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Renate Ahrens

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Beschreibung

Eine deutsche Familiengeschichte zwischen Zweitem Weltkrieg und Mauerfall. Mit dem Fall der Mauer gerät auch das Leben der 44-jährigen Hamburgerin Katharina Elbracht ins Wanken: Sie erhält ein Bündel Briefe aus Ostberlin, aus dem hervorgeht, dass die Frau, die sie ihr Leben lang ›Mutter‹ genannt hat, in Wahrheit ihre Tante war. Zutiefst erschüttert beginnt Katharina die Geschichte ihrer Familie zu enthüllen. Dabei stößt sie auf eine junge Liebe, die mit Swing-Musik begann und vom Krieg zerstört wurde, auf zwei Schwestern, die durch die Mauer getrennt wurden und einen lebenslangen, geheimen Pakt schlossen, und auf die Spur ihres Vaters, der 1945 als verschollen galt. Ihre Recherchen führen Katharina durch halb Deutschland und bis nach Irland, wo ihr unbekannter Vater einsam und zurückgezogen leben soll. Eines Tages steht sie vor einem alten Haus und streckt die Hand Richtung Klingel aus ... Schnörkellos und mit einem einfühlsamen Blick auf ihre Figuren erzählt die Hamburger Autorin Renate Ahrens, die teilweise auch in Irland lebt, eine beeindruckende deutsch-deutsche Familiengeschichte.

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Renate Ahrens

Alles, was folgte

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Eine deutsche Familiengeschichte zwischen Zweitem Weltkrieg und Mauerfall.

Mit dem Fall der Mauer gerät auch das Leben der 44-jährigen Hamburgerin Katharina Elbracht ins Wanken: Sie erhält ein Bündel Briefe aus Ostberlin, aus dem hervorgeht, dass die Frau, die sie ihr Leben lang ›Mutter‹ genannt hat, in Wahrheit ihre Tante war. Zutiefst erschüttert beginnt Katharina die Geschichte ihrer Familie zu enthüllen. Dabei stößt sie auf eine junge Liebe, die mit Swing-Musik begann und vom Krieg zerstört wurde, auf zwei Schwestern, die durch die Mauer getrennt wurden und einen lebenslangen, geheimen Pakt schlossen, und auf die Spur ihres Vaters, der 1945 als verschollen galt. Ihre Recherchen führen Katharina durch halb Deutschland und bis nach Irland, wo ihr unbekannter Vater einsam und zurückgezogen leben soll. Eines Tages steht sie vor einem alten Haus und streckt die Hand Richtung Klingel aus …

Schnörkellos und mit einem einfühlsamen Blick auf ihre Figuren erzählt die Hamburger Autorin Renate Ahrens, die teilweise auch in Irland lebt, eine beeindruckende deutsch-deutsche Familiengeschichte.

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. KapitelEpilogLeseprobe »Der andere Himmel«
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Für Alan

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1

Beim Aufwachen denke ich als Erstes an den Hasen. Ich habe versucht, ihm auszuweichen, habe beim Herumreißen des Steuers für den Bruchteil einer Sekunde seine gelben Augen gesehen, dann gab es einen dumpfen Schlag. Der Wagen geriet ins Schleudern, drehte sich einmal um die eigene Achse und kam schließlich auf dem Seitenstreifen zum Stehen, wenige Meter vor einem Brückenpfeiler. Dunkelheit und Stille umfingen mich, und plötzlich begann ich, am ganzen Körper zu zittern. Ich, die bei meinen Einsätzen in Krisen- und Kriegsgebieten nie zittere, nicht einmal damals in Vietnam habe ich gezittert. Wieso sitzt morgens um halb zwei ein Hase mitten auf der Autobahn?

Ich knipse die Nachttischlampe an und greife nach meinen Zigaretten. Ich hätte nicht so spät nach Hamburg zurückfahren dürfen, hätte noch einmal bei Lilo übernachten sollen. Aber ich war hellwach, nachdem ich in ihrem Labor die Filme vom Sturm auf die Stasi-Zentrale entwickelt hatte. Noch während die Negative trockneten, habe ich die besten Bilder ausgewählt, schnell Abzüge gemacht und sie dann mit Lilos Telebildsender an die Agentur gefunkt. Morgen werden meine Fotos in der internationalen Presse erscheinen. Es herrscht Glatteis, hat Lilo mich gewarnt. Doch von so etwas wie Glatteis habe ich mich noch nie abhalten lassen.

Das Rauchen beruhigt mich. Im Rückspiegel war nichts zu erkennen. Was hätte es genützt, auszusteigen und nach dem Hasen zu sehen? Er war tot. Ich werde den Wagen nachher in die Werkstatt bringen und die Delle in der Stoßstange ausbeulen lassen. Das Blut und die daran klebenden hellbraunen Haare können sie auch dort entfernen. Hoffentlich hat sich durch den Aufprall der Rahmen nicht verzogen. Das muss ebenfalls geprüft werden. Ein paar Hundert Mark wird das Ganze sicherlich kosten. Vielleicht kann ich die Rechnung bei der Versicherung einreichen. Oder hätte ich dafür die Polizei benachrichtigen müssen? Ich drücke meine Zigarette aus. An Polizei war auf der verlassenen Autobahn irgendwo bei Neuruppin nicht zu denken. Nein, ich werde den Schaden selbst tragen müssen.

Gleich halb neun. Ich stehe auf und gehe ins Badezimmer. Aus dem Spiegel schaut mir mein blasses Gesicht entgegen, ich habe Ringe unter den Augen. Kein Wunder, nach knapp fünf Stunden Schlaf. Meine Locken stehen in alle Richtungen ab, ich binde sie mit einem Haargummi zusammen.

In der Küche fällt ein Sonnenstrahl auf meinen alten Eichentisch und taucht ihn in ein warmes Licht. Die Vase mit dem Strauß gelber, gefüllter Tulpen habe ich heute Nacht beim Nachhausekommen gar nicht bemerkt. Lars muss sie dort hingestellt haben. Und jetzt sehe ich auch den Zettel, der zwischen den Blumen steckt: Schön, daß Du wieder da bist. Ich rufe Dich morgen in meiner Pause an. Kuß, Dein L. Ich bin nur drei Tage lang weg gewesen. Seit wann gibt es im Januar Tulpen? Die Blüten verströmen einen leichten Duft nach Honig.

Ich fülle Wasser in meinen kleinen Espressokocher und male die Bohnen in der elektrischen Kaffeemühle. Es ist ein Ritual, mit dem ich den Tag am liebsten beginne, völlig unverständlich für Lars, der nichts anderes als grünen Tee trinkt. Wir sind sowieso sehr verschieden, bis auf die Tatsache, dass wir beide allein ein Kind großgezogen haben. Aber er kommt mit seiner pubertierenden Tochter gut zurecht, während das Verhältnis zwischen Thorsten und mir immer schon schwierig war. Am Wochenende in Berlin sind wir wieder schlimm aneinandergeraten.

