Alles auf Anfang - Andrea Battke - E-Book

Alles auf Anfang E-Book

Andrea Battke

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Beschreibung

Aufgeben gibt's nicht! Einfühlsame Porträts von Menschen mit Schädelhirntrauma in einer außergewöhnlichen Reha-Tagesstätte fügen sich hier zu einem einmaligen Mutmachbuch zusammen. Die zahlreichen Fotos von Christine Höfelmeyer vermitteln eindrucksvoll, welche Herausforderungen Menschen mit Schädelhirntrauma und deren Angehörige bewältigen. Mehr als 300.000 Menschen sind jährlich in Deutschland, Österreich und der Schweiz von einer Schädelhirnverletzung betroffen - durch Arbeits- und Verkehrsunfälle oder Erkrankungen wie z. B. einen Schlaganfall oder eine Sauerstoffunterversorgung des Gehirns nach einem Herzinfarkt. Viele leiden danach dauerhaft unter schwerwiegenden geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen. Binnen Sekunden werden alle Lebensträume zerstört. Dieses Buch macht Mut und zeigt, wie es nach einem solchen Schicksalsschlag weitergehen kann.

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Andrea Battke, Christine Höfelmeyer

Alles auf Anfang

Porträts von Menschen mit Schädelhirntrauma

Andrea Battke, Christine Höfelmeyer: Alles auf Anfang

Porträts von Menschen mit Schädelhirntrauma

1. Auflage 2013

Herausgeber: Diakonische Behindertenhilfe gGmbH, Lilienthal

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2013

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

ISBN-ePub: 978-3-86739-850-3

ISBN-PDF: 978-3-86739-758-2

ISBN-Print: 978-3-86739-078-1

Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lektorat: Cornelia Schäfer, Köln

Fotos: Seite 21, 31, 36, 43, 57, 59, 72, 83, 85, 130 links, 152, 153 links, 167: privat; Seite 100: Bergmannstrost, Berufsgen. Kliniken Halle, Seite 109; 112; 114; 121; 123: Ingolf Schwanke †; alle anderen: Christine Höfelmeyer

Umschlagkonzeption und -gestaltung: GRAFIKSCHMITZ, Köln unter Verwendung eines Fotos von Christine Höfelmeyer

Typografie und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

Homepage: www.balance-verlag.de

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Innentitel

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zu den Autorinnen

Impressum

Alles auf AnfangEine Einführung von Henner Frevel

Vorwort

Olaf und Regina:»Für mich bin ich eigentlich erst jetzt geboren worden«

Matthias und Birgit:»Ich gehe davon aus, dass es ihm nicht reicht, wenn man ihn pflegt und ansonsten in Ruhe lässt«

Valeska, Andrea und Gerd: »What is the meaning of what I’m doing?«

Klaus und Angelika:»Jetzt habe ich die Möglichkeit, ihm etwas davon zurückzugeben«

Andreas: »Wenn die Kumpels von früher mich heute sehen würden ...«

Waltraut und Aylin: »Man darf Entscheidungen anderer nicht einfach so hinnehmen«

Björn und Ute: »Björn ist einfach bei allem dabei, und ich bin sicher, dass er das toll findet«

Klaus-Dieter: »Der Unfall war ein Arschtritt für mich«

Tamara, Waltraut und Rainer: »Das Persönliche Budget ist ein Wagnis, aber es lohnt sich«

Pioniere auf dem Weg in ein neues LebenEin Nachwort von Andreas Zieger

Anhang

Angebote zur Rehabilitation

Linkliste

Glossar

Alles auf AnfangEine Einführung von Henner Frevel

Dieses Buch handelt von Menschen, die von jetzt auf gleich aus ihrem vertrauten Leben, aus Aktivität und Selbstständigkeit gefallen sind. Allein in Deutschland erleiden jährlich ca.300.000 Menschen Hirnverletzungen durch Arbeits- und Verkehrsunfälle oder Erkrankungen wie z.B. einen Schlaganfall oder eine Sauerstoffunterversorgung des Gehirns nach einem Herzinfarkt.

