Fremde Schwestern - Renate Ahrens - E-Book
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Renate Ahrens

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Beschreibung

In ihrer Kindheit waren sich die Schwestern Franka und Lydia einmal sehr nah – bis es zum Bruch kam. Eines Tages steht Lydia jedoch todkrank mit ihrer kleinen Tochter Merle vor Frankas Tür. Widerwillig kümmert sich Franka um ihre Nichte, die die Frauen zwingt, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch dann flieht Lydia plötzlich ans andere Ende der Welt ...

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Renate Ahrens

Fremde Schwestern

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

In ihrer Kindheit waren sich die Schwestern Franka und Lydia einmal sehr nah – bis es zum Bruch kam. Eines Tages steht Lydia jedoch todkrank mit ihrer kleinen Tochter Merle vor Frankas Tür. Widerwillig kümmert sich Franka um ihre Nichte, die die Frauen zwingt, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch dann flieht Lydia plötzlich ans andere Ende der Welt...

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. KapitelEpilogLeseprobe »Der andere Himmel«
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Für meine Mutter

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Prolog

Lydia hat den Eisring ganz für sich allein. Es ist kalt. Ich sehe ihren Atem. Sie läuft schnell, ihre Bewegungen fließen ineinander, geschmeidig und leicht. Jetzt dreht sie eine Pirouette und gleich darauf noch eine. Warum bin ich hier? Sie tanzt. Ich schaue zu. Es ist immer dasselbe. Plötzlich verliert sie das Gleichgewicht. Sie taumelt und stürzt, schlägt mit dem Hinterkopf auf. Ich schreie, will zu ihr und laufe gegen eine Wand aus Glas. Laufe hin und her. Wo endet die Glaswand? Sie endet nicht. Ich trommele mit den Fäusten gegen das Glas. Es lässt sich nicht zerschlagen. Lydia liegt reglos am Boden. Das Eis um ihren Kopf herum färbt sich dunkelrot.

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1.

Ich höre die Schritte winziger Wesen, Hunderte, Tausende. Sie kommen näher, immer näher. Mein Atem stockt, ich richte mich auf. Es ist dunkel, Jan rührt sich nicht.

Plötzlich spüre ich einen kühlen Luftzug im Rücken, und da weiß ich, es ist Regen, der erste Regen seit fast zwei Monaten. Langsam gleite ich wieder unter meine Decke, lasse mich von dem Geräusch in den Schlaf zurücktragen.

Später habe ich oft an diesen Moment gedacht, wie der Regen gleichförmig gegen die Fensterscheiben schlug und ich noch nichts ahnte von dem, was sich an diesem Tag ereignen würde.

 

Das Klingeln an meiner Wohnungstür lässt mich hochschrecken. Zwanzig nach sechs. Wer das denn sei, um diese Zeit, murmelt Jan.

Ich fröstele, als ich aufstehe und mir den Bademantel überziehe. Es klingelt wieder, ein penetrantes, ununterbrochenes Klingeln.

Ich reiße die Tür auf. Vor mir steht ein kleines Mädchen, durchnässt, in abgerissener Kleidung, ohne Schuhe.

»Das hat aber lange gedauert«, sagt es und will an mir vorbei in die Wohnung schlüpfen.

»Halt!« Ich schiebe die Tür ein Stück zu. »Wer bist du? Was willst du hier?«

»Erkennst du Merle nicht wieder?«, fragt da eine singende Stimme von unten.

Lydia. Ich schließe die Augen. Ein paar Sekunden lang fühle ich nichts als das schnelle Pochen in meinem Hals.

»Freust du dich gar nicht?«

Ich öffne die Augen und blicke in Lydias schmales Gesicht. Abgezehrt und blass sieht sie aus, fast so wie damals, als sie zum ersten Mal in die Klinik eingeliefert werden musste. Ihre nassen Haare hängen in langen Strähnen auf ihren Schultern. Sie trägt eine fleckige, hellrote Hose und ein verblichenes T-Shirt. Um den Mund hat sie den bekannten spöttischen Zug.

»Es ist zwanzig nach sechs.«

»Ich dachte, eine fleißige Drehbuchautorin wie du steht früh auf.«

»Du weißt, dass ich nie früh aufstehe.«

»Wer ist da?«, höre ich Jan fragen.

Ich drehe mich um und sehe sein Gesicht in der halbgeöffneten Schlafzimmertür.

»Meine Schwester und ihre Tochter.«

Er zögert. Dann schließt er die Tür wieder.

Ich überlege noch, ob ich ihm dafür dankbar bin oder nicht, als Merle verkündet, dass sie mal müsse. Tante Franka werde ihr bestimmt gerne zeigen, wo das Klo sei, antwortet Lydia. Ich will etwas entgegnen, doch da sind sie schon in meiner Wohnung, und ich laufe mit der nach Schweiß und saurer Milch riechenden Merle ins Badezimmer. Es kommt mir plötzlich sehr sauber vor, mit seinen weißen Kacheln, dem Glasregal und den großen Spiegeln.

Bevor ich den Raum wieder verlassen kann, zieht Merle ihre Unterhose herunter. Ich starre auf dieses dreckige Stück Stoff.

»Was ist?«, fragt Merle.

Es könnte Lydias Kindergesicht sein, das mir da entgegenblickt, trotzig und traurig zugleich. Ich schlucke und gehe in den Flur zurück.

Dort steht Lydia, auf ihren Rucksack gestützt. Hinter ihr an der Wand die Radierung einer Flusslandschaft. Lydia hat sie als spießig bezeichnet, als ich sie damals, nach Mutters Tod, gekauft habe. Um ihre nackten Füße herum hat sich eine Pfütze gebildet.

»Weißt du, was ich nicht verstehe?« Ich möchte sie an den Schultern packen und schütteln.

