Alles über Dostojewski - Klaus Städtke - E-Book

Alles über Dostojewski E-Book

Klaus Städtke

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Fjodor Dostojewski – das Spiel mit Leidenschaften und Trieben.

Mörder, Masochisten oder hellsichtige Toren sind sie zumeist, die ungewöhnlichen Helden in den Werken des großen russischen Erzählers, darunter „Schuld und Sühne“, „Die Dämonen“ oder „Die Brüder Karamasow“, der „großartigste Roman, der je geschrieben wurde“ (Sigmund Freud). Klaus Städtke, der hervorragende Dostojewski-Kenner, führt uns durch eine Welt der Leidenschaften, des Machtstrebens, aber auch der inneren Wandlung. Seine gekonnten Nacherzählungen ziehen den Leser unweigerlich in den Bann dieser zeitlosen Meisterwerke mit ihren schockierenden Begebenheiten; in seinem Nachwort bringt er uns ihren Schöpfer nahe.

„Ohne ihn wüsste die Menschheit weniger um ihr eingeborenes Geheimnis, weiter als je blicken wir von der Höhe seines Werkes in das Zukünftige hinein.“ Stefan Zweig

Erweiterte Neuausgabe – mit den schönsten Briefen an die Ehefrau Anna Grigorjewna Dostojewskaja.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 277

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Fjodor Dostojewski – das Spiel mit Leidenschaften und Trieben.

Mörder, Masochisten oder hellsichtige Toren sind sie zumeist, die ungewöhnlichen Helden in den Werken des großen russischen Erzählers, darunter »Schuld und Sühne«, »Die Dämonen« oder »Die Brüder Karamasow«, der »großartigste Roman, der je geschrieben wurde« (Sigmund Freud).

Klaus Städtke, der hervorragende Dostojewski-Kenner, führt uns durch eine Welt der Leidenschaften, des Machtstrebens, aber auch der inneren Wandlung. Seine gekonnten Nacherzählungen ziehen den Leser unweigerlich in den Bann dieser zeitlosen Meisterwerke mit ihren schockierenden Begebenheiten; in seinem Nachwort bringt er uns ihren Schöpfer nahe.

»Ohne ihn wüsste die Menschheit weniger um ihr eingeborenes Geheimnis, weiter als je blicken wir von der Höhe seines Werkes in das Zukünftige hinein.« Stefan Zweig

Erweiterte Neuausgabe – mit den schönsten Briefen an die Ehefrau Anna Grigorjewna Dostojewskaja.

Über Klaus Städtke

Klaus Städtke, 1934 in Berlin geboren. Studium der Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, danach Sprachlehrer, Übersetzer und Dolmetscher. Mehrjährige Studien in Moskau und Leningrad. Ab 1972 Mitarbeiter am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften in Berlin (DDR). Verläßt 1988 die DDR und wird 1989 als Professor an die Bremer Universität berufen, wo er bis 1999 Kulturgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas lehrt. 1994-2000 Leiter einer Arbeitsgruppe am Zentrum für Literaturforschung in Berlin, 1993-1996 Mitherausgeber der Sozialzeitschrift »Leviathan« Lebt in Fischerhude bei Bremen. Publikationen: Studien zum russischen Realismus des 19. Jahrhunderts, Berlin 1973; Ästhetisches Denken in Rußland, Berlin 1978; Herausgeber und Mitautor von Dichterbild und Epochenwandel in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bochum 1996; Welt hinter dem Spiegel. Zum Status des Autors in der russischen Literatur der 1920-1950er Jahre, Berlin 1998; Russische Literaturgeschichte, Stuttgart – Weimar 2002.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Klaus Städtke

Alles über Dostojewski

Fjodor Michailowitsch Dostojewskium 1860 akg-images

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Schillernde Romanwelt

Arme Leute

Der Doppelgänger

Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner

Aufzeichnungen aus einem Totenhaus

Erniedrigte und Beleidigte

Der Spieler

Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke

Aufzeichnungen aus dem Untergrund

Schuld und Sühne

Der Idiot

Die Dämonen

Die Brüder Karamasow

Anhang

Von der Unberechenbarkeit des Menschen

Briefe an seine Frau Anna Dostojewskaja

Chronik

Literaturempfehlungen

Impressum

Schillernde Romanwelt

Wer ihn gelesen hat, erinnert sich zumeist an graue, schäbige Mietshäuser mit schmutzigen Treppenaufgängen, langen dunklen Fluren und armseligen Wohnungen. Petersburger Stadtlandschaften des 19. Jahrhunderts – die Kulisse für das Schicksal armer Leute, ihre unerfüllbaren Träume und traurigen Liebesgeschichten. Doch die Topographie und die Inhalte seiner Romane sind damit keineswegs erfaßt. Ein Blick auf das Gesamtwerk zeigt, daß die Orte der Handlung weit voneinander entfernt liegen: ein sibirisches Gefängnis, europäische Spielkasinos, die Villen und Sommerhäuser der Petersburger Oberschicht, russische Provinzstädte, Klöster und abgelegene Gutsdörfer. Die Personen der Handlung sind Strafgefangene, exzentrische Aristokraten und zwielichtige Kaufleute, arme Beamte und windige Advokaten, fromme Geistliche und kauzige Ärzte. Wie man sieht, das überaus farbige Kaleidoskop einer unerschöpflichen Autorenphantasie.

