Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der dritte und letzte Band um Matthis und seine Frau Luise. Matthis Entscheidung nach Bethel zurückzukehren, gefährdet seine Ehe. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges stellt sie je3doch vor weitaus größere Herausforderungen. Werden die beiden ihre Ehe retten und den Krieg überstehen? Wie verändert das Leben des Paares und werden sie trotz aller Widrigkeiten und allen Streits in Bethel bleiben? Kurzbeschreibung:Der dritte Band der Reihe, der mit dem Ersten Weltkrieg endet.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 308
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
von
Natascha Neumann
Text: © Copyright Martina Hessel Umschlaggestaltung: © Martina Hessel
Verlag: Eigenverlag
Martina Hessel
Am Gonsenheimer Spieß 85
55122 Mainz
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Die Sonne strahlte am blauen Himmel. Die klare frische Luft war eisig. »Ein merkwürdiges Wetter für eine Beerdigung«, flüsterte Matthis, als er an der Seite seiner Frau die Kirche verließ und sich mit ihr in die Menschenmenge hinter dem Sarg einreihte. Rundherum ernste Gesichter, darunter viele, die ihm bekannt vorkamen. Im Halbkreis um das offene Grab herum stand ein Posaunenchor, die Sonne blitzte und spiegelte sich in den Instrumenten, als die Männer sie an ihre Lippen führten. Des Pastors volltönende Stimme war trotz der Posaunen zu hören, und die Trauergemeinde fiel ein: Jesu, geh’ voran, auf der Lebensbahn. Missmutig schüttelte Matthis den Kopf, dies Lied war wahrhaftig von keiner Beerdigung wegzudenken, er mochte es nicht. Aber er stimmte ein. Schließlich war er hier, um seinem Freund und Förderer, Friedrich von Bodelschwingh, die letzte Ehre zu erweisen.
Nach und nach verließen die Trauergäste den Friedhof, in Grüppchen meist, still, flüsternd. Fritz von Bodelschwingh, das jüngste der Bodelschwingh Kinder, hatte die Predigt gehalten. Er war jetzt auch schon über dreißig.
Matthis blieb lange an der Grabstätte stehen, nachdem der letzte Segen gesprochen worden war.
Luise hatte stumm neben ihrem Ehegatten gestanden, hatte Abschied genommen, und ständig ging ihr durch den Kopf, wie wenig ihr das bedeutete. Sicher, Bodelschwingh war ein Mann mit Ideen gewesen, und zu ihr und ihrer Familie nett.
»Ich geh’ ein wenig spazieren«, raunte sie ihrem Gatten zu, der noch mit abwesendem Blick auf das offene Grab starrte. Außer der Familie waren nun nur noch sie beide hier.
»In Ordnung. Treffen wie uns, äh, sagen wir an der Brockensammlung? In zwei Stunden?«
Luise nickte und eilte davon. Weg von der Grabstelle, weg von der Trauer. Sie hatte erst nicht mitkommen wollen, sah dann darin jedoch eine Gelegenheit, ihren Bruder im nahen Enger zu besuchen, Matthis’ Familie hatte sie ebenfalls lange nicht gesehen. Bethel, die Anstalt – nun, das hatte sie dafür in Kauf genommen. Ohne zu zögern, schlug sie den Weg hinauf zur Sparrenburg ein. Hier hatte sie sich stets gern aufgehalten, in den ersten Monaten damals hier in Bethel. Das alles war zehn Jahre her. Die Erinnerungen an ihre zwei Fehlgeburten, an viele schlimme Erlebnisse und Erfahrungen wollte sie nicht hochkommen lassen. Es ging ihr in Hamburg, wo sie seitdem wohnten, gut. Sie hatte fünf Kinder, es war endlich alles, wie sie es erträumt hatte.
Luise stand auf. Schluss mit den Grübeleien, jetzt war sie hier. Langsam spazierte sie den Weg wieder hinunter, den sie gekommen war. Ein Spaziergänger kam ihr entgegen, von Weitem schien er ihr bekannt zu sein. Diese Art zu sich zu bewegen, die schmale, lange Gestalt - Joachim? Im selben Augenblick hatte der Fremde sie erkannt und kam schleunigst auf sie zu.
»Joachim! Was tust du denn hier?«
»Luise! Ist Matthis auch hier?«
Es fehlte nicht viel, dann hätten die beiden Freunde sich umarmt, hier, in aller Öffentlichkeit.
»Matthis ist mit seinen Gedanken unterwegs«, spöttelte Luise. »Er wollte allein sein. Warst du bei der Beerdigung?«
»Ja, war ich. Ihr doch sicher auch? Wo sind die Kinder? Thomas?«
»In Enger, bei meinem Bruder. Unser Kleiner ist schon wieder gewachsen.«
»Du, äh, vielleicht…« Joachim war unvermittelt zögerlich, rot im Gesicht und seine Hände zitterten fast unmerklich. »Ich wollte eigentlich zu euch kommen und es euch sagen.«
»Was sagen?« Luise spürte einen Kloß im Hals.
»Ich, äh, wir, äh, gehen hierher zurück. Als Landarzt in Eckardtsheim. Ich werde ein Häuschen beziehen und eine Haushälterin haben. Und, äh… ich hole Thomas dann zu mir!«
Luise erstarrte. Wie aus dem Nichts fror sie, dahin war die Freude über das Treffen mit dem Witwer ihrer verstorbenen Freundin Klara. Er plante, ihr den Jungen wegnehmen? »Das geht so nicht«, sie sprach mit deutlichen Pausen zwischen den Worten, ihre Stimme zitterte. »Du hast Thomas mir gegeben!«
»Luise! Ich habe ihn euch anvertraut, als Klara starb, das stimmt. Aber …«
Luise war bereits davon geeilt.