Dank des medizinischen Fortschritts und einer guten Akutversorgung überleben heute viele dieser Menschen sogar schwere bis schwerste Hirnschädigungen. Viele Patienten mit einem sogenannten Schädelhirntrauma können nach intensiver Frührehabilitation ihren Lebensalltag eigenständig organisieren und Selbstständigkeit und Autonomie wiedererlangen.

Bei einem Teil der Betroffenen jedoch bilden sich die Folgen der Hirnschädigung, z.B. Lähmungen, Sprach- und Wahrnehmungsstörungen, nur über lange Zeiträume und dann oft nur unvollständig zurück. Sie leiden unter Funktionsstörungen unterschiedlicher Schweregrade, sind häufig mehrfach behindert und meist dauerhaft auf eine umfassende Unterstützung, Betreuung und Pflege angewiesen. Im Unterschied zum gut ausgebauten Netz von Einrichtungen zur Frührehabilitation fehlt für diese Patientinnen und Patienten ein entwickeltes System von Unterstützungs- und Förderangeboten der Langzeitrehabilitation. Ebenso sind die gesetzlich verankerten Leistungsansprüche lückenhaft.

So kommt es, dass Zehntausende Menschen mit erworbenen Behinderungen in ihrem familiären Umfeld von Angehörigen versorgt werden, was häufig weit über deren Grenzen der Belastbarkeit hinausgeht. Und mehrere Tausend Menschen mit Hirnschädigungen leben oft jahrzehntelang in Pflegeheimen – ohne Förderung und damit ohne Aussicht auf Weiterentwicklung und Rückgewinnung oder Erhalt ihrer Kompetenzen.

Dabei können mit dem frühzeitigen Beginn von Langzeittherapie und begleitender ambulanter Unterstützung des Umfelds in vielen Fällen zumindest Verschlechterungen verhindert, Kompetenzen stabilisiert und sogar wiedergewonnen werden. Im Idealfall kann für einige Betroffene sogar ein selbstständiges Leben ohne Unterstützung wieder möglich werden.

Das zeigen unsere praktischen Erfahrungen. In Lilienthal bei Bremen konnten wir 2005 innerhalb einer Behinderteneinrichtung eine spezielle Abteilung zur Langzeitbetreuung von Menschen mit einem Schädelhirntrauma aufbauen. Wesentliche Elemente dieser Entwicklung waren eine auf die Bedarfe von schwerstmehrfachbehinderten Menschen ausgerichtete Infrastruktur, motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ein eigener ärztlicher Dienst und vor allem die engagierte Unterstützung durch Geschäftsführung und Aufsichtsrat. Neben der Reha-Tagestätte mit ganztägigen Therapie-, Förder- und Betreuungsangeboten wurden dann nach und nach ein eigenes stationäres Wohnen für junge Menschen mit hohem Pflegebedarf und weitere Wohnprojekte für die ambulante Betreuung der Rehabilitanden in einer eigenen Wohnung entwickelt.

Die neun Menschen, die in diesem Buch porträtiert sind, haben eine solche Förderung gefunden, oft nach jahrelangen Odysseen. Jedes Schicksal der über sechzig Rehabilitanden der Reha-Tagesstätte wäre einen Beitrag wert gewesen. Nach langen Diskussionen haben wir uns für diese Auswahl entschieden. Sie steht jedoch stellvertretend für alle Rehabilitanden und deren Angehörige.

Diese Angehörigen zeichnet ein großes Engagement aus, sie sind die wahren Helden des Alltags. Immens viel Kraft und Hartnäckigkeit waren und sind nötig, um in einem extrem fordernden Krankheitsprozess für den Mann, die Frau, den Sohn, die Tochter, die Mutter oder den Vater eine bestmögliche Unterbringung und Förderung zu finden.

Denn wer von jetzt auf gleich nicht mehr in der Lage ist, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, braucht Powerfrauen, Powermänner, Powereltern, Powertöchter und Powersöhne. Starke Fürsprecher, die sich nicht von Ärzten beeindrucken lassen, die das Wort »austherapiert« benutzen, die sich nicht von Institutionen einschüchtern lassen, welche Anträge kurzerhand ablehnen und nur auf die Kosten schauen. Menschen, die genügend Kraft und Geduld aufbringen, immer weiter nach Möglichkeiten zu suchen, um das Leben für den, der nicht mehr selbst entscheiden kann, lebenswert zu gestalten.