Ein gedehntes Nein ist die Antwort. Ich kenne es, dieses Nein. Es interessiert sie nicht, was ich sage.

»Wenn du dich so vernachlässigst, ist das deine Angelegenheit. Aber dass du deine Tochter verkommen lässt …«

»Nur kein Neid«, unterbricht sie mich.

»Das hat mit Neid nichts zu tun.«

»Willst du mir nicht wenigstens einen Tee anbieten und Merle ein Glas Milch?«

Nein, das will ich nicht, hätte ich am liebsten geschrien. Doch anstatt zu schreien, balle ich nur die Hände zu Fäusten.

»Und gegen ein Handtuch hätten wir auch nichts einzuwenden. Du siehst ja, wie nass wir sind. Ich denke, dass ich das von meiner Schwester verlangen kann, oder? Meiner einzigen Schwester.«

Wortlos hole ich eines meiner alten Handtücher aus dem Wäscheschrank, reiche es Lydia, ohne sie anzusehen und gehe in die Küche, um Wasser in den Kessel laufen zu lassen. Ich gieße Milch in ein Glas und stelle einen Becher auf den Tisch.

»Ich nehme gern Kandiszucker.« Lydia lehnt in der Tür und lächelt mich an.

»Habe ich nicht.«

»Schade, dein Haushalt war immer so perfekt.«

»Was hat Kandiszucker mit einem perfekten Haushalt zu tun?«

»Zu ungesund?«

»Du hast es erfasst.«

In diesem Augenblick kommt Merle in die Küche gerannt und verlangt nach einem Wurstbrot. Ich deute auf die Spüle. Sie behauptet, ihre Hände bereits gewaschen zu haben. Als ich sie sehen will, höre ich Lydias scharfes Wieso. Ob ich ihrer Tochter etwa nicht glauben würde.

»Was Sauberkeit angeht, glaube ich keinem von euch.«

Sie rümpft die Nase und beginnt, Merles Haare trockenzureiben. »Du hast dich auch kein bisschen verändert.«

»Ihr könnt gerne gleich wieder gehen.«

»Nein!«, ruft Merle, »ich hab Hunger!«

»Tante Franka hat sicher was Leckeres zu essen für dich«, sagt Lydia und schaut mich aus ihren halbgeöffneten Augen an. »Und wie du dir vielleicht denken kannst, esse ich auch gern eine Scheibe Brot, vielleicht mit Camembert oder gekochtem Schinken.«

Ihre Stimme hallt in meinen Ohren nach, als wolle sich dieser volle Klang in die Ohrwindungen einschmeicheln und dort festsetzen. Was hat sie bloß für eine schöne Stimme, deine Schwester, sagten die Lehrer immer voller Bewunderung. Daraus sollte sie später mal etwas machen. Natürlich hat sie nichts daraus gemacht.

An die Spüle gelehnt, beobachte ich, wie Merle sich auf das Brot stürzt, es nicht mal mit Butter bestreicht, sondern nur etwas Salami auf die Scheibe legt und sie hinunterschlingt. Und auch Lydia kann ihr Camembertbrot gar nicht schnell genug essen. In wenigen Minuten haben sie sechs Scheiben verschlungen.

»Wenn es dir nichts ausmacht, hätten wir gern noch mehr«, sagt Lydia und lächelt.

Ich schneide vier weitere Scheiben ab. Gleichzeitig ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich lieber einem Penner ein Frühstück in meiner Küche servieren würde als Lydia und ihrer Tochter.

Wann sie zuletzt etwas gegessen hätten, frage ich schließlich. Das sei schon eine Ewigkeit her, stöhnt Merle. Zuletzt sei es etwas knapp gewesen, erklärt Lydia.

»Wo kommt ihr überhaupt her?«

»Aus Nepal!«, ruft Merle stolz. »Da gibt es riesige Berge.«

Lydia lächelt. Es sei eine wunderbare, ganz und gar einzigartige Landschaft. Und dieses Licht. Ein Traum für eine Malerin. Ob sie von sich spreche?, frage ich. Ja, allerdings, entgegnet Lydia, auch wenn ich ihre Kunst nie verstanden hätte. Welche Kunst, frage ich.

»Meine Mama malt tolle Bilder!«, ruft Merle.

Ich hole tief Luft und beschließe, das Thema zu wechseln. Nepal sei eines der ärmsten Länder der Welt. Ich könne mir nicht vorstellen, wie sie dort gelebt hätten. Nein, das könne ich sicher nicht, sagt Lydia und lässt ihre Blicke über die Einbauküche aus Stahl, Glas und Marmor wandern, die ich mir ebenfalls nach Mutters Tod zugelegt habe und die noch immer wie neu aussieht. Sie habe im Laufe der Jahre gelernt, sich auf innere Werte zu besinnen, erklärt sie. Das sei gut für die Seele. Aber so eine wie ich, die fürs Fernsehen schreibe, habe vielleicht gar keine Seele mehr. Ich denke an Merle und frage mich, inwieweit es gut für die Seele ist, einen Schmutzlappen als Unterhose zu tragen.

»Scheint dir nichts auszumachen«, sagt Lydia.

»Auf deine Art von Seele kann ich verzichten.«

»Bist du eine Hexe?«, fragt Merle misstrauisch.

Lydia nimmt sie auf den Schoß und flüstert ihr etwas ins Ohr. Merle blickt erschrocken zu mir herüber.

»Was ist?«, frage ich.

Keine Antwort, nur dieses Starren, in dem jetzt auch etwas Feindseliges liegt.

»Vor ein paar Jahren hast du mir mal eine Postkarte aus Südafrika geschrieben«, sage ich nach einer Weile.

»Ich dachte, du freust dich über ein kleines Lebenszeichen.«

»Du wolltest Oliven anbauen und hattest schon eine Farm in Aussicht.«

»Wann waren wir in Südafrika?«, fragt Merle.