Matthis stattete dem nahe gelegenen Grab seines Freundes Schmalenbach einen Besuch ab und legte einen Strauß darauf.
Mit Schmalenbach, diesem gütigen, charismatischen Geistlichen hatte alles angefangen. Das Missionsfest stand ihm vor Augen, er war zu der Zeit nur hingegangen, um Luise zu treffen. Schmalenbachs Predigt hatte ihn dann aber zutiefst beeindruckt. Es war ihm, als hätte Gott durch den Pastor zu ihm gesprochen, er hatte sich aufgerüttelt gefühlt und seinem Leben eine neue Richtung gegeben.
Stumm erzählte er seinem Freund, was seit dem alles passiert war. Er hatte Luise geheiratet und hier in Bethel gelebt und gearbeitet. Das hatte Schmalenbach miterlebt. »Als wir dann einen neuen Anfang in Hamburg machten, war das zwar nicht leicht, aber das Glück war uns hold. Oder war es Gott, der seine Hand über uns hielt? Sie hätten das bestimmt so gesagt. Wir haben jetzt Kinder, fünf insgesamt. Und ich arbeite als Gefängnisseelsorger. Es ist … interessant.«
Er atmete tief durch. »Aber es ist nicht Bethel.« Ganz in Gedanken versunken setzte er den Hut wieder auf, steckte die klammen Hände in die Taschen und wandte sich vom Grab ab.
Er schlenderte durch die Wege seiner ehemaligen Wirkungsstätte, ohne ein Ziel zu haben. Luise besuchte alte Bekannten, und er genoss die Zeit, die er für sich und seine Gedanken hatte. Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass seine Schritte beschwingter waren als zuvor, dass die Sonne plötzlich wärmer schien. Er lächelte, als er an einer Gruppe Kinder vorbei kam, die mit ihren Pflegerinnen Fangen spielten. Die jugendlichen Diakonissen rafften dafür ihre langen Röcke, um nicht über sie zu stolpern. Die Kleinen kreischten vor Freude, wenn sie gepackt wurden, denn zur Belohnung gab es eine Umarmung.
Er drehte sich ein paarmal zu ihnen um. Schließlich bog er in einen Weg ein, blieb indes auf der Stelle stehen. War das möglich? »Peter?« Er rief den Namen laut und rannte auf den entgegenkommenden Rollstuhl geschoben von einem halbwüchsigen Mann im blauen Kittel zu. »Peter? Bist du das wirklich?«
»Thiis! Laan ge her!« Peter tastete nach Matthis’ Hand, zog sie an sein Herz, lachte. »Thiis!«, rief er erneut. Dabei lief ihm Speichel aus dem Mund. Bevor Matthis zu reagieren in der Lage war, hatte Peters Betreuer ein Tuch in der Hand und wischte den Tropfen weg. »Hallo, ich bin Hans. Und Sie sind … ?«
»Thiis!«
»Ja, Peter! – eigentlich Matthis. Matthias Meyer zu Ollerdissen. Ich habe hier vor Jahren gearbeitet«, er zeigte unbestimmt in die Richtung der Werkstätten.
»Ja, ich glaube, ich habe von Ihnen gehört. Sie sind Tischler, nicht wahr?«
»Ja, ich bin Tischler. Aber in den letzten Jahren habe ich eine Diakonenausbildung in Hamburg absolviert.«
»Spannende Arbeit, stelle ich mir vor. Wie lange machen Sie das schon?«
»Nun, ich habe die Ausbildung vor knapp sieben Jahren abgeschlossen.«
Hans schob während des Gesprächs den Rollstuhl weiter.
»Geht es Dir noch immer gut, Peter?« Seine besorgte Frage richtete er direkt an den Kranken im Rollstuhl, der unentwegt »Thiis« murmelte. »Thiis. Ja, ess geht guut. Pa … Pa … pa«, er stockte, sabberte erneut, der Pfleger sah zur Seite, als widere ihn dies an. Während Matthis das Tuch aus der Jacke zog, sagte er: »Sie hören es ja. Er spricht nicht gut, er speichelt viel, und meist versteht man nicht, was er daher redet.«
»Thiis! Pa … Pa gut, Pe-ter lieb, sehr«, er quälte sich mit den Worten, Matthis merkte, wie drängend es dem alten Freund war, ihm das zu sagen. Der Pfleger hatte seinen Platz am Rollstuhl wieder eingenommen, die Kirchturmuhr schlug Viertel vor zwölf. Er lenkte den Stuhl um, ohne Rücksicht auf Matthis oder gar Peter zu nehmen.
»Moment!«, Matthis straffte die Schultern, seine Stimme war nicht laut, aber bestimm. Er durchbohrte den Pfleger mit seinem Blick, kniete vor dem Kranken nieder und nahm Peters Hände in seine.
»Peter muss zum Essen gefahren werden!«, muckte der Helfer auf.
»Peter, du wolltest etwas über Papa Bodelschwingh sagen, nicht? Sprich nur«, sein empörter Blick traf den Betreuer erneut.
Der hob ein weiteres Mal zu einem Einwand an, Matthis ignorierte ihn. »Erzähl mir von Papa, Peter, und dann bringe ich dich heim!« Er wedelte mit der Hand, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. »Sie gehen am besten voraus und lassen uns hier in Ruhe. Ich bringe Ihnen Peter schon!«
Er nahm sich Zeit für den Weg. Peter stammelte seine Geschichte, Matthis lauschte, sah hin, berührte ihn ab und zu freundschaftlich und zauberte ein Lachen auf sein Gesicht.