Wer sich näher mit Dostojewski beschäftigen möchte, braucht, so heißt es, psychologisches Gespür und einen Sinn fürs Philosophische. Also doch Literatur für eine Bildungselite? Durchaus nicht. Seine Romane, an deren Verkauf er als Berufsschriftsteller dringend interessiert war, sollten möglichst viele Leser erreichen. Seine Kriminalsujets, Skandalszenen und verwickelten Liebesaffären, die Schauereffekte und der mitunter groteske Humor dienen immer auch der Unterhaltung. Dostojewski möchte fesseln, schockieren und beunruhigen. Ein fürs breite Publikum gedachtes Buch, welchen Inhalts auch immer, muß spannend geschrieben sein, so argumentiert er gegen jede aufklärerische Didaktik oder theoretische Abstraktion in der Literatur. In der Kindheit ein Fan der Schauerromane Ann Radcliffes, empfiehlt er als bereits renommierter Autor seinen Lesern Edgar Allen Poe und die abenteuerlichen Memoiren Casanovas. Zeitgenossen berichten, er habe die Romane von Alexandre Dumas, darunter Die drei Musketiere und Der Graf von Monte Christo, geradezu verschlungen.

Wer sich vornimmt, ihn zu lesen, muß auf Überraschungen gefaßt sein, muß konzentriert bleiben, um zum tieferen Sinn seiner Werke vorzudringen. Also ist er schwer lesbar? Wie man’s nimmt. Seine Schreibweise unterscheidet sich allerdings deutlich von der Stilistik anderer Romanschriftsteller des 19. Jahrhunderts: Es wird wenig erzählt, es gibt keine Naturbilder, keine historischen Exkurse, keine breiten Milieuschilderungen. Die Handlung wird eher theatralisch inszeniert, in Figurenrede übersetzt. Es geht weniger um das Ereignis als um die emotionale Betroffenheit, die das, was geschieht, bei seinen Helden auslöst. Dostojewski fühlt sich nach eigener Aussage als ein dem jeweiligen Sprecher »alles nachschreibender Stenograph«. Die Schreibweise folgt den Stimmen der Figuren.

Die Handlung wird von einem häufig ausufernden Stimmengewirr begleitet, in dem sie variantenreich gespiegelt, in Zweifel gezogen, verdrängt oder auch gänzlich zerredet wird. In der Wechselrede der ständig debattierenden Figuren vor einer zumeist nur spärlich, aber eindrucksvoll skizzierten Kulisse scheint nichts endgültig greifbar, bleibt alles im Fluß, und ständig geschieht Unvorhergesehenes, das aufgeregt kommentiert wird. Worauf will der Autor dieser schillernden Romanwelt hinaus?

Dostojewskis wechselvolle Biographie ist auf engste mit einer dramatischen Übergangsepoche der russischen Gesellschaft verknüpft, in der ganze Bevölkerungsschichten im Elend versinken, durch häufig zweifelhafte Geldgeschäfte neue Eliten entstehen und eine rebellische Jugend im politischen Terrorismus den Aufstand probt. In seiner schriftstellerischen Phantasie bietet Rußland das Bild einer gottverlassenen und unberechenbar gewordenen Welt, in der sich alle Wertvorstellungen und Moralmaßstäbe auflösen und der einzelne haltlos dahintreibt, seinen Trieben und Leidenschaften ausgeliefert und zugleich ständig bedroht von sozialem Abstieg, von der physischen Gewalt des Stärkeren und der Manipulation der politisch Herrschenden. Orakelhaft sagt er in seinem Werk die psychologischen Folgeschäden des Industriezeitalters und die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts voraus. Dagegen setzt er die utopische Vorstellung von einer »Wiederaufrichtung des verlorenen Menschen« in einer Zukunft christlicher Brüderlichkeit, die von Rußland und vom russischen Volk ausgehen soll. Zur Überwindung egoistischer Vereinzelung braucht es, so meint er, die Kommunikation, das Gespräch mit dem anderen. Daher in seinen Romanen die häufigen Beichtszenen, die langen Dialoge, das mitunter unübersichtlich scheinende Stimmengewirr: »Wir werden uns an die Wahrheit heranschwindeln«, sagt jemand während einer solchen Unterhaltung in Schuld und Sühne.

Seine mitunter chaotisch erscheinende Romanwelt, vor allem aber seine christliche und nationalistisch verbrämte Utopie haben Dostojewski in seiner russischen Heimat zu einem der umstrittensten Autoren werden lassen: In Sowjetrußland bis in die 1960er Jahre als Antisozialist weitgehend verdrängt, von der Opposition als Prophet des Stalinismus und des GULAG gerühmt, in postsowjetischer Zeit von rechtsradikalen Parteien als Idol gefeiert, hat ihn inzwischen auch die Postmoderne entdeckt. In einem Theaterstück von Wladimir Sorokin wird Dostojewski als Droge gehandelt. Am Ende sind der Dealer und der Chemiker ratlos: »Wir können jetzt mit Sicherheit davon ausgehen, daß Dostojewski tödlich wirkt. – Und was tun? – Verdünnen. – Womit? – Na, versuchen wir’s mal mit Steven King. Dann sehen wir weiter.«

Kann man das komplexe und, wie man sieht, bis heute überaus vieldeutige Werk des russischen Romanciers dem eiligen Leser anbieten? Nach meiner Ansicht am ehesten mit einer Nacherzählung jener spannenden Geschichten, die in den voluminösen Romanen szenisch entfaltet werden, sich dabei verzweigen und zuweilen aufzulösen drohen. Vielleicht gelingt es mir, in der gewählten Form der Textverkürzung dem Leser die Faszination des Dostojewskischen Werkes nahezubringen, daß er Lust bekommt, die authentische Langfassung der Romane zu lesen. Die für das vorliegende Buch von mir benutzten Übersetzungen ins Deutsche werden – mit ständigem Seitenblick aufs Original – zum Teil nur als Rohmaterial benutzt.