»Das ist lange her. Du warst noch ganz klein.«

»Und warum sind wir nicht geblieben?«

»Weil wir mit Jeff zusammen sein wollten, und Jeff wollte nach Indien.«

»In Indien wart ihr auch?«

Lydia nickt. »Drei Jahre lang.«

»Da haben wir in einer kleinen Hütte gewohnt, und ich hatte ein Äffchen«, ruft Merle. »Indien ist schön.«

»Hast du eine Zigarette für mich?«, fragt Lydia.

»Nein, ich rauche schon lange nicht mehr.«

Wieder schweigen wir alle drei. Lydia schenkt sich Tee nach, Merle malt mit dem Zeigefinger Kreise auf den Tisch, und ich blicke hinaus in den Regen.

Es herbstet, hätte Mutter an einem solchen Morgen verkündet und dann entschlossen die Lippen zusammengepresst. Lydia und ich haben als Kinder immer gegen diese Bemerkung protestiert, weil Herbst das Ende der Kniestrümpfe bedeutete und uns beiden nichts verhasster war, als nach einem langen Sommer in die dunklen, kratzenden Strumpfhosen gesteckt zu werden. Mutter beendete jede Diskussion mit den Worten: Wenn ihr erwachsen seid, werdet ihr mir noch dankbar sein. Welche junge Frau plagt sich schon gern mit Blasenentzündungen?

Ich merke, dass ich auch hungrig bin. Gleichzeitig ekelt mich die Vorstellung, mit Lydia und Merle an einem Tisch zu sitzen. Ich werde später, wenn die beiden weg sind, in Ruhe mit Jan frühstücken.

Soweit ich mich erinnern kann, habe ich niemals an einer Blasenentzündung gelitten, obwohl ich unzählige Male auf der Schultoilette die Strumpfhosen gegen Kniestrümpfe eingetauscht habe. Lydia jedoch ließ, mit oder ohne Strumpfhosen, keine Krankheit aus, weshalb Mutters Vorsicht eigentlich ihr und nicht mir galt. Ich nahm es Mutter übel, dass sie für Lydia und mich dieselben Verbote verhängte, aber noch mehr nahm ich es Lydia übel, dass sie so kränklich war und sich deshalb immer alles um sie drehte.

»Wohnt der Typ hier, mit dem du vorhin gesprochen hast?«, fragt Lydia plötzlich in die Stille hinein.

»Wieso?«

»Ist dir die Frage zu indiskret?«

»Es geht dich nichts an, wie ich lebe.«

»Vielleicht doch. Merle und ich stellen uns vor, ein paar Wochen bei dir zu wohnen.«

Wie bitte? Mir bricht der Schweiß aus.

»Merle ist gerade sieben geworden. Es wird Zeit, dass sie in die Schule kommt.«

»Da hast du allerdings recht. Miete dir eine Wohnung und melde Merle in einer Grundschule an.«

»Wir haben kein Geld, um eine Wohnung zu mieten«, sagt Merle und zieht weiter ihre Fingerkreise.

»Wenn deine Mutter ihr Erbe nicht in Südafrika, Indien und sonst wo auf den Kopf gehauen hätte, wäre sie jetzt in der Lage, für euch eine Wohnung zu mieten.«

»Auf deine Moralpredigt kann ich verzichten«, sagt Lydia und steht auf.

»Wie wär’s, wenn du dir zur Abwechslung mal einen Job suchen würdest?«

»Mama kann nicht arbeiten!«, ruft Merle. »Mama ist krank!«

»Krank? Wie praktisch. Vor allem, wenn man eine Schwester hat, die Geld verdient und bei der man einfach so auftauchen kann und hoffen, dass sie einen durchfüttern wird.«

»Komm, wir gehen«, sagt Lydia und greift nach Merles Hand.

»Wohin?«

»Das werden wir schon sehen. Hier sind wir nicht willkommen.«

Merle wirft mir einen wütenden Blick zu. »Wenn Mama stirbt, bist du schuld.«

Ich schlage vor, zum Sozialamt zu fahren, um herauszufinden, was es für Unterkünfte gibt. Irgendwo würden sie sicher was finden.

Lydia schweigt und öffnet die Tür. Dann dreht sie sich noch einmal zu mir um. »Ich würde an deiner Stelle mal darüber nachdenken, warum du so zynisch, so verbittert geworden bist. Ein Mensch wie du kann nicht glücklich sein. Auch wenn du dich hier mit noch so viel Komfort umgeben hast.«

Ich will die Tür hinter ihnen schließen, als Lydias Beine plötzlich nachgeben und sie in sich zusammensackt.

»Mama!« Merle wirft sich über ihre Mutter und rüttelt an ihrer Schulter. »Mama, steh auf!«

Im ersten Moment denke ich, dass Lydia nur simuliert, so wie früher, wenn sie eine Ohnmacht vortäuschte, um nicht in die Schule zu müssen. Dann sehe ich Blut zwischen ihren Lippen. Und Merle sieht es auch.

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2.

Ich steuere auf eine Bank zu. Merle folgt nur zögernd.

Ein Notarztwagen fährt zur Einfahrt des zentralen Aufnahmedienstes, wo auch der Wagen mit Lydia gehalten hat.

Lydia am Tropf, Mund und Kinn voller Blut, die Augen geschlossen.

»Komm, Merle.« Ich klopfe auf den Platz neben mir.

Sie ist unter einem Baum stehen geblieben und schaut auf ihre Füße. Ich rufe noch einmal ihren Namen. Sie rührt sich nicht.

Nehmen Sie Ihre Nichte mit raus, hier kann sie nicht bleiben. Nichte. Meine. Ich habe Merle zuletzt gesehen, als sie zwei Jahre alt war. Für eine halbe Stunde.

