Alles ist möglich - Kilian Jornet - E-Book

Alles ist möglich E-Book

Kilian Jornet

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: BERGWELTEN
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Der beste Moment ist jetzt Zweimal in einer Woche auf den Mount Everest – ohne zusätzlichen Sauerstoff. Kilian Jornet hat scheinbar spielend das Unmögliche geschafft. Ein Rekord, der ihn weit über die Grenzen des Bergsteigens hinaus bekannt gemacht hat. Seit seiner Geburt in einer Berghütte auf 2000 Meter Höhe sind die Berge Jornets Abenteuerspielplatz: Mit fünf Jahren hat er seinen ersten 4000er bestiegen und mit zehn die Pyrenäen überquert. Mit zahlreichen Erfolgen bei den berüchtigtsten Ultrabergläufen tastet er sich an die Grenzen des (Un-)Möglichen heran und hat sich dabei physisch und psychisch seit Jahren auf Erfolg und Niederlage vorbereitet. Die doppelte Besteigung des Mount Everest im Jahr 2017, die der Extremsportler in diesem Buch beschreibt, ist der Höhepunkt seines »Summits of my life«-Projektes, für das Jornet einige der höchsten Berge der Welt in Rekordzeit bestiegen hat. »Alles ist möglich« ermutigt uns, unsere Träume wahr werden zu lassen, mit Leidenschaft und Freude zu laufen und die Berge über alles zu genießen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 329

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



KILIAN JORNET

ALLESIST MÖGLICH

LAUF AUF DEN EVEREST

aus dem Spanischen vonCarsten Regling und Matthias Strobel

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältigerBearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

Die katalanische Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel Res és impossible bei Ara Llibres, Barcelona, erschienen.

© Kilian Jornet, 2018Dieses Werk wurde vermittelt durch Casanovas & Lynch, Literary Agency S.L., Barcelona.

1. Auflage© 2019 Bergwelten Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Palatino, Quan, Clarendon

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustries

Cover und Fotos Innenteil: Kilian Jornet

ISBN 978-3-7112-0015-0eISBN 978-3-7112-5010-0

Inhalt

DER ABSCHIED

1. KAPITEL. Ein Leben lang trainieren

VORBEREITUNG AUF DEN EVEREST

2. KAPITEL. Die Berge sind mein Zuhause

DER MOUNT EVEREST IM SOMMER

3. KAPITEL. Mehr als 500 Startnummern

Zegama 2007 – sechs Sekunden, die alles veränderten

Hardrock 100 – 100 Meilen, um einen Stein zu küssen

UTMB, der Ultra-Trail du Mont-Blanc

Kilomètre vertical de Fully

Pierra Menta – Der Mythos der Tradition

Nein, ich habe nicht an den Olympischen Spielen teilgenommen

Sierre-Zinal, das schönste Bergrennen der Welt

DER MOUNT EVEREST IM HERBST

4. KAPITEL. Traumgefährten

Simón

Ueli

Allein

Stéphane

Vivian

DER MOUNT EVEREST IM WINTER

5. KAPITEL. Erlebnisse, die einen für immer verändern

DER MOUNT EVEREST IM FRÜHJAHR

DIE BEGRÜSSUNG

Der Abschied

Meine Lippen sprachen die Worte »Ich liebe dich« aus, obwohl ich eigentlich »Es tut mir leid« sagen wollte.

Ich gab belanglose Sätze von mir, versuchte mich zu rechtfertigen: »Mach dir keine Sorgen«, »Ich werde schon aufpassen« … Dabei wusste ich, dass es für sie keinen vernünftigen Grund gab, warum ich mich in ein Abenteuer stürzen wollte, das mich – auf dem höchsten Gipfel der Erde – das Leben kosten konnte. Doch in diesem Moment verspürte ich das unwiderstehliche Verlangen, Berge zu besteigen, um zu leben, auch wenn ich damit mein Leben riskierte. Ich kann nichts dagegen tun – dieser Drang hat einen mächtigeren Einfluss auf meine Entscheidungen als alle Vernunft oder Liebe.

Mit dem schlechten Gefühl, ein selbstverliebter Egoist zu sein – denn das bin ich wahrscheinlich –, brachte ich nur ein gemurmeltes »Leb wohl« heraus. Gleich darauf nahm ich den Rucksack aus dem Kofferraum und schlug die Klappe viel zu kräftig zu. Erschrocken über das laute Geräusch klopfte ich gegen die hintere Scheibe, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie fahren konnte.

Es war Anfang August, doch die Luft war kühl. Es roch nach Meer. Tromsø ist eine von der Fischerei lebende Stadt auf einer von Fjorden und Bergen umgebenen Insel im Norden von Norwegen, nördlich des Polarkreises. Im Sommer geht die Sonne einige Wochen lang nie unter, es ist immer hell, als würde der Tag nie zu Ende gehen. Alte Leute gehen um Mitternacht spazieren, und man sieht Nachbarn, die mitten in der Nacht ihren Balkon aufräumen oder ihr Dach reparieren. Es ist, als würden die Menschen dieser Breiten einen endlosen Tag lang von einem kollektiven Rausch ergriffen. Die Sonne scheint jedoch nur schwach und steht nie hoch am Himmel, sondern beschreibt eine Bahn an seiner Peripherie und färbt ihn in gelblichen oder orangefarbenen Pastellfarben, die bisweilen in ein leuchtendes Rot übergehen.

Die Stadt ist durch zwei lange Brücken über das Meer und einen Tunnel unter dem Wasser mit dem Festland verbunden. Der Flughafen, vor dem ich mich eben von dem Menschen verabschiedet hatte, den ich am meisten liebe, liegt an einem der Enden der Insel. Während Emelie davonfuhr, warf ich ihr einen stillen Kuss nach. Schnell drehte ich mich um und betrat den Terminal. Ich hoffte, meine feuchten Augen wären getrocknet, bevor ich den Check-in-Schalter erreichte. Doch obwohl mir klar war, dass die Reise, die mich bis hinauf auf den Mount Everest führen würde, beschwerlich und voller Gefahren wäre, kam mir nicht einen Moment in den Sinn, meinen Traum aufzugeben.

