Alles halb so schlimm - Stephan Heinrich Nolte - E-Book

Alles halb so schlimm E-Book

Stephan Heinrich Nolte

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Beschreibung

Häufig suchen Eltern bei jedem ersten Krankheitszeichen ihres Kindes sofort einen Arzt auf. Dabei wäre es meist gesünder und stressfreier, das Kind erst einmal zu beobachten und mit Ruhe abzuwarten. Angst um das kranke Kind führt eher zu Unruhe, Planlosigkeit, Überbehandlung und -diagnostik. Zeit, Liebe und Zuwendung kommen dann oft zu kurz, wären für das Kind jedoch viel wichtiger. Der Autor zeigt auf, welche Erkrankungen harmlos sind, aber auch, welche Erkrankungen einer sofortigen und konsequenten Behandlung bedürfen. Er erklärt verständlich warum ein Zuviel an Therapie schadet und was stattdessen hilft. Mit diesem Buch gibt er den Eltern das Vertrauen auf Genesung zurück und stärkt sie als Beschützer ihres Kindes.

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Seitenzahl: 290

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Der Autor

Dr. med. Stephan Heinrich Nolte ist Kinder- und Jugendarzt und war leitender Oberarzt an der Universitäts-Kinderklinik Marburg, bevor er sich 1992 in eigener Praxis niederließ. Psychotherapeutische, palliativmedizinische und homöopathische Weiterbildungen ergänzen sein Spektrum. Er schrieb mehrere Ratgeber für Kindergesundheit sowie zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften. Der Vater von fünf erwachsenen Kindern und sechs Enkelkindern lebt in Marburg. Im Kösel-Verlag ist 2016 sein Buch Maßvoll impfen erschienen.

Das Buch

Der Kinderarzt Dr. Stephan Heinrich Nolte sagt aus jahrzehntelanger Erfahrung: Kranke Kinder müssen nicht immer sofort zum Arzt gebracht werden. Es ist meist gesünder und hilfreicher, zu Hause zu bleiben und den Krankheitsverlauf zu beobachten.

In diesem Buch erfahren Sie, bei welchen Gefahrenzeichen eine sofortige ärztliche Behandlung notwendig ist – und welche Krankheiten und Symptome in Ruhe daheim aus-kuriert werden können. Zudem bekommen Sie hilfreiches Hintergrundwissen, für das in der Sprechstunde oft keine Zeit bleibt.

Eine unentbehrliche Unterstützung für alle Eltern, die ihre Kinder in Krankheitsphasen gut und nebenwirkungsarm betreuen wollen!

Notfalladressen und wichtige Telefonnummern

Euronotruf: gebührenfreie, in Europa länderübergreifende Notrufnummer 112, (vermittelt an die nächstzuständige Leitstelle)

Polizei 110

Leitstelle, Rettungsdienst, Feuerwehr 112

Giftnotruf:

Deutschland +49

Berlin und Brandenburg (030) 19 240

Nordrhein-Westfalen (0228) 19 240

Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (0361) 730 730

Baden-Württemberg (0761) 19 240

Niedersachsen, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein (0551) 19 240

Saarland (06841) 19 240

Rheinland-Pfalz und Hessen (06131) 19 240

Bayern (089) 19 240

Schweiz +41

Zürich 044 251 51 51

Nur für Notfälle   145

Österreich +43

Wien 01 406 43 43

Notruf

• Wer ruft an? (Geben Sie Ihre Rückrufnummer an!)

• Wo befindet sich der Patient?

• Was ist passiert?

• Wie viele sind betroffen?

• Wann ist es passiert?

Warum ist das so wichtig? Wenn keine Rückrufnummer angegeben wird oder wenn nicht vermittelt wird, wo sich der Patient gerade befindet, wird der Rettungsdienst unter Umständen an den falschen Ort geleitet. Nicht selten bricht der Anrufer in der Aufregung das Gespräch ab, oder es wird aufgrund der Notfallumstände plötzlich unterbrochen. Das Gespräch sollte immer die Leitstelle beenden, nicht der Anrufer.

Dr. med. Stephan Heinrich Nolte

Alles halb so schlimm

Die häufigsten Fragen an den Kinderarzt und überraschend einfache Antworten

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Copyright © 2017 Kösel-Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHNeumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlag: Weiss Werkstatt MünchenUmschlagmotiv: © shutterstock/Virinaflora | BildNR. 354118979Außenlektorat: Ralf Lay, MönchengladbachISBN 978-3-641-21271-1V001www.koesel.de

Tene mensuram et respice finem.Halte Maß, und bedenke die Folgen.Kaiser Maximilian I. (1493–1519)Auch gar nichts zu verschreiben ist zuweilen eine vortreffliche Arznei.Hippokrates von Kos (460 bis etwa 377 v. Chr.)

Inhalt

Kapitel 1: Vom Kranksein und Gesundwerden

Gesundheit lässt sich nicht herstellen und nicht erkaufen

Das Symptom ist nicht die Krankheit

Zeitmangel und andere Heilungshindernisse

Krankheit und Kranksein

Der Sinn von Krankheit

Heilung kommt von innen

Vom Aushalten

Überdiagnostik: Nicht jedes Wissen ist ein Segen

Was können wir aus und mit der Homöopathie lernen?

Kardinalfragen zur Krankheit

Oft weiß der Kranke am besten, was ihm guttut

Neue Strömungen der Homöopathie

Beweisgestützte (evidenzbasierte) Medizin

Eminenzbasierte Medizin

Placebo-Effekte

Homöopathie, ein intelligentes Placebo

Kapitel 2: Meinem Kind geht es nicht gut, was können wir tun?

Notfälle

Husten oder erschwerte Atmung – wann ist das schlimm?

Durchfall – wann ist das schlimm?

Ohrenschmerzen – wann ist das schlimm?

Fieber – wann ist das schlimm?

Symptome und Zustände

Fieber – ist das schlimm?

Überhitzung und Überwärmung – ist das schlimm?

Schmerzen – wie schlimm ist das?

Husten – ist das schlimm?

Erbrechen und Durchfall – ist das schlimm?

