht nackt in einem Hotelzimmer in Rom verbringen. Lieber auf einem Motorrad. Soll der Wind meine Klamotten trocknen!

Alvaro ist ein dicker Mann. Ich bin ein dicker Mann. Sein Motorrad aber ist stärker als Mussolini und trägt uns durch Rom wie ein Ameisenpärchen.

Während er seinen Feuerstuhl mit diesem nassen Mann durch die Nacht steuert, erzählt mir Alvaro, daß er, ja er das letzte Interview mit Israels starkem Mann Ariel »Arik« Scharon geführt hatte, bevor Herr Scharon von der Bildfläche verschwand. Und dann sagt er: »Was ist bloß mit den Juden los? Sie haben sich total verändert!«

Wie man weiß, waren die Juden einmal die Guten. Heute sind sie die Bösen.

Langsam dämmert es mir: Ich bin nicht in Amerika. Das ist so klar wie die römische Nacht. Seit 30 Jahren lebe ich in New York und habe so etwas noch nie gehört. Nein. Alvaro ist kein Judenhasser. Im Gegenteil, er mag die Juden. Irgendwie. Nachdem er mir den Vatikan gezeigt hat, nimmt er mich auf eine Tour zu den »ältesten Juden« mit. In Rom, verrät er mir, gibt es die ursprünglichsten Juden überhaupt. »Soll ich dich zu dem authentischsten jüdischen Restaurant bringen?«

Ja, sage ich. Ich würde mich gerne mit meinen nassen Sachen etwas aufwärmen.

Ich schaue mir die Karte an: Reiche Auswahl an Schinken. Reiche Auswahl an Muscheln.

Meint Alvaro das ernst? Oder ist er durchgeknallt?

Oder bin ich es vielleicht?

Das hier ist ein anderer Kontinent. Definitiv. Wer weiß, was mich erst in Deutschland erwartet. Wenn es schon so anfängt, weiß der Himmel, wo es enden mag.

Alvaro ist ein liebenswürdiger Mann. Und ein Intellektueller noch dazu. Er kennt sich mit Geschichte und Philosophie so gut aus wie ich mich mit Cola light. Und auch ich habe nicht umsonst 15 Jahre an diversen Universitäten verbracht und weiß das eine oder andere. Aber wenn er über Juden spricht, verstehe ich kein Wort. Ich habe keinen Schimmer, was er da verzapft. Nicht nur über Juden, sondern auch über Amerika. Er hat, durch eigene Recherchen, herausgefunden, daß niemand anderes als die amerikanische Regierung die Twin Towers in Schutt und Asche gelegt hat. Ja, im Ernst. Eine Stunde lang erklärt er mir mit Feuereifer und bis ins kleinste Detail, wie die Amerikaner das angestellt haben und warum. Alvaro hat alle Infos. Er macht mich sprachlos. Der Mann ist entweder ein Schwachkopf oder ein Genie. Man bräuchte wohl eine ganze Armee von Psychiatern, um das herauszufinden. Nicht, daß es wirklich wichtig wäre: Wir sind damit beschäftigt, uns die Bäuche vollzuschlagen, und das Essen ist köstlich.

Nachdem wir unsere »typisch jüdische Mahlzeit« beendet haben, gibt mir Alvaro freundlicherweise noch einige Tips für die Reise:

»Katholiken sind korrupt. Die Deutschen nicht. Deshalb ist die Reformation bei den Deutschen losgegangen. Luther. Ein Deutscher. Die Deutschen sind am demokratischsten.«

Na, dann wollen wir mal sehen, was Sache ist!

Kapitel 3  In dem ich in Deutschland lande, wo gerade REVOLUTION! gemacht wird, und ich mit der radikalen Linken marschiere

Am folgenden Morgen fliege ich nach Budapest, von wo aus ich ein paar Tage später ins Vaterland aufbreche. Warum ich diese nebensächlichen Details aufschreibe? Weil ich ein getreuer Chronist bin … Jedenfalls lande ich schließlich in Hamburg, wir schreiben den 1. Mai. Ich bin in Deutschland!

In Amerika begehen wir auch den Tag der Arbeit, aber das ist im September. Der 1. Mai gefällt mir besser. Denn der Sommer steht vor der Tür, und es wird wärmer. Eine gute Zeit zum Feiern. Ich bin bereit! Ich frage ein bißchen herum, wo ich feiern könnte, und erfahre, daß die Gewerkschaften eine »Demo« veranstalten, während die »Anarchisten«, die Leute von der radikalen Linken, einen Protestmarsch durchführen. Was mir lieber wäre? In den Vereinigten Staaten nutzen Kaufhäuser wie Macy’s den Tag der Arbeit, um Rabattaktionen durchzuführen. Hierzulande genießen es die Menschen hingegen, nach draußen zu gehen. Soll mir recht sein. Ich werde beide Veranstaltungen aufsuchen. Ich habe Zeit.

Zuerst die Gewerkschaften. Ein Gewerkschaftsvertreter läßt sich auf einer Bühne über Lautsprecher vernehmen, während die Leute ringsum damit beschäftigt sind, zu trinken, zu essen oder zu rauchen, wenn sie nicht alles gleichzeitig tun. Zuzuhören scheinen nur wenige. Einer von den wirklich Interessierten hält ein Banner der Partei Die Linke hoch, dessen tiefrote Farbe mir so gut gefällt, daß ich auch so eins will, also spreche ich ihn an. Er ist ein Antikapitalist, sagt er mir. Er fühlt sich verpflichtet, »die Menschen zu bekämpfen, die nur ans Geld denken«, jene verhaßten Kapitalisten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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