Ich weiß nicht, wie Lars es schafft, sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Vielleicht liegt es daran, dass sein Leben eine so klare Struktur hat. Seit dem Ende seines Studiums hat er eine feste Stelle als Bibliothekar an der Uni-Bibliothek, mit geregelten Arbeitszeiten und sechs Wochen Urlaub im Jahr. Abends um neunzehn Uhr steht das Essen auf dem Tisch, sonnabends nachmittags besucht er seinen Vater im elterlichen Reihenhaus in Reinbek, und sonntagmorgens spielt er Tennis mit einem alten Schulfreund. Als Freiberuflerin habe ich nie ein solches Leben führen können und auch nicht führen wollen. Aber ich sehne mich manchmal nach mehr Gelassenheit.

 

Nachdem ich meinen Wagen in der Werkstatt abgeliefert habe, kaufe ich etwas Obst, Brot, Käse und Joghurt ein und frühstücke ausgiebig. Dabei geht mir wieder der Konflikt mit Thorsten durch den Kopf. Er ist seit Beginn seines Studiums im Oktober nicht mehr nach Hause gekommen, auch zu Weihnachten nicht. Lars war darüber fast noch erschrockener als ich, die schon resigniert hatte. Als es neulich darum ging, dass ich für ein paar Tage nach Berlin fahren wollte, um einige der Veränderungen seit dem 9. November fotografisch zu dokumentieren, ermutigte Lars mich, Thorsten wenigstens Bescheid zu sagen und zu versuchen, mich mit ihm zu verabreden. Ich gab mir einen Ruck, rief mehrmals in seiner Wohngemeinschaft an, bevor ich ihn endlich erreichte. Widerwillig erklärte er sich bereit, mich am Sonntagabend in einer Kneipe in Kreuzberg zu treffen.

Er kam eine halbe Stunde zu spät, und ich sah sofort, wie schlecht gelaunt er war. Meine Fragen zu seinem Geschichts- und Politikstudium, seinen Mitbewohnern und seinem Leben in Berlin in diesen aufregenden Monaten beantwortete er so einsilbig, dass ich mich beherrschen musste, nicht aus der Haut zu fahren. Irgendwann verfiel ich in Schweigen.

Thorsten blickte mich kein einziges Mal an, sondern spielte mit einem Stapel Bierdeckel. Er baute Häuser, so wie er es schon als Kind getan hat. Wenn sie eine gewisse Höhe erreicht haben, lässt er sie einstürzen.

Ich holte tief Luft. »Hör mal, kannst du nicht wenigstens …«

»Wieso tust du so, als ob du dich für mich interessieren würdest?«, unterbrach er mich. »Dir war doch dein Beruf immer wichtiger als ich.«

»Das ist nicht wahr.«

»Wenn es Oma nicht gegeben hätte, wäre ich garantiert in einem Internat gelandet.«

»Vielleicht«, antwortete ich so ruhig wie möglich. »Aber was hätte ich machen sollen? Ich musste Geld verdienen. Und dazu gehört in meinem Beruf nun mal das Reisen. Von deinem Vater, diesem arbeitslosen Musiker, war keine finanzielle Unterstützung zu erwarten.«

»Lass Lothar aus dem Spiel.«

»Das sagst du so einfach. Du hast keine Ahnung, wie schwierig die Situation für mich war.«

»Du hast immer gut verdient.«

»Das stimmt nicht. Als du klein warst, gab es Zeiten, in denen wir gerade genug zum Leben hatten. Aber was mir wirklich Kopfzerbrechen bereitete, war das Verhalten deines Vaters.«

»Habe ich nicht gerade gesagt, dass ich nicht über Lothar sprechen will?«

»In den ersten Jahren besuchte er dich noch alle paar Wochen«, fuhr ich mit lauter Stimme fort. »Aber dann verschwand er von einem Tag auf den anderen in die USA, und du fragtest mich ständig, warum er nicht mehr zu uns käme. Wie sollte ich dir erklären, dass er sich entschieden hatte, ein Leben ohne seinen Sohn zu führen?«

»Schrei nicht so. Ich bin nicht taub.«

Thorsten baute ein neues Kartenhaus, während ich die Fäuste ballte. Wieso gelang es meinem Sohn immer wieder, mich so zu provozieren?

»Ich wiederhole es noch einmal«, sagte er, ohne seinen Blick von den Bierdeckeln abzuwenden. »Hier geht es nicht um Lothar, hier geht es um dich. Versuch nicht, dich als Mutter aufzuspielen.«

»Was heißt hier ›mich als Mutter aufzuspielen‹? Ich bin deine Mutter.«

»Ich brauche keine Mutter. Ich habe achtzehn Jahre lang eine Oma gehabt, die wie eine Mutter für mich war.«

»Oma ist seit zwei Jahren tot.«

Thorsten presste die Lippen zusammen.

»Ich weiß, wie sehr du sie vermisst, aber wir müssen uns irgendwie zusammenraufen.«

»Wieso?«

Darauf fiel mir keine Antwort ein.

Ein paar Minuten später stand Thorsten auf und ging, ohne ein weiteres Wort. Ich versuchte nicht, ihn aufzuhalten.

Ursprünglich wollte ich noch am selben Abend nach Hamburg zurückfahren, aber dann hörte ich den Kneipenwirt sagen, dass Vertreter der Bürgerrechtsbewegung für den nächsten Tag um siebzehn Uhr eine Demonstration vor der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße angekündigt hätten. Da rief ich Lilo an und fragte sie, ob ich eine weitere Nacht bei ihr schlafen könne.

Hätte ich ohne die Auseinandersetzung mit Thorsten rechtzeitig von der Demonstration erfahren? Vermutlich nicht. Ich schiebe den Gedanken beiseite; die beiden Dinge haben nichts miteinander zu tun. Ich habe Glück gehabt, wie so oft in meinem Beruf. Die vielen vor der Stasi-Zentrale anwesenden Fotografen und Kameraleute waren von ihren Redaktionen beauftragt worden, Bilder zu liefern. Ich dagegen arbeite nicht im Tagesjournalismus, niemand erteilt mir konkrete Aufträge, irgendwo hinzufahren und zu fotografieren. Aber wenn mir starke Bilder gelingen, erreiche ich damit eine internationale Öffentlichkeit.

Ich gehe in mein Arbeitszimmer hinüber, räume den Schreibtisch leer und breite die Fotos vor mir aus: Eine Menschenmenge, die durch die Öffnung des Eingangstores zum geheimen Zentrum der Macht der DDR drängt, ein paar hilflos dreinblickende Mitarbeiter der Stasi, die niemanden aufhalten, Demonstranten, die sich ungläubig durch die Flure des Gebäudes schieben, Türen zu Büroräumen öffnen, Unterlagen durchwühlen und andere, die Möbel und Akten aus den Fenstern werfen.

Perfekt, stand im Fax der Agentur. European Pressphoto Agency. EPA.