Essverhalten: Mein Kind isst nicht genug – ist das schlimm?

Psychosomatische Symptome – ernst zu nehmen

Unfälle sind schlimm

Anders sein – ist das schlimm?

Geschwister haben – ist das schlimm?

Exkurs zu Heilmitteln: Ergotherapie & Co.

Wichtige Krankheiten und Beschwerden

Allergie – ist das schlimm?

Bindehautentzündung – ist das schlimm?

Einnässen und Einkoten – ist das schlimm?

Harnwegsinfektion – ist das schlimm?

Kopfverletzungen – ist das schlimm?

Schlimm: Krebs bei Kindern

Neugeborenen-Gelbsucht – ist das schlimm?

Ohrenschmerzen – ist das schlimm?

Phimose – ist das schlimm?

Ringelröteln – ist das schlimm?

Scharlach und Streptokokken – ist das schlimm?

Schnupfen – ist das schlimm?

Übelkeit – ist das schlimm?

Warzen – ist das schlimm?

Kapitel 3: Was muss anders werden?

Wem machen wir es recht? – Der Auftrag des Kinderarztes

Ein doppeltes Arbeitsbündnis

Wer ist der Auftraggeber?

Das Kindeswohl

Anvertraut oder ausgeliefert?

Warum machen sie das?

Ethische Fragen

Risikowahrnehmung und Grenzen der Statistik

Safety first?

Bangemachkampagnen

»Aude valere«: »Trau dich, gesund zu sein«

Der »rote Faden« – Versuch eines Konzepts

Erstens: Der rote Faden zur Identifizierung

Zweitens: Der rote Faden zur Bindung der Patienten

Drittens: Der rote Faden durch das Labyrinth der Medizin

Viertens: Der rote Faden als durchgängiges Konzept

Fünftens: Der rote Faden der Verbundenheit

Nachwort: Grenzen und Chancen der Nichtbehandlung

Danksagung

Anmerkungen

Stichwortverzeichnis

Kapitel 1

Vom Kranksein und Gesundwerden

Was ist eigentlich Gesundheit, wenn Krankheit das Gegenteil von Gesundheit ist? Gesundheit wird manchmal als Abwesenheit von Krankheit definiert, sozusagen als Ausschlussdiagnose, während die Weltgesundheitsorganisation WHO Gesundheit als vollkommenes körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden definiert und nicht allein als das Fehlen von Krankheit und Gebrechen. Das ist wohl ein paradiesischer und damit auf Erden unerreichbarer Zustand.

Gesundheit lässt sich nicht beweisen. Mein Vater pflegte mir das so zu erklären: Wenn ich über ein Feld schaue und einen Hasen sehe, dann kann ich sagen: »Da ist ein Hase.« Sehe ich keinen Hasen, kann ich nicht behaupten, da sei keiner – denn im nächsten Moment kann einer aufspringen. Ich kann nur feststellen, dass ich derzeit keinen Hasen sehe. Ebenso verhält es sich mit Krankheit: Ich kann feststellen, dass ein Patient derzeit gesund erscheint, aber ich kann nicht behaupten, dass er gesund ist. Das weiß ich nicht und kann es auch mit allen diagnostischen Mitteln nicht beweisen.

Gesundheit lässt sich nicht herstellen und nicht erkaufen

Selbst der beste Arzt kann nur helfen, die Voraussetzungen zur Gesundung oder Erhaltung der Gesundheit zu verbessern, nicht aber Gesundheit erschaffen. Entgegen den landläufigen Vorstellungen sind weder Ärzte noch andere Menschen, die sich mit Heilkunst beschäftigen, Heiler. Sie alle können nur dazu beitragen, dem Organismus zur Selbstheilung zu verhelfen, indem sie günstige Heilungsverhältnisse schaffen oder Hindernisse beseitigen, die der Heilung im Wege stehen. Wenn zum Beispiel ein Kind gegen eine Tür läuft und eine Platzwunde an der Stirn hat, ist alles, was der Wundversorger leisten kann, die Wunde zu reinigen, Fremdkörper, etwa Holzsplitter, ebenso wie abgestorbene Gewebeteile zu entfernen, die Wundränder zu adaptieren, so die Wunde durch Naht oder Gewebekleber zu verschließen und dann – die Wundheilung abzuwarten und Voraussetzungen zu schaffen, dass sie nicht erneut aufgeht und sauber bleibt.

Auch wenn wir alles Vermeintliche für die Gesundheit tun und viel Geld für das Gesundheitswesen ausgeben, können wir daraus keinen Anspruch auf Gesundheit ableiten, denn Gesundheit kann man nicht kaufen, schon gar nicht mit Technik und mit Medikamenten. Sie ist auch keine Handelsware, nicht bezahlbar und schon gar nicht einklagbar. Gesundheit ist eine Gabe, sie geschieht. Eine Krankenversicherung ist trotz des verbreiteten neuen Namens »Gesundheitskasse« keine Versicherung der Gesundheit, sondern eine Absicherung im Krankheitsfall. Wir können zwar viel, sehr viel für unsere Gesundheit tun, sie aber auch mit allen erdenklichen Maßnahmen nicht erkaufen. An der Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Gesundheitszustand und den ständig steigenden Kosten unseres Gesundheitswesens lässt sich das leicht aufzeigen. Und wenn wir noch mehr Geld hineinstecken, wird sich der allgemeine Gesundheitszustand nicht zwangsläufig verbessern, sondern vor allem die Gesundheitsindustrie unterhalten, einen der wichtigsten Erwerbszweige, in den inzwischen mehr als 11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fließen. Denn alles, was man im Namen der Gesundheit unternimmt, wird zunächst einmal positiv gesehen – ungeachtet aller ökonomischer und ökologischer Bedenken.