»Ich – weer-de – ster-ben. Bald!«, stotterte er. »Pa – Pa sagt, Dok – tor auch.«
Matthis schaute ihn bestürzt an. »Junge, weißt du, was du da sagst?«
»Ja. Nicht schlimm. Ich bin bereit. Papa is ja schon da. Guuutes Leben gehaabt. Liii-ber Gott … wwwwiIll mich!« Mühsam brachte er die Worte hervor, immerfort mit Pausen, in denen er nach Luft schnappte. Als er betonte, dass Gott ihn wolle, ging ein Strahlen von ihm aus, das Matthis überwältigte und zufrieden stimmte.
»Ja. Gott will dich. Er liebt dich!«
Langsam schob er den schweren Rollstuhl den Berg hinauf und brachte Peter zum Essen in den Gemeinschaftssaal. »Ich komme dich besuchen, bevor ich nach Hause fahre!«, versprach er ihm. Ein Wunder, dass die gedeihliche Pflege geschafft hatte, dass dieser Mann heute noch lebte. Ein Wunder, dass der Herr gegeben hatte? Er seufzte.
Peter. Seine Freude auf das Leben bei Gott, auf ein seliges Sterben, das war Bethel. Trotz all der Verachtung, all den Schwierigkeiten, die die Kranken hatten, hier wurden sie gewahr, dass sie geliebte Kinder Gottes sind.
Kaum war er wieder draußen auf dem Weg, da rief von hinten jemand seinen Namen. Er drehte sich um und beobachtete, einen Mann, dick und ungelenk, ungebändigt mit den Armen fuchtelnd, auf ihn zukam. »Matthis, Mensch, Kerl, schön das du zurück bist!« Bevor Matthis wusste, wie ihm geschah, ja, ehe er erkannte, wen er vor sich hatte, hatte der Andere sie erreicht und schloss Matthis in die Arme.
»Albert! Ich bin nicht zurück, ich bin nur wegen der Trauerfeier hier«, erklärte Matthis, nachdem der enthusiastische Diakon ihn wieder losgelassen hatte.
»Trotzdem, schön, dich wiederzusehen! Was hast du gemacht in all der Zeit?«
»Ich war in Hamburg, bei Wichern. Ich habe bei ihm gelernt, und nun bin ich Diakon wie du«, Matthis schmunzelte, strich sich über den Bauch und fuhr fort: »Na ja, nicht ganz wie du«. Er machte eine winzige Pause. »Nicht so erfahren!«, beendete er seinen Satz. Albert grinste über das ganze Gesicht. »Du hat dich nicht verändert!«, sagte er. »Ich muss leider gehen, ich habe Dienst. Sehen wir uns noch?«
»Leider nicht, wir fahren heute noch nach Enger, und morgen Abend zurück nach Hamburg. Ich habe ja auch Dienst.«
»Matthis?«, Albert legte seine Hand auf Matthis Arm und trat näher an ihn heran. »Bist du glücklich, Junge? Und Luise? Ist sie …«
»Oh ja. Wir sind zufrieden. Haben jetzt fünf Kinder, denk nur. Und die Ausbildung bei Wichern war sehr anspruchsvoll, aber es hat mir gut gefallen.«
Sie verabschiedeten sich, Albert eilte davon. Matthis lächelte in sich hinein, ein braver Kerl, der Albert, dachte er, aber dieser Watschelgang ist zu komisch. Erfreulich, ihn getroffen zu haben.
Er schlug den Weg zur Brockensammlung ein, wo er mit Luise verabredet war. Er fand sie inmitten einer Gruppe Diakonissen, Epileptischen, Hausfrauen – alle durcheinanderredend, alle lachend, lärmend. Ja, dachte er bei sich, das ist Bethel. So gelöst hatte er Luise in den letzten Jahren kaum gesehen. Er blieb in einer gewissen Entfernung stehen und knetete sein Kinn. Es fühlte sich für ihn richtig an, hier zu sein, es war … heimisch. »Matthis?« Er drehte sich nach dem Sprecher um. Er sieht aus wie sein Vater als ich herkam, dachte Matthis. »Fritz! – Ich darf doch noch immer Fritz sagen, oder?«
»Aber ja. Ich bin ja sooft in eurem Haus gewesen, früher, mit Joni.«
»Fritz, es tut mir so Leid um deinen Vater. Er war ein – nein, er war mein großes Vorbild.« Er drückte dem jüngsten Sohn Bodelschwinghs die Hand. »Es ist schön, mal wieder hier zu sein, es ist so vertraut – und gleichzeitig gibt es soviel Neues zu sehen. Ein ganzer Stadtteil ist entstanden, eine echte Gemeinde, ganz, wie er es immer erträumt hatte.«
»Mehr noch. Wir haben seit einigen Jahren die Senneökonomie, das würde dir – dir und Luise«, er betonte das ‘und’ deutlich und unterstrich es mit einer Geste, »gut gefallen. Ihr seid doch beide Bauernkinder, nicht?«
»Schon. Aber wir leben jetzt in Hamburg, unsere Kleinen sind Stadtkinder, und umziehen? Ich weiß nicht.«
»Jemand wie euch beide könnten wir gut gebrauchen. Es war falsch, dass ihr damals fortgegangen seid«.
»Nein. Ich musste fort, wir mussten Abstand haben von all dem Schrecklichen, was uns widerfahren war, was uns quälte. Und die Ausbildung im ‘Rauhen Haus’ war großartig. Anspruchsvoll, anstrengend, aber ich bereue keinen Tag, dass ich das gemacht habe.«
»Hättest du keine Lust, zurück – oh, Luise. Schön dich zu sehen. Danke, dass ihr hier seid!«
Luise begrüßte Fritz höflich und drückte ihr Beileid aus. »Luise, ich wollte Matthis gerade fragen, äh …« Fritz beendete den Satz nicht, weil Matthis ihm einen warnenden Blick zugeworfen hatte.