Ich hoffe, du weißt, wie gut du es hast, dass du für die arbeiten kannst, meinte Lilo und grinste. Manchmal vergesse ich es, sagte ich und nahm sie in die Arme.

Klingelt das Telefon schon länger? Auf dem Weg ins Wohnzimmer stolpere ich beinahe über meine Stiefel. Ich greife nach dem Hörer, es ist Lars. Er hat es bereits ein paarmal versucht.

»Tut mir leid. Ich war so in meine Fotos vertieft, dass ich nichts gehört habe.«

»Und ich hatte schon Angst, dass dir etwas passiert sei. Gestern Abend hat es mehrere Unfälle gegeben, auch auf der Autobahn von Berlin nach Hamburg.«

»Habe ich nichts von mitbekommen. Ich bin aber auch erst um kurz vor halb eins in Berlin gestartet.«

»Bei dem Glatteis? Du hattest mir doch versprochen, nicht mehr so unvernünftig zu sein.«

»Es war eine Ausnahme.« Die Geschichte von dem toten Hasen werde ich für mich behalten. »Hast du von dem Sturm auf die Stasi-Zentrale gehört?«

»Ja, natürlich. Das war die erste Meldung in den Nachrichten.«

»Ich habe dort fotografiert, dann bei Lilo die Filme entwickelt und die Bilder an die Agentur gefunkt. Deshalb konnte ich nicht früher losfahren.«

»Du hattest also mal wieder den richtigen Riecher.«

»Es war purer Zufall. Ich erzähl’s dir heute Abend. Wann kommst du?«

»Gegen neun.«

»So spät?«

»Ich muss Andrea vom Handballtraining abholen und dann noch für eine Mathearbeit mit ihr üben.«

»Ah, ja.«

»Wie war’s mit Thorsten?«

»Nicht gut.«

»Oh, und ich hatte so gehofft, dass sich die Situation etwas entspannt hätte.«

»Im Gegenteil.«

»Dann hätte ich dich wohl besser nicht zu dem Treffen mit ihm überredet.«

»Doch, aber das Ganze ist ziemlich verfahren … vielen Dank übrigens für die schönen Tulpen.«

»Sie duften gut, oder?«

»Ja.«

»Ich freue mich auf heute Abend.«

»Ich mich auch.«

 

Ich habe mir gerade noch einen Espresso gekocht, als es an der Tür klingelt.

»Wer ist da?«, rufe ich in die Sprechanlage.

»Die Post. Ich habe ein Einschreiben für Katharina Elbracht.«

»Bitte in den dritten Stock.«

Ich erwarte kein Einschreiben.

Der Postbote überreicht mir einen wattierten Umschlag und lässt sich den Empfang quittieren. Ich schaue auf den Absender.

 

Manfred Thiele

Kollwitzstraße 84

DDR – 1020 Berlin

 

Ich habe nie von einem Manfred Thiele gehört. Und ich kenne niemanden in Ostberlin. Vor dem 9. November war ich nur selten in der DDR. Es hat mich immer in die Ferne gezogen.

In dem Umschlag befinden sich ein Brief von Manfred Thiele und ein mit einem blauen Geschenkband umwickeltes Bündel Briefe auf hellblauem Papier. Manfred Thiele schreibt mir, dass er nach dem Fall der Mauer in einem Westberliner Postamt meine Hamburger Adresse in Erfahrung gebracht hätte und mir nun beiliegende Briefe schicke, die Maria Elbracht in den Jahren 1946 bis 1947 seiner 1975 verstorbenen Mutter geschrieben hätte und die vielleicht für mich von Interesse seien.

Ich weiß, dass Mutters Schwester Ingrid in der DDR lebte. Sie hat mir irgendwann erzählt, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihr hätte, weil Ingrids Mann, ein SED-Bonze, dies nicht wünschte.

Ich zünde mir eine Zigarette an. Warum bin ich auf einmal so nervös? Ich lege das Bündel Briefe vor mich auf den Wohnzimmertisch und überlege einen Moment lang, ob ich es an Manfred Thiele zurückschicken soll. Mutter ist tot. Ich kann das, was sie damals an ihre Schwester geschrieben hat, nicht mehr mit ihr besprechen. Habe ich überhaupt das Recht, Briefe zu lesen, die nicht an mich gerichtet sind? Mutter war immer so diskret. Und sie hat so viel durchgemacht. Über die Vergangenheit und vor allem über den Krieg wollte sie nie sprechen. Von Vater habe ich eines Tages erfahren, dass die Großeltern 1943 im Feuersturm ums Leben gekommen sind. Für deine Mutter ist die Erinnerung daran unendlich schmerzhaft, sagte er. Sie ist damals fast wahnsinnig geworden. Ihre Eltern sind im Luftschutzkeller verbrannt, sie hat sie nicht einmal beerdigen können. Frag sie nicht danach. Habe ich deshalb dieses Thema immer gemieden? Und auch nie von Mutter wissen wollen, ob sie als junge Frau für oder gegen die Nazis war. Was sie von der Verfolgung der Juden mitbekommen hat. Ob sie wusste, was in den Konzentrationslagern geschah. Vater starb 1954 an den Folgen seiner Kriegsverletzungen, und danach war niemand mehr da, der mir meine Fragen hätte beantworten können. Mutter hat jahrelang Trauer getragen. Sie ist über den Verlust ihrer Eltern und ihres Mannes nie hinweggekommen. Das einzig Tröstliche für sie war die Tatsache, dass sie sich um Thorsten kümmern konnte. Ohne meinen Enkel wäre ich schon längst im Grab, pflegte sie zu sagen.

Ich überfliege noch einmal die Zeilen von Manfred Thiele. Warum glaubt er, dass diese Briefe aus der unmittelbaren Nachkriegszeit für mich von Interesse sind? Ich bin im Juli 1945 zur Welt gekommen und habe nie Kontakt zu meiner Tante gehabt.

Meine Neugier wächst. Diese Tante hat im anderen Deutschland gelebt, in dem Staat, über den wir jetzt jeden Tag Neues erfahren. Und Manfred Thiele ist immerhin mein Vetter. Vorsichtig löse ich das blaue Geschenkband und falte den ersten Brief auseinander.

 

Hamburg, den 20. Januar 1946

Liebe Ingrid!

Nun bist Du schon seit einer Woche in Berlin. Wie geht es Dir? Versorgt Ernst Dich auch gut? Vermißt Du uns? Katharina wächst und gedeiht. Heute hat sie zum ersten Mal versucht zu krabbeln.

Stell Dir vor, Johannes ist vor zwei Tagen aus der Gefangenschaft nach Hause gekommen. Wir sind überglücklich, auch wenn er noch sehr geschwächt ist und seine Kriegsverletzung ihm zu schaffen macht (er hat seinen linken Arm verloren). Aber Du weißt ja, wie er ist: Er läßt sich nicht unterkriegen. »Zum Glück bin ich Rechtshänder«, sagt er und lacht.

Johannes war natürlich hocherfreut, Katharina zu sehen und hat sie sofort in sein Herz geschlossen.