Das Symptom ist nicht die Krankheit

Wenn wir uns mit kranken Menschen beschäftigen, lautet die erste Frage, was denn das zu Heilende ist. Das zu Heilende ist nämlich nicht unbedingt das Symptom, also das Fieber oder der Husten. Beide sind nur die erkennbaren Krankheitszeichen, aber nicht die Krankheit selbst. Wenn eine Alarmglocke schrillt oder ein rotes Warnlicht aufleuchtet, kann ich versuchen, den Alarm durch Abstellen der Stromzufuhr zur Glocke oder zum Warnlicht zu beenden – oder aber nach der Ursache des Alarms suchen. Hat analog diesem Beispiel ein Kind Fieber, geht es nicht darum, die Temperatur zu senken, sondern nach dem eigentlichen Grund für das Fieber zu schauen. Falls sich dann herausstellen sollte, dass es wohl ein Fehlalarm war, kann ich immer noch das Fieber senken, also den Alarm abstellen, wenn es notwendig ist. Auf allen Intensivstationen der Welt ist dasselbe Phänomen zu beobachten: Wenn der Monitor alarmiert, wird nicht auf den Patienten, sondern als Erstes auf den Monitor geschaut – und dann erst der Zustand des Patienten überprüft. Auch nach jahrelangen Schulungen und Fortbildungen gilt diese Beobachtung weiterhin, und Patienten werden bei vollem Bewusstsein »wiederbelebt«, weil der Monitor »Herzstillstand« anzeigt. Über die wirklichen Alarmzeichen werden wir noch sprechen.

Wenn die Frage, was das zu Behandelnde ist, in etwa geklärt wurde, muss sich zwangsläufig die weitere Frage stellen, warum sich das zu Behandelnde nicht selbst heilt. Denn Heilung kommt immer »von innen«, durch die Selbstheilungs- oder Lebenskraft. Hier sind zwei Faktoren von Bedeutung: Der eine ist die Zeit, der andere Faktor sind die Hindernisse, die einer Heilung im Wege stehen.

Zeitmangel und andere Heilungshindernisse

Eines der großen Probleme »unserer Zeit« ist eben, dass wir keine Zeit haben. Denn Zeit ist Geld, und Geld ist Macht, alles dreht sich ums Geld – und damit ist Zeit ein knappes Gut. Das Erste, was Heilung benötigt, ist Zeit, gute Zeit. Wenn wir alle Zeit der Welt hätten, würde uns Krankheit – die eigene und die unserer Kinder – nicht so aus der Bahn werfen: Was heute nicht kommt, kommt morgen. Krankheit erzwingt sich ihre Zeit und aktiviert damit Ressourcen, von denen wir gar nicht wussten, dass es sie überhaupt gibt. Dies ist eine der wichtigsten Botschaften von Krankheiten, gerade bei Kindern: Ich brauche Zeit, signalisiert das kranke Kind. Und je weniger Zeit ich bekomme, umso mehr hole ich sie mir, erzwinge sie mir.

Außer Zeitmangel gibt es aber noch vielfältige andere Heilungshindernisse auf allen Ebenen: der körperlichen, der geistigen, der emotionalen und der sozialen. Hier stellt sich die Frage nach den Ursachen ausbleibender Heilung. An einem einfachen, aber typischen Beispiel soll dies erläutert werden. Ein dreijähriges Kind hat nach dem ersten halben Jahr im Kindergarten mit verschiedenen Infekten der oberen Atemwege und monatelang laufender Nase plötzlich heftige Ohrenschmerzen. Der Arzt diagnostiziert eine Mittelohrentzündung und verschreibt Schmerzmittel und ein Antibiotikum. Tatsächlich geht das Fieber weg, auch die Schmerzen bessern sich, aber das Kind hört schlecht. Nach zwei Wochen hat es wieder Fieber und Ohrenschmerzen, bekommt erneut ein Antibiotikum – und nach weiteren zehn Tagen wiederholt sich das Spiel.

In diesem alltäglichen Fall lassen sich verschiedene mögliche Formen von Heilungshindernissen durchdenken. Das erste Heilungshindernis ist der Kindergarten selbst: viele Kinder mit vielen Krankheiten und die dadurch bedingten ständigen Neuinfektionen (Infektanfälligkeit, siehe Seite 176), die zu einer lymphatischen Überreaktion führen. Dazu kommen die allgemein ungesunde Atmosphäre überhitzter Räume, lauter Umgebung und die unzureichende Bewegung an der frischen Luft (in sogenannten Waldkindergärten ist der Gesundheitszustand der Kinder generell viel besser).

Als Ursache der Mittelohrentzündung (siehe Seite 168) ist eine Belüftungsstörung des Mittelohrs mit Sekretstau ein Heilungshindernis, das durch Verbesserung der Belüftungsverhältnisse behoben werden kann, etwa durch konservative Maßnahmen oder, wenn es nicht anders geht, durch die Entfernung der Rachenmandeln mit der Einlage von Paukenröhrchen. Die sich auf dem Nährboden des Schleims vermehrenden ortsansässigen Bakterien können schließlich ein Heilungshindernis werden und eine gezielte antibiotische Behandlung notwendig machen. Durch Rauchen oder anderweitig verschmutzte Luft können die Schleimhäute geschädigt werden – ohne Behebung dieses Heilungshindernisses wird es schwer, gesund zu werden. Schließlich können Kummersituationen und unglückliche Lebensumstände Heilungshindernisse auf der seelischen Ebene sein, an denen das Kind »krankt«. Sie sind ebenso wie Heilungshindernisse auf der sozialen Ebene schwer zu erkennen und noch schwerer zu ändern.

Saluto- oder Pathogenese?

In der Medizin beschäftigen wir uns üblicherweise mit der Pathogenese, der Entstehung von Krankheiten. Wir untersuchen und beforschen die Pathomechanismen, die Bedingungen und Teufelskreise, die zu immer mehr Symptomen und immer mehr Krankheiten führen. Nun können diese Teufelskreise entstehen, sie müssen es aber nicht. Es kann immer auch Auswege aus der Spirale geben, und das ist ein ganz anderer Ansatz, sich mit Krankheit zu beschäftigen. Das macht die Wissenschaft von der Entstehung von Gesundheit, die Salutogenese.

Bis heute ist die Medizin bei allen Präventionsbemühungen und Früherkennungsmaßnahmen immer noch eher pathogenetisch orientiert. Die Frage, warum manche Menschen krank werden, andere aber unter ähnlichen Lebensbedingungen nicht, führt zwangsläufig dazu, sich mit Widerstands- und Stärkungskräften zu beschäftigen, eine Denkrichtung, die als »Resilienzforschung« bezeichnet wird.