»Was denn, Fritz? Was wolltest du fragen?«
»Oh, wie lange bleibt ihr in Enger? Ich hätte euch gern noch getroffen, aber heute – ihr versteht?«
»Leider müssen wir morgen früh schon wieder los. Die großen Kinder, Anna, Karl und Willi müssen nach Ostern wieder in die Schule. Da ist noch einiges zu tun.« Luise lächelte milde, reichte Fritz die Hand und fuhr fort: »Ein anderes Mal gerne. Es ist so schade um Deinen Vater, und wir sind beide sehr traurig. – Matthis, kommst Du? Die Bahn fährt in einer halben Stunde!«
Matthis verabschiedete sich und schritt Luise hinterher, die sich zügig, ohne zurückzublicken, auf den Weg gemacht hatte.
Eile war gar nicht nötig. Am zugigen Bahnhof warteten sie beinah eine viertel Stunde auf die Kleinbahn, die sie nach Enger bringen sollte. Sie hätten die Bahn zwei Stunden später nehmen können und wären trotzdem pünktlich zum Kaffee erschienen. Matthis war ernüchtert. Er hätte gern mit Fritz und anderen alten Bekannten geplaudert, aber Luise schien nur fortzuwollen.
»Hat es Dir denn gar nicht gefallen, die Freunde und Bekannten wiederzusehen?«, fragte er deshalb, als sie endlich im behaglichen Waggon saßen.
»Doch, es war recht unterhaltsam. Aber die Kinder warten, und Hannah, Jakob und alle.«
»Sie wissen doch gar nicht, mit welchem Zug wir kommen«, wand Matthis ein.
»Sicher, aber die Kleinen sind doch sehr anstrengend und ungeduldig noch dazu. Wir wollen unsere Lieben doch nicht überfordern mit der Brut.« Sie lächelte, jedoch das Lächeln gelangte nicht bis zu ihren Augen. Stumm saß sie da und schaute aus dem Fenster.
Matthis holte eine Zeitung aus seiner Manteltasche, aber er las nicht. Er versuchte, dem Glücksgefühl, das er durch den Besuch in Bethel erlebt hatte, nachzuspüren. Es gelang ihm nicht, zu ärgerlich war er über Luises Drängen.
»Luise, so geht das nicht! Du hast Fritz einfach so stehen lassen, warst so knapp, dass es schon fast unfreundlich wirkte. Ich …«
»Du weißt doch genau, was los ist. Das hier ist Bethel, die kleine enge Welt, aus der wir vor Jahren quasi geflohen sind. Ich habe mir – habe uns in Hamburg etwas aufgebaut, mit viel Mühen, wie du dich vielleicht erinnerst.« Sie unterstrich ihre Worte mit heftigen Handbewegungen, »ich habe die Kinder großgezogen, das Geld zusammengehalten und mich um alles gekümmert, während du gelernt hast, in der Bruderschaft oft mehr zuhause warst, als bei uns.«
Matthis zog hörbar die Luft ein. »Aber …«
»Nein, jetzt muss es mal ‘raus! Ich hatte sehr viel Vergnügen daran, es war eine Aufgabe, die mich zufrieden machte. Die Kinder großzuziehen, den Haushalt zu führen, dich zu unterstützen – ja, das war so ein wenig wie ein eigener Beruf. Aber nun möchte ich mich weiterentwickeln, ähnlich wie du. Du hattest und hast die Bruderschaft, ich habe meine Freundinnen aus der Gruppe.«
Matthis zog die Brauen hoch.
»Du musst gar nicht so verächtlich die Stirn runzeln. Sie sind mir wichtig, sie haben neue Ideen. Weißt du, die Welt ändert sich. Vielleicht braucht es dazu keinen Pastor oder einen lieben Gott, sondern nur viele Menschen, die zusammenstehen?«
Matthis war perplex über diese Aussage, er fand keine Antwort. »Bethel ist unser Zuhause!«, stammelte er.
»Das ist doch nicht wahr! Du kommst aus Holzkirchen, hast in Enger gelebt und in Bethel, nun seit etlichen Jahren – prägenden Jahren, Matthis – in Hamburg. Da ist unser Zuhause. Unser Leben ist jetzt in Ordnung, du bist endlich Diakon, wir haben wunderbare Kinder und auch Geld genug, was willst du mehr?«
Sie verstand es wirklich nicht, dachte er. Sie ist zufrieden.
Der Zug quietschte, als er in den Bahnhof einfuhr und weckte beide aus ihren Gedanken. Sie stiegen aus. »Ich fände es schön, die paar Meter zu Jakob und Hannah zu gehen, was meinst du?«
Luise nickte, und er fasste nach ihrer Hand. Sie entzog sich, lächelte allerdings. »Hier auf dem Land wird so viel geredet«, erklärte sie.
Matthis atmete tief, schaute sich um. »Zuhause!«,dachte er, und erst, als seine Frau widersprach, merkte er, dass er laut gesprochen hatte.
»Ach, Matthis. Wir haben es doch gut in Hamburg, und unsere Kinder sind echte Großstädter!«
Matthis schaute zu ihr herüber. Das Reformkleid, der unvermeidliche Schirm, das Hütchen – ja, die Bauerntochter sah man ihr nicht mehr an. »Aber hier hat doch alles angefangen!«, versuchte er, ihr seine Gefühle darzulegen. »Komm, lass uns an der Kirche vorbei gehen, auch wenn es ein kleiner Umweg ist.« Weil sie zögerte, flüsterte er: »Bitte«. Ohne ein weiteres Wort schlug sie den Weg ein. Ein paar Passanten blieben stehen, tuschelten, ein frecher Junge, vielleicht drei oder vier Jahre alt, zeigte, versteckt hinter den Röcken seiner Mutter, mit dem Finger auf sie.
Sie waren für den Kleinen Fremdkörper, das merkte Matthis entgeistert.