Jan will uns etwas zu trinken holen. »Magst du Orangensaft?«, fragt er Merle.

Sie reagiert nicht. Jan verschwindet in Richtung Cafeteria.

Tuberkulose, Hepatitis, Aids. Keine Ahnung. Auch die Ärzte haben keine Ahnung. Ich halte alles für möglich. Wie hat sie sich das Geld für die Rückflüge nach Hamburg besorgt? Ob sie in Nepal jemanden angebettelt hat, einen deutschen Geschäftsmann in einem der größeren Hotels in Kathmandu oder einen Trekking-Touristen auf dem Weg zum Himalaja? Lydia hat immer gewusst, wie man die Menschen ausnimmt. Es wäre ihr zuzutrauen, dass sie ihre Schwester in Hamburg als Bürgin genannt hat und demnächst jemand mit einer größeren Geldforderung vor mir steht.

Ich mache ein paar Schritte auf Merle zu. Sie weicht sofort zurück.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«

»Mama sagt, du hast kein Herz.«

»Wie bitte?«

Sie wendet sich von mir ab. Ich starre auf den kleinen, geraden Rücken und spüre, wie die alte Wut in mir hochsteigt. Herzlos? Allenfalls ihre Mutter.

Jan bringt Kaffee und Saft. Er hilft Merle, die Papierhülle von ihrem Strohhalm abzuziehen. Er spricht zu ihr, leise. Sie antwortet nicht, aber sie dreht ihm auch nicht den Rücken zu.

Wir warten auf die ersten Testergebnisse. Hat eine Klinik einen Sozialdienst, der ein Kind vorübergehend irgendwo unterbringt?

Jan reicht mir einen Becher mit Kaffee.

»Wo ist Merle?«

Er zeigt auf einen Busch. Dort hockt sie und trinkt ihren Saft. »Wenn ich mir vorstelle, sie hat gesehen, wie ihre Mutter Blut spuckt …«

»Mich interessiert vor allem die Frage, was mit ihr passiert. Ich muss mich gleich erkundigen, wer in solchen Fällen zuständig ist.«

Jan zieht seine Augenbrauen hoch. Sonst nichts.

Ich trinke meinen Kaffee aus und stehe auf.

»Warte …«, er fährt sich mit der Hand über die Stirn. »Willst du sie nicht mit zu dir nehmen? Wenigstens über das Wochenende?«

»Nein.«

»Sie ist deine Nichte!«

»Bitte misch dich nicht ein. Ich habe meine Gründe.«

»Oder ihr kommt zu mir. Merle könnte in Gregors altem Zimmer schlafen.«

»Es geht nicht!«

Ich mache mich auf den Weg zum Informationsschalter. Vielleicht glaubt auch Jan, ich sei herzlos. Aber ich kann es ihm jetzt nicht erklären, warum für Lydia und Merle andere Maßstäbe gelten.

Im Pförtnerhaus zeichnet man mir auf einem Plan ein, wo sich der Sozialdienst befindet. Anmeldung montags bis freitags neun bis zwölf. Jetzt ist es Viertel nach elf.

Ich gehe durch eine Ladenpassage, gerade entdecke ich das Schild Sozialdienst, da sehe ich Jan mit Merle an der Hand auf die Cafeteria zugehen. Diese Selbstverständlichkeit, mit der er das Kind an der Hand hält. Sein Sohn war längst erwachsen, als ich Jan vor vier Jahren kennenlernte. Er hat ein Kind großgezogen. Ich nicht. Das hat bisher keine Rolle gespielt.

Ich verstecke mich in einer Nische. Die beiden laufen an mir vorbei, jeder mit einem Eis in der Hand.

Mama sagt, du hast kein Herz. Wenigstens über das Wochenende.

Ist es mir unangenehm, vor Jan als eine Frau dazustehen, die mit einem Kind nicht zurechtkommt? Wir haben am Anfang unserer Beziehung eine klare Abmachung getroffen. Keine Kinder. Mich würde es überfordern, ein Kind zu erziehen, und Jan fällt es nicht schwer, darauf zu verzichten. Er ist bereits Vater. Inzwischen hat sich das Thema Kind mehr oder weniger von selbst erledigt. Das ist erleichternd. Obwohl, es gibt noch Situationen, in denen ich mich frage, warum ich mich niemals nach einem Kind gesehnt habe. Mutter zu sein, mit dieser Vorstellung habe ich immer nur das Gefühl einer großen Anstrengung verbunden.

Als Jan mich kommen sieht, zeigt er auf Merle, die vor ihrem Busch hockt und damit beschäftigt ist, Murmeln in ein Loch rollen zu lassen. »Wir haben uns ein Eis geholt, und ich habe ihr was zum Spielen besorgt.«

»Hat sie mit dir gesprochen?«

»Nein. Die Schwester war übrigens eben hier. Vor morgen früh werden keine Testergebnisse vorliegen.«

Ich schweige.

»Sie wollte auch wissen, was mit Merle geschieht.«

»Ist Lydia operiert worden?«

»Das weiß ich nicht. Hast du bei der Verwaltung jemanden erreicht?«

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3.

Merle spricht nicht mit mir. Und ich habe es aufgegeben, ins Leere zu reden.

Jetzt steht sie im Flur und starrt mich an. Ich gehe ins Badezimmer, lasse Wasser in die Wanne einlaufen, hole ein Handtuch aus meinem Wäscheschrank. Ich prüfe die Temperatur des Wassers, stelle ein Shampoo neben die Seife, lege einen Waschlappen dazu.

Und wenn sie sich weigert zu baden?