Krankheit und Kranksein

»Krank oder gesund« ist keine Polarität, nicht etwas, was sich gegenseitig ausschließt. Freilich sind wir als Ärzte genötigt, die Zuschreibung »krank« kategorial anzuwenden, etwa beim »Krankschreiben«. Hier bescheinigen wir lediglich der Gesellschaft gegenüber, dass der Patient Kriterien erfüllt, die ihn zurzeit arbeitsunfähig machen. Wir attestieren, dass er momentan krank ist, sich krank fühlt. Ob er aber eine Krankheit hat oder nicht, hat mit der Krankschreibung nicht viel zu tun. Man kann eine schwere Krankheit haben und trotzdem arbeitsfähig sein.

Bezogen auf das Kind: Wenn ein Kind krank ist, wird der Arzt nicht selten nur aufgesucht, damit er bescheinigt, dass eine Betreuungsperson anwesend sein muss und diese deswegen nicht zur Arbeit gehen kann. Beurteilen kann der Arzt die Betreuungssituation nicht; das ist auch nicht seine Aufgabe. Wie soll er wissen, ob Dritte, etwa die Großmutter oder die Tagesmutter, nicht auch in der Lage wären, nach dem Kind zu schauen – oder der Vater ohnehin frei hat? Deswegen ist es eigentlich unnötig, ein krankes Kind allein wegen einer solchen Bescheinigung dem Arzt vorzustellen. Es führt nur zu unnötigen Arztbesuchen und erzeugt den gefühlten Druck, etwas zu verschreiben. Ich ärgere mich und fühle mich missbraucht, wenn mir in der vollen Sprechstunde ein krankes Kind mit irgendeinem leichten Infekt vorgestellt wird, ich es untersuche und meine Ratschläge gebe, um am Ende zu hören: »Das weiß ich ja alles schon, wir brauchen nur eine Bescheinigung, dass ich bei meinem Kind zu Hause bleiben kann.« Das hätte dann die Mutter bereits bei der Anmeldung am Telefon sagen können!

Der Sinn von Krankheit

Krankheit stört. Sie stört den Kranken, aber auch sein Umfeld. Ein krankes Kind zwingt zum Umorganisieren des Haushalts, der Betreuungssituation, der Arbeit und wird als negativ und belastend wahrgenommen. Nicht selten gibt es Konflikte, wer arbeiten gehen darf und wer beim Kind bleiben muss – oder umgekehrt, wer arbeiten muss und wer beim Kind bleiben darf. Schon an dieser Formulierung ist ein Grundkonflikt auszumachen: Was ist wichtig im Leben, was ist wichtiger? Wer braucht was, und wer braucht wen? Mit dieser Frage sind wir mitten im Konfliktfeld des Lebens an sich.

Heilung ist wie gesagt ein Selbstheilungsprozess, den wir durch geeignete Maßnahmen unterstützen können, vor allem durch das Erkennen und Beseitigen von Heilungshindernissen, niemals aber selbst von außen zu bewerkstelligen vermögen. Etwas weiter gefasst kann damit auch die Entwicklung einer Krankheit selbst als Selbstheilungsversuch, als kleineres Übel, gesehen werden. Mit körperlichen Krankheiten können seelische Verletzungen bewältigt, innere Verluste ausgeglichen oder Konflikte gelöst werden. Diese Selbstheilungsprozesse können gelingen, zu einem erträglichen neuen Gleichgewicht führen, sie können aber auch gründlich danebengehen – genau wie andere, äußere Heilversuche auch. Auf jeden Fall erhält in dieser Sichtweise eine Erkrankung einen ganz neuen, durchaus positiven Akzent. Eine reine »Anti-Krankheits-Einstellung« in dem Sinne unserer üblichen Anti-Behandlungen – Antibiotika, Antiallergika, Antipyretika und so weiter – ist vielleicht nicht immer der richtige Weg. Ebenso wie bei den vielen anderen »Anti-Mitteln« müssen wir auch unsere »Anti-Krankheits-Sicht« überdenken und eine andere Einstellung finden, die dem Kranken, ob Kind oder Erwachsenen, mehr entgegenkommt.

Krankheit kann als ein Anpassungsversuch verstanden werden, als ein Ausweg in einer Situation, in der verschiedene auseinanderdriftende Ansprüche gestellt werden und erfüllt werden sollen: etwa in einer Kita mit verschiedenen Betreuungspersonen konfrontiert zu werden und damit eine innige Zweierbeziehung mit der Mutter zeitweise aufzugeben. Durch die Krankheit kann sich das Kind den Wunsch zu erfüllen versuchen, wieder bei der Mutter zu sein – auch wenn dieser Wunsch nicht immer aufgeht. Was wir für Krankheit halten, ist oft der Versuch, etwas wiederherzustellen, was verlorengegangen ist. Dazu wird ein Weg gewählt, der möglich, gesellschaftlich akzeptabel und bequem zu sein scheint. Nur wird er häufig misslingen, weil in unserer leistungsorientierten »zeitarmen« Gesellschaft Kranksein nicht sein darf und mit allen erdenklichen Anti-Strategien angegangen wird.

Wenn ich auf meinem Gang durchs Leben Hindernisse vorfinde, »Konflikte« nennen es die Psychologen, muss ich mir überlegen, wie ich mit ihnen umgehe. Kann ich sie überwinden oder irgendwie meiden, oder muss ich an ihnen scheitern? So kann es, um im Bild des Gangs durch das Leben zu bleiben, sein, dass ich mich vor einem Bachlauf befinde, der mir in die Quere kommt. In einem Satz aus dem Stand kann ich ihn nicht überspringen. Ich muss, wenn ich die Lage erkannt habe, ein paar Schritte zurückgehen. Dieses Zurückgehen nennt man in der Sprache der Psychologie »Regression«. Nur wer sich konzentriert, Kräfte sammelt, Anlauf nimmt, kann weit springen. Das Innehalten kostet Zeit, Verzögerung im Lauf der Dinge, so ist der Anlauf auch zunächst ein Rückweg, denn man muss ein paar Schritte zurückgehen, um dann besser, höher und weiter springen zu können.