Ein mistbeladenes Fuhrwerk überholte sie. »Schweine!«, riefen beide wie aus einem Mund, nur Schweinemist stank so unverwechselbar abscheulich.
»Du, Matthis, ist das das schöne Landleben?«, schmunzelte Luise, das erste Mal seit der Zugfahrt klang es nicht missmutig, sondern belustigt.
Hinter der Kirche trennten sie sich, Luise eilte, die Kinder zu holen. »Bleib nicht solange fort«, bat er sie flüsternd, aber sie achtete schon nicht mehr auf ihn.
Matthis erschrak, als er den Greis auf der Bank vor dem Haus sitzen sah. War das Jakob? Das graue Haar, die fahle Haut, der gebeugte Körper? Er priempte, die blaue Mütze tief in die Stirn gezogen, während aus der Werkstatt die gewohnten Arbeitsgeräusche zu hören waren. Matthis eilte auf ihn zu, Jakob erhob sich, eine Faust in den Rücken gedrückt. »Jau, Junge, bist du auch mal wieder da?«, grummelte er. Jakob reichte ihm die Hand. Wortkarg wies er mit dem Arm zum Haus. »Geht man rin, Kuchen is schon fertig. Wo sind denn die Blagen?«
Kurz angebunden war er oft gewesen, aber dies heute? Sogar auf seine reine Sprache achtete er nicht mehr. Matthis versuchte, seinen aufkommenden Ärger zu unterdrücken. Er war lange nicht hier gewesen, womöglich war der »Schrullige Jakob« schrulliger geworden? Seine Gedanken wurden unterbrochen von einem Jubelschrei. Hannah kam auf ihn zu, umarmte ihn, rief immer wieder »Mein Junge!«, und hatte Tränen in den Augen.
»Na, na, lass mal gut sein. Ich bin doch jetzt da!«, freute sich Matthis.
Sie hakte sich bei ihm unter, dabei musste er sich sehr bücken, denn Hannah war winzig. Sie lachten, und wieder hatte Matthis das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Vor dem »Saal«, wie sie spaßhaft das geräumige Wohnzimmer genannt hatten, hielt er seine Tante zurück. »Alles in Ordnung mit euch? Jakob?« Er runzelte die Stirn und schaute sie fragend an.
»Ja. Nein. Ach, wir werden eben alt, Jakob tun die Knochen weh, und Hannes hat längst das Kommando in der Werkstatt übernommen.« Sie legte eine Pause ein, guckte zu Boden und fuhr fort: »Max ist fast fertig mit seiner Lehre, Richard macht seinen Weg auf dem Gymnasium in Bielefeld. Joni schreibt nur alle paar Monate, er ist weit weg. All unsere Kinder sind flügge – genau wie ihr! Das Nest ist so leer.«
Matthis nickte. Stets hatte Leben in diesem Haus geherrscht, das war jetzt anders.
Im Laufe des Nachmittags besserte sich die Stimmung, selbst bei Jakob. Er lobte Hannes und vor allem seinen Sohn Max, der in seiner Lehre anständige Arbeit leistete. »Gut, dass die Jungen hier sind«, brummte er, »das bringt etwas Leben ins Haus! Mir graut schon davor, wenn er nächstes Jahr zum Militär muss.«
»Und Richard? Wo ist der eigentlich?«
»Er ist mit den Wandervögeln unterwegs. Er kommt erst morgen zurück. Weißt du, Richard ist wie du. Man könnte glauben, ihr wäret Geschwister. Immer mit dem Kopf in den Wolken, hehre Ziele verfolgen, die Welt verbessern. Vielleicht lernt man das auf dem Gymnasium?« Jakob kratzte sich am Ohr und schaute grimmig vor sich hin, aber er konnte Matthis nichts vormachen. Jedem war bekannt, wie stolz Jakob auf seinen Jüngsten war, den Lehrer und Pastor fürs Gymnasium empfohlen hatten. Seit fast drei Jahre war der Junge mit Eifer bei der Sache, und fand nebenher Zeit, die Bücher seines Vaters zu lesen und seinem Bruder in der Werkstatt zu helfen, wenn Not am Mann war.
»Es ist schon manchmal recht ruhig geworden, seit die Jungs ihre eigenen Wege gehen.«
Wie aufs Kommando stürmten Matthis’ Kinderlärmend herein, redeten alle durcheinander und strahlten vor Glück. Langsamer kam Luise hinter ihnen her.
Der Tag verging wie im Flug, Hannah stürzte sich buchstäblich auf den Nachwuchs von Matthis und Luise, Max zeigte Karl, wie man schnitzt. Alle hatten Freude an der gemeinsamen Zeit, Jakob saß abseits und sprach kaum. Hannah überhörte geflissentlich, wenn er nach Kaffee rief oder nach einem Zündholz. Sie war zufrieden und genoss es, mit der Familie zusammen zu sein..
Mit dem Dunkelwerden kam Altgeselle Hannes aus der Werkstatt. Wieder gab es ein geräuschvolles Hallo, er schwang die Buben in die Höhe, bis sie vor Ausgelassenheit quietschten. Anna hofierte er, als sei sie längst erwachsen.
Matthis konnte seine Augen kaum von seiner Gattin, seinen Kindern und Hannes lassen, alles geschah harmonisch, friedlich – wie Familie eben. Er hatte die letzten Jahre selten Zeit dafür gehabt. Ein Luftzug schreckte ihn aus seinen Gedanken, er sah, dass Jakob sich erhoben hatte und langsam ins Freie schlurfte. Er ist alt, bemerkte er wieder, diesmal mit einem Anflug von Wehmut. Er schnappte sich einen Becher, füllte Kaffe ein, legte ein Stück des Rodonkuchens auf einen Teller und folgte dem alten Tischler.