Ein paar Stunden vorher waren Emelie und ich gemeinsam joggen gegangen. Das endlose Licht nutzend hatten wir uns nach dem Abendessen auf den Weg gemacht, um uns ein bisschen die Beine zu vertreten und den Geist zu lockern, denn wir hatten stressige, angespannte Tage hinter uns, die wir mit der Organisation eines Rennens für mehrere Hundert Teilnehmer verbracht hatten. Ständig mussten wir telefonieren, mit dem Auto hoch- und runterfahren und zahlreiche Hände schütteln, und was gestern Abend nur ein wenig Bewegung hätte sein sollen, um unsere Köpfe frei zu kriegen, hatte sich zu einer komplett mit Laufen verbrachten Nacht entwickelt.

Wir starteten auf einem engen Pfad und ließen den Trubel der Ortschaft hinter uns. In den Bergen suchten wir Erholung von der Stadt. Das sanfte Rauschen des Windes verdrängte die Stimmen und die Musik, die durch die halb offenen Türen der Lokale drangen, und eine kühle, reine Luft durchdrang die Schwüle in den vollen Straßen und ihre zahlreichen Gerüche. Unsere Beine begannen sich zu lockern, und wir verspürten ein angenehmes Gefühl von Leichtigkeit. Wir liefen einen ersten Gipfel hoch und rannten weiter, ohne auch nur eine einzige Sekunde stehen zu bleiben. Etwas später verließen wir den Weg und liefen querfeldein, um weitere Gipfel, die abseits unserer Strecke lagen, in Angriff zu nehmen. Das mit Raureif überzogene Gras, das unsere Schuhe durchnässte, bildete einen herrlichen Kontrast zu dem harten Asphalt, und mit der Zeit schlugen unsere Herzen in einem gleichmäßigeren Rhythmus und passten sich unseren Schritten an.

Wir liefen Seite an Seite, gehüllt in ein Gefühl des Friedens und der Ruhe, das den rastlosen Trubel der vorangegangenen Tage in Vergessenheit geraten ließ. Doch das Glück war nicht vollkommen, denn die Ruhe um uns herum war nichts anderes als die melancholische Stille, die unserem Abschied vorausging und diesen bereits ankündigte. Obwohl wir ab und zu den Mund aufmachten, um das bedrückende Schweigen zu brechen, wollten unsere Stimmbänder uns nicht gehorchen, und kein Laut drang nach draußen.

Später, als wir im Wagen saßen und zum Flughafen fuhren, waren wir unfähig auszudrücken, was wir beide seit einiger Zeit spürten: unsere Sorgen und unseren Kummer. Ohne es auszusprechen, beschlossen wir einen Schweigepakt, der so lange anhalten würde, bis ich von meiner Expedition zurück wäre. Es war ein unbesiegelter Pakt, damit wir später nicht bedauerten, uns bei unserer letzten Umarmung gestritten zu haben.

Die Stadt hinter dem kleinen Fenster wurde immer kleiner, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Ich klebte noch immer mit der Nase am Glas, den Blick starr auf den Schatten des Flugzeugs gerichtet, das Fjorde und schneebedeckte Gipfel überquerte, die sich zwischen den Tälern und Gebirgen verloren und plötzlich wiederauftauchten. Ich kannte viele dieser Wege und Kämme, doch von oben entdeckte ich neue Pfade und sah mich bereits nach meiner Rückkehr dort laufen. Doch jetzt ließ ich sie hinter mir, in der Hoffnung, sie würden mir verzeihen, dass ich auf dem Weg zu einer anderen großen Liebe war.

Ich dachte an alles, was ich Emelie hätte sagen sollen, um die Spannung zu lockern, während wir gemeinsam liefen, und um den Schmerz zu lindern, den sie bestimmt empfinden würde während der Zeit, in der wir voneinander getrennt wären. Vielleicht hätte ein Witz oder eine geistreiche Bemerkung geholfen, um dem Moment die Schwere zu nehmen, aber ich bin niemand, der in jeder Situation spontan das Richtige macht. Im Gebirge bin ich die Ruhe selbst, denn Berge sind, wie Reinhold Messner einmal sagte, weder gerecht noch ungerecht – sie sind nur gefährlich. Und in der Gefahr kann man auf eine gewisse Logik zurückgreifen, wenn es darum geht, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Im Gebirge lösen unvorhergesehene Situationen keine Zweifel in mir aus, doch auf dem heikleren Terrain der persönlichen Beziehungen bin ich oft wie gelähmt und zu keiner Entscheidung fähig, bis es irgendwann zu spät ist. Ich muss einsehen, dass ich nie genau wusste, wie man mit Menschen umgeht, egal ob es sich um gute, böse oder gefährliche Menschen handelt.

Plötzlich verschwand die Erde unter mir; wir waren in eine Wolke geflogen, und die Turbulenzen rissen mich aus meinen Gedanken. Geht man fort, löst dies immer widersprüchliche Empfindungen aus: ein Gefühl der momentanen Freiheit und zugleich die Sehnsucht nach der vertrauten Wärme, die man gerade aufgegeben hat.

Im Frachtraum des Flugzeugs befand sich ein Koffer, dessen Gewicht nur haarscharf die erlaubten 20 Kilo unterschritt. Ich hatte exakt berechnet, wie ich verstauen konnte, was ich für die Reise benötigte, um die Besteigung dieses gewaltigen Gipfels zu wagen. Nichts passte mehr hinein, nicht mal eine Feder.

Die Vorbereitung war nahezu perfekt gelaufen – zumindest hatte ich diesen Eindruck. Den letzten Monat hatte ich in den Alpen verbracht, größtenteils in einer Höhe über 4000 Meter. Die Höhe hatte mir nichts ausgemacht, und ich hatte mich lange mit den Schwierigkeiten befasst, auf die ich stoßen könnte.