Weil vieles nicht klar durch Gesetze und Verordnungen geregelt ist, braucht es aber auch gerade die mitfühlende Unterstützung und überdurchschnittliches Engagement von den Profis, den Verantwortlichen und Mitarbeitern in Einrichtungen, den Vertretern von Kostenträgern, von Ärzten und Therapeuten, von Anwälten bis hin zu Vermietern. Wir wollen daher mit diesem Buch motivieren, Mut machen und durch Beispiele aufzeigen, dass mit gemeinsamer Anstrengung auch bei ungünstigsten Prognosen eine gute Entwicklung möglich ist.

In unserer Gesellschaft bezieht sich der Begriff der Rehabilitation in erster Linie auf die Wiedereingliederung ins Arbeitsleben. Nicht nur die Kostenträger, wir alle sind es gewöhnt, unter Lebensperspektiven häufig zuerst Berufsperspektiven zu verstehen. Das Individuum in einer modernen Gesellschaft definiert sich zuallererst über die Arbeit, entweder die Erwerbsarbeit oder die Arbeit in der Familie, z.B. als Hausfrau und Mutter. Sind wir auf diesen Gebieten gut, dann erhalten wir Anerkennung und Wertschätzung. Viele Schädelhirnverletzte werden nie wieder als Leistungsträger in Arbeitsprozesse eingebunden werden können. Viele werden nicht einmal mehr allein und selbstständig wohnen können, sie werden lebenslang, teilweise rund um die Uhr, auf Hilfe und Förderung angewiesen sein.

Was ist ein Mensch wert, der in dieser Hinsicht keine Leistung erbringen kann? Welchen Platz weisen wir ihm zu? Warum soll eine Gesellschaft in Form von Institutionen dafür zahlen – und zwar oftmals sehr viel zahlen –, dass dieser Mensch ein bestmögliches Leben führen kann? Darauf gibt es nur eine Antwort: weil er ein Mensch ist und weil es jedem Mitglied dieser Gesellschaft ebenso ergehen kann.

Man kann es durchaus sehr egoistisch betrachten: Was würde ich mir für mich oder für meine Angehörigen wünschen, wenn es mich treffen sollte?

Wenn wir es schaffen, anderen das zuteilwerden zu lassen, auf was wir, im Fall der Fälle, selbst Anspruch erheben würden, dann arbeiten wir gemeinsam an einer sozialen, solidarischen Gesellschaft. Denn der Reichtum dieser Gesellschaft ist nicht abhängig von oberflächlicher Vermarktung und Verwertbarkeit, sondern von Empathie, Toleranz, Respekt und Nachhaltigkeit.

Genau diese Werte bilden die Basis für die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Rehabilitanden in der Reha-Tagesstätte der Diakonischen Behindertenhilfe in Lilienthal sowie den Angehörigen. Und sie spiegeln sich in allen Bereichen, von der Betreuung und den Therapien bis hin zur Arbeit an diesem Buch.

Was die Menschen, die hier vorgestellt werden, verbindet, hat ein Betroffener einmal so auf den Punkt gebracht: »Im Koma waren wir alle.« Dieses Koma war der Ausgangspunkt für ein neues Leben. Ein Leben mit neuen Zielen, mit großen Problemen und mit Rückschlägen, aber immer wieder auch mit kleinen und großen Erfolgen.

Wir danken allen hier vorgestellten Personen für die Bereitschaft, uns sehr persönliche Einblicke in ihr Leben zu gewähren. Ihre Offenheit sehen wir als Zeichen des Vertrauens, das sie uns auch über unsere Arbeit in der Reha-Tagesstätte hinaus schenken.

Ganz herzlich bedanke ich mich bei Andrea Battke für die einfühlsamen Texte und besonders bei Christine Höfelmeyer und Sabine Janssen, die von Beginn an bei der Entwicklung der Reha-Angebote und auch bei diesem Buch in jeder Phase engagiert und fachlich kompetent beteiligt waren.