Weiter als bis zum Türrahmen wagt sie sich nicht vor. Sie mag sich vor mir nicht ausziehen. Oder sie weiß nicht, was ich von ihr will. Hat noch nie gebadet. Vielleicht sollte ich ihr aufschreiben, wozu eine Badewanne gut ist. Wir könnten Zettel austauschen. Aber sie kann nicht schreiben.

Beim Hinausgehen deute ich auf den Bademantel, der in der Ecke hängt. Darin soll sie sich nachher einwickeln, auch wenn er ihr viel zu groß ist. Ihre alten Shorts und das zerrissene T-Shirt werde ich sofort entsorgen. Wir müssen ihr was Neues zum Anziehen kaufen. Ich muss ihr was Neues kaufen. In meinem Bademantel kann Merle nicht auf die Straße gehen. Ich werde Esther fragen, was für ein Geschäft sie mir empfiehlt. Dort werde ich mich beraten lassen, was siebenjährige Mädchen tragen. Oder auch sechsjährige. So klein und dünn wie Merle ist.

Draußen im Flur lausche ich, ob ich ein Wasserplätschern höre oder ein anderes Geräusch, aber es ist still dort drinnen. Eine unheimliche Stille. Ich werde mich beherrschen und nicht die Tür öffnen. Auf den Balkon gehen. Tief durchatmen. In meinem Kopf breitet sich ein dumpfer Schmerz aus. Als hätte ich Fieber.

Ich nehme ein Aspirin. Bereue es plötzlich, dass ich nicht auf Jans Angebot eingegangen bin. Er wollte mitkommen. Aber ich wollte mir keine Blöße geben.

Auf dem Weg zum Balkon fällt mein Blick auf den Schreibtisch. Ich habe der Redaktion für Montag die überarbeitete Fassung des Exposés zugesagt. Das schaffe ich nicht. Wer weiß, wann ich wieder zum Arbeiten komme. Heute Nachmittag wollte ich laufen. Heute Abend wollten wir ins Konzert. Ich kann Merle nicht allein in der Wohnung lassen. Auch nicht, wenn ich Kleidung für sie kaufe. Muss sie mitnehmen. Wenn sie das Wasser überlaufen lässt. Die Herdplatten anstellt. An meinem Computer herumspielt.

Haben Sie Geschwister? Die Frage eines Kollegen neulich bei einem Abendessen.

Ich hatte mal eine Schwester. Er sah mich an und nickte. Glaubte, sie sei tot, und mein Schmerz zu groß, um über sie zu sprechen.

Ich wähle Esthers Nummer.

Fünf Jahre habe ich meine Ruhe gehabt. Seit Lydia kurz nach Mutters Tod mit Merle nach Südafrika aufgebrochen ist. Anfangs habe ich täglich gebetet, dass sie nie mehr zurückkehren möge. Später noch mindestens einmal in der Woche.

»Fischer.«

Esther ist eine gute Zuhörerin. Als ich fertig bin mit meinem Bericht, verkündet sie, pragmatisch wie sie ist, dass sie nach ihrer Redaktionskonferenz etwas Kleidung vorbeibringen werde. Ann-Kristin ist erst fünf, aber groß für ihr Alter. Ich bin erleichtert, weil Merle etwas zum Anziehen bekommt, ohne dass ich die Wohnung verlassen muss.

»Es war ein Fehler, dass ich sie mit zu mir genommen habe.«

»Tut dir bestimmt gut. Immer nur zu Hause sitzen und Drehbücher schreiben …«

»Ich liebe meine Arbeit! Das weißt du doch!«

»Natürlich. Sonst wärst du auch nicht so erfolgreich. Ich kenne niemanden, der sich mit dieser Leidenschaft Geschichten ausdenkt wie du. Trotzdem …«

»Außerdem laufe ich mindestens dreimal in der Woche«, unterbreche ich sie. »Im Gegensatz zu dir.«

»Du isolierst dich zu sehr. Das hab ich dir schon oft gesagt. Nicht mal Jan lässt du ganz in dein Leben.«

»Was soll das heißen?«

»Es schadet nichts, wenn du dich mit zweiundvierzig auch mal um jemanden kümmerst.«

»Ich war mit meinem Leben bisher sehr zufrieden.«

»Was macht Merle denn gerade?«

»Sie ist noch im Bad.«

»Seit wann?«

»Zwanzig Minuten.«

»Dann musst du nach ihr sehen.«

»Sie schämt sich vor mir.«

»Darauf kannst du keine Rücksicht nehmen. Hauptsache, ihr passiert nichts.«

»Würdet ihr Ann-Kristin nicht allein in der Badewanne lassen?«

»Doch, aber wir wissen, was wir ihr zutrauen können. Merle ist ein fremdes Kind.«

»Allerdings«, sage ich und verabschiede mich.

Durch die Badezimmertür sind Duschgeräusche zu hören. Ich klopfe an. Keine Antwort.

»Kann ich reinkommen?«

Immer noch nichts. Ich drücke die Klinke herunter. Abgeschlossen.

»Merle, mach auf!«

Ich lausche. Nichts als das Rauschen des Wassers. Ich schlage mit beiden Fäusten gegen die Tür und brülle, sie solle sofort aufmachen.

Langsam wird der Schlüssel im Schloss herumgedreht. Ich reiße die Tür auf. Vor mir steht Merle, eingehüllt in ihr Handtuch. Aus der randvollen Badewanne läuft das Wasser.

Ich renne in die Küche. Hole alle verfügbaren Lappen und Feudel. Hoffentlich ist noch nichts nach unten durchgetropft.

»Zieh dir den Bademantel an, damit du dich nicht erkältest«, sage ich. Rutsche auf den Knien in meinem Bad herum. Wische das Wasser auf.

Merle rührt sich nicht.

»Zieh ihn bitte an«, wiederhole ich mit Nachdruck.