Arme Leute

Der Kanzleischreiber Makar Dewuschkin verfaßt lange und hingebungsvolle Briefe an seine Freundin Warwara, deren Antworten wesentlich kürzer und im Ton eher nüchtern und zurückhaltend ausfallen. Zur Zeit ihrer zwischen Frühjahr und Herbst datierten Korrespondenz leben beide in Petersburg an der Armutsgrenze und befinden sich zudem in einer Übergangssituation: Er steht an der Schwelle des Alters, sie zwischen Jugend und reifem Erwachsensein. Man kennt sich schon lange, trifft sich auch gelegentlich, schüttet aber vor allem in den Briefen einander das Herz aus. Nicht Liebe und Leidenschaft bilden den Inhalt dieses Briefromans. Was die beiden bewegt, sind Lebens- und Zukunftsängste.

Dewuschkin ist gerade in Warwaras Nähe gezogen und kann aus einem Fenster zu ihrer Wohnung hinüberschauen. Blumen und Konfekt hat er seiner Angebeteten geschickt, und er vermutet, daß die zur Seite geschobene Gardine ein Liebeszeichen für ihn gewesen ist! So präsentiert er sich eingangs im Stil eines romantischen Liebhabers. Als Warwara ihn daraufhin ordentlich zurechtweist, entschuldigt er sich und zieht sich ein wenig gekränkt auf die Position eines »entfernten Verwandten« mit »väterlicher Zuneigung« zurück. In seiner nun getrübten Stimmung erinnert er sich plötzlich an das idyllische Leben in seiner alten Wohnung, bedauert den Umzug und beklagt zudem seine mangelhafte Fähigkeit, vernünftige Briefe zu schreiben. Dann beschreibt er sein neues Domizil in einem Mietshaus, die Hauswirtin und ihre Bediensteten sowie die Mitbewohner, »arme Leute« zumeist, die, wie die Familie des stellungslosen Beamten Gorschkow, von Leid und Unrecht verfolgt werden. Traurige Bilder aus einem Petersburger Armenviertel, die den Hintergrund für eine psychologisch diffizile Zweierbeziehung abgeben.

Dewuschkin versucht, durch seine Briefe, allerlei Geschenke und kleine Gefälligkeiten Warwara an sich zu binden. Seiner Warinka, dem Täubchen, Herzchen, Mütterchen möchte er die Rolle als väterlicher Freund und Beschützer möglichst gefühlvoll vermitteln. Er stellt sich als herzensguter Mensch und gewissenhafter Beamter dar. Seit dreißig Jahren ist er im Amt. Ergraut auf der untersten Stufe der Rangordnung, fürchtet er die Welt: seine Wirtin, der er kaum die Miete bezahlen kann, und im Dienst die Kollegen, die, wie er meint, ihn verachten. Seine ständigen Klagen über die Ungerechtigkeit der Welt und sein geradezu lustvoll vorgetragenes Selbstmitleid setzen ganz auf das Mitgefühl der Adressatin. Die Briefe Warwaras hingegen zeigen eine heranreifende, in ihren Stimmungen schwankende, mitunter krankhaft überreizte und in ihren Lebensansprüchen unausgefüllte junge Frau. Wie sie einander kennengelernt haben, kann der Leser nur ahnen.

Aus einem »alten Heft«, einer Art Tagebuch, das sie dem Freund zuschickt, erfahren wir einen Teil ihrer bisherigen Lebensgeschichte: Als ihr Vater seine Stellung als Gutsverwalter verloren hatte und die Familie vom Lande in die Hauptstadt zog, war sie noch ein Kind. In Petersburg erlebte sie wenig später den vollständigen Ruin und den Tod des Vaters. Die mittellose und ihren Gläubigern schutzlos ausgelieferte Familie fand Unterschlupf im Hause von Anna Fjodorowna, einer weitläufigen und zugleich undurchsichtigen Verwandten, die sich offenbar als Kupplerin ihr Geld verdient. In ihrem Haus lernt Warwara später einen jungen Studenten kennen, der ihr Unterricht erteilt. Sie verlieben sich ineinander. Vor allem die Literatur (Warwara schenkt dem jungen Mann zum Geburtstag eine Puschkin-Ausgabe) hat die beiden zusammengeführt. Doch der Freund erkrankt und stirbt. Eindrucksvoll beschreibt Warwara die Szene des nach der Totenmesse davonfahrenden Leichenwagens, dem der verzweifelte Vater weinend und wie von Sinnen folgt. An dieser Stelle bricht das Tagebuch ab.

Die Bitte Dewuschkins, ihm die Fortsetzung des Tagebuches zu schicken, lehnt Warwara ab: Sie fürchtet sich vor den nach dem Tod ihrer Mutter vor einem Jahr noch frischen Erinnerungen. Spätere Andeutungen Warwaras lassen vermuten, daß Anna Fjodorowna sie mit dem Gutsbesitzer Bykow bekannt gemacht und dieser sie verführt hat: »Aber Sie wissen das ja alles.« Hier wird eine dunkle Episode ihres Lebens ausgespart, in der sich Dewuschkin, so kann man ahnen, ihrer angenommen hat. Dunkel bleiben auch ihre Andeutungen über das seltsame Interesse Bykows an der Mutter des Studenten. Sie sei sehr schön gewesen, aber leider früh gestorben.

Vor Warwara rühmt sich Dewuschkin seiner tadellosen Handschrift (»jeder Buchstabe wie gestochen«), die ihn vor den anderen Abschreibern im Amt auszeichnet. Um ihr zu imponieren, schreibt er von seinen literarischen Neigungen und von seinem heimlichen Wunsch, selbst Schriftsteller zu werden. Er zitiert Passagen aus Büchern, die ihm sein Wohnungsnachbar, ein angeblich erfolgreicher Literat, empfohlen hat. Warwara erkennt darin nur primitiven Schund und schickt ihm statt dessen Erzählungen von Alexander Puschkin. Dewuschkin ist begeistert. Er identifiziert sich mit Puschkins Postmeister, träumt sich nur zu gern in die romantische Rolle des armen, aber edlen Vaters hinein und vergleicht dessen Sorge um seine Tochter Dunja, die er schließlich an einen durchreisenden Offizier verliert, mit der eigenen »väterlichen« Beziehung zu seiner Brieffreundin.