Henner Frevel leitete die Reha-Tagesstätte Lilienthal bis 2012.

Vorwort

Als ich begann, an diesem Projekt zu arbeiten, war ich naiv. Ich hatte bisher nicht sonderlich oft darüber nachgedacht, was wohl passieren würde, wenn ich einen schweren Unfall hätte oder eine schwere Krankheit erleiden würde. Ich dachte wohl, ich bin ja kranken- und unfallversichert, es wird sich im Falle des Falles dann schon alles regeln lassen. Es wird für mich alles getan werden, was in unserer modernen Gesellschaft möglich ist.

Weit gefehlt. Das weiß ich jetzt. Ist das Leben z.B. nach einem Unfall durch Wiederbelebungsmaßnahmen und Operationen erst einmal gerettet, muss man – womit in der Regel die engsten Angehörigen gemeint sind – sehen, wie man mit dem »Überleben« klarkommt. Das klingt zynisch und das ist es auch. Denn wir entwickeln neue Rettungstechniken und Medikamente und sind immer schneller und besser in der Lage, einen Patienten oder ein Unfallopfer vor dem Tod zu retten. Aber mit dem, was danach kommt, werden die Patienten und die Angehörigen von den gesellschaftlichen Institutionen weitgehend alleingelassen.

Die verschiedenen Kostenträger haben die Tendenz – das habe ich in den Interviews für dieses Buch häufig gehört –, immer wieder Gründe zu finden, um Anträge zunächst einmal abzulehnen. Es bedarf dann einer gehörigen Portion Mut und fachlichem Wissen, um sich dem entgegenzustellen und Widerspruch einzulegen. Wer diesen Mut und das Wissen nicht hat, wird sich mit den Entscheidungen der Kassen und manchen Zumutungen abfinden müssen.

In unserem Buch stellen wir einige Menschen vor, die es geschafft haben, einen Platz in einer Einrichtung der Langzeitrehabilitation zu bekommen. Damit konnten sie sicherstellen, dass ein hohes Maß an Therapie und Förderung geleistet und die Familie zu einem großen Teil entlastet wird. Wir wollen mit ihrem Beispiel Mut machen, nicht aufzugeben, nach neuen Wegen zu suchen und Hilfe einzufordern, wenn der Fall der Fälle eintritt.

Für mich war es das erste Mal, dass ich mit erwachsenen behinderten Menschen oder deren Angehörigen zu tun hatte. Deshalb stellten sich mir zuerst ganz banale Fragen: Was bedeutet eigentlich eine Hirnschädigung ganz konkret? Wie gehe ich mit einem hirngeschädigten Menschen um? Wie begegne ich den Betroffenen und den Angehörigen, deren Geschichte mich sicher sehr berühren wird? Wie gehe ich mit meinem eigenen Mitleid um? Welche Fragen kann und darf ich stellen? Und was hat das eigentlich alles mit mir zu tun? Doch alle Interviewpartnerinnen und -partner waren dem Projekt und mir gegenüber sofort derart aufgeschlossen, dass meine Hemmungen, meine Sorgen jedes Mal im ersten Augenblick der Begegnung vergessen waren. In keinem Fall hat mich das Mitleid übermannt, ich empfand vielmehr Hochachtung vor der Leistung, dem Durchhaltevermögen und der Stärke, die jeder Einzelne tagtäglich aufbringt.

Das Schicksal behinderter Menschen war für mich bisher das Schicksal anderer. Und auch wenn ich es theoretisch immer schon wusste, erst bei der Arbeit an diesem Buch ist mir wirklich klar geworden, dass das Leben voller Risiken ist. Egal ob ich mich ausreichend bewege, mich gesund ernähre und mir jeden Stress vom Hals halte oder ob ich rauche, trinke, gerne schnelle Autos fahre oder Extremsportarten liebe, ob ich gut versichert bin oder nicht – das Risiko eines Schicksalsschlages lässt sich nicht ausschließen. Und es macht keinen Unterschied, ob ich 16, 37 oder 68 Jahre alt bin, ob mich auf der Autobahn ein Lkw rammt, ob ich beim Paragliding abstürze oder ob ein Aneurysma in meinem Kopf platzt.