Sie schüttelt den Kopf, ganz leicht, aber deutlich. Dann eben nicht. Soll sie sich erkälten. Ist mir egal. Vielleicht will Merle nichts anziehen, was ich zuvor getragen habe? Ich hätte sie dem Sozialdienst übergeben sollen. Dieselbe Familie. Und wenn schon. Fremde. Fremde Schwester, fremde Nichte.

Merle zittert. Sie greift nach ihrer schmutzigen Unterhose. Ich lasse nicht zu, dass sie ihre alten Sachen wieder anzieht. Ehe sie sich’s versieht, sind sie im Mülleimer verschwunden. Merle öffnet den Mund, dann schließt sie ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben.

Ich hole ihr ein frisches Handtuch aus meinem Wäscheschrank. Wische die letzten Pfützen auf. Dabei kehre ich ihr den Rücken zu. Mein Blick fällt auch nicht in den Spiegel. Aber nein, Merle läuft in die Küche, um dort die Handtücher zu wechseln. Wieso hat sie in der nepalesischen Wildnis kein zwangloseres Verhältnis zu ihrem Körper entwickelt? Lydia bestand noch als Dreizehnjährige darauf, splitterfasernackt durch unsere Wohnung zu laufen, so dass es Mutter hochnotpeinlich war. Lydia, was soll dein Vater dazu sagen? Frag ihn doch, lautete ihre Antwort. Dabei grinste sie. Sie wusste genau, dass Mutter ihn niemals so etwas fragen würde.

Merle steht im Flur und sieht mich mit großen Augen an.

»Möchtest du dir die Haare föhnen?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Hast du Hunger?«

Sie nickt.

»Was hältst du von Spaghetti mit Tomatensauce?«

Sie zuckt mit den Achseln. Vielleicht kennt sie keine Spaghetti.

»Die werden dir schmecken«, sage ich und hoffe nur, dass jetzt kein Essensdrama folgt, wie Esther es eine Zeitlang mit Ann-Kristin erlebt hat. Meine Toleranz für Dramen ist erschöpft.

Ich gehe in die Küche und setze Nudelwasser auf. Beim Tischdecken sieht Merle mir zu. Nach einer Weile setzt sie sich auf einen Stuhl und streicht vorsichtig über die grünen Stoffservietten. Als sie bemerkt, dass ich sie beobachte, schaut sie gelangweilt aus dem Fenster.

Unsere Mahlzeit verläuft schweigend. Merle isst zwei Teller Nudeln mit Sauce und probiert sogar den Parmesankäse. Das Handtuch rutscht und muss immer neu befestigt werden. Ich helfe ihr nicht. Biete ihr auch meinen Bademantel nicht noch mal an. Zum Nachtisch essen wir Quarkspeise mit Blaubeeren. Wieder nimmt sie zweimal. Wir trinken Mineralwasser. Nach Cola verlangt sie nicht. Wer weiß, ob sie Cola kennt. Ich hätte sowieso keine im Haus. Ihre grüne Serviette rührt sie nicht an.

»Bist du müde?«

Sie reagiert nicht. Ich baue ihr auf meinem Sofa ein Bett.

Zehn Minuten später liegt sie zusammengerollt an einem Ende. Die Augen geschlossen. Aus ihrem leicht geöffneten Mund kommen ruhige, gleichmäßige Atemzüge. Ich breite die Steppdecke über ihr aus. Wickele sie nicht darin ein. Sobald ich sie berühre, wird sie aufwachen. Da bin ich sicher. Auch wenn sie noch so tief schläft.

Ihre Lider zucken ein paarmal. Aus ihrer Kehle kommt plötzlich ein seltsamer Laut. Sie träumt. Von ihrer Hütte in Indien. Vom Zusammenbruch ihrer Mutter. Ich weiß nichts von diesem Kind, das mich nicht mag und dennoch auf meinem Sofa eingeschlafen ist. Das nur hier ist, weil es keine andere Wahl hat.

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4.

Merle schläft. Ich sitze vor meinem Exposé. Ein Krimi über Babyhandel. Das Thema beschäftigt mich seit langem. Aber heute kann ich mich nicht konzentrieren.

Ich schaue zu Merle hinüber. Ist sie zugedeckt? Atmet sie ruhig? Ist ihr Gesicht entspannt? Vorhin sah sie aus, als hätte sie Schmerzen.

Rumänische Babys, die an kinderlose deutsche Paare verkauft werden. Paare, die jahrelang auf Adoptionslisten gestanden haben und deren Hoffnung gleich null ist, jemals auf legale Weise ein Kind adoptieren zu können. Paare, die sich so sehr nach einem Kind sehnen, dass sie bereit sind, viel Geld für ein Baby aus Rumänien zu bezahlen, Hauptsache, der Handel bleibt geheim.

Ich habe wie immer viel recherchiert und glaubte, eine stimmige Geschichte entwickelt zu haben. Die Redakteurin ist anderer Meinung. Ihre Kritikpunkte leuchten mir nicht ein.

Bis gestern fiel es mir nicht schwer, über den Stoff nachzudenken. Jetzt schläft Merle auf meinem Sofa.

Ich bin es nicht gewohnt, mit unvorhergesehenen Ereignissen fertig zu werden. In meinem Leben hat es immer eine klare Struktur gegeben. Wenn ich morgens aufstehe, weiß ich, was ich zu tun habe. Am Abend vorher mache ich mir eine Liste. Arbeite sie Punkt für Punkt ab. So komme ich voran. Jan sagt, ich sei zu rigide. Es täte mir gut, mich ab und zu treiben zu lassen. In den Ferien zwinge ich mich dazu. Sehne mich aber schnell nach meinem Alltag zurück. Jan und sein Chaos. Wir könnten niemals zusammenziehen. Sosehr er sich das auch wünscht. Ich weiß, wo ich was finde, sagt er und setzt sich ans Klavier. Ein Künstler. Er sagt, es sei ein Klischee, Unordnung mit Künstlertum zu verbinden. In seinen Augen bin ich mit meinen Ordnungssystemen auch eine Künstlerin. Kunst hin oder her, ich liebe nichts mehr, als Figuren zu erschaffen, ihre Beziehungen zu schildern, sie in Krisen zu stürzen und verändert daraus hervorgehen zu lassen. Wenn es etwas auf der Welt gibt, wofür ich mich uneingeschränkt begeistern kann, dann ist es das Schreiben.