Liebste Ingrid, ich weiß, in was für einem tiefen Konflikt Du steckst. Ernst bietet Dir ein Dach über dem Kopf und finanzielle Sicherheit, was in diesen schwierigen Zeiten sehr viel bedeutet. Hast Du noch einmal mit ihm über alles gesprochen? Bleibt er dabei, daß er Dich nur ohne das Kind will?

 

In meinen Ohren beginnt es zu rauschen. Nur ohne das Kind? Das Kind? Das bin ich. Soll das heißen, dass diese Ingrid … Nein. Nein, das kann nicht sein.

Ich springe auf und laufe durch die Wohnung. Hin und her, und hin und her. In der Küche schließe ich die Augen. Ohne das Kind. Ist das alles nur ein schlechter Traum? Nein. Ich spüre, wie Übelkeit in mir aufsteigt. Warum bin ich meiner inneren Stimme nicht gefolgt und habe die Briefe zurückgeschickt? Ich öffne die Augen und starre auf die gelben Tulpen. Jetzt wird es immer ein Vorher und ein Nachher geben.

Ich gehe langsam zurück ins Wohnzimmer und zwinge mich weiterzulesen.

 

Wenn es die Dinge für Dich erleichtern würde, können wir die Kleine gerne ganz zu uns nehmen. Es wäre uns eine große Freude, Deine Tochter aufzuziehen. Du weißt, wie sehr wir uns seit Jahren ein Kind wünschen. Wir würden alles in unseren Kräften Stehende tun, um Katharina zu beschützen, sie glücklich zu machen und ihr eine gute Erziehung zukommen zu lassen.

 

Ich schlage mit den Fäusten auf den Tisch. Vierundvierzig Jahre und sechs Monate lang habe ich mit der Vorstellung gelebt, dass Maria und Johannes Elbracht meine leiblichen Eltern sind, und das soll jetzt plötzlich eine Lüge sein? Erlaubt sich dieser Manfred Thiele einen üblen Scherz? Ist er einer dieser verbitterten DDR-Bürger, der es einem Westler mal ordentlich heimzahlen will?

Ich gerate immer mehr in Rage, dabei weiß ich doch: Das ist Mutters Schrift. Es hat keinen Sinn, mich über Manfred Thiele zu ereifern.

 

Du bist noch so jung und hast schon so viel Kummer und Leid erfahren müssen. Letztlich ist es doch ein großes Glück, daß Du dem so viel älteren Ernst begegnet bist, der Dich liebt und beschützt und für Dich sorgen will. Was ich damit sagen möchte, ist, daß Du kein schlechtes Gewissen zu haben brauchst, wenn Du Dich entscheidest, Katharina bei uns zu lassen. Niemand wird Dir deshalb einen Vorwurf machen. Es sind schwere Zeiten, und Du wünschst Dir nur das Beste für Dein Kind.

Ich will Dich nicht drängen. Laß Dir also alles in Ruhe durch den Kopf gehen.

Es grüßt Dich von Herzen und umarmt Dich

Deine Dich liebende Schwester Maria

P.S. Ganz herzliche Grüße auch von Johannes

 

Im Februar 1946 geht es bereits um die Adoption, die ohne Probleme bewilligt wird, weil es sich bei Maria um die Tante des Säuglings handelt, und der Staat es begrüßt, wenn Kinder von Familienmitgliedern aufgezogen werden, gerade in einem Fall wie diesem, wo die leibliche Mutter minderjährig und der Vater unbekannt ist.

Vater unbekannt? Ich schlucke. Hat Ingrid sich eine Nacht lang mit jemandem vergnügt, den sie nie wiedergesehen hat? Oder ist sie … Das Blut schießt mir in den Kopf. Ist sie vergewaltigt worden?

Im Juli steht der Umzug nach Ostwestfalen bevor. Johannes hat in seiner Geburtsstadt Herford eine Stelle gefunden.

 

In Herford wird niemand erfahren, daß wir nicht Katharinas leibliche Eltern sind. Und sie ist noch so klein, daß sie sich an nichts erinnern wird.

 

Natürlich habe ich mich an nichts erinnert, aber schon als kleines Kind hatte ich manchmal ein seltsames Gefühl, das ich mir nicht erklären konnte. Wenn meine Eltern etwas sagten und mich dabei nicht ansehen konnten. Oder wenn plötzlich ein beklemmendes Schweigen bei Tisch entstand. Oder wenn sie abrupt das Thema wechselten.

 

Mama und Papa löffeln ihre Linsensuppe. Ich bin sieben. Heute hat unsere Lehrerin Anjas schöne, dunkle Haare bewundert, verkünde ich und rühre in meiner Suppe. Und da hat Anja gesagt: Die habe ich von meinem Vater. Na, so was, murmelt Papa. Und von wem habe ich meine blonden Locken? Mama und Papa schauen sich kurz an, dann senken sie die Augen. Von deiner Mama, antwortet Papa. Aber Mamas Haare sind braun, sage ich, und Locken hat sie nur, weil sie beim Friseur eine Dauerwelle bekommt. Früher waren Mamas Haare auch blond, sagt Papa unwirsch, und die Locken verlieren sich, wenn man älter wird. Das stimmt nicht, protestiere ich. Unser Musiklehrer ist schon alt, und er hat weiße, lockige Haare. Schluss jetzt, ruft Mama und holt den Schokoladenpudding, obwohl ich meine Linsensuppe noch gar nicht aufgegessen habe und es sonst erst Nachtisch gibt, wenn alle Teller leer sind.

 

Ich weiß genau, dass es dieses kurze Zögern gab. Habe ich damals zum ersten Mal gespürt, dass bei uns etwas nicht stimmt?

Der letzte Brief datiert vom März 1947:

 

Es fällt mir sehr schwer, Dir nicht mehr zu schreiben, aber wenn Ernst es von Dir verlangt, werde ich mich daran halten. Paß gut auf Dich auf, liebe Ingrid. Und vergiß eines nicht: Wenn Du jemals wieder Hilfe brauchen solltest, bin ich immer für Dich da.

Es umarmt und küßt Dich

Deine Schwester Maria

P.S. Denkst Du manchmal noch an Katharinas Vater? Oskar war so ein feiner Mensch.

 

Ich lehne mich zurück. So unbekannt ist der Vater also nicht. Mein Vater. Oskar.

Warum hat Ingrid darauf verzichtet, den Behörden zu sagen, wer der Vater ihres Kindes war? Wollte Oskar das Kind nicht? Oder hat er die Vaterschaft abgestritten? Aber dann stünde da nicht, Oskar war so ein feiner Mensch. Vielleicht war er verheiratet.

Ich gehe an den Aktenschrank und suche meine Geburtsurkunde heraus. Dort sind Maria und Johannes Elbracht als meine Eltern eingetragen.