Als ihm Warwara Gogols Novelle »Der Mantel« zukommen läßt, ist er empört: Das sei eine Schmähschrift gegen ihn, den armen Beamten, und seinesgleichen! Er fühle sich vom Autor voyeuristisch belauscht und dem öffentlichen Spott preisgegeben. Gogols Beschreibung eines elenden, nahezu idiotischen Schreiberdaseins führt ihm allzu deutlich vor Augen, was er in seinem eigenen Leben möglichst zu verdrängen sucht. Ohnehin mißtrauisch gegen jedermann, vermutet er jetzt, daß sein Nachbar, der Literat, vielleicht eine Satire auf ihn schreiben werde. Vorübergehend vergißt er seinen Traum von einer Schriftstellerkarriere und verurteilt plötzlich alles Gedruckte in Bausch und Bogen: Dient nicht jede Literatur letztlich nur der Entlarvung des Menschen und der Aufdeckung seiner Schwächen? Selbst die Werke Shakespeares sind »nichts als barer Unsinn« und »nur um der bösen Witzelei willen verfaßt«!

Der Briefwechsel gewinnt an Spannung, als Warwara ihrem Freund mitteilt, daß sie, um ihre Zukunft zu sichern, demnächst eine Stelle als Gouvernante bei einer Gutsbesitzerfamilie annehmen wird. Dewuschkin aber möchte die Trennung um jeden Preis verhindern und den idyllischen Zustand ihrer Beziehung mit Spaziergängen, Briefen und Gesprächen über Literatur beibehalten. In seiner krankhaften Angst vor dem realen Leben warnt er sie eindringlich vor »fremden Menschen« und lobpreist die bestehende Idylle: »Bei uns haben Sie es wenigstens warm und gut, wie in einem Nestchen haben Sie sich hier eingelebt.« Hinter seinen guten Ratschlägen steckt jedoch eigenes Interesse (»Was werde ich dann ohne Sie anfangen?«), wobei er sich sogar zu erpresserischen Äußerungen hinreißen läßt: »Ich würde in die Newa gehen, und damit wäre die Geschichte erledigt.«

Die Idylle zerfällt ohnehin: Warwara erfährt, daß er ihretwegen Schulden macht und daß er sogar betrunken von der Straße aufgelesen wurde. Ihre freundschaftliche Beziehung sei dadurch ins Gerede gekommen! Dewuschkin fühlt sich in seiner Rolle als väterlicher Freund und Beschützer demaskiert. Seine ohnehin geringe Selbstachtung ist dahin. Erfüllt von hemmungslosem Selbstmitleid, schreibt er Entschuldigungsbriefe und versucht vergeblich, sich zu rechtfertigen, vor der Freundin und auch vor sich selber.

Warwara hat inzwischen eigene Sorgen. Um den von Anna Fjodorowna immer häufiger geschickten Heiratskandidaten zu entkommen, möchte sie die Wohnung wechseln. Dazu braucht sie Geld. Vergeblich versucht Dewuschkin, Geld zu leihen oder zusätzliche Schreibarbeit gegen Bezahlung zu übernehmen, ist aber trotzdem froh, daß der Umzug Warwaras aus Geldmangel erst einmal nicht zustande kommt. Um ihr weiterhin zu gefallen, bleibt ihm nur, Briefe zu schreiben und auf ihren Rat seinen Stil zu verbessern. Ständig berichtet er von Erniedrigungen, die er von den Mitbewohnern oder den Beamten in der Kanzlei ertragen muß. Ein Spaziergang bei düsterem, feuchtem Herbstwetter ist ihm Anlaß, rührselig die Szenerie des Petersburger Straßenlebens zu schildern und besonders das Schicksal bettelnder Straßenkinder auszumalen. Nachträglich gesteht er seiner Freundin, daß er seine Briefe auch als literarische Stilprobe verfaßt habe. Täuschen wir uns also nicht, die häufig ermüdenden sentimentalen Klischees sozialen Mitleids stammen aus der Feder des vom Romanautor erfundenen Helden, der seiner Freundin als angehender Schriftsteller imponieren möchte!

Eines Tages ereignet sich in der Kanzlei ein Eklat. Wegen eines Abschreibfehlers wird er zum Vorgesetzten gerufen. Als ihm seine Exzellenz voller Zorn das Vergehen vorhält, löst sich ein Knopf von Dewuschkins Uniformjacke und rollt seiner Exzellenz vor die Füße. Dem peinlichen Vorfall der Bloßstellung (»Das ganze Ansehen war, der Mensch in mir vernichtet«) folgt die Aufrichtung des Gedemütigten: Die Umstehenden berichten dem Bürovorsteher, daß sich der zweifellos sehr arme Beamte bisher untadelig verhalten habe. Seine Exzellenz zeigt sich gerührt, reicht seinem Untergebenen, »dem Geringsten unter den Geringen«, sogar die Hand und schenkt ihm hundert Rubel. Eine Schlüsselszene des Romans, in der die lustvolle Schilderung von Erniedrigung und Selbsterniedrigung vor allem den Briefschreiber charakterisiert. Für Dewuschkin scheinen nunmehr alle Probleme gelöst: »Wie werden einander wieder selige Briefe schrieben, uns mit Literatur beschäftigen.« Die traurige Zeit scheint endgültig vorbei.