Merle wirft sich im Schlaf auf die andere Seite. Jetzt wendet sie mir ihr Gesicht zu. Ihre dunklen, lockigen Haare glänzen. Wie Lydias Haare früher geglänzt haben. Dichte, weiche Haare. Ich habe sie stundenlang gebürstet und gekämmt. Zu Zöpfen geflochten und zu Dutts hochgesteckt. Auf Mutters Lockenwickler gerollt und zu Ohrschnecken gedreht. Nur waschen durfte ich sie nicht. Kann ich selbst, sagte Lydia. Konnte sie natürlich nicht.

 

Franka, Franka, meine Franka, flüstert Lydia mir ins Ohr. Du darfst nie von mir weggehen, auch nicht, wenn du groß bist. Bestimmt nicht, sage ich. Und wenn du heiratest und Kinder kriegst? Ich denke nach. Wir heiraten zwei Brüder und ziehen ins selbe Haus. Schwörst du’s? Ich schwör’s. Dann gehören wir jetzt für immer zusammen. Und niemand kann uns trennen. Lydia schmiegt sich an mich. Ich halte sie fest in meinen Armen. Kalte Füße schieben sich unter mein Nachthemd. Bald höre ich gleichmäßige Atemzüge. Ich sehe zwei Bäume vor mir. Ihre Stämme sind dicht über dem Boden zusammengewachsen. Ich schlafe ein.

 

Meine Kehle wird eng. Ich muss die Zeit nutzen, in der Merle schläft.

Ich komme über die ersten Abschnitte nicht hinaus.

Es klingelt. Merle rührt sich nicht.

Die Sprechanlage ist defekt. Ich drücke auf den Türöffner. Auf Gummisohlen oder barfuß kommt jemand zu mir hinauf. Vielleicht Lydia. Überraschend schnell genesen. Will ihre Tochter abholen. Will für immer nach Asien oder sonst wohin entschwinden.

Es ist Jan. Er küsst mich. Überreicht mir eine langstielige Rose.

Stumm schaue ich auf die Blume. Ich käme nie auf den Gedanken, mir eine Rose zu kaufen. Zu üppig, zu luxuriös.

»Ich habe mir Sorgen gemacht, weil ich nichts gehört habe.«

»Merle schläft.«

»Hat sie gesprochen?«

»Nein.«

Ich stelle die Rose ins Wasser und suche nach einem Platz für die dünne Glasvase. Im Flur fällt mein Blick in den Spiegel. Mein Gesicht ist sehr blass neben dem Rot der Blüte.

Leise gehe ich ins Wohnzimmer. Ich zögere, dann stelle ich die Vase neben das Sofa. Merle liegt auf dem Bauch. Ihren Kopf hat sie unter dem Kissen versteckt. Ist sie durch das Klingeln geweckt worden?

»Ihr habt Spaghetti gegessen«, sagt Jan, als ich in die Küche zurückkomme.

»Vorher hat Merle gebadet und dabei das Bad unter Wasser gesetzt.«

»Wäre es nicht einfacher, wenn ihr das Wochenende bei mir verbringt und wir uns zusammen um sie kümmern?«

»Du weißt, ich bin am liebsten bei mir zu Hause.«

»Ich glaube, du willst dir nicht einmal von mir helfen lassen. Warum machst du es dir so schwer? In meiner Wohnung wäre die Situation viel entspannter.«

»Für mich nicht.«

»Weil es bei mir nicht so aufgeräumt ist?«

»Nicht so aufgeräumt ist eine ziemliche Untertreibung.«

»Franka, es geht um das Kind. Das ist wichtiger als alles andere.«

»Ist es das?«

»Vor was willst du dich schützen?«

»Ich habe es gern ordentlich um mich herum. Das verstehst du nicht.«

Ich mag die Wendung nicht, die das Gespräch genommen hat. Und den kritischen Blick, den Jan mir zuwirft, mag ich auch nicht. »Was ist?«, frage ich.

»Ich dachte gerade, dass ich die längeren Haare schöner an dir fand. Die kurzen liegen so dicht an deinem Kopf und sehen aus wie ein Helm.«

»Ich hätte auch lieber große Locken, wenn du das meinst.«

»Nein. Die längeren sahen weicher aus.«

»Fehlt nur noch, dass du mir sagst, meine Haare sähen aus wie ein Schutzhelm.«

»Franka …«

»Ich brauche keinen Helm. Kurze Haare sind praktischer.«

»Als du neulich vom Friseur kamst, hast du mich nach meiner Meinung gefragt.«

»Vielleicht hätte ich sie lieber da gehört.«

»Ich wollte dich nicht kränken.«

Wieder entsteht eine Pause.

»Soll ich die Karten für heute Abend zurückgeben?«, fragt Jan, ohne mich anzusehen.

»Du freust dich seit Wochen auf das Konzert.«

»Maurizio Pollini kann ich auch ein andermal hören.«

»Geh ruhig.«

»Kinder halten so ein Schweigen nicht lange durch.«

»Kinder wie Merle vielleicht doch.« Mama sagt, du hast kein Herz.

Jan nimmt mich in die Arme. Streicht mir über den Kopf. Es gelingt mir, meine Tränen hinunterzuschlucken.