Vor vielen Jahren habe ich irgendwo gelesen, dass Adoptivkinder neue Geburtsurkunden bekommen, in denen nur die Namen der Adoptiveltern verzeichnet sind. Aus der Geburtsurkunde ist somit nicht zu ersehen, dass es sich um ein adoptiertes Kind handelt. Und rechtlich sind diese Adoptivkinder nicht mehr mit ihrer Herkunftsfamilie verwandt.

Ich falte die Briefe wieder zusammen und stecke sie zurück in den Umschlag.

Ich werde niemandem erzählen, was ich heute erfahren habe.

Ich werde weiterleben wie bisher.

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2

Oskar steht am Küchenfenster und schaut zu den kahlen, braunen Hügeln hinüber. Wolken sind aufgezogen, bald wird es anfangen zu regnen. Soll er sich trotzdem auf den Weg machen? Wenn er Glück hat, ist es nur ein Sprühregen, a soft rain, wie die Iren sagen, und kein heftiger Schauer wie gestern, als er völlig durchnässt nach Hause kam. Fünf Stunden vorher war er bei strahlender Sonne zu einer Wanderung aufgebrochen und hatte geglaubt, er würde seine Regenjacke nicht brauchen. Dabei lebt er jetzt seit anderthalb Jahren hier und müsste wissen, dass sich das irische Wetter ständig ändert. Was sagte Frau Dr. Mende an seinem letzten Tag in der Schule zu ihm? Wollen Sie wirklich für immer auf die grüne Insel ziehen? Da regnet es doch ständig. Die Insel ist gar nicht so grün, wie Sie denken, entgegnete er ihr. Und es regnet zwar viel, aber nie lange; dafür ist es viel zu windig. Kein Vergleich mit dem Hamburger Dauerregen und dem Dauergrau im Winter. Ich würde eher in den Süden auswandern, meinte sie und schaute ihn besorgt an. Sonne und Wärme sind gut fürs Gemüt. Mein Gemüt mag es nicht so heiß, antwortete er. Aber es mag das irische Licht.

Als ob das Wetter ihm recht geben will, reißt in diesem Moment die Wolkendecke auf. Die Sonne kommt heraus und lässt die Hügel goldgelb schimmern. Oskar hört den Ruf eines Greifvogels, und dann entdeckt er ihn, hoch oben über dem Bach schwebend. Ein Turmfalke. Er holt sein Fernglas aus dem Schrank und beobachtet den Vogel, der in der Luft stillzustehen scheint. Deutlich sieht er den breit gefächerten, etwas nach unten geknickten Schwanz, die gelben Beine und die helle, nur leicht gesprenkelte Unterseite. Ein Männchen. Gleich wird es zum Sturzflug ansetzen und eine Wühlmaus, einen kleinen Vogel, einen Käfer oder einen Regenwurm erbeuten.

Er lässt das Fernglas sinken. Noch immer schwebt der Turmfalke an derselben Stelle. Ist seine Beute entkommen? Nein. Plötzlich stürzt er senkrecht herab und verschwindet im Gestrüpp am Ufer des Baches.

Oskar atmet langsam aus. Seit seinen Kindertagen, seitdem Vater auf ihren Wanderungen in den Alpen seinem Bruder Eduard und ihm Steinadler, Mäusebussarde, Habichte, Sperber und Turmfalken gezeigt hat und ihnen damals erklärte, welche Jagdgewohnheiten sie haben, wie sich das Gefieder von Männchen und Weibchen unterscheidet, wo sie brüten und wie sie ihre Jungen aufziehen, klopft sein Herz, wenn er einen Greifvogel am Himmel entdeckt.

Der Wind ist stärker geworden, er wird die Wolken vertreiben. Oskar beschließt, ein paar Käsebrote, zwei Äpfel und eine Flasche Wasser einzupacken und sich auf den Weg zu machen.

Von seinem alten, weiß gestrichenen Cottage bis zum Fuße des Berges braucht er nicht länger als zehn Minuten. Ist es Ihnen nicht zu einsam dort?, fragte Mrs. Donovan, die Besitzerin des Bed & Breakfast, in dem er wohnte, als er auf Haussuche war. Ziehen Sie doch in einen der schönen, modernen Bungalows mitten in Enniskerry. Da haben Sie alle Läden gleich um die Ecke. Und bis zur Kirche und zur Kneipe ist es auch nicht weit. Je einsamer, desto besser, lautete seine Antwort. Sie wissen nicht, was im Winter hier auf Sie zukommen kann, murmelte Mrs. Donovan, und wir werden alle nicht jünger. Ich habe Schneeketten, falls Sie das meinen. Da seufzte sie nur und verließ kopfschüttelnd das Frühstückszimmer.

Bei der ersten Steigung spürt Oskar, dass er nicht genug Luft bekommt. Vor ein paar Wochen war er schon einmal so kurzatmig. Und seit dem Aufwachen hat er wieder diese seltsamen Schmerzen im Hinterkopf. Passen Sie auf Ihren Blutdruck auf, lautete die Warnung von Dr. Schröder, als er in der Woche vor seinem Weggang aus Hamburg zum letzten Mal bei ihm war. Er ist viel zu hoch. Sie müssen sich in Irland möglichst schnell einen Arzt suchen, der Ihre Werte regelmäßig kontrolliert und Ihnen Ihre Tabletten verschreibt. Oskar nickte, obwohl er genau wusste, dass er in den Wicklow Mountains bestimmt nicht sofort zum Arzt gehen würde. Wenn der Schulstress erst einmal vorbei wäre, er den Umzug geschafft hätte und jeden Tag wandern könnte, würde sich der Blutdruck von selbst regulieren. Sie halten seit Jahren Ihr Gewicht und wirken sehr fit, sagte Dr. Schröder. Nur Ihre Gesichtsfarbe verrät dem Spezialisten, dass Sie ein Kandidat für einen Schlaganfall sind. Oskar fährt sich mit der Hand über die Stirn. Ärzte können sich auch irren.

In jenen Julitagen vor anderthalb Jahren schien die Sonne, es war warm, und abends wurde es nie vor zehn Uhr dunkel. Oskar war bisher meistens im Frühjahr oder im Herbst in Irland gewesen. Zwanzig Jahre lang hatte er Schulklassen in den Ferien nach Dublin begleitet und versucht, sie für das Land und seine Menschen zu begeistern. Manchmal war es ihm gelungen, manchmal nicht. Er kannte die ganze Insel, aber es zog ihn immer wieder in die Wicklow Mountains. Wenige Wochen vor seiner Pensionierung wurde ihm auf einmal bewusst, wie sehr er sich nach dieser Landschaft, nach der Ruhe und der Einsamkeit sehnte und dass es nichts gab, was ihn nach dem Ende seiner Lehrertätigkeit in Hamburg halten würde. Ans Auswandern knüpfte er die Hoffnung, fernab von seiner gewohnten Umgebung ein neues Leben beginnen zu können.

Oskar bleibt stehen und schaut ins Tal. Er hat nicht damit gerechnet, dass er in diesem neuen Leben immer häufiger von Erinnerungen an eine Zeit heimgesucht würde, von der er geglaubt hatte, sie endgültig hinter sich gelassen zu haben.