Nach diesem die Handlung verzögernden Moment folgt die endgültige Katastrophe. Warwara teilt ihm überraschend mit, daß Bykow um ihre Hand angehalten habe. Kommentarlos fügt sie hinzu: »Ja: ich werde ihn heiraten, ich muß seinen Antrag annehmen.« Nur er allein könne sie von ihrer Schande erlösen, ihr die Ehre wiedergeben und sie »in Zukunft vor Armut, Entbehrungen und Unglück bewahren«. Nach der Hochzeit werde man sich auf Bykows Gut zurückziehen. Auch wenn sie sich besorgt zeigt, wie ihr Freund allein weiterleben werde, trägt sie ihm ohne Bedenken allerlei Besorgungen und Einkäufe für die Hochzeit auf, die er gewissenhaft erledigt.

Dewuschkin ist verzweifelt und stellt nur noch die eine Frage: »Wie werden wir denn künftig einander Briefe schreiben?« Für ihn ist das Schreiben längst zu einer unentbehrlichen Beschäftigung geworden, einer Art Lebensersatz. »Ich werde doch schreiben, und auch Sie müssen mir schreiben … Fängt doch gerade jetzt mein Stil an, besser zu werden!« Warwara aber weiß, daß mit der grundsätzlichen Veränderung ihres Lebens die freundschaftliche Korrespondenz wie auch die gemeinsame Beschäftigung mit Literatur aufhören werden. Der lebensuntüchtige Schwärmer und arme Kanzleischreiber Dewuschkin hat seine Freundin längst an das reale Leben, an die »stattliche Erscheinung« und offenbar erotische Ausstrahlung Bykows verloren. Die papierne Idylle hat sich in Nichts aufgelöst. Am Schluß wehrt sich Dewuschkin verzweifelt gegen die notwendige Einsicht: »Ich schreibe nur, um zu schreiben, immer noch mehr zu schreiben, mein Täubchen, mein Liebling, mein Mütterchen, Sie!«

Der Doppelgänger

Als der Petersburger Titularrat Jakow Petrowitsch Goljadkin am Morgen in den Spiegel schaut, ist er erleichtert: Er sieht sein vertrautes Allerweltsgesicht, das sich, Gott sei Dank, über Nacht nicht verändert hat. Nachdem er genüßlich sein Geld – immerhin 750 Rubel – gezählt hat, macht er sorgfältig Toilette, ruft seinen Diener Petruschka, für den er eine Livree ausgeliehen hat, und fährt mit ihm in einer hellblauen Mietequipage zum Newski-Prospekt.

An einer Straßenkreuzung blicken ihm zwei Kollegen aus der Kanzlei verwundert nach, zeigen mit dem Finger auf ihn und rufen seinen Namen. Wenig später fährt in einem offenen Wagen auch noch der Abteilungschef Andrej Filippowitsch an ihm vorüber und scheint ebenfalls erstaunt über die Begegnung. Goljadkin fühlt sich unbehaglich in dieser für seine niedere soziale Stellung etwas übertriebenen, vielleicht sogar anmaßenden Aufmachung und gibt sich nicht zu erkennen: »Ich … ich bin eben einfach gar nicht ich, ganz einfach, ich bin ein ganz anderer!« Unsicher, was diese spontane Selbstverleugnung bedeuten könnte, besucht er seinen Arzt, Dr. Krestjan Rutenspitz. Der verwunderte Doktor fragt ihn zunächst vergeblich nach dem Grund seines unverhofften Besuchs. Goljadkin antwortet etwas verworren und beginnt sich zu rechtfertigen: er sei »nur ein kleiner Mensch«, »kein Ränkeschmied«, tue »nichts heimlich und hinterrücks«, trage »keine Maske« und sei »im Schönreden kein Meister«. Plötzlich aber bricht er in Tränen aus und gesteht: »Ich habe Feinde, die sich verschworen haben, mich zugrunde zu richten!« Vor Tagen habe er bei Olsufi Iwanowitsch einigen Gästen die Meinung gesagt, worauf man über ihn das Gerücht verbreitete, er habe einer Köchin die Heirat versprochen und seine Zusage nicht gehalten. Als Dr. Rutenspitz Näheres darüber erfahren möchte, weicht Goljadkin aus und verläßt hastig die Praxis.

Spätestens nach diesem Gespräch zwischen dem Arzt und seinem Patienten ahnt der Leser, daß mit dem Romanhelden etwas nicht stimmt. Am Morgen der besorgte Blick in den Spiegel, unterwegs die Idee der Selbstverleugnung und schließlich das verworrene Bekenntnis bei Dr. Rutenspitz verraten ein Bewußtsein, das die Wahrnehmungen der Außenwelt mit den offenbar von unklaren Ängsten und Schuldgefühlen erzeugten Bildern der inneren Vorstellung nicht mehr koordinieren kann.

Den weiteren Vormittag verbringt Goljadkin mit Besorgungen, bestellt teuren Schmuck, Stoffe und diverse Modeartikel, verspricht anzuzahlen und abzuholen, hat aber schließlich nur Kleinigkeiten im Wert von einem Rubel und fünfundfünfzig Kopeken gekauft. Als er in einem Restaurant zu Mittag ißt, trifft er wieder die beiden Kollegen, denen er schon am Morgen begegnet war. Vor ihren Fragen nach seiner stutzerhaften Aufmachung weicht er mit vagen Andeutungen aus. Nach dem Essen befiehlt er Petruschka, zur Ismailow-Brücke zu fahren, zum Haus seines ehemaligen Gönners Olsufi Iwanowitsch, der zum Geburtstag seiner Tochter Klara ein Fest gibt, zu dem viele Gäste geladen sind. Dort versucht er, »mehr tot als lebendig«, sich Zutritt zu verschaffen, wird aber von der Dienerschaft abgewiesen und schließlich gezwungen, das Haus zu verlassen.