Aber es macht einen großen Unterschied, ob sich danach jemand für mich einsetzt. Und es macht einen Unterschied, ob der- oder diejenige dann die Chance hat, einen geeigneten Ort zu finden, an dem ich die bestmögliche Förderung erhalte. Es macht einen Unterschied, ob andere sich zuallererst fragen, ob ich jemals wieder einen Beruf ausüben und Teil der Leistungsgesellschaft sein kann, oder ob es jemandem wichtig ist, das Gefühl zu haben, ich könnte zufrieden oder sogar glücklich sein.

Die Menschen in diesem Buch haben mithilfe ihrer Angehörigen den Weg in die Reha-Tagesstätte in Lilienthal gefunden. Es gibt zurzeit nur sehr wenige Einrichtungen dieser Art, verstreut im gesamten Bundesgebiet. Wie geht es all den Menschen, die nicht das Glück haben, einen solchen Ort zu finden und aufgenommen zu werden? Wie sieht deren Alltag aus? Wie geht es deren Angehörigen? Das wären Fragen für ein anderes Buch.

Ich möchte mich bei allen bedanken, die mir mit Rat und Tat bei diesem Projekt zur Seite standen. Insbesondere bei Christine Höfelmeyer, der nicht nur sehr einfühlsame Fotos gelungen sind, von denen leider nicht alle in dieses Buch einfließen konnten. Sie hat die Idee zu diesem Buch mitentwickelt und war an der gesamten Entstehung fachlich versiert, kritisch und kreativ beteiligt. Mein herzlicher Dank gilt auch Henner Frevel und Sabine Janssen für das Vertrauen in meine Arbeit und für ihre fachliche und organisatorische Unterstützung.

Ein besonderer Dank gilt allen Interviewpartnerinnen und -partnern, die sich ohne Ausnahme mit einer großen Offenheit für das Projekt begeistern konnten. Nur so konnte es zu dem werden, was es jetzt ist: ein besonderer Einblick in ganz besondere Lebensgeschichten.

Andrea Battke

»Für mich bin ich eigentlich erst jetzt geboren worden«

Olaf (50), Ehemann von Regina, Vater von zwei Kindern, Herzstillstand im Alter von 44 JahrenDiagnose: hypoxischer Hirnschaden

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Im Hier und Jetzt leben! Den Moment spüren, bewusst wahrnehmen und genießen. Solche Momente des Glücks kann dir keiner nehmen. So dachte ich, bis ich Olaf kennenlernte. Denn ob Olaf vor dem 14. Mai 2004 schon einmal glücklich war, weiß er nicht. Alle, restlos alle Momente, die er bis dahin erlebt hat, sind aus seinem Leben verschwunden.

Es ist ein ganz normaler Tag, bis Regina am späten Nachmittag einen Anruf von einem von Olafs Sportfreunden erhält und erfährt, dass ihr Mann auf dem Fußballplatz während eines Spiels zusammengebrochen ist.

Regina bleibt erst einmal ruhig, denn vor knapp einem Jahr war Olaf schon mal beim Sport umgekippt. Damals hatten Untersuchungen keine organischen Auffälligkeiten ergeben und die Ärzte schoben den Vorfall auf eine Unterzuckerung. So wird es heute sicher auch sein, denkt sie, als sie sich zusammen mit ihrem 16-jährigen Sohn Sebastian auf den Weg zum Sportplatz macht.

Auf dem Platz wird jedoch sehr schnell klar, dass diesmal alles anders ist. Olaf ist bewusstlos und atmet nicht. Die Mund-zu-Mund-Beatmung und die Herzmassage durch einen Sportkollegen blieben erfolglos. Jetzt ist der Notarzt vor Ort, versucht, mit einem Luftröhrenschnitt dem Bewusstlosen das Atmen zu ermöglichen, und übernimmt die Reanimation mit professionellem Gerät. Sechzehn Mal setzt er den Defibrillator an, bis das Herz endlich wieder zu schlagen beginnt. Mit dem Rettungswagen wird Olaf in die nächste Klinik gebracht.