 

Am Jungfernstieg steigt er aus der Straßenbahn. Das Schneetreiben nimmt ihm die Sicht, doch den Weg zum Alsterpavillon würde er auch blind finden, so oft war er schon dort. Eigentlich müsste er jetzt fürs mündliche Abitur büffeln, das in der übernächsten Woche ansteht, aber er hat beschlossen, dass ihm ein paar Stunden Swing-Tanzen guttun werden. Vater hat er gesagt, dass er mit seinen Freunden Erich und Heinz für die Griechischprüfung lernen wolle. Wenn er wüsste, dass sein Sohn Swing tanzt, würde er ihm sofort eine Standpauke halten. Wie kannst du moralisch so tief sinken, dass du mit diesem verruchten Gesindel zur Musik unserer Feinde tanzt! Wenn du bei einer Razzia durch die Gestapo verhaftet wirst, geschieht dir das ganz recht. Swing-Tanzen ist nicht offiziell verboten, aber Oskar weiß, dass Swing-Tänzer schon in Arbeitslagern gelandet sind, weil sie als aufrührerisch gelten. Trotzdem lässt er sich davon nicht einschüchtern. Da können die Nazis die Swing-Musik noch so sehr verteufeln, für ihn ist es die einzig wahre Musik. Beim Swing-Tanzen kann er alles vergessen: die Schule, die Hitler-Jugend, den Krieg. Und das Gute ist: Die Leute, die hierherkommen, wollen mit den braunen Schreihälsen auch nichts zu tun haben. Vater darf die Kleidung, die sie als Swing-Boys tragen, natürlich nicht sehen; deshalb bewahrt Oskar seinen langen Mantel, den Hut, den weißen Schal und den Regenschirm im Keller auf und schleicht immer erst dann aus dem Haus, wenn er sicher ist, dass Vater in seiner Kanzlei arbeitet oder zu Hause am Schreibtisch sitzt und Akten studiert. Eduard weiß von Oskars Swing-Leidenschaft. Bei seinem letzten Fronturlaub hat er ihn im Keller erwischt. Aber er hat ihm versprochen zu schweigen. Und Oskar musste ihm versprechen, mit niemandem über das zu reden, was Eduard ihm von seinen Erlebnissen an der Ostfront erzählt hat. Dass er massenhafte Erschießungen von Juden mit angesehen habe.

»Für den Fall, dass sie mich zwingen wollen, so etwas zu tun, bringe ich mich um«, sagte Eduard.

Oskar wird schwindelig, wenn er daran denkt.

»Weißt du noch, wie es angefangen hat?« In Eduards Gesicht zuckte es. »Erst gab es Verbote, in jüdischen Geschäften zu kaufen, Juden verloren ihre Arbeitsstellen und ihre Wohnungen, und dann kam die Kristallnacht. Seit Herbst letzten Jahres werden Juden in den Osten deportiert. Du kennst doch den Platz an der Moorweidenstraße. Da ist der Sammelpunkt.«

»Ich weiß«, sagte Oskar. Anfang Dezember hat er von der S-Bahn aus die vielen Menschen dort stehen sehen. Das Bild lässt ihn seitdem nicht mehr los. Als er Vater davon berichtete, meinte der nur, dass im Osten Arbeitskräfte gebraucht würden.

»Aber es waren auch kleine Kinder dabei«, wandte Oskar ein.

Vater schaute ihn fassungslos an. »Na, sollen sie die etwa hier zurücklassen? Sie würden nur dem deutschen Staat auf der Tasche liegen.«

Oskar öffnet die Tür zum Alsterpavillon, hört den Swing und versucht, auf andere Gedanken zu kommen.

Er hält nach Erich und Heinz Ausschau und entdeckt sie auf der Tanzfläche, zusammen mit ihren Freundinnen Helene und Margot, beide in kurzen Röcken und mit hochgesteckten Haaren. Sie haben sich geschminkt und heißen hier Helen und Margo, weil sie sich, wie viele der Swing-Boys und -Girls, mit englischen Vornamen ansprechen. Erich und Heinz nennen sich Eric und Henry. Oskar hat sich darauf beschränkt, aus dem ›K‹ in seinem Namen ein ›C‹ zu machen.

»Swing Heil!«, rufen die vier ihm zu und winken.

Er winkt zurück. In der letzten Woche hat er mit einem Swing-Girl getanzt, das sich Lucy nannte und dessen richtigen Namen er nicht kennt. Doch Lucy scheint heute nicht da zu sein.

Während er sich noch nach ihr umschaut, betritt eine Gruppe von jungen Leuten den Alsterpavillon, darunter ein Mädchen mit hellblonden, lockigen Haaren, das Oskar hier noch nie gesehen hat. Es trägt eine Matrosenhose und hat sich die Lippen lila angemalt. Neugierig blickt es sich um und kann es offenbar kaum erwarten, mit dem Tanzen zu beginnen. Es greift nach der Hand eines der Jungen aus der Gruppe. In seinem karierten Sakko und mit der Zigarette im Mundwinkel wirkt er sehr lässig. Er drückt seine Zigarette aus, und gemeinsam stürzen sie sich auf die Tanzfläche. Sie tanzen gut, sehr gut sogar.

Oskar spürt einen kleinen Stich, als er sieht, wie vertraut die beiden miteinander sind. Doch dann tanzt das Matrosenmädchen nacheinander auch mit den anderen Jungen aus der Gruppe. Alle sind begeisterte Swing-Tänzer, aber keiner tanzt so ausgelassen wie das Mädchen. Ab und zu fährt es sich durch seine dichten, blonden Locken. Das ist keine Dauerwelle, wie viele Swing-Girls sie haben, diese Locken sind echt.

»Oscar, was ist los mit dir?«, hört er Erich in dem Moment hinter sich sagen.

Er dreht sich um. »Wieso?«

Jetzt taucht auch Heinz neben ihm auf und gibt ihm einen Knuff. »Warum tanzt du nicht? Denkst du etwa an die Griechischprüfung?«

»Nein«, murmelt Oskar.

»Und warum guckst du so ernst?«

»Ich war gerade in Gedanken.«

Die beiden schütteln den Kopf und kehren zu ihren Swing-Girls zurück, die kichernd in einer Ecke stehen und ihre Lippen nachziehen. Wo ist das Matrosenmädchen? Oskars Herz schlägt schneller. Ist es schon wieder weg? Nein, die Gruppe macht eine Pause. Das Mädchen lehnt neben dem Sakko-Boy am Tresen und zieht gerade an seiner Zigarette. Vielleicht sind die beiden doch ein Paar, überlegt Oskar. Und wenn schon. Mehr als Nein sagen kann sie nicht.

Langsam geht er auf das Mädchen zu. »Tanzt du mal mit mir?«, fragt er schüchtern und viel zu leise.

Es schaut ihn überrascht an. »Ja, gerne.«

Der Sakko-Boy grinst, er scheint nichts dagegen zu haben.