Der Erzähler bedauert, das glanzvolle Ereignis der Geburtstagsfeier nicht gebührend würdigen zu können – »Oh, wäre ich doch ein Dichter … dann, meine verehrten Leser! Dann würde ich Ihnen in leuchtenden Farben mit kühnem Pinsel diesen ganzen hochfeierlichen Tag zu schildern versuchen« –, und wendet sich wieder seinem Helden zu. Goljadkin hat inzwischen einen zweiten Versuch unternommen, doch noch auf das Fest zu gelangen. In einem dunklen Winkel des Hauses wartet er auf eine Möglichkeit, sich unauffällig unter die Gäste zu mischen. »Nicht aus eigener Kraft, sondern gleichsam einer fremden folgend«, befindet er sich plötzlich im Ballsaal und steht unverhofft vor Klara. Zwar möchte er augenblicklich in den Boden versinken und sich »noch in dieser Nacht erschießen«, bringt aber doch eine Gratulation zustande. Dann erstarrt er plötzlich. Das beredte Schweigen der Anwesenden und die wütenden Blicke ringsum erklären ihm seine Lage: Man will ihn loswerden. Er aber, »als wisse er selbst nicht, was er tat«, führt Klara zum Tanz, kommt dabei ins Stolpern. Man drängt ihn gewaltsam zum Ausgang, und mit letzter Kraft stürzt er aus dem Haus. Der Versuch, seine verletzte Ehre – man erinnere sich an die verworrenen Andeutungen bei Dr. Rutenspitz – am selben Ort und um jeden Preis wiederherzustellen und, wenn möglich, die Gunst Klaras zu gewinnen, ist gescheitert. Er hat alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Nach dem Rausschmiß fühlt er sich »erschlagen und tot«. Das Wetter, eine Petersburger Novembernacht, ist grauenvoll. Auf dem Heimweg macht Goljadkin den Eindruck, als wolle er vor sich selbst davonlaufen. Am liebsten hätte er sich »auf der Stelle vernichtet, in Staub und Nichts verwandelt«.

Der Widerspruch zwischen seinem skandalösen Verhalten auf dem Fest und dem nachfolgenden Gefühl, ins Nichts versinken zu müssen, erhellt den Hintergrund der zu vermutenden seelischen Störung. Goljadkin fürchtet nichts so sehr wie eine Entlassung aus dem Dienst und die damit verbundene soziale Deklassierung. Sehnlichst wünscht er sich hingegen beruflichen Aufstieg und persönliche Anerkennung. In diesem Dilemma zwischen Furcht und Begehren treten ihm die anderen einerseits als Feinde und Konkurrenten entgegen, zum anderen als vorgesetzte und unantastbare Autoritäten, deren Gunst man gewinnen und sich erhalten muß. Auf der Grundlage dieser Einstellung malt ihm seine überhitzte Phantasie ein trügerisches Bild der Umwelt, ein Bild, das nach dem Fest zusammenfällt und seine Identität und persönliche Integrität »in Staub und Nichts« verwandelt.

Im nächtlichen Schneetreiben gewahrt er plötzlich eine Gestalt, die ihm entgegenkommt, vorübergeht und erneut auftaucht. Dieser Unbekannte, der ihm in seine Wohnung folgt und schließlich vor ihm auf seinem Bett sitzt, ist kein anderer als sein Doppelgänger. Als dieser am nächsten Morgen auch zum Dienst in der Kanzlei erscheint, rätselt Goljadkin zunächst noch, »wer der wirkliche Herr Goljdakin und wer der nachgemachte sei, wer der alte und wer der neue, wer das Original und wer die Nachbildung«. Angst befällt ihn, und er beginnt an seiner Existenz zu zweifeln. Der Bürovorsteher erkundigt sich besorgt nach seiner Gesundheit, während die Kollegen die sichtbare Ähnlichkeit zwischen den beiden Goljadkins im übrigen gelassen zur Kenntnis nehmen. Man erinnert sich an siamesische Zwillinge oder an eigene Erlebnisse (»Meine Tante hat sich kurz vor ihm Tod auch doppelt gesehen«). Der Held versucht sich abzulenken, genießt nach Arbeitsschluß das Winterwetter auf dem Newski- Prospekt und versichert sich ständig seiner ihm noch verbliebenen moralischen Identität, bis der Doppelgänger erneut auftaucht und um ein Gespräch bittet. Goljadkin lädt ihn zu sich nach Hause ein, läßt sich dessen Lebenslauf, »eine ganz gewöhnliche Geschichte«, erzählen, bewirtet ihn, trägt ihm seine Freundschaft an und läßt ihn am Ende sogar bei sich übernachten.

Doch am nächsten Morgen in der Kanzlei ist die freundschaftliche Annäherung vom Abend zuvor vergessen. Als Goljadkin die von ihm bearbeiteten Papiere ins Büro des Chefs bringen will, reißt ihm der andere die Akte aus der Hand, legt sie selber vor und wird von Andrej Filippowitsch gelobt. Der verwirrte Goljadkin fühlt sich erniedrigt und gedemütigt. Soll er sich rächen oder vielleicht die ganze Angelegenheit um seine Person einfach ignorieren? Doch der Doppelgänger läßt sich nicht abschütteln. Als er sogar im Restaurant erscheint und seine Rechnung durch Goljadkin begleichen läßt, schreibt ihm dieser einen Brief, in dem er sich beschwert: »Ihr hartnäckiges Bestreben, geehrter Herr, mit aller Gewalt in meine Existenz und in meinen Lebenskreis einzudringen, übersteigt alle Grenzen der Höflichkeit und des einfachen Anstandes.« Petruschka soll bei Wachramejew, dem Sekretär der Kanzlei, die Adresse des anderen ermitteln und den Brief übergeben. Erst in der Nacht kehrt Petruschka, völlig betrunken, zurück. Mit einiger Mühe bringt Goljadkin heraus, daß man seinem Diener als Adresse des Doppelgängers seine eigene genannt hat. Außerdem ist da noch ein Brief von Wachramejew. Der Sekretär kündigt Goljadkin die Freundschaft und beschuldigt ihn, vor Zeiten die ehrbare Köchin Karolina Iwanowna durch ein nicht gehaltenes Heiratsversprechen beleidigt zu haben. Dieser weist energisch alle Vorwürfe zurück und fügt in dunkler Andeutung hinzu, daß Personen, die durch ihre Anmaßung andere aus ihrer Stellung zu verdrängen suchen, entweder ins Irrenhaus kommen oder vom Gesetz belangt werden können.