Ich orientiere mich hiermit und im Folgenden an dem Psychiater und Depressionsforscher Dieter Beck,1 der vier verschiedene mögliche Bedeutungen von körperlichen Erkrankungen beschreibt, um Krankheit als Anpassungsvorgang zu erklären: Er nennt sie »Ich-Erweiterung«, »Verlustverarbeitung«, »Sühne« und »narzisstische Reparation«.

Krankheit als Ich-Erweiterung: Da das Wort »Bewusstseinserweiterung« heute anders besetzt und ideologisch belastet ist, eignet sich der Begriff »Ich-Erweiterung« oder »Ich-Erfahrung« eher, um einen Selbsterkennungsprozess zu beschreiben, den Krankheit mit sich bringt. Jede Erkrankung führt zu einer gefühlsmäßigen Neuerfahrung des Körpers und seiner Anteile. Das können extrem negative Erfahrungen wie starke Schmerzen und große Angst sein, aber auch die Wahrnehmung körperlicher Empfindungen, von denen man vorher gar nicht wusste, dass es sie überhaupt gibt. Die Einstellung zum Körper als einer immer nur klaglos funktionierenden Maschine kann sich im positiven Fall zugunsten von Achtsamkeit und Umsicht wandeln und einen Raubbau an der eigenen Gesundheit verhindern.

Krankheit als Verlustverarbeitung: Das wurde am Beispiel des Kleinkinds, das in eine Tagesbetreuungseinrichtung geschickt wurde, bereits kurz erwähnt. Statt auf den Verlust seiner Bezugsperson(en) mit Wut, Schreien oder Aggression zu reagieren, wird das Kind krank und kann damit wenigstens vorübergehend den verlorengegangenen Zustand wiederherstellen und seine Bezugspersonen um sich sammeln. Auch diese unbewusste Bewältigungsstrategie ist nicht unbedingt von Erfolg gekrönt. Es kann zum Beispiel mit einem Krankenhausaufenthalt zu noch schwereren Trennungssituationen kommen. So wird die Botschaft, die das Kind mit der Krankheit aussendet, nicht gehört oder missverstanden.

Krankheit als Sühne: Krankheit als Strafe für ein Fehlverhalten ist ein weit verbreitetes Konzept, das uns in vielen religiösen, kulturellen und literarischen Zusammenhängen begegnet, so auch in der Bibel. Der Konflikt zwischen den realen kulturellen und gesellschaftlichen Anforderungen und deren Nichterfüllung oder Zuwiderhandlung liegt häufig bewusst oder unbewusst einer Erkrankung zugrunde. Die Fehlhandlung muss durch Krankheit abgebüßt werden. Buße tun hat einen reinigenden, kathartischen Effekt, der das Weiterleben befreit und erleichtert.

Krankheit als narzisstische Reparation (Wiederherstellung des Ichs): Man wendet sich dem eigenen Körper zu, erlangt Hinwendung und Fürsorge, wie es ein Kind erfährt, und die »Befreiung vom Soll jedes moralischen Anspruchs«2. »Zusammen mit infantilen Bedürfnisbefriedigungen und der Entlastung von den Realitätsanforderungen stellt der regressive Prozess einen Versuch dar, das durch Kränkungen verletzte Selbst wieder kohärent zu machen.«3 Auf der anderen Seite stellen Krankheit und Leiden selbst eine schwere Kränkung dar, unter der das Selbstgefühl sehr leiden kann. Warum gerade ich? Ich lebe doch so gesund und tue alles für meine Gesundheit. Warum muss mir das passieren?

Heilung kommt von innen

Dass Heilung von innen kommt, ist ziemlich kränkend, nicht nur für Ärzte und medizinisches Fachpersonal, auch für Eltern und andere gutmeinende Menschen. Wir sind nicht die großen Heiler, die wir gern sein würden, mit uns zugeschriebenen Heilkräften, die uns erhöhen. »Natura sanat, medicus curat.« (Die Natur heilt, der Arzt doktert herum, etwas liebevoller formuliert: der Arzt bemüht sich, sorgt sich.) Oder in einer anderen, alten Formulierung: »Je le pansais, Dieu le guérit« (Ich habe ihn verbunden, Gott hat ihn geheilt.) Ein Spruch, der dem Feldschergen und Chirurgen Ambroise Paré (1510–1590) zugeschrieben wird. Georg Groddeck (1866–1934), einer der psychosomatischen Vordenker, drückte es so aus: »Niemand soll glauben, und niemand darf es glauben, dass der Arzt den oder jenen geheilt hat. Es steht nicht in seiner Macht. Die Natur heilt, der Arzt behandelt.«4 Dem Arzt ist eine präsente, begleitende und verstehende Rolle zugedacht.

Aber die Selbstheilungsversuche des Organismus sind nicht immer erfolgreich, sonst gäbe es ja gar keine Krankheit. Oft gehen sie in eine falsche, vielleicht sogar zerstörerische Richtung. Denn der gesunderhaltenden Lebenskraft stehen nur beschränkte Register zur Verfügung, sie hat ja keinen Verstand und handelt blind. Die daraus resultierenden Symptome sind das, was wir als mehr oder weniger belastende Krankheitsanzeichen wahrnehmen, wie Fieber, Husten, Schmerzen, Entzündungen. Aufgabe des Arztes ist es wie gesagt, Heilungsvoraussetzungen zu schaffen oder, andersherum ausgedrückt, Heilungshindernisse zu erkennen, Einsicht dafür zu gewinnen und gemeinsam mit dem Patienten zu versuchen, diese zu beseitigen. Leider liegen sie oft nicht so auf der Hand. Manchmal klärt erst die Zeit, welcher Art die Heilungshindernisse waren. Dabei sind Überraschungen nicht selten. Es ist die Stärke der ambulanten Kinderheilkunde, Verläufe über die Zeit zu verfolgen und damit vielleicht nach Jahren des Rätselns eine Lösung zu erfahren. Oft sind es Familiengeheimnisse, etwa, dass der Vater gar nicht der leibliche Vater ist, die als chronisches Heilungshindernis den Himmel über der Familie verdunkeln.