»Ich heiße Oscar«, sagt er auf dem Weg zur Tanzfläche. »Und du?«

»Ingrid.« Dabei rollt sie das ›R‹, als sei es ein englischer Name.

Sie fangen an zu tanzen. Ingrids Hand ist schmal, aber sie hat einen festen Griff. Schon bald vergisst Oskar alles um sich herum. Er hat es noch nie zuvor erlebt, dass er mit jemandem sofort den gleichen Rhythmus findet und sie ohne Worte auch die schwierigsten Drehungen schaffen. Es ist, als würden Ingrid und er seit Jahren zusammen tanzen. Sie scheint überhaupt nicht müde zu werden.

»Ich kenne niemanden, der so gut Swing tanzt wie du«, sagt er, als sie sich später bei einem Bier gegenübersitzen. »Wo hast du das gelernt?«

»Meine Freundin Elisabeth hat es mir beigebracht. Die tanzt noch besser als ich, aber ihre Eltern haben ihr verboten auszugehen, weil sie in der Schule so schlecht geworden ist.«

»Und wo übt ihr?«

»Elisabeths Eltern haben ein eigenes Haus mit einem schallisolierten Keller, nicht weit von mir entfernt, in Barmbek. Dort brauchen wir keine Angst zu haben, dass uns jemand hört. Seit einem Jahr üben wir jeden Tag.« Sie lächelt ihn verschmitzt an.

Erst jetzt bemerkt Oskar das Grübchen an ihrem Kinn. »Wie alt bist du?«

»Fünfzehn, und du?«

»Neunzehn.«

»Gehst du noch zur Schule?«

Er nickt. »Aber nicht mehr lange. Ich stecke mitten im Abitur. Und danach werde ich bestimmt sofort eingezogen.«

Ihr Lächeln verschwindet. »Wann ist das?«

»Wahrscheinlich in sechs Wochen, direkt nach Ostern.«

Ingrid seufzt. »Mein Bruder ist seit September ’39 an der Front.«

»Meiner auch.«

»Wir haben schon länger nichts von Gustav gehört. Meine Mutter weint jeden Abend.«

»Eduard hatte neulich Fronturlaub …«

»Hat er was erzählt, wie es ihm ergangen ist?«

Oskar wischt sich über die Stirn. »Ich …«

»Du darfst nicht darüber reden.«

»Nein. Er schreit nachts im Traum.«

Sie verfallen in Schweigen.

»Wenn nur der blöde Krieg nicht wäre und die Schweine einem das Leben nicht so schwer machen würden«, sagt Ingrid nach einer Weile.

»Nicht so laut«, murmelt Oskar.

»Am liebsten würde ich nach England auswandern«, flüstert sie. »Aber über so was kann ich mit meinen Eltern nicht sprechen, und sie dürfen natürlich auch nicht wissen, dass ich Swing tanze.«

»Mein Vater weiß es auch nicht.«

»Und deine Mutter?«

»Die ist schon lange tot.«

»Oh.« Ingrid schaut ihn erschrocken an.

»Ich war sieben, als sie starb.«

»Woran?«

»Tuberkulose.«

»Das tut mir leid.« Ingrid berührt kurz seine Hand, dann schaut sie zum Fenster hinaus.

Es schneit noch immer.

»Meine Schwester Maria weiß, dass ich Swing tanze«, sagt sie nach einer Weile. »Sie ist zwanzig Jahre älter und schon lange verheiratet. Jedes Mal, wenn sie mich sieht, warnt sie mich vor der Gestapo.«

»Hier passt der Bandleader auf. Er sitzt etwas erhöht, und sobald jemand von der Gestapo durch die Tür kommt, spielt er einen Trommelwirbel, und dann erklingt ein harmloser Walzer.«

Ingrid strahlt. »So tricksen wir sie aus.«

»Ja … mal sehen, wie lange das noch gut geht.«

An diesem Tag haben sie Glück, die Gestapo taucht nicht auf.

Oskar begleitet Ingrid bis nach Barmbek. Es hat aufgehört zu schneien. Sie stapfen durch die dichte Schneedecke, die alle Geräusche verschluckt.

An einer Straßenecke bleibt Ingrid plötzlich stehen. »Weiter kannst du nicht mitkommen«, sagt sie leise. »Meine Eltern dürfen dich nicht sehen.«

»Wann treffen wir uns wieder?«, fragt er. »Am nächsten Sonntag im Alsterpavillon?«

Sie nickt.

Er würde sie gerne küssen, doch da läuft sie schon weiter, ohne sich umzuschauen, und verschwindet in einem der Mietshäuser, die alle gleich aussehen.

 

Oskar blickt in den wolkenverhangenen Himmel. Fast achtundvierzig Jahre sind seitdem vergangen. Er wünschte, er könnte diesen Tag im Februar 1942 und alles, was dann folgte, vergessen. Aber es gelingt ihm nicht.

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3

Zwanzig vor neun. Lars wird bald hier sein.

Vor mir auf dem Wohnzimmertisch liegen die Briefe. Zwei Stunden lang habe ich es geschafft, sie nicht anzurühren. Dann habe ich sie wieder und wieder gelesen. Jetzt bin ich erschöpft.

Auf einmal sehne ich mich danach, mit Thorsten zu sprechen. Soll ich versuchen, ihn anzurufen? Seit seinem abrupten Aufbruch aus der Kneipe haben wir nichts mehr voneinander gehört.

Zögernd wähle ich seine Nummer. Ich lasse es neun- oder zehnmal klingeln und will gerade auflegen, als sich ein mir unbekannter Sven Schubert meldet.

»Hier ist Katharina Elbracht. Ist Thorsten zu Hause?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wann er zurückkommt?«

»Keine Ahnung.«

»Wären Sie so nett und würden ihm ausrichten, dass ich angerufen habe?«

»Okay.«

»Ich würde mich freuen, wenn er mich noch heute zurückrufen könnte.«

»Kann sein, dass es zwei oder drei Uhr wird. Vielleicht kommt er auch gar nicht.«

Wo treibt er sich denn mitten in der Woche so lange herum?, liegt es mir auf der Zunge zu fragen.

»Das macht nichts«, sage ich stattdessen. »Es … ist dringend.«

»Ich schreib’s ihm auf.«

»Danke.«

Warum habe ich gesagt, dass es dringend sei? Muss Thorsten wirklich erfahren, dass Maria uns all die Jahre belogen hat und sie nicht seine Großmutter, sondern nur eine Großtante war? Will ich mich damit bei ihm einschmeicheln? Er wird mir antworten, dass ihm das völlig gleichgültig sei und er sich das Andenken an seine geliebte Oma dadurch nicht beschmutzen lasse.

Ich höre, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird, und lege schnell die Briefe in meinen Aktenschrank.

»Katharina?«

»Ja …«

Ich richte mich auf, entschlossen, mir nichts anmerken zu lassen.

Im Flur nimmt Lars mich in die Arme. Meine Kehle schnürt sich zu.

»Wieso ist es hier so dunkel?«, fragt er und gibt mir einen Kuss.