Bei der Vorbereitung auf eine Gipfelbesteigung gibt es ein wichtiges Detail, das man nicht berechnen kann, egal wie viele Kilometer man zurückgelegt und welche Gefahren man bestanden hat. Es ist der Moment, in dem du das Gefühl verspürst, über genügend Motivation und die erforderliche Gelassenheit für den Aufstieg zu verfügen. Dieses Gefühl der Sicherheit, wenn man sich auf einem Terrain zu Hause fühlt, auf dem man sich, wäre man vernünftiger, eher unsicher fühlen sollte. Ich spürte, dass ich mich genau in diesem Zustand befand, in dem der schmale Grat der Gefahren, denen ich mich aussetzen würde, jenseits des normalen Bereiches verlief. Einerseits hatte dieser Zustand etwas Tröstliches, andererseits sorgte er dafür, dass ich mich vor mir selbst fürchtete, denn ich wüsste nicht zu sagen, welche Entscheidung ich treffen würde, wenn ich mich zwischen der Freude am Bergsteigen und der Liebe entscheiden müsste, die mir Ruhe und Gelassenheit schenkt und mich davor bewahrt, Grenzen zu überschreiten, bei denen es kein Zurück gibt. Aber ich verscheuchte diesen Gedanken sofort, denn es gibt Dinge, die nicht mit demselben Maß gemessen werden können. Einfacher gesagt: Beides ist nötig, um zu leben. Zumindest empfand ich das in diesem Moment so.

Die Flugbegleiterin hielt mit ihrem Essenswagen an meiner Sitzreihe. Lächelnd, wenn auch etwas gehetzt, bat sie mich, zwischen Huhn mit Reis und Makkaroni mit Gemüse zu wählen. Ich entschied mich für Nudeln und ahmte wie ein Klon die Bewegungen der anderen Passagiere nach. Gleichzeitig begannen wir alle dieselbe Choreografie: Wir öffneten die winzige Pappschachtel, zogen die Silberfolie ab, die das Essen schützte, verbrannten uns dabei die Finger an den viel zu heißen Gerichten und rissen die durchsichtigen Tütchen mit dem Besteck auf, um die Gabel herauszunehmen, die uns erlaubte, die vier Salatblätter aufzuspießen. Aus dem Augenwinkel warfen wir einen kritischen Blick auf den kleinen Puddingbecher, der sich in der linken oberen Ecke des Tablettes befand. »Ob es wohl Schokoladenpudding ist?«

Ohne zu wissen, wie mir geschehen war, saß ich vor einem Plastikschälchen mit aufgewärmten Makkaroni, in denen ich lustlos mit einer Einweggabel herumstocherte, und obwohl ich keinen Hunger hatte, zwang ich mich aus Trägheit zum Essen. Ich versuchte, den ganzen Kram wieder korrekt im Karton zu verstauen, aber es gelang mir nicht, also stapelte ich alles zu einem Haufen auf, schob ihn in eine Ecke meines Tischchens und hoffte, die Flugbegleiterin würde erneut vorbeikommen und alles mitnehmen.

Interkontinentalflüge ähneln einem langen Besuch in einer großen Shoppingmall. Es gibt immer Kinder, die weinen, und Jugendliche, die pausenlos quasseln und ab und zu laut lachen oder aufschreien. Schlechtes Essen, schrille Angebote für Produkte, die keiner braucht, egal ob es sich um Filme, CDs oder Spiele handelt, um sich sinnlos die Zeit zu vertreiben.

Ich versuchte, diesen Fallen für die Produktivität zu entgehen, und schlug das Notizbuch auf, in das ich mein Expeditionstagebuch schreiben und wichtige Dinge notieren wollte: meine täglichen Aktivitäten, meine Analysen der zurückgelegten Strecken und Höhenmeter, meine Erfahrungen mit der Akklimatisierung oder verschiedene meteorologische Daten. Doch die vielen Menschen um mich herum und das klaustrophobische Gefühl in dieser Umgebung sorgten dafür, dass die Seite leer blieb.

Verärgert über mich selbst, weil ich unfähig war, etwas Sinnvolles zu tun, erlag ich der Versuchung und wählte einen Film auf dem kleinen Bildschirm in der Rückenlehne meines Vordersitzes aus. Zum Glück schlief ich schon kurz nach dem Vorspann ein.

Ich träumte, dass ich in einem Wald stand. Die Bäume waren riesig, doch es waren keine dieser amerikanischen Mammutbäume. Es war ein ganz gewöhnlicher Wald, wie in den Pyrenäen, nur dass die Bäume ungewöhnlich groß waren. Es war, als würde ich alles aus der Perspektive eines Kindes oder eines kleinen Tieres sehen.

Trotz der friedlichen Stille um mich herum schüchterte mich der Wald ein, und ich hatte das Gefühl, als würde sich alles in ihm mit schwindelerregender Geschwindigkeit bewegen. Ich wollte aus dem Wald heraus und ging los, aber es war, als drehte er sich mit mir, damit ich nicht den richtigen Weg fand. Ich begann zu rennen, doch der Wald drehte sich unaufhörlich weiter und bewegte sich mit derselben Geschwindigkeit wie ich. Meine Beine gehorchten mir nicht mehr, als wären sie aus Blei, und obwohl ich ein Spitzensportler war, kam ich auf dem moosigen, von Nadeln bedeckten Boden kaum voran. Schließlich, als es so aussah, als könnte ich mich von dem Gewicht in den Beinen befreien, machte der Wald eine starke Schlingerbewegung, wie ein Schiff im Sturm, und warf mich um. Ich lag am Boden und konnte nicht entkommen.

Ich sah Schatten von Tieren, die zwischen den Bäumen hindurchhuschten. Es schienen Dutzende zu sein. Sie waren riesig, bewegten sich um mich herum und zogen einen immer engeren Kreis um mich. Als sie so nah waren, dass es schien, als würden sie mich jeden Moment angreifen, bemerkte ich, dass es in Wirklichkeit nur ein einziges Tier war, eine Art Mammut mit langen Pfoten, das beim Laufen große Sprünge machte. Doch als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass die Bestie, die mich einkreiste, kein Mammut war, sondern ein gigantisches Kaninchen oder ein ungewöhnlich großer Hase.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch, als würde jemand mit einer Axt einen Baum fällen. Tock, tock. Es war direkt über mir. Ich spürte, wie der Hase oder was immer es war mich an der Schulter berührte. Tock, tock.