Auch habe ich immer wieder mal erlebt, dass Menschen mit der Heilung einer Krankheit unglücklicher waren als zuvor und in tiefe Depressionen gefallen sind. So betreute ich einen Jungen mit einem angeborenen Herzfehler, einer Verengung der Aortenklappe, die unmittelbar nach der Geburt festgestellt worden war. Die Eltern suchten sich in verschiedenen Herzzentren Rat und zögerten die notwendige Operation über viele Jahre hinaus. Achtzehn Jahre lebte der Junge glücklich und zufrieden mit wenig Einschränkungen, von den halbjährlichen Kontrollen bei den verschiedenen Herzspezialisten einmal abgesehen. Schließlich, als er ausgewachsen war, war der Eingriff (der Ersatz einer stark verengten Herzklappe) dringlich geworden und wurde erfolgreich und ohne Komplikationen vorgenommen. Jetzt aber, nachdem er körperlich vollständig »repariert« war, wurde er richtig krank, entwickelte verschiedene körperliche Symptome und suchte erneut zahlreiche Spezialisten auf, die letztlich nur bestätigen konnten, dass er nunmehr herzgesund sei. Er wurde antriebsarm, depressiv und konnte seine Ausbildung nicht mehr fortsetzen. Er »funktionierte« nach der »Reparatur« nicht mehr.

Vom Aushalten

Grundsätzlich gibt es im Leben mehrere Wege, ein Problem zu behandeln: Ich kann es angehen, wenn ich es zu ändern vermag. Ich kann es akzeptieren, aushalten, wenn es nicht zu ändern ist. Ich kann versuchen, es zu ignorieren, ihm aus dem Weg zu gehen. Bezogen auf ein gesundheitliches Problem, sollte ich mir ähnliche Gedanken machen. »What can’t be cured, must be endured« (Was nicht geheilt werden kann, muss man aushalten.) So kann ich als Erstes überlegen, was möglicherweise passiert, während ich abwarte und beobachte, wie sich die Symptome entwickeln. Wenn ich aber meine, ein Handeln sei notwendig, ist es legitim zu fragen, welche Erfolge man davon erwarten kann, wie gut der Nutzen belegt ist, welche Risiken bestehen und ob die Behandlung überhaupt praktisch durchführbar ist. Die moralische Forderung ist dann in letzter Konsequenz: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Als Arzt kann ich mir die Frage stellen, ob ich diese Behandlung auch für mich selbst oder für meine Kinder, meine Angehörigen empfehlen würde.

Es ist immer leichter zu handeln, als abzuwarten und auszuhalten. Das Handeln an sich hat einen Selbstwert: »Just do it.« So ist unsere ganze Gesellschaft vom Handlungszwang geprägt. Die Bereitschaft nachzuschauen, was wir damit anrichten, ist weit weniger verbreitet. Wir sollten es wagen, infrage zu stellen, ob das alles so sein muss. Das kurze Gedicht von Kurt Marti druckt das sehr treffend aus:

Wo kämen wir hin,wenn alle sagten,wo kämen wir hin,und niemand ginge,um einmal zu schauen,wohin man käme,wenn man ginge.5

Und der renommierte Psychiater Eugen Bleuler schrieb vor hundert Jahren, was noch heute gilt:

»Wir wissen viel zu wenig, wie manche Krankheiten ohne ärztliche Eingriffe verlaufen, und da wir, soweit wir es wissen, diese Kenntnis in autistischer (das heißt in betriebsblinder) Weise von unseren medizinischen Überlegungen absperren, statt sie zur Basis unserer therapeutischen Handlungen und Forschungen zu machen. Wir verschreiben den Patienten auf Rezepten und den Ärzten in unseren Lehrbüchern eine Menge Mittel, von denen wir nicht wissen, ob sie nötig oder nützlich, ja oft nicht recht, ob sie schädlich sind, und stellen sie häufig nebeneinander, ohne den relativen Wert derselben zu kennen. Und was das Schlimmste ist, wir tun nicht alles Erdenkliche, um aus diesem Zustande herauszukommen … Man solle medizinieren, wo man weiß, dass es nötig oder nützlich ist, sonst aber nicht, und man sollte zu erforschen suchen, nicht nur welches Mittel besser ist als ein anderes – das muss in Wirklichkeit gelegentlich heißen: welches weniger schadet als ein anderes –, sondern ob überhaupt die Anwendung eines Mittels besser ist, als die Natur machen zu lassen.«6

Überdiagnostik: Nicht jedes Wissen ist ein Segen

Vom Handlungszwang ist es kein weiter Weg zur Überdiagnostik. Von einer Überdiagnostik sprechen wir, wenn eine Auffälligkeit besteht, die nicht krankheitswertig ist und deren Diagnosestellung dem Patienten nur Nachteile, aber keine Vorteile erbringt. Eine Fehldiagnose ist dagegen eine falsch gestellte Diagnose mit allen Konsequenzen einer Fehltherapie, aber damit etwas ganz anderes. Auch eine Überbehandlung ist etwas anderes, selbst wenn sie oft aus einer Überdiagnostik resultiert. Überbehandlung ist, wenn unnötigerweise Eingriffe, eingreifende Diagnostik oder zu hoch gegriffene Medikationen vorgenommen werden. Das ist aber Auslegungssache: Was dem einen zu viel ist, ist dem anderen noch zu wenig. Wer definiert, was notwendig ist?