»Hier«, sagte er und reichte Jakob den Kaffee. »Drinnen ist es sehr laut, nicht? Tut mir Leid, dass die Kinder -«
»Ach, ein bisschen Krach vertrag’ ich schon. Es ist nur«, er stockte, redete nicht weiter, sondern trank zunächst einen kräftigen Schluck. Dann stellte er den Becher unter die Bank und zündete sich einen Stumpen an. »Matthis, ich bin alt«, stellte er freudlos fest. »Hannes führt die Werkstatt, weil ich nicht mehr richtig atmen kann, wenn der Holzstaub herumfliegt. Er kennt die neuesten Methoden, träumt von Maschinen, die bei der Arbeit helfen und holt ständig neue Aufträge ein. Seit Werner tot ist, sitze ich auf der Bank und jammere.«
»Aber das ist doch nicht wahr!« Matthis wollte trösten, aber Jakob war noch nicht fertig.
»Bevor Du herkamst, heute Mittag, da habe ich einen kleinen Jungen mit wachem Kopf, mit Sehnsucht nach Büchern und Liebe zur Tischlerei erwartet – aber dann steht plötzlich ein erwachsener Herr vor mir. Ein Familienvater mit fünf Kindern! Es könnten meine Enkel sein!«
Er war augenfällig erschüttert. Matthis legte sanft seine Hand auf Jakobs Arm, schaute ihm ins Gesicht. »Das sind sie doch auch irgendwie, oder?«
Sein Freund und ehemaliger Meister sah ihm zum ersten Mal an diesem Tag geradewegs in die Augen, nahm Matthis Hand in seine. »Aber Hamburg ist so weit fort. Ihr seid so weit fort!«
Sie blieben über Nacht, die Kinder auf dem Heuboden bei Luises Bruder, Matthis und Luise im »Fremdenzimmer«, wie die Mutter es genannt hätte. Eine Kammer für Knechte, die über Land zogen, im Frühjahr wurde die nicht gebraucht. Das Bett war bequem, ein mächtiges Plumeau lag bereit, ebenso zwei dicke Kopfkissen. Alles nett und ordentlich. Luise richtete sich flink her und schlüpfte unter das mollige Kissen. »Ach, ja, es ist schön mal wieder hier zu sein.«
»Stimmt. Jakob macht mir Sorgen. Hannah – nun Hannah ist Hannah!«
»Ja, Hannah hat sich kaum verändert. Schade, dass wir morgen zurückfahren.«
»Luise, wir könnten auch …«
»Nein, Matthis. Ich sage es gern noch einmal: Wir haben endlich die Chance, ein gemeinsames, angenehmes Leben in Hamburg zu führen. Ich mag Hamburg, unsere Wohnung, die Nachbarn. Ich will nicht wieder neu anfangen!«
Er legte beschwichtigend die Hand auf ihren Arm.
»Aber heimkommen, vielleicht?«, flüsterte er, drehte sich um und schlief ein.
Das Osterfest war vorbei, der Frühling kam, nass und kühl, die ersten Schneeglöckchen streckten ihre Köpfe aus der Erde. Spät im Jahr, dacht Matthis, der aus der bescheidenen Gefängniskapelle kam. Es gehörte zu seinen Pflichten, sich hier um alles kümmern, den Schmuck, die Liedtafel, nur geputzt wurde von den Häftlingen. Heute kamen zwei neue Insassen, ein grad den Kinderschuhen entwachsener, zwanzigjähriger Hamburger, der »bei den Mädchens« randaliert hatte und dabei leider einer der »Damen« ein blaues Auge geschlagen hatte.
Außerdem ein alter Bekannter, Hermann, der saß zum vierten Mal ein. Ein schlichtes Gemüt, er bereute wie eh und je – und betrank sich, kaum entlassen aufs Neue, sodass er wieder Dummheiten anstellte. Diesmal hatte er auf dem Fischmarkt versucht, Geldbörsen zu stehlen, und war dabei erwischt worden. Am Anfang seines Einsatzes hatte Matthis sich von dem Gedanken verabschiedet, dass die Strafe jemandem wie Hermann helfen würde, ein anständiger Mensch zu werden.
»Na, Hermann, hast es wieder nicht geschafft?«, fragte er ihn daher leutselig.
»Ja, Herr Pastor, is alles nicht so leicht«.
»Und nun? Wie lange bleibst du?«
»Vierzehn Tage. Ich hab ja nüscht geklaut«, er machte eine Pause und grinste, sodass Matthis seine verfaulten Zähne sah. »Sie haben mich vorher geschnappt!«
Nun noch ein Gespräch mit dem zweiten Gefangenen, dann machte er Feierabend.
Auf dem Weg nach Hause ließ Matthis seine Gedanken wie so oft schweifen. Der junge Sträfling hatte heftig geweint, alles schrecklich bereut und hoch und heilig versprochen, nie wieder dorthin zu gehen. Er hatte Matthis angefleht, ihn laufen zu lassen, aber der war nicht sein Richter, sein Seelsorger. Etwas erreichen konnte er für diesen Burschen nicht. Zuhören, trösten, ins Gewissen reden. Zusammen beten. Bisweilen half er, indem er einen Arbeitsplatz für die Zeit nach der Haft vermittelte, er kannte mittlerweile ein paar Menschen, die in ihren Werkstätten und am Hafen fortwährend Hilfe brauchten. Aber es gab immer mehr Arbeitslose in dieser großen Stadt und immer weniger Arbeit. Er seufzte und schlug entmutigt den Heimweg ein.
Er freute sich auf einen gemütlichen Abend, vielleicht ein Spaziergang mit Luise und den Kindern, das wäre großartig. Oder nichts als da sitzen, vom Tag erzählen, ein Pfeifchen rauchen.