Reginas Gelassenheit schwindet. Was ist los mit Olaf, was geschieht mit ihm, wird er wieder gesund? Was passiert eigentlich bei einem Herzstillstand? Welche Folgen kann das haben? Wie lange wird das dauern? Fragen, auf die niemand eine Antwort gibt.

Olafs Herz schlägt wieder regelmäßig, doch er wacht nicht auf. Zwei lange Monate liegt er im Koma. Jeden Tag sind Regina und seine Mutter abwechselnd bei ihm, waschen ihn, rasieren ihn, erzählen ihm, was im Alltag so passiert, bringen ihm »seine« Musik mit, schieben ihn im Rollstuhl spazieren. Und manchmal legt Regina sich einfach zu ihm ins Bett und hält ihren Mann ganz fest.

Auch die beiden Söhne Sebastian und René kommen zu Besuch. Für die Jungs ist es schwierig, den geliebten Vater zu sehen und doch das Gefühl zu haben, dass dieser gar nicht wirklich da ist. Sie können nichts tun, sich nicht mit ihm unterhalten, ihm nicht helfen. Sie wissen nicht einmal, ob er sie überhaupt wahrnimmt. René ist gerade einmal 13 Jahre alt, er kann das alles nicht begreifen, sein Vater fehlt ihm. Sebastian, der ältere Bruder, zeigt nicht so deutlich, wie sehr ihn die Situation belastet. Er ist schon in dem Alter, in dem er sich langsam von der Familie abnabelt, er konzentriert sich stärker auf sein eigenes Leben und findet so für sich einen Weg, mit der schmerzlichen Situation umzugehen.

Ganz allmählich verändert sich Olafs Zustand. Er wacht nicht einfach auf, wie nach einem langen Schlaf, sondern wird zunächst nur sehr unruhig. Sein ganzer Körper ist in ständiger Bewegung, mehrfach fällt er aus seinem Bett und schlägt sich den Kopf auf. Bis die Ärzte entscheiden, Matratzen und Schaumstoffkeile auf den Boden zu legen, damit Olaf sich dort verletzungsfrei bewegen kann. Trotz aller Routine, die die Familie nun schon mit dem Klinikalltag hat, ist es schrecklich, untätig zuzusehen, wie Olafs Körper sich windet. Er scheint zu zeigen, dass er rauswill, raus aus dieser Ohnmacht.

Dann lässt die Unruhe endlich nach. Olaf wirkt nun wacher und beginnt, Laute von sich zu geben. Es ist eine Art Sprache, die jedoch niemand versteht. Erst nach mehreren Wochen sind aus den verworrenen Lauten einzelne richtige Worte herauszuhören. Aber diese Worte sind nicht das, was Regina sich von ihrem Mann erhofft hatte. Olaf ist aggressiv und wütend, er schimpft und schreit, und nichts und niemand kann ihn beruhigen.

Für Regina und die Familie ist das eine schreckliche, sehr schwere Zeit. So kennen sie Olaf nicht. Wird er jetzt so bleiben? Kann ein Mensch so leben? Wie wird es weitergehen?

Niemand will und kann ihnen Hoffnung machen, dass alles wieder gut wird. Aber andererseits, die Hoffnung aufgeben, wie sollte das gehen?

Die Geduld wird belohnt. Olaf überwindet die aggressive Phase und scheint täglich etwas mehr Bewusstsein zu erlangen. Seine Sprache entwickelt sich, wird sanfter. Durch unermüdliches tägliches Training beginnt auch sein Körper mehr und mehr normale Funktionen zurückzuerlangen. Monate nach seinem letzten Fußballspiel macht Olaf seine ersten eigenen, unbeholfenen Schritte.