»Entschuldigen Sie, möchten Sie etwas zu trinken haben?« Die Frage der Flugbegleiterin ließ mich hochschrecken.

Im Halbschlaf gab ich ihr zu verstehen, dass ich nichts wollte, und sie schob ihren Getränkewagen weiter. Da begriff ich: Es war Petita! Der Hase, den ich als Kind an einem Gewittertag im Wald hinter dem Berghof, wo wir lebten, gefunden hatte. Im Traum war er riesig, aber als ich ihn damals rettete, war er nur ein verletztes Junges. An jenem Nachmittag vor so vielen Jahren hatte ich ihn mit zu mir nach Hause genommen, ihm zu essen und zu trinken gegeben und ihn in meinem Zimmer schlafen gelassen. Doch ein paar Tage später, als er sich wieder erholt hatte, das Zimmer voller Hasenkötel war und er pausenlos unter meiner Bettdecke herumhüpfte, während ich schlief, baten meine Eltern mich, ihn wieder freizulassen. Aber ich wollte nicht. Er gehörte mir! Ich hatte ihn gefunden und gerettet, ich hatte ihm ein Gehege neben dem Haus gebaut, damit er umherlaufen konnte, und ich war es, der ihn jeden Tag nach der Schule fütterte.

Trotzdem musste ich wenige Monate später, als ich aus der Schule kam, feststellen, dass er tot war. Ich weinte und weinte und hörte nicht auf, mich zu fragen, was ich falsch gemacht hatte. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich ihn durch meine Fürsorge umgebracht hatte. Der Hase war lieber gestorben, als ein Leben in Gefangenschaft zu verbringen. Damals begriff ich, dass es Tiere gab, die nur in Freiheit überleben konnten.

Drei Tage nachdem ich aus dem Flugzeug gestiegen bin, fühle ich mich sehr fern von allem, was ich zurückgelassen habe: die mit Reif bedeckten Wiesen, die meine Füße durchnässten, als ich mit Emelie darüber lief, das Schweigen, das wir brechen wollten, ohne zu wissen wie. Warum haben wir nichts gesagt? Die Umarmungen, die Stadt, der Verkehr, der Lärm und der Ärger über ein Auto vor mir, das schuld war, dass ich fast zu spät zum Flughafen kam – all das liegt in weiter Ferne. Genauso wie meine Gedanken zum Notizbuch und der Hase Petita aus dem Traum.

Jetzt bin ich hier. Und stecke in einem ziemlichen Schlamassel.

Wenn ich nach vorne, hinten oder oben blicke, sehe ich nur weiß. Und unten meine Beine, die bis zur Hüfte im Schnee stecken. Um mich herum herrscht völlige Stille, es ist so still, dass ich ein hohes Pfeifen in den Ohren höre.

In Wirklichkeit ist es nicht still: Da ist mein tiefer Atem, der in heftigen Böen blasende Wind, da sind die Schneeflocken, die von allen Seiten gegen meine Jacke prallen. Es sind so viele Geräusche, dass sie sich gegenseitig neutralisieren. Daher spüre ich nur die Stille. Auf den Augen, in den Ohren … Einzig eine kaum wahrnehmbare Variation verschiedener Weißtöne zeichnet eine Diagonale vor mir und lässt mich die gewaltige Steigung erahnen, die ich erklimme. Eine Neigung, die sich ein paar Meter vor mir im Schneesturm verliert. Die Spur, die ich ziehe, verschwindet auf der Stelle, begraben unter dem Schnee. Komm schon, noch ein Schritt. Der Schnee reicht mir bis zu den Knien, und es wird nicht lange dauern, bis er vom Wind fest geworden ist.

Ich spüre, dass diese 2000 Meter hohe Wand, die vor nicht mal zwei Stunden noch so friedlich wirkte, sich innerhalb von Sekunden in eine gewaltige, abschüssige Platte verwandeln wird, eine Falle, in der jederzeit eine Lawine niedergehen kann. Ich ramme die Eispickel so tief in den Schnee, wie ich kann. Meine Begleiter sind hinter mir zurückgeblieben, ich habe sie verloren. Ich kann sie nicht mehr sehen. Dichter Nebel hat uns verschluckt.

Während ich in dieser 50-Grad-Steigung, an der Nordostseite des Mount Everest, den nächsten Schritt mache, bete ich, dass sich der in den letzten zwei Stunden gefallene Neuschnee nicht von der Wand löst und herabstürzt, um zwei Kilometer weiter unten aufzuschlagen, dass er mich nicht mitreißt.

Und vor jedem Schritt denke ich: »Ist das der letzte Gipfel, den ich besteige? Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?«

Es ist eine lange Geschichte. Sie begann nicht, als ich mich von Emelie verabschiedete. Auch nicht, als ich ins Flugzeug nach Nepal stieg, nicht einmal, als ich jung war und davon träumte, den Mount Everest zu erkunden. Sie hatte schon viel früher begonnen, auch wenn ich mir dessen nicht bewusst gewesen war. Ich werde sie Ihnen erzählen.

1. Kapitel

Ein Leben lang trainieren

Es gibt Menschen, die trainieren, um Wettkämpfe zu bestreiten. Und es gibt Menschen, die Wettkämpfe bestreiten, um zu trainieren. Ich gehöre zu Letzteren. Training ist für mich eine Lebensform: Es geht darum, an Körper und Geist zu arbeiten, um bei einer konkreten Aktivität Erfolg zu haben. Im Hochleistungssport ist dies eine Grundvoraussetzung, sie hilft uns, unsere Fähigkeiten zu verbessern und im Wettkampf an unsere Grenzen zu gehen. Natürlich sind Wettkämpfe eine wichtige Motivationsquelle, aber trainieren kann man auch ohne sie.