Die Erlebnisse des Tages haben Goldjakin »bis auf den Grund seines Seins« erschüttert. In der Nacht träumt er von einer vornehmen Gesellschaft, in der er sich auszeichnet, so daß ihn alle liebgewinnen. Doch diesen Triumph zerstört der auch hier auftauchende Doppelgänger. Vor dem Haus weigern sich die Droschkenkutscher, ihn, »einen Menschen, der doppelt dasteht«, zu fahren. Er flüchtet zu Fuß und sieht sich von einer Reihe Doppelgänger verfolgt, die ganz Petersburg überfluten, bis ein Polizist sie in das nächstbeste Schilderhaus stopft.

Als er gegen Mittag endlich aufwacht, eilt er ins Büro, um Neues über sich und seine Lage zu erfahren, doch ohne Erfolg. Dabei sieht er, daß sein Doppelgänger das Wohlwollen der Vorgesetzten und Kollegen längst gewonnen hat. Goljadkin versucht sich zu rechtfertigen, zunächst vor seinem Abteilungschef, dann beim Bürovorsteher, der jedoch alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestätigt und eine Prüfung in Aussicht stellt. Voller Angst um den Erhalt seiner sozialen Stellung, beteuert Goljadkin nachdrücklich seine staatsbürgerliche Loyalität. Mit Entsetzen beobachtet er, wie der andere jenen Aufstieg, den er selbst insgeheim erträumt, erfolgreich realisiert: »Ich möchte gern wissen, wie er es nur macht, sich in der höheren Gesellschaft zu behaupten!« Wie nur sich selbst wieder ins Spiel bringen? Man kann den anderen moralisch verurteilen: »Er ist also der Schuft, ich aber werde der Anständige sein!«, oder bei den Vorgesetzten denunzieren: »Er ist ein gemeiner und verdorbener Mensch, Euer Exzellenz!«

Nochmals versucht er, sich mit seinem Ebenbild auszusprechen. Doch der macht sich über ihn lustig und begibt sich in einer Droschke anscheinend zu Olsufi Iwanowitsch. In einem Gasthaus an der Semjonow-Brücke liest Goljadkin einen Brief, den ihm ein Kollege beiläufig zugesteckt hat: »Edler, um meinetwegen leidender und meinem Herzen ewig teurer Mann!«, so wendet sich Klara an ihn mit der Bitte, sie zu entführen und damit vor einer erzwungenen Heirat zu bewahren. Für die Intrige seien ihr Vater und der Doppelgänger verantwortlich. Goljadkin ist überrascht und völlig verwirrt. Als ihm versehentlich ein Medizinfläschchen von Dr. Rutenspitz aus der Tasche fällt und zerbricht, erregt er allgemeine Aufmerksamkeit. Er flüchtet nach Hause, wo schon der Kanzleidiener mit der Anweisung wartet, ihm alle Akten zu übergeben. Ist das der dienstliche Rausschmiß? Auch Petruschka packt seine Sachen und verschwindet. Völlig entnervt, irrt Goljadkin ziellos durch Petersburg.

Er nimmt Klaras Wunsch nach Entführung ernst und versteckt sich diesmal hinter ihrem Haus. Die erleuchteten Fenster deuten darauf hin, daß wieder ein Fest im Gange ist. Die gewünschte Entführung, so überlegt er, kann ihn seine Stellung kosten, schließlich ist er kein Romanheld. Plötzlich bemerkt er, wie man aus den Fenstern zu ihm hinunterschaut. Der Doppelgänger kommt heraus und führt ihn ins Haus, die Treppe hinauf bis in den überfüllten Ballsaal, und es scheint ihm anfangs, als laufe jetzt alles auf eine Versöhnung hinaus. Dann aber macht ihn das Erscheinen von Dr. Rutenspitz mißtrauisch. Man beruhigt ihn und geleitet ihn freundlich aus dem Haus zu einem Wagen, in dem er mit seinem Arzt davonfährt. Wo man ihn wohl hinbringen würde? Der Weg erscheint ihm unbekannt. Links und rechts erstrecken sich dunkle Wälder. Ringsum ist es öde und leer. Zwei feurige Augen sehen ihn aus dem Dunkel an, »streng und furchtbar, wie ein Todesurteil«, ertönt die Stimme von Dr. Rutenspitz: »Sie bekommen von der Krone freie Wohnung, Beheizung, Beleuchtung, Bedienung, dessen Sie gar nicht wert sind.«

Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner

Versetzen wir uns in die russische Provinz des 19. Jahrhunderts, in ein Gutsdorf kurz vor der Aufhebung der Leibeigenschaft. Es heißt Stepantschikowo und gehört Jegor Rostanjow, einem naiven und überaus gutherzigen Oberst. Nach seiner Militärzeit und dem frühen Tod seiner Frau lebt er hier mit seinen beiden Kindern und ihrer Erzieherin. Doch das friedliche Landleben wird schon bald auf empfindliche Weise gestört. Die Mutter des Obersten, eine ausgemachte Hysterikerin, beschließt nach dem Tod ihres zweiten Mannes, eines pensionierten Generals, mit ihrem ganzen Anhang samt Dauergästen und Schoßhunden zu ihrem Sohn in das Herrenhaus von Stepantschikowo einzuziehen.