»Die gnädige Frau ist ausgegangen.«
»Wohin?«
»Das hat sie mir nicht gesagt, Herr Diakon!«
»Vielleicht weißt du es trotzdem?«
Das Kindermädchen stieß einen Seufzer aus und schaute zu Boden. »Ich glaube, Thomas weint«, flüsterte sie, raffte ihren Rock und eilte davon.
Das war in drei Wochen der vierte Abend, an dem seine Gattin nicht zu Hause war. Hin und wieder sagte sie ihm vorher, wenn sie wegging, heute jedoch nicht. Tagsüber war sie ebenso oft fort, sie half Essen verteilen in der Suppenküche der Gemeinde und sie gab Leseunterricht für Arbeiterinnen der nahe gelegenen Fabrik. Und sie traf sich mit ihrer neuen Freundin Viktoria. Er kannte Viktoria nicht und wusste nichts über sie, nur, dass diese Frau mehr Einfluss auf seine Frau hatte, als ihm angenehm war. Was konnte er dagegen unternehmen? Er musste mit ihr reden, so ging das nicht. Sie hatten Kinder, die Betreuung und ihre Fürsorge brauchten, und die Kinderfrau war ausschließlich wegen der beiden Kleinen eingestellt worden. Lange hatte Luise sich Kinder gewünscht, großes Leid hatte sie erfahren, als es nicht klappen wollte. Dem Tod war sie nahe gewesen – und nun ließ sie die Kinder oft allein. Das war nicht korrekt!
Matthis ließ seine Faust auf den Tisch knallen, da niemand da war, der es hörte, half ihm das nicht weiter. Ob er wenigstens Abendessen bekam, oder sollte er sich das selber machen? Er rief nach dem Mädchen, das bereits nach Hause gegangen war. Das Personal schlief heutzutage nicht mehr bei der Herrschaft.
Die Uhr schlug halb elf, als Luise heimkam. Sie schlich sich nicht etwa in die Wohnung, nein, sie kam herein, küsste ihn auf die Stirn, nahm sich ein Glas Wein und setzte sich zu ihm.
»Wo bist du gewesen, Frau?« Matthis’ entrüstete Begrüßung gelang nicht recht, weil er einen Schluck aus dem Krug getrunken hatte, ungeachtet dessen wollte er nicht warten. Sein Ärger musste heraus. Er stand auf, stellte sich vor sie, fragte zum zweiten Mal: »Wo warst du? Wo gehst du in letzter Zeit ständig ohne mich hin ?«
»Aber Matthis, was ist denn los? Du weißt doch -«
»-nichts. Gar nichts weiß ich von deinem Leben!«
»Ich gehe zu den Versa-«
»Du hast fünf Kinder und einen Mann, die alle zuhause auf dich warten. Und du? Du treibst dich mit Blaustrümpfen herum.«
»Aber das Kindermädchen ist doch da. Und du hast doch auch alles.« In einer deutlich übertriebenen Geste wies sie auf seinen Krug Bier und den Teller mit den Krümeln der belegten Brote.
»Ich habe alles? Ja. Nur kein gemütliches Zuhause mehr. Die Kinder schlafen, meine Mahlzeit muss ich selber herrichten und wenn ich etwas von meiner Arbeit erzählen will, muss ich das Kindermädchen rufen? Denkst du dir das so?«
Sie setzte zu einer Antwort an, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Hab ich das verdient? Ich arbeite und schaff und tue, und die feine Frau geht aus und hat Spaß!« Erschöpft fiel er sich in seinen Sessel zurück und trank einen Schluck aus dem Krug. Sie nutzte die Gelegenheit.
»Was denkst du dir eigentlich? Jahrelang habe ich immer alles mitgemacht, was du so dachtest. Oh, wir gehen nach Bethel, nicht nach Afrika – ich bin mit dir gegangen, auch wenn vieles und viele dagegen sprachen.« Sie nippte an ihrem Wein und hob den Arm, als er was sagen wollte. »Moment! Ich bin jetzt dran. Du wolltest dann nicht mehr in Bethel leben, also bin ich mit dir nach Hamburg gegangen. Du wolltest diese Ausbildung machen, also habe ich mich eingeschränkt, und nur das allernötigste für die wachsende Kinderschar kaufen können. Dann griffen wir auch noch mein Erbe an. Ich habe das alles mitgemacht!«
»Aber dein Traum von vielen Kinder hat sich doch erfüllt. Und nun? Du lässt sie ständig allein oder mit der Kinderfrau!«
»Ja. Weil es jetzt möglich ist.«
Er schwieg. Er verstand sie nicht, und er war nicht in der Lage, sich ihr verständlich zu machen. Trotzdem dachte er nicht daran, aufzugeben.
»Luise. Liebling. Wir wollten doch immer zusammenhalten«, beteuerte er sanft, »ja, ich habe mich geärgert und dich angeschrieen. Aber nur, weil ich meine Familie, weil ich dich nicht verlieren will!«
Sie schwieg, trank einen Schluck, stand auf, um im Kamin das Feuer zu schüren, setzt sich wieder. Dann sah sie in an, und lächelte. »Sie sind keine Blaustrümpfe. Bitte nenn’ sie nicht so!«
»Aber was oder wer – Luise, was tust du die ganze Zeit? Helfen in der Suppenküche, ja, das ist gut. Aber abends? Diese, äh, Versammlungen?« Er knetete sein Kinn mit der Hand.
»Wir möchten eine bessere Welt, für alle, aber besonders für uns Frauen«, antwortete sie, es klang kraftlos.