Vom Sinn schöner Namen

Wenn ich einem Zustand oder einer Krankheit einen Namen gebe, ersetze ich häufig eine Unbekannte durch eine andere; das heißt, ich versehe sie mit einem schöneren, möglichst unverständlichen und gelehrt klingenden Namen. Wenn »Rotzauge« zu banal oder derb klingt, hört sich »katarrhalische Konjunktivitis« schon viel besser an. Dennoch sind Diagnosen wichtig, um sich zu verständigen. Um etwa zu beschreiben, dass der Patient Atemnot beim Ausatmen hat, ist der Begriff asthmatische Atmung hilfreich, aber noch keine Diagnose, weil es viele Gründe (Infekt, Allergie) dafür geben kann. Aber allzu oft verhält es sich mit der Namensgebung so, dass schöne Begriffe weder diagnostisch noch therapeutisch weiterhelfen. Vor allem muss ein Patient aus wirtschaftlichen, abrechnungstechnischen Gründen heute viele Namen, viele Diagnosen haben: Dabei ist der so beliebte, weil der heute in Klinik und Praxis existenziell gewordene Begriff einer »Multimorbidität« eigentlich eine Absurdität, weil es sich immer um einen Menschen in seiner Lebenssituation handelt und nicht um eine wilde Anhäufung von Diagnosen.

Übertriebene Vorsorgemaßnahmen?

Nach einem jahrzehntelangen Kampf um noch mehr Diagnostik und noch mehr Therapie scheint derzeit ein Innehalten zu beobachten zu sein. Es ist vielen nachdenklichen Menschen klargeworden, dass immer mehr gutgemeinte Vorsorgemaßnahmen auch schädlich sein können, Verunsicherungen und eine Kette von weiterer Diagnostik nach sich ziehen und daher diejenigen, die sie schützen sollten, zu Opfern machen. Bei Erwachsenen denken wir hier zum Beispiel an die Brustkrebserfassung durch das Mammographie-Screening, bei Männern an Vorsorgemaßnahmen gegen Prostatakrebs. In der Kinderheilkunde ist das Thema noch nicht angekommen, obwohl gerade bei Kindern Vorsorge-Kataloge ständig erweitert und mit neuen Inhalten gefüllt werden. Schon bei Neugeborenen fängt die Überdiagnostik und -therapie im Umgang mit Infektionsverdacht und mit der Neugeborenen-Gelbsucht an, später kommen die Atemwegs- und Harnwegsinfektionen dazu, die Allergiediagnostik und -therapie und schließlich das weite Feld der Verhaltensauffälligkeiten, der Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen.

Der Arzt ist hier in einem Dilemma: Stellt er eine Auffälligkeit fest, muss er sich überlegen, ob und in welcher Form er es dem Patienten oder den Bezugspersonen mitteilt. Bemerke ich zum Beispiel bei einer Vorsorgeuntersuchung eines Vierjährigen erstmalig ein Herzgeräusch, das ich für ein harmloses Strömungsgeräusch halte, könnte ich diesen Befund erst einmal für mich behalten, da sich bei einem sonst gesunden und gutuntersuchten Kind keinerlei Konsequenz ergibt. Eltern haben aber häufig ein sehr feines Gespür dafür, dass dem Arzt etwas auffällt. Wenn man beim Abhören das Stethoskop auch nur ein paar Sekunden länger über dem Herzen hält oder, was sich nicht vermeiden lässt, ein nachdenkliches Gesicht macht, fragen sie sogleich nach, ob etwas nicht in Ordnung sei. Selbst wenn sie es nicht äußern, bemerken sie es und tragen es mit sich herum. Spricht der Arzt aber an, dass er ein Geräusch festgestellt hat, werden die Eltern wissen wollen, was genau er damit meint, und eine weitere Diagnostik wird unumgänglich. Sollte sich dabei als Ursache des Strömungsgeräuschs eine harmlose Anomalie herausstellen, etwa eine zweizipflige (bicuspide) Aortenklappe, sind jahrelange Kontrolluntersuchungen programmiert – der Patient wird herzkrank gemacht und sich entsprechend fühlen.

Wenn der Arzt seine Diagnose eines Herzgeräuschs nicht mitteilt und das Kind am folgenden Wochenende wegen eines Infekts im Notdienst untersucht wird, teilt der dann behandelnde Arzt den Eltern seine Feststellung des Geräuschs mit und fragt nach, ob das denn noch nie bemerkt worden sei. Sagen die Eltern dann, dass sie gerade vorige Woche bei der Vorsorgeuntersuchung waren, ist das Vertrauen zu ihrem Kinderarzt dahin.

Zum Umgang mit diesem Dilemma gibt es keine allgemeingültige Schlussfolgerung. Während es früher die Regel war, dass der Arzt so manche Befunde für sich behalten hat und dem Patienten selbst schwere, gar lebensbedrohliche Diagnosen nicht mitgeteilt wurden, um ihm nicht den Lebensmut, das Vertrauen und die Hoffnung zu nehmen, hat sich heute die Ansicht dazu völlig gewandelt. Nur dem Ehemann beispielsweise oder den Angehörigen eine Diagnose zu eröffnen ist im Sinne des Autonomiegedankens nicht mehr vertretbar. Ebenso wenig können wir Eltern einen erhobenen Befund vorenthalten. Wir machen uns angreif- und strafbar. Es hängt von der Kommunikationsfähigkeit des Arztes und der Aufnahmefähigkeit der Eltern, des Patienten oder der Angehörigen ab, wie ein solcher Befund vermittelt werden kann; und dazu braucht es auf beiden Seiten Voraussetzungen, die die Kommunikation gelingen lassen. Sie kann sich nicht auf einen Zeitpunkt beschränken, sondern muss die Zeitachse und die nachträglichen Gedankengänge, Unterhaltungen und Beratungen mit berücksichtigen. Ein weiteres Gesprächsangebot muss immer folgen, auch dieses kann Missverständnisse nicht vermeiden.