Damals war es durchaus üblich, daß ein Gutsherr außer Gouvernanten und Hauslehrern auch mittellosen Verwandten und Freunden über längere Zeiträume freie Kost und Logis gewährte. In diesem Fall spitzt sich die Lage dadurch zu, daß die Generalswitwe in ihrem Gefolge Foma Opiskin mitbringt, einen gescheiterten Literaten, der bei ihrem verstorbenen Mann als Unterhalter und Hausnarr gedient hatte und sich jetzt mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Vom General ständig gedemütigt, entwickelte Foma nach dem Tod seines Brotgebers plötzlich eine maßlose Eigenliebe, eine unglaubliche Prahlsucht und ein gieriges Bedürfnis nach Verehrung und Bewunderung. Im Bündnis mit der ihm hemmungslos ergebenen Generalin spielt er sich in Stepantschikowo zum Tyrannen auf. Für die Bewohner will er nicht nur die oberste moralische Instanz sein, sondern auch eine wissenschaftliche und literarische Autorität. Ständig attackiert er den Hausherrn, er sei ein Egoist und würde seine Mutter und auch ihn, Foma, nicht genügend achten. Der vertrauensselige Oberst, der sich eigentlich keiner Schuld bewußt ist, nimmt Fomas moralische Integrität und angebliche Klugheit für bare Münze und behandelt ihn mit einer gewissen Nachsicht: »Der Mensch hat gelitten, hat Großes vollbracht, so etwas muß belohnt werden! Ja, und dann die Wissenschaft. Er ist doch Schriftsteller! Ungemein gebildet! Ein überaus edler Mensch.«

Eines Tages erhält der Erzähler dieser Geschichte, der in Petersburg lebende Neffe des Obersten, einen Brief von seinem Onkel mit der Bitte, so rasch wie möglich nach Stepantschikowo zu kommen. Erkundigungen ergeben, daß gegen den Onkel eine Intrige im Gange ist: Seine Mutter und Foma sind dabei, ihn mit einem bejahrten und psychisch etwas verwirrten, dafür aber sehr reichen Mädchen, einer entfernten Verwandten der Generalin, zu verheiraten. Außerdem versuchen sie, die Erzieherin Nastja aus dem Hause zu vertreiben, damit er nicht etwa auf die Idee käme, sich in sie zu verlieben. In der Absicht, die Dinge wieder einzurenken und Foma fortzujagen, sowie in der Hoffnung, die junge und offenbar attraktive Nastja kennenzulernen, macht sich der Neffe auf den Weg.

Nach seiner Ankunft bestätigt sich, was er ohnehin schon weiß: Foma tyrannisiert seine Umgebung bis ins Absurde: er hält den Bauern ökonomische Vorträge, zwingt das Gesinde, Französisch zu lernen u.a. Der Onkel verteidigt ihn aus Ehrfurcht vor seiner angeblichen Bildung und aus einem unerklärlichen Mitleid. Selbst die geplante Geldheirat scheint seine Zustimmung zu finden. Dem Neffen schlägt er vor, Nastja zu ehelichen, damit sie weiter auf Stepantschikowo bleiben könne.

Beim Nachmittagstee lernt der Erzähler die im Herrenhaus agierende Gesellschaft kennen. Nur Foma läßt sich vorerst entschuldigen mit der Begründung, man werde ihn wegen des Neuankömmlings ganz sicher zu wenig beachten. Anwesend sind außer der Generalin, »vor der alle sich wie auf Draht gezogen bewegten«, mehrere Damen, darunter auch die exaltierte Jungfer und Heiratskandidatin, sowie zwei Herren, ein Vetter dritten Grades und ein Gast aus der Stadt mit seiner Mutter. Nach anfänglichem Interesse für den Ankömmling aus Petersburg mündet das Gespräch in einen offenbar eingespielten Dialog: Man beschuldigt den Oberst, ein hoffnungsloser Egoist und undankbarer Sohn zu sein, wogegen sich dieser erfolglos zur Wehr setzt. Plötzlich aber erklärt seine Tochter Alexandra, sie habe genug von Foma, nur sei ihr Vater zu schwach, ihn einfach davonzujagen. Als Antwort auf diesen skandalösen Zwischenruf simuliert die Generalin eine Ohnmacht und beschuldigt den Neffen aus Petersburg, an dem ganzen »Aufruhr« schuld zu sein. In dieser turbulenten Szene erscheint plötzlich Foma höchstpersönlich.

Klein von Wuchs, in Schlafrock und Hausschuhen, ein »unansehnliches Menschlein« von etwa fünfzig Jahren in der Pose eines arroganten Wichtigtuers, macht er auf den Erzähler einen eher lächerlichen Eindruck. Sogleich aber setzt er sich in Szene und demonstriert lautstark seine exklusive Stellung im Hause, beschimpft die Dienstboten, fordert von der Literatur, sie solle die rohen Sitten des Volkes veredeln, und rechtfertigt schließlich seinen anmaßenden Auftritt: »Ich kenne Rußland, und Rußland kennt mich: darum rede ich so.« Das Publikum stimmt ihm zu und schmeichelt ihm über die Maßen. Zum Gaudium seiner Anhängerschaft will er – gleichsam als lustiges Intermezzo – die Französischkenntnisse des alten Dieners Gawrila prüfen, doch der setzt sich gegen diese offenkundige Demütigung zur Wehr. Wieder gerät die Szene zum Skandal: Foma und die Generalin wittern »Rebellion« und fordern Gawrilas sofortige Bestrafung. Als der Neffe gegen diesen Unsinn protestiert, wird er als Petersburger Freigeist abgeurteilt. Auf seine Bemerkung, Foma sei ja völlig betrunken, stürzt dieser aus dem Zimmer, und die ganze Teegesellschaft folgt ihm nach.

Der Leser wird bei dieser Geschichte an Molières Sittenkomödie Tartuffe