Leider habe ich kein besonders gutes Gedächtnis. Trotzdem kann ich mich noch gut erinnern, wie ich zum ersten Mal auf eine extreme und fast krankhafte Weise den Schmerz in den Beinen und das Gefühl zu ersticken in den Lungen spürte, während ich, so schnell ich konnte, eine Steigung erklomm. Der Himmel war blau, und es herrschte eine unerträglich schwüle Hitze. Es war kurz vor dem Ende meiner Kindheit, an einem späten Frühlingstag. Ich unternahm eine Radtour mit Joan, dem Vater eines Klassenkameraden, durch das Département Ariège in Südfrankreich, und wir fuhren einen der vielen Pässe der Region hinauf, ich weiß nicht mehr welchen. Auf einer schmalen Straße kamen wir an verlassenen Dörfern und Weiden ohne Vieh vorbei, und Joan erteilte mir Ratschläge, als handelte es sich um einen Initiationsritus.

»Du musst aufhören, einfach nur Kilometer abzuspulen und grundlos Berge hochzustrampeln«, dozierte er in einem fort. »Du musst darüber nachdenken, was du tust, als wäre es eine Art Kredit, den du anhäufst und an dem Tag benutzt, an dem du wirklich schnell sein willst.«

Ich tat, als hörte ich ihm zu, aber in Wirklichkeit interessierte mich nur, jeden Tag mehr Kilometer als am vorherigen zu fahren, und jedes Mal schneller. Als er gar nicht mehr aufhörte und ich keine Lust mehr hatte zuzuhören, trat ich in die Pedale, um eine Attacke zu starten und auf diese Weise eine Ausrede zu haben, um alles geben und mich völlig verausgaben zu können. Meine Oberschenkel brannten, wir fuhren immer schneller, die Luft blieb mir weg, doch ich verspürte eine seltsame Freude. Bis ich das Hinweisschild sah, das mir verriet, dass es nur noch ein Kilometer bis zum Pass war. Ich verspürte ein Gefühl von Traurigkeit, das mich überraschte.

»Komm schon, gleich gibt’s die Belohnung«, munterte Joan mich auf und meinte die Abfahrt.

»Ja«, antwortete ich zweifelnd, »aber ich glaube, ich fände es schöner, wenn die Steigung endlos wäre, wenn sie nie zu Ende gehen würde.«

Ich war zwölf Jahre alt, und in jenem Sommer wollte ich die Marcha Cicloturista de las Tres Naciones bestreiten, ein Jedermannrennen über mehr als 150 Kilometer, das im Puigcerdà startete, Andorra durchquerte und nach einem Stück durch Frankreich zurück in die Hauptstadt der katalanischen Region Cerdanya führte. Ich dachte, ich müsste mich besser auf das Rennen vorbereiten, nicht einfach nur viele Stunden im Sattel verbringen, und fing an, in einem Heft alle meine Trainingseinheiten und Fahrten zu notieren. Obwohl ich schon seit Jahren allein oder mit meinen Eltern lange Wanderungen und Radtouren unternahm, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, auf ein konkretes Ziel hinzutrainieren.

In jenem Sommer nahm ich an den Tres Naciones teil, im Herbst lief ich zum ersten Mal den Caballos del Viento, einen Berglauf über 80 Kilometer, und wurde ins Centro de Tecnificación de Esquí de Montaña aufgenommen, ein Ausbildungszentrum für Skibergsteigen, da meine Mutter es lieber sah, wenn ich meine Energien gezielt einsetzte. Es war großes Glück, dass ich mich einschrieb, denn ich lernte dort einige der Menschen kennen, die mich in meinem Leben am meisten geprägt haben, darunter Jordi Canals, den Leiter des Zentrums, und Maite Hernández, meine erste Trainerin. Beide sind professionelle Skibergsteiger und erfahrene Alpinisten.

Im Sommer 2004, ein paar Monate nachdem sie zum ersten Mal Weltmeisterin geworden war, brachte Maite uns jungen Schülern ein Geschenk mit: einen kleinen Stein. Im Frühjahr jenes Jahres hatte sie mit einer ausschließlich aus Frauen bestehenden Expeditionsgruppe den Mount Everest über die Nordseite bestiegen und von dort diese winzige Erinnerung für uns mitgenommen. Ich hütete den Stein wie einen Schatz. Und das war er auch.

Jordi war bereits zweimal auf dem Mount Everest gewesen, im Rahmen der ersten katalanischen Expeditionen in den Jahren 1983 und 1985, als Òscar Cadiach, Toni Sors und Carles Vallès den Gipfel bestiegen hatten. Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen brachten Maite und Jordi uns bei, im Wettkampf bis an unsere Grenzen zu gehen, aber auch, uns im Gebirge immer mit der nötigen Vorsicht und mit Reserven zu bewegen. Ich habe den Eindruck, dass sie sich nicht sicher waren, ob wir eines Tages Profis werden würden, die bei Weltmeisterschaften um Titel kämpften und sich deshalb darauf konzentrierten, dass wir die Berge und die Anstrengung genossen.

Bei einer der Trainingseinheiten, als wir zum zweiten oder dritten Mal an jenem Tag den Tossa d’Alp erklommen, holten ich und ein paar andere, die an der Spitze gingen, kurz vor den oberen Skipisten Jordi ein, der ganz in Ruhe den Berg hinaufstieg. Wir blieben stehen, um die Steigfelle abzunehmen, bevor wir hinunterfahren und den nächsten Aufstieg in Angriff nehmen würden. Jordi versperrte uns den Weg, nahm eine gespielt nachdenkliche Pose ein, mit einer Hand am Kinn, und sagte in sarkastischem Ton, um nicht allzu bedeutungsschwer zu klingen:

»He, soweit ich weiß, ist der Gipfel da oben!«

Wir sahen ihn an und versuchten zu erraten, ob er es ernst meinte. Wir waren hier, um die Höhenmeter auf möglichst effiziente Weise und ohne »Zeitverlust« zurückzulegen. Auch wenn es nur 20 Sekunden bis zum höchsten Punkt des Berges waren, hätten wir mit dem Abschnallen der Ski, dem Laufen und dem erneuten Anschnallen bei jedem Aufstieg ein paar Minuten und unseren Rhythmus verloren.