Zahllose Rezepte

In der Praxis sieht es anders aus: Es ist traurig, dass der übliche Patienten-Arzt-Kontakt mit der Verschreibung eines Medikaments endet, wenn er nicht überhaupt nur daraus besteht. Und wenn ein Patient viele Ärzte besucht, erhält er dementsprechend viele Verschreibungen. Der heute ungehinderte Zugang zu vermeintlichen »Spezialisten« jeder Fachrichtung, die den ganzen Menschen längst nicht mehr im Blick haben, führt zu einer absurden, sich häufig widersprechenden medikamentösen Vieltuerei (Polypragmasie): »Viel hilft viel.« Das ist aber nicht nur teuer, sondern lebensgefährlich. Untersuchungen zufolge ist ein Arztbesuch so riskant wie etwa Sportklettern. Viele Ärzte sind, getrieben von den nimmermüden Anstrengungen der Pharmaindustrie und geprägt von überzogenen Leitlinien und eng definierten Normalwerten, der Ansicht, dass die Patienten unbedingt eine Verschreibung brauchen, diese geradezu verlangen und sonst unzufrieden aus der Praxis gehen. Besonders im Notdienst, aber auch in der überlaufenen täglichen Praxis wiegen sich viele Ärzte in vermeintlicher Sicherheit, mit einem Rezept das Nötige getan zu haben, nicht zuletzt, um sich gegen Klagen, juristische Anfeindungen und Unterlassungsvorwürfe zu schützen (Stichwort: »Selbstverteidigungs- oder Defensivmedizin«). Sie vertreten darüber hinaus die Ansicht, dass Patienten unzufrieden sind, wenn sie die Praxis ohne ein Rezept verlassen. Aber auch, wenn heute eine »sprechende Medizin« wegen der herrschenden Abrechnungspraxis in der medizinischen Grundversorgung als im Aussterben begriffen anzusehen ist, kann es nicht sein, dass ärztliche Tätigkeit nur aus der Verschreibung von Medikamenten besteht. »Leichtsinnige Ärzte, die in allem dem Willen der Patienten nachgeben, sind die schlimmste Pestilenz … Eine große Gottesgabe ist ein kundiger und kluger Arzt, der nicht heute dies, morgen jenes verordnet«,7 schrieb schon Martin Luther.

Was können wir aus und mit der Homöopathie lernen?

Auch in der Homöopathie ist die Erwartung, dass die Konsultation mit der Gabe einer Arznei endet – etwa von Globuli –, sehr groß. Man könnte es »Globulisierung« nennen, wenn bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Symptome und Symptömchen mit den Kügelchen behandelt werden, ohne die man sich hoffnungslos verloren gibt. So kann man auf dem Spielplatz beobachten, dass ein Kind, das von der Schaukel gestürzt ist, nicht in erster Linie getröstet und beruhigt wird, sondern dass hastig Arnica-Globuli hervorgekramt werden – und, wenn sie dann nicht vorhanden sind, aufs Schmerzlichste vermisst werden. In der Praxis erlebe ich es nicht selten, dass Eltern mit einem Kind kommen, das seit einigen Stunden fiebert, und mir sagen: »Ich habe schon Aconitum gegeben, dann Belladonna und zuletzt Ferrum phosphoricum, aber das Fieber geht nicht runter …« Wenn das nicht falsch verstandene Homöopathie ist – und falsch verstandene Medizin!

Dabei kann man über weite Strecken homöopathisch denken und handeln, ohne überhaupt ein Mittel verabreichen zu müssen, denn die Homöopathie ist ein medizinisches Lehrgebäude, das nicht auf die Globuli-Gabe reduziert werden kann. Diese sind auch in der Homöopathie nur ein Teil der Kur, der Heilmaßnahme und der Patientenbegleitung. Die öffentliche Beurteilung der Wirksamkeit der Homöopathie zielt allein darauf ab, ob eine bestimmte Arznei bei einer bestimmten Erkrankung »hilft«, und übersieht, dass die Homöopathie als Lebensordnungslehre (díaita, Diät) viel weiter greift. Wenn die »Stiftung Warentest« zur Homöopathie schreibt: »Hinweise ja, Beweise nein«, und folgert: »Obwohl in homöopathischen Mitteln (fast) nichts drinsteckt, steckt offensichtlich etwas dahinter«,8 begeht sie denselben Fehler: Sie betrachtet nur die Mittel, nicht das System, das dahinterstehende Denkmodell. So folgert sie zu Recht, dass die Datenlage für die Wirkung homöopathischer Mittel bei definierten Krankheitsbildern keine Belege für eine therapeutische Wirksamkeit der Homöopathie gibt und dass es so derzeit keinen ausreichend begründeten wissenschaftlichen Nachweis gäbe, Homöopathie zu empfehlen. Hier wird der in der Beurteilung der Homöopathie häufig begangene kardinale Fehler wiederholt, dass nach der Wirksamkeit bei bestimmten Krankheitsnamen, medizinischen Diagnosen gefragt wird.

Homöopathie behandelt keine Krankheitsnamen, sondern kranke Menschen. Homöopathisch behandelte Patienten gehen seltener zu Fachärzten oder in Krankenhäuser, lassen sich weniger untersuchen und operieren, weil sie ein ganz anderes Verständnis vom Menschen haben, das kein technisch-mechanisches ist. Deshalb ist Homöopathie, gesamtwirtschaftlich betrachtet, effektiv, weniger schadenbringend und wesentlich preiswerter. Dies haben die Kostenträger, nicht nur die staatlichen Gesundheitssysteme in Indien und Mexiko, sehr wohl erkannt, und die Tatsache, dass heute integrierte Versorgungsverträge für Homöopathie angeboten werden, liegt nicht daran, dass die Krankenkassen ein Herz für die Homöopathie entwickelt hätten, sondern daran, dass es wesentlich billiger und vor allem insgesamt auch gesünder zu sein scheint, sich homöopathisch behandeln zu lassen. Denn die pharmazeutische Fortschrittsgläubigkeit und die derzeit praktizierte Übertherapie verursachen neben den immensen Kosten auch noch Milliardenschäden. Mit jedem Medikament kann man sich Nebenwirkungen einhandeln: in Deutschland nach Angaben des Bundesministeriums für Arzneimittel und Medizinprodukte bei einer hohen Dunkelziffer in mindestens 300.000 Fällen pro Jahr. Jährlich werden 16.000 bis 25.000 Todesfälle durch Neben- und Wechselwirkungen verursacht, sodass an Medikamenten weit mehr Menschen sterben als an Verkehrsunfällen und Suiziden zusammen. Die Vorwürfe an die Homöopathie, dass durch sie »wirksame« Behandlungen verzögert würden und man damit den Patienten Schaden zufüge, wiegen bei weitem nicht so schwer wie die Folgen einer Über- oder Fehlbehandlung.