Die Familie ist glücklich und dankbar, dass Olaf jeden Tag wieder mehr ins Leben zurückfindet. Doch die Situation bleibt schwierig und belastend. In der Klinik werden die Angehörigen nur spärlich aufgeklärt und unterstützt, eine psychotherapeutische Begleitung fehlt ganz. Dennoch hat Regina das Gefühl, dass Olaf dort gut aufgehoben ist. Sie kann jederzeit bei ihm sein und weiß, dass sie selbst neben allen Therapien ein wichtiger Faktor für seine Genesung ist. Alles liegt auf ihren Schultern, sie geht ihrem Beruf nach, sie kümmert sich um die Jungen und den Haushalt. Sie macht einfach weiter, auch wenn die Belastung enorm ist. »Es ist wie nach der Geburt eines Kindes, man bringt Energien auf, von denen man nie dachte, dass man sie hat«, sagt sie.

Die kleinen Fortschritte nähren die Hoffnung, Olaf könne irgendwann vielleicht wieder ganz gesund werden. Doch andererseits wird mit jedem Fortschritt, den er macht, auch deutlich, dass die fehlende Sauerstoffzufuhr während des Herzstillstands komplexe Hirnschäden verursacht hat. Auch wenn er nun wieder bei Bewusstsein ist und deutlich sprechen kann, so kann er sich doch an nichts mehr erinnern, weder an das letzte Fußballspiel noch an irgendeine Begebenheit aus der Zeit davor. Er erkennt weder seine Frau noch seine Mutter, und auch seine Söhne sind ihm vollkommen fremd. Er weiß nicht einmal, wer er selbst ist, kennt weder seinen Namen noch seine eigene Lebensgeschichte.

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Nur wenige Wochen nach dieser Aufnahme verliert der Familienvater nach einem Herzkammerflimmern und der dadurch verursachten Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff alle Erinnerungen an seine Familie und seine gesamte Vergangenheit.

Für seine Familie hat sich die Welt durch Olafs Herzstillstand dramatisch verändert. Er selbst hingegen weiß gar nicht, wie seine Welt bisher ausgesehen hat. Alle Erinnerungen sind wie ausgelöscht.

Regina erklärt ihm ausführlich, was passiert ist, erzählt ihm, was vor dem Herzstillstand war und wie er bis jetzt gelebt hat. Doch Olaf kann mit diesen Informationen nicht viel anfangen, er hat einfach keine Vorstellung von dem, was ihm erzählt wird. »Für mich bin ich eigentlich erst jetzt geboren worden«, erklärt er seine Situation später.

Jedoch, anders als ein Neugeborenes kann Olaf sprechen und auch denken – nur weiß er nicht so recht, was er denken soll. So viel strömt auf ihn ein, und auch wenn er einen großen Wortschatz besitzt, kann er sich sehr vieles, was er hört und sieht, gar nicht erklären. Er kommt in eine für ihn völlig neue Welt, von der er nicht weiß, wie sie funktioniert. Sein Gehirn ist derart geschädigt, dass das Wissen um die alltäglichsten Dinge ausgelöscht ist. Er kennt das Wort »Tür«, aber wenn man ihn bittet, auf eine Tür zu zeigen, dann ist er nicht in der Lage dazu. Was ist ein Stuhl? Eine Banane, ein Schuh, eine Blume oder ein Auto? Was bedeutet »rot« und was das Wort »vier«?

Nicht nur die Wahrnehmungsstörung stellt ihn vor große Probleme, auch seinen Körper beherrscht er nicht. Es ist ihm nicht möglich, seine Bewegungen so zu koordinieren, dass er z.B. in eine Badewanne steigen und wieder aussteigen kann. Er muss sich nicht nur den Weg zur Toilette jedes Mal aufs Neue mühsam erarbeiten. Auch die notwendigen Körperbewegungen vom Öffnen des Hosenbundes bis zum Waschen der Hände, Handlungen, die für andere Menschen völlig selbstverständlich sind, stellen Olaf vor riesige Probleme. Und was er gerade gelernt zu haben scheint, ist im nächsten Moment wieder verschwunden.

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Koordinations- und Körperwahrnehmungsübungen sind für Olaf wichtige therapeutische Maßnahmen, um sich selbst in seiner Umgebung besser wahrzunehmen.