Jordis nächste Worte beseitigten jeden Zweifel: »Okay, machen wir hier Skibergsteigen oder nicht? Und Bergsteigen heißt, den Gipfel zu erklimmen, habe ich recht?«

Im Leistungssport gibt es keine Gleichheit. Diese Idee können wir uns aus dem Kopf schlagen. Hätte ich zum Beispiel Basketballspieler werden wollen, wäre ich, selbst wenn ich mich mit aller Leidenschaft der Welt bemüht, mich mit Leib und Seele diesem Sport verschrieben und alles aus mir herausgeholt hätte, nicht sehr weit gekommen. In den Aufnahmeprüfungen für das Ausbildungszentrum hatte ich bereits die nötigen Qualitäten bewiesen, um an einer Zukunft im Ausdauersport, speziell im Gebirgssport, zu arbeiten. Obwohl ich eher zu den Schwächeren gehörte, was Kraft und Explosivität betraf, fühlte ich mich, wenn es darum ging, bergauf zu laufen, in meinem Element und konnte mit den Besten mithalten. Das muss daran liegen, dass ich mich schnell regenerieren kann und einen schmächtigen und leichten Körper habe, was mir enorm half, als ich anfing. Wir können uns weder unser genetisches Gepäck noch unseren Körperbau aussuchen, sie begleiten uns ein Leben lang. Und dennoch ist das bei Weitem nicht alles, um erfolgreich diesen oder jenen Sport zu betreiben. Abgesehen von der natürlichen Veranlagung bedarf es viel Trainingsfleißes und Leidenschaft. Ich hatte das große Glück, all diese Voraussetzungen zu erfüllen, was leider nicht allen Sportlern vergönnt ist. Es gibt Menschen, die leidenschaftlich ihren Sport betreiben und nach vielen Jahren hartnäckigen Trainings großartige Ergebnisse erzielen, obwohl sie vielleicht nicht über die physischen Voraussetzungen und die allergrößten Fähigkeiten verfügen, doch sie werden nie zu absoluter Meisterschaft gelangen, da ihnen dieser notwendige Vorteil fehlt. Und es gibt Menschen, die riesige Fähigkeiten besitzen, aber ihren Sport nicht genug lieben, um eine große Karriere hinzulegen. Sie widmen sich ihm nicht genug, und oft endet es damit, dass sie die Motivation verlieren und psychische Probleme bekommen.

Auch wenn es schwer zu glauben ist – ich habe mir den Bergsport nicht ausgesucht. Meine Eltern haben mich und meine Schwester schon früh mit dieser Welt vertraut gemacht. Wir wohnten in einem Berghof in 2000 Meter Höhe, und die Bücher in den Regalen stammten von Kurt Diemberger, Roger Frison-Roche oder Walter Bonatti. In den Schulferien sind wir jedes Mal in die Pyrenäen oder Alpen gefahren, um dort Sport zu treiben.

Es klingt paradox, aber wenn sich Kinder von klein auf zu intensiv mit einer Sache beschäftigen, führt das häufig dazu, dass sie später das genaue Gegenteil davon machen, was ihre Eltern wollen. Dass sowohl meine Schwester als auch ich nach wie vor die Berge lieben, liegt vermutlich daran, dass wir eine viel tiefere Beziehung zu ihnen entwickelt haben, eine Beziehung, die viel größer ist als das bloße Vergnügen, eine Sportart zu betreiben.

Ich erinnere mich, dass unsere Mutter, als wir noch ganz klein waren, uns an manchen Tagen nach dem Abendessen, wenn wir schon unsere Schlafanzüge anhatten, an die Hand nahm und nach draußen führte. Wir gingen im Dunkeln in den Wald, ohne Taschenlampe, verließen die Wege und liefen über Moos und abgebrochene Äste, bis wir das erleuchtete Haus nicht mehr sehen konnten. Und dann ließ sie uns los und sagte, wir sollten auf die Geräusche im Wald achten und allein zur Hütte zurückkehren. Zuerst machten uns die Geräusche und die Dunkelheit Angst. »Und wenn ein Wolf kommt? Und wenn wir uns verlaufen und den Weg zurück nicht finden?« Wir erschraken und rannten zu unserer Mutter, damit sie uns beschützte. Doch nach und nach gewöhnten wir uns an die Dunkelheit und die nächtlichen Geräusche: das Knistern eines Zweiges wegen der sinkenden Temperatur bei Einbruch der Nacht, das Geräusch der Luft, wenn ein Perlhuhn beim Aufflattern mit den Flügeln schlägt, oder das Pfeifen des Windes zwischen den Bäumen. Und während wir all das hörten, beruhigten wir uns, lernten den Wind und die Tiere kennen und kehrten, den Zeichen folgend, zur Hütte zurück. Ganz natürlich und ohne dass wir uns dessen bewusst gewesen wären, brachte unsere Mutter uns auf diese Weise bei, Teil des Gebirges zu sein.

Die Jahre vergingen, bis ich irgendwann als Jugendlicher die masochistischen Tendenzen entdeckte, die in mir wohnten. Es war das letzte fehlende Teil, um das Puzzle zu vervollständigen, das mir die Tür zum Hochleistungssport öffnete. Das erste Teil hatte ich an dem Tag gelegt, als ich begann, meine Muskeln und Sehnen zu formen, um mich während der Ausflüge mit meinen Eltern wie selbstverständlich in einem schwierigen Gelände wie dem Gebirge zu bewegen. Und die vielen Stunden auf den beschwerlichen Wegen hatten mein Herz und meine Widerstandsfähigkeit trainiert. Mein Körper war bereit.

Obwohl ich ein guter Schüler war, langweilte mich alles, was mit der Schule zusammenhing. Meine sozialen Kompetenzen gingen gegen null, und ich gab mir keine große Mühe, Freunde zu finden. Mich interessierte einzig die akademische Seite: das Lernen. Während meine Mitschüler ungeduldig darauf warteten, dass die Klingel ertönte, um etwas essen zu gehen, im Hof zu spielen, nach Hause zu flitzen, um die Spielkonsole anzuschließen, oder um zu versuchen, mit jemandem anzubändeln, dachte ich an nichts anderes, als in meine Joggingschuhe zu schlüpfen und zu laufen. Ich wollte mein angestrengtes Herz und den Schmerz in den Beinen spüren.