»Eine Welt, in der die Frauen das Sagen haben? Hosen anziehen, auf die Straße gehen und rumschreien?«
»Nein, ganz und gar nicht. Wir wollen gleichgestellt sein. Wählen gehen. Die Mädchen sollen die gleiche Bildung wie die Jungen bekommen. Die Welt sollte nur nicht von Männern allein regiert werden.«
»Und während die Frauen das Land regieren, sitzen die Männer zuhause und hüten die Kinder? Sollen wir sie vielleicht auch noch bekommen?« Matthis sprang auf. »Das ist doch blanker Unsinn. Sei doch froh, dass du nicht mehr arbeiten gehen musst. Dass du dich um deine Kinder kümmern kannst, Zeit und Kraft hast, sogar noch ein fremdes Kind aufzunehmen. Das war doch immer dein Wunsch!«
»Deshalb habe ich aber doch trotzdem eine Meinung. Ein Recht, daran mitzuwirken, wie es in der Welt weitergeht. Eben weil ich Kinder habe. Ich möchte, dass es unseren Kindern einmal besser geht, dass die Mädchen in gute Schulen gehen, dass sie die gleichen Möglichkeiten haben wie ihre Brüder.«
»Ich will das so bestimmt nicht. Meine Töchter sollen nicht in Hosen ´rumlaufen, und sie sollen nicht in Fabriken oder fremder Leute Haushalt arbeiten müssen. Sie sollen ein gut behütetes Leben führen und Männer haben, die sich um ihr Wohl kümmern!«
»Und nichts haben, was ihnen selber gehört? So wie ich? Meine Großmutter hat mir alles vermacht, aber bestimmen tust du darüber. Das ist doch -«
»Das ist Gesetz, und das ist die Ehe. Was mein ist, ist dein. So steht es in Buch Rut, nicht wahr?«
»Oh, bitte, hör auf, die Bibel zu zitieren, Herr Diakon!« Auch sie war schon lange wütend aufgesprungen, beide bewegten sich in der Stube umeinander wie Boxer bei einem Kampf. Luise bezog vor ihrem Mann Position. »Bisher war nur immer dein Wille Gesetz!«
»Ach Luise. Das stimmt doch nicht. Wir haben doch so viel gemeinsam durchgestanden, und dabei immer zueinandergestanden.« Matthis’ Stimme wurde sanft, er versuchte, ihre Hand zu nehmen, und lächelte sie an. »Luise, du weiß doch, dass ich dich liebe und nie etwas tun würde, ohne -«
»Aber du hast mir mein Erbe genommen!«
»Wir mussten leben, nicht wahr? Und es war unser beider Plan, gemeinsam wollten wir hier etwas aufbauen. Außerdem …«
»Was?«, fragte sie, weiterhin feindselig.
»Außerdem ist das allermeiste noch da. Ein wenig Geld haben wir verbraucht, aber der Schmuck, die Andenken – das ist doch alles noch da.«
Ihre Augen leuchteten kurz auf, aber sie schwieg. Erschöpft sank sie in den Sessel am Fenster, schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank es in durstigen Zügen. Matthis zog sich den Fußschemel zurecht und setzte sich ihr zu Füßen. »Luise, was fehlt dir denn? Möchtest du etwas haben, dass du so auf dein Erbe dringst? Ich versuche doch, dir alles zu geben. Aber lass uns weiter zusammenhalten. Bitte.«
Sie reichte ihm die Hand. »Ach, Matthis.« Mehr sagte sie nicht, und auch er schwieg. Lange saßen sie so, versunken in ihre Gedanken, erschöpft von dem Streit.
»Komm, gehen wir schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag!« Matthis stand auf und freute sich, als sie mit ihm kam und sich an ihn kuschelte. »Ja, morgen ist ein neuer Tag!«
Am nächsten Tag klingelte es in aller Frühe an der Tür. Matthis war völlig schlaftrunken, Luise drehte sich um und zog die Decke über den Kopf. Matthis hörte, wie das Dienstmädchen die Treppe hinunterschlurfte und nahm eine Männerstimme wahr. Er stand widerwillig auf und zog sich notdürftig an. Sonntags um diese Zeit störte man die Menschen nicht! Jemand klopfte an die Schlafzimmertür, auf sein Brummen hin öffnete das Mädchen die Tür einen Spalt. »Der Herr Dr. Vogel, gnädiger Herr!«
»Ich komme. Mach Kaffee.«
Matthis betrat das Wohnzimmer und begrüßte den Freund herzlich, stutzte jedoch, als er die Koffer neben ihm sah. »Willst du bei uns einziehen?«, fragte er erstaunt. Bevor Joachim eine Antwort geben konnte, trat Luise zu ihnen. »Joachim! Das ist aber eine schöne Überraschung!«
»Überraschung? Habt ihr denn meine Depesche nicht bekommen? Schon letzte Woche?«
»Depesche?« Luise schüttelte den Kopf und schaute ihren Gatten fragend an.
Der rührte sich nicht, knetete nur sein Kinn, bis es rot war und er bemerkte, was er tat. »Die Depesche«, murmelte er, eher zu sich, als zu den anderen.
»Ja, die Depesche. Ich habe euch geschrieben, dass ich heute komme, und morgen nach Bethel reise. Und dass ich Thomas mitnehme!«
Sekundenlang herrschte Ruhe, Matthis und Luise starrten Joachim an. Dann antworteten sie gleichzeitig und sehr aufgeregt.
»Du willst uns Thomas wirklich wegnehmen?«
»Du willst nach Bethel zurück?«
In diesem Moment kam die Haushälterin mit Kaffee, frischem Brot, Wurst und Käse. »Das Frühstück«, sagte sie unnötigerweise und deckte in Windeseile den Tisch. »Nehmen Sie doch Platz!« Sie wies zum Esstisch und zog sich zurück. Matthis besann sich auf sein Benehmen und bat Joachim erneut Platz an. Dann guckte er zu Luise hinüber, die, kreidebleich und zittrig, noch immer an der gleichen Stelle stand. Er ging zu ihr und geleitete sie zum Tisch, goss ihr eigenhändig ein. »Liebes, es ist meine Schuld, dass das alles so schiefgelaufen ist!«