 

Jan ist fort. Merle schläft immer noch. Wenn sie aufwacht, wird sie vielleicht die Vase neben ihrem Sofa sehen. Vielleicht überlegt sie, ob ich zwischendurch weggegangen bin, um die Blume zu kaufen. Vielleicht wird sie zornig, weil sie denkt, ich hätte sie allein gelassen.

Nein. Merle ist in ihrem Leben so viel allein gewesen. Hat sich gewöhnt an eine Mutter, die nicht wegen ihrer kleinen Tochter darauf verzichtet auszugehen.

 

Am Morgen nach Mutters Beerdigung. Ich wollte anfangen, den Nachlass zu ordnen. Aus dem Schlafzimmer kam ein leises Wimmern. Ich öffnete die Tür. Merle lag auf Mutters Bett. Ihre Windel hatte sich gelöst. Es stank nach Kot und Urin. Ich suchte eine frische Windel. Fand keine. Ich wollte sie baden. Nahm sie auf den Arm. Sie fing an zu strampeln. Diese Kraft hätte ich ihr nicht zugetraut. Kein Baby mehr. Wenn sie mir in der Wanne entglitt und untertauchte? Ich hatte noch nie ein Kind gebadet. Lydia würde mir unterstellen, ich wollte ihre Tochter umbringen. Schmutzig, wie sie war, wickelte ich sie in ein frisches Handtuch. Lief mit ihr im Zimmer auf und ab. Wiegte sie hin und her. Streichelte ihr den Rücken. Summte ein Schlaflied. Sie weinte. Hatte sie Hunger? Ich setzte sie auf einen Stuhl. Im Kühlschrank fand ich verschimmelte Käsereste, einen uralten Joghurt, eine angebrochene Milchpackung. Die Milch war noch gut. Wo war Merles Flasche? Ich fand sie unter Mutters Kleiderschrank. Merle schrie, während ich die Milch erwärmte. Würde sie sich beruhigen, wenn sie etwas zu trinken bekam? Oder hatte sie Schmerzen? Ein geplatzter Blinddarm, eine Mittelohrentzündung, ein Zahn, der sich durchs Zahnfleisch bohrte. Wo war Lydia? Was fiel ihr ein, ihre Tochter hier allein zu lassen? Ich prüfte die Temperatur, füllte die Milch in die Flasche, gab sie Merle in beide Hände. Sofort fing sie an zu saugen. In dem Moment wurde die Wohnungstür aufgeschlossen. Merle war so ins Trinken vertieft, dass sie nichts hörte. Lydia kam in die Küche, stürzte auf Merle zu, riss ihr die Flasche aus der Hand. Merle fing an zu brüllen. Was fällt dir ein, ihr die alte Milch zu geben?, schrie Lydia mich an. Die ist noch gut, antwortete ich, ich habe sie probiert. Lydia baute sich vor mir auf. Niemand hat dir erlaubt, Merle anzufassen. Ob sie noch recht bei Verstand sei, brach es aus mir heraus. Ob sie wisse, in was für einem erbärmlichen Zustand ich ihre Tochter gefunden hätte. Dass sie seit Stunden, wenn nicht die ganze Nacht hungrig in ihrem eigenen Dreck gelegen habe. In einer fremden Umgebung. Nur weil ihre Mutter wieder unterwegs gewesen sei, um sich mit einem Lover zu treffen. Es geht dich nichts an, wie ich meine Zeit verbringe!, schrie Lydia. Nein, aber meine Nichte Merle in dieser Verfassung zu sehen, geht mich sehr wohl etwas an. Verwahrlosung nennt man das, falls du es noch nicht wusstest. Wenn ich das Sozialamt benachrichtige und schildere, wie du deine Tochter vernachlässigst, garantiere ich dir, dass es zu einer Überprüfung deiner Lebensumstände kommen wird. Ob du Merle dann behalten kannst, wage ich zu bezweifeln. Bevor ich wusste, wie mir geschah, packte Lydia mich bei den Schultern und presste mich gegen die Wand. Ich warne dich, zischte sie. Wenn du das tust, wirst du es bereuen. Ich versuchte, mich loszureißen, aber Lydia war stärker. Sie starrte auf meine Kehle. Plötzlich bekam ich Angst. Lydia würde es fertigbringen, mir ein Messer in den Bauch zu rammen. Sie hatte schon andere Menschen verletzt. In der neunten Klasse hatte sie einer Mitschülerin das Nasenbein eingeschlagen. Raus!, schrie Lydia und versetzte mir einen solchen Schlag in die Magengrube, dass mir die Luft wegblieb. Ich schwankte durch den Flur, griff nach meiner Tasche, wollte gerade die Tür öffnen, als Merle auf mich zugerannt kam. Franka nicht gehen, nicht gehen! Du hältst die Klappe!, fauchte Lydia und riss Merle zurück. Ich sehe sie vor mir, die kleine Merle, wie sie im Flur stand und mich ungläubig ansah. Das Handtuch war ihr längst heruntergerutscht, die verschwitzten Haare klebten an ihrem Kopf, um ihre Füße herum bildete sich eine Pfütze. Es war nicht richtig zu gehen, und dennoch ging ich. Verzichtete darauf, das Sozialamt anzurufen. Zwei Wochen später wurde die Wohnung verkauft. Lydia verschwand mit Merle und ihrem geerbten Geld in Richtung Südafrika. Ich atmete auf. In den folgenden Monaten packte mich hin und wieder mein schlechtes Gewissen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Lydia und Merle lebten in einem Land, in dem sie noch nie gewesen waren. In den Zeitungen war von Gewalt die Rede, von Raubüberfällen, Vergewaltigungen und Mord. Von Weißen, die so naiv waren zu meinen, ihnen würde in den Townships nichts passieren. Lydia glaubte, man könne ihr ansehen, dass sie auf der Seite der