Ich nutzte jede freie Sekunde, um zu trainieren. Wenn ich konnte, fuhr ich morgens vor Sonnenaufgang mit meiner Mutter Ski, oder ich ging einfach laufen oder fuhr mit den Rollskiern von zu Hause zum Gymnasium, eine Strecke von 25 Kilometern. Statt mittags in die Mensa zu gehen, trieb ich mich im Ausbildungszentrum herum, und an den Tagen, an denen Maite Hernández mich zum Krafttraining schickte, ging ich ins örtliche Fitnesscenter. Wenn ich nachmittags nach Hause kam, schleuderte ich nur schnell den Rucksack ins Zimmer, schon saß ich wieder auf dem Rad oder joggte. Wenn Maite Erholung anordnete, setzte ich mich vor den Fernseher, um mir immer wieder die DVD mit dem Film La tecnica dei campioni (Die Technik der Sieger) anzuschauen, in dem auf verständliche Weise die Techniken der besten Skibergsteiger wie Stéphane Brosse, Rico Elmer, Florent Perrier oder Guido Giacomelli analysiert werden. Es war mir egal, keine Freunde zu haben oder als exzentrisch zu gelten – mich interessierte einzig, herauszufinden, wo meine körperlichen Grenzen lagen.

Diese Dynamik setzte sich in der Universität fort. Abgesehen von ein paar Kommilitonen, die ebenfalls Sport trieben, beschränkte sich mein Sozialleben auf die Personen, denen ich während der Rennen begegnete. Ich nahm nie an irgendeiner Abschlussfahrt am Ende eines Kurses teil, ließ mich auf keiner Party blicken und trank nicht einen einzigen Tropfen Alkohol, außer einmal, als ich gewissermaßen dazu gezwungen war. Ich mied diese Art von Situationen – für mich waren sie nichts weiter als Zeit- und Energieverschwendung –, und ich fand, dass ich stattdessen besser ausruhen oder trainieren sollte.

Falls Sie jetzt denken, ich sei ein junger Mann gewesen, der im Begriff stand, den Kontakt zu seiner sozialen Umwelt zu verlieren, und nur eine sehr begrenzte Sicht auf die Wirklichkeit hatte, liegen Sie vermutlich nicht ganz falsch. Doch all das war Teil des Planes, den ich nach reiflicher Überlegung für mich entworfen hatte. Von dem Moment an, in dem ich beschlossen hatte, mein Leben dem Sport zu widmen, war ich mir im Klaren darüber, dass sich mir einige Türen für immer verschließen würden, damit andere sich öffneten.

Bei genauerer Betrachtung sieht man, dass der Sport kein Leben bedeutet, das hauptsächlich von Opfern geprägt ist, sondern vielmehr von Entscheidungen. Wir entscheiden uns für etwas in dem Wissen, wohin wir wollen, und deshalb ist uns auch bewusst, dass das Geheimnis darin besteht, Prioritäten zu setzen und nur das zu tun, was wir wirklich wollen, und, ohne zu zögern, unseren Plan zu verfolgen. Was ist letzten Endes wichtiger: Freunde und eine Geliebte zu haben oder alles zu tun, um Weltmeister in deiner Disziplin zu werden?

Während der ersten Kurse an der Universität fing ich an, mich selbst zu trainieren. Mit Maites Hilfe lernte ich in fünf Jahren die Grundregeln des Trainings wie zum Beispiel, die Kräfte richtig einzuteilen, das Verhältnis zwischen Belastung, Regeneration und Superkompensation zu verstehen oder zielgerichtet mittel- und langfristige Trainingspläne aufzustellen. In diesen fünf Jahren gelang es mir, aus dem Masochisten, der am liebsten endlos irgendwelche Berge erklommen hätte, einen jungen Mann zu machen, der so gut wie möglich trainieren wollte, um große Wettkämpfe zu gewinnen. Abgesehen von Maite, die geduldig sicherstellte, dass ich diese Konzepte in meinen Plan integrierte und sie in die Tat umsetzte, half mir noch etwas anderes, mich zu verbessern: eine Verletzung, die ich mir mit 18 Jahren zuzog und die mich sechs Monate lang vom Sport abhielt. Der Chirurg, der mich operierte, deutete an, dass ich möglicherweise nie wieder meine alte Leistungsfähigkeit erreichen würde. Meine Panik und der schreckliche Gedanke, ein Unfall könnte meine Karriere zerstört haben, brachten mich dazu, wie besessen alle Faktoren zu studieren, die Einfluss auf die sportliche Leistung haben: Biomechanik, Training, Psychologie, Technik, Material, Ernährung … Die Entscheidung war gut, denn obwohl ich bis heute den Makel mit mir herumschleppe, dass eines meiner Beine etwas schlechter funktioniert als das andere, kam mir dies nie wie ein Handicap vor, sondern half mir, meinen Geist für die wichtigen Aspekte auf dem Weg zu sportlicher Höchstleistung zu öffnen.

Die Fragen, die ich mir hinsichtlich des Funktionierens von Körper und Geist stellte, nahmen während der Zeit an der Universität und meines Sportstudiums an Intensität zu. Ich war immer sehr ungeduldig und konnte nie etwas abwarten. Deshalb wollte ich einfach nicht stillhalten, wenn jemand, der sich meiner Meinung nach auskannte, zu Schlüssen kam, die mir nützlich sein konnten. Weil ich mit den von Maite vermittelten Grundlagen bereits Rennen gewann und mich mit meinen täglichen Trainingseinheiten sicher fühlte, begann ich, mit meinem Körper zu experimentieren.

Ich hatte die Idee, meinen Körper in ganz konkreter Hinsicht ans Limit zu führen, zum Beispiel was die Fähigkeit des Stoffwechsels betraf, im aeroben Bereich ohne Energiezufuhr zu funktionieren, oder die Möglichkeit, anaerobe Anstrengungen in der Höhe mit anschließender Regeneration zu wiederholen, um nur ein paar der Themen zu nennen, die mich damals beschäftigten. Wenn ich diese Rätsel löste, könnte ich nicht nur aus den sich daraus ergebenden Konsequenzen und theoretischen Anwendungen Nutzen ziehen, sondern auch die Fähigkeiten und Grenzen meines Organismus kennenlernen.