»Ich … habe im Wohnzimmer gelesen.«

»Aber du hast hoffentlich zwischendurch etwas gegessen.«

»Ich hatte keinen Hunger.«

Er knipst das Licht an und nimmt mein Gesicht in seine Hände. »Was ist los?«

»… nichts.«

»Soll ich dir ein Rührei machen?«

Ich nicke und folge Lars in die Küche. Während er mir von Andreas Sechs in der letzten Mathearbeit und ihren Erfolgen beim Handball erzählt, beobachte ich ihn, wie er mit ruhigen, sicheren Bewegungen die Eier verquirlt, Milch, Salz und Pfeffer hinzufügt und Butter in der Pfanne zerlässt. Er wirkt kein bisschen müde, im Gegensatz zu mir. Sein schmales Gesicht ist entspannt, er sieht jünger aus als neununddreißig. Plötzlich spüre ich den Altersunterschied zwischen uns, zum ersten Mal, seitdem wir uns kennen.

»Woran denkst du?«

Ich räuspere mich. »Daran, dass du fünf Jahre jünger bist als ich.«

»Das hat bisher nie eine Rolle gespielt.«

»Irgendwann ist es nicht mehr zu übersehen.«

»Wir sind seit drei Jahren zusammen. Warum fällt es dir ausgerechnet heute auf?«

Ich zucke mit den Achseln.

Lars bestreicht eine Scheibe Schwarzbrot mit Butter, füllt das Rührei auf und reicht mir den Teller. »Was willst du trinken? Ein Bier?«

»Nein.« Ich fange an zu essen. Es schmeckt mir, wie immer, wenn Lars gekocht hat.

»Dann wenigstens ein Glas Wasser. Ich wette, du hast heute wieder zu wenig getrunken.«

»Meinetwegen.«

Er schenkt uns ein und setzt sich mir gegenüber. »Und jetzt erzähl.«

»Was?«

»In den letzten drei Tagen ist irgendetwas passiert. So habe ich dich noch nie erlebt.«

Ich esse schweigend weiter. In meinem Kopf dröhnt es. Die Briefe, diese verfluchten Briefe.

»Hat es einen richtigen Bruch zwischen Thorsten und dir gegeben?«

Ich hole tief Luft. Thorsten. Natürlich. Wieso bin ich nicht von selbst darauf gekommen, dass ich Lars von dem Treffen in der Kneipe berichten könnte? Das wird mich von den Briefen ablenken.

»Er kam zu spät und hatte von Anfang an äußerst schlechte Laune.«

Lars hört mir aufmerksam zu. Ich sehe ihm an, wie besorgt er ist.

»›Versuch nicht, dich als Mutter aufzuspielen‹, ist ein harter Satz«, murmelt er.

»Das finde ich auch.«

»Was willst du jetzt unternehmen?«

»Ich habe vorhin mit jemandem aus seiner Wohngemeinschaft telefoniert und darum gebeten, dass Thorsten mich zurückruft.«

»Gut. Und wenn er sich nicht meldet, schreib ihm einen Brief.«

»Mal sehen.«

Lars legt mir die Hand auf den Arm. »Du darfst es nicht wieder zu einem wochenlangen Schweigen zwischen euch kommen lassen.«

»Ich kann meinen Sohn nicht zwingen, den Kontakt zu mir aufrechtzuerhalten.«

»Nein. Trotzdem ist es wichtig, ihm zu signalisieren, dass du für ihn da bist und dich von seiner schroffen Art nicht abschrecken lässt.«

»Aber das stimmt nicht«, platzt es aus mir heraus. »Ich finde sein Verhalten völlig inakzeptabel und wünsche mir manchmal, dass ich …«

»Was?«

»Dass ich einfach meine Ruhe habe und nicht diesen ständigen Beleidigungen und Anfeindungen ausgesetzt bin. Womit habe ich das verdient? Ich bin keine schlechte Mutter. Ich habe getan, was ich konnte.«

Lars seufzt. »Ich war fest davon überzeugt, dass sich eure Beziehung verbessern würde, wenn Thorsten auszieht und ihr etwas Abstand voneinander gewinnt.«

»Du bist bei allem immer sehr optimistisch.«

»Aber du darfst dich mit dieser Situation nicht abfinden.«

»Das sagst du so einfach. Im Moment steht mir nicht der Sinn danach, Thorsten hinterherzulaufen.« Ich schiebe meinen leeren Teller beiseite und stecke mir eine Zigarette an. »Jetzt will ich nicht mehr über ihn reden. Ich erzähl dir lieber, was ich beim Sturm auf die Stasi-Zentrale erlebt habe.«

Lars runzelt die Stirn. Er mag es nicht, wenn ich unvermittelt das Thema wechsele.

Während ich ihm ausführlich den Verlauf des Abends in Berlin schildere, sehe ich, dass er mit seinen Gedanken woanders ist.

Um halb elf verabschiedet er sich, früher als sonst und auf merkwürdig kühle Weise.

Thorsten meldet sich nicht.

 

Mitten in der Nacht werde ich wach. Hat das Telefon geklingelt? Ich lausche. Nein, wahrscheinlich habe ich es geträumt.

Ich stehe auf, gehe ins Wohnzimmer und hole die Briefe aus dem Aktenschrank. Soll ich sie verbrennen, um sie nicht immer wieder lesen zu müssen? Ich ringe mit mir. Noch nie habe ich irgendein Dokument vernichtet. Aber handelt es sich bei diesen Briefen um Dokumente? Egal. Es sind Texte, die etwas Zerstörerisches an sich haben.

Ich nehme sie mit in die Küche. Wenn ich Blatt für Blatt über der Spüle verbrenne, kann nichts passieren.

Ich zünde ein Streichholz an und greife nach dem ersten Brief.

Doch irgendetwas lässt mich innehalten. Ich sehe Mutter vor mir, die keine Kinder bekommen konnte und zweimal in ihrem Leben die Kinder anderer großgezogen hat.

 

Ich besuche sie jeden Tag auf der Intensivstation. Die Ärzte meinen, es sei ein Wunder, dass meine Mutter den Unfall überlebt habe. Eine kleine, zierliche Frau wie sie, einundachtzig Jahre alt und so wackelig auf den Beinen. Der Fahrradfahrer hat sie voll erwischt. Drei Tage lag sie im Koma, dann hat sie das Bewusstsein wiedererlangt. Sie kann sogar wieder sprechen, berichtet mir die Stationsschwester. Ich betrete das Zimmer, Mutter dreht den Kopf und schaut mich an, ihre Augen sind voller Angst. Sie öffnet den Mund, will mir etwas sagen. Ich streiche ihr über die Haare. Ganz ruhig, Mama. Du musst nicht reden. Sie beginnt zu weinen. Einen Tag später ist sie gestorben.

 

Jetzt weiß ich, was sie mir sagen wollte. Aber sie hatte nicht mehr genug Kraft.

Ich lege die Briefe zurück in den Aktenschrank.

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