Natürlich musste ich diese Experimente in der wettkampffreien Zeit durchführen, um mich ausreichend regenerieren zu können, falls etwas nicht so funktionierte, wie ich es mir vorgestellt hatte. Außerdem musste ich ein Gelände wählen, das ich kannte und das nicht zu weit von zu Hause entfernt lag, falls etwas schiefging und ich das jeweilige Experiment abbrechen musste.

In meiner gesamten Studienzeit war ich nur ein einziges Mal auf einer Party; ein Kommilitone hatte mich nach einem meiner Experimente überlistet. Noch heute glaube ich, dass er mich nur überreden konnte, weil ich vor lauter Erschöpfung alles willenlos über mich ergehen ließ.

Es muss im Frühjahr 2008 gewesen sein. Ich war in Font-Romeu und wollte die Leistungsfähigkeit meines Körpers bei fehlender Energiezufuhr testen. Oder anders gesagt: Ich wollte wissen, wie viele Tage ich trainieren konnte, ohne in dieser Zeit auch nur das Geringste zu mir zu nehmen. Um das herauszufinden, setzte ich mein normales Leben fort und ging morgens zwischen zwei und vier Stunden und am Nachmittag eine Stunde laufen, mit dem einzigen Unterschied, dass ich auf alle Mahlzeiten verzichtete. Allerdings musste ich dafür ein paar Vorbereitungen treffen, denn wenn sich im Zimmer etwas zu essen befand, würde ich garantiert dem Hunger nachgeben. Ich räumte Schränke und Kühlschrank leer und gab alles einem Kommilitonen, zusammen mit der strikten Anweisung, mir nichts davon zu geben, nicht einmal wenn ich mitten in der Nacht bei ihm auftauchte und verzweifelt um Essen bat.

Ich muss erklärend hinzufügen, dass das einzige Ziel dieses Experimentes darin bestand, herauszufinden, wie lange ich es aushalten würde, ohne zusätzliche Energie zu laufen, nur mit den wenigen Muskelfetten und -proteinen, über die mein Körper als Reserve verfügte, und während dieser Zeit die Entwicklungsphasen zu studieren. Es ging nicht darum, Gewicht zu verlieren oder zu testen, ob ich mit weniger Nahrung genauso leistungsfähig wäre.

Im Hochleistungssport, besonders in den Disziplinen, in denen das Gewicht eine große Rolle spielt – und dazu zählen Langlauf und Skibergsteigen –, sind viele Sportler leider geradezu besessen vom Abnehmen. Das Gewicht ist für sie ein ständiges Problem, was bei einigen dazu führt, regelrechte Dummheiten zu begehen, sei es aus ästhetischen Gründen oder weil sie ihren Idolen nacheifern.

Ich kenne Sportler, die ihr halbes Leben lang gehungert haben, um das ihnen angemessene Gewicht zu halten. Andere stehen nachts auf und plündern den Kühlschrank, weil sie das Training nicht mehr durchhalten, ohne etwas zu essen. Doch die Schlimmsten sind die, die sich nach dem Essen übergeben, um den Hunger zu überlisten und mit einem geringeren Gewicht weitermachen zu können.

Auch wenn wir akzeptieren müssen, dass Hochleistungssport nicht gesund ist, weil wir den Körper an seine Grenzen bringen und Verletzungen in Kauf nehmen, muss ebenso deutlich gesagt werden, dass wir selbst für unseren Körper verantwortlich sind und dieser immer unter unserer Kontrolle bleiben muss. Wenn wir uns von unseren Trieben leiten lassen, haben wir bereits verloren. Wenn wir unser Tun nicht kontrollieren, verliert der Sport seine Schönheit und lässt uns in einen Abgrund taumeln, der zu Depressionen oder Krankheiten wie Bulimie oder Anorexie führen kann und im schlimmsten Fall damit endet, keinen Sinn mehr im Leben zu sehen. Leider ist dies noch immer ein Tabuthema im Sport, das dringend Aufmerksamkeit verdient.

Aber zurück zu meinem Experiment in Font-Romeu.

Nachdem ich alle Lebensmittel aus meinem Zimmer verbannt hatte und fest entschlossen war, bis zum Ende durchzuhalten, begann ich mit dem Lauftraining. Mein Körper war seit den Ausflügen mit meinen Eltern in meiner Kindheit daran gewöhnt, lange Strecken zu bewältigen, ohne viel zu essen. Deshalb stellte ich am ersten Tag auch keinen Leistungsabfall fest – obwohl ich zugeben muss, dass ich am Ende des Tages, als ich allein in meinem Zimmer war, vor Hunger fast gestorben wäre. Nach einer qualvollen Nacht begann ich meine übliche Strecke, für die ich zwischen drei und vier Stunden benötige. Ich lief zur Kapelle von Font-Romeu und von dort weiter hoch zu den Skipisten und rannte auf der anderen Seite hinunter, wo ich entweder eine Runde um einen der Seen drehte oder einen der Gipfel am Lac des Bouillouses oder den Pic Carlit erklomm. Auf dem Rückweg ging es wieder zu den Pisten hinauf und von dort hinunter zu den Appartementwohnungen. Dort, in der letzten moderaten Steigung, konnte ich die Auswirkungen des Experimentes gut feststellen.

Die Gesamtzeit hatte sich kaum verändert, denn in normalem Tempo konnte ich problemlos mehrere Stunden lang laufen, doch als ich den Anstieg so schnell hochrennen wollte, wie ich konnte, merkte ich, dass das am zweiten Tag ohne Essen nicht mehr möglich war. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte einfach nicht mehr sprinten. Mein Körper hatte sich in einen Traktor verwandelt, der in der Lage war, in gemächlichem Tempo große Distanzen zurückzulegen, aber seine Schnelligkeit eingebüßt hatte.

Am dritten und vierten Tag änderte sich daran nichts Wesentliches. Doch am fünften Tag, während des Laufes am Vormittag, verlor ich das Bewusstsein und stürzte.

Glücklicherweise kam ich kurz darauf wieder zu mir. Ich hatte nicht in Gefahr geschwebt, denn es war ein ziemlich frequentierter Weg, und im Notfall hätte mich jemand retten können. Ich machte mich auf den Weg zu meinem Kommilitonen und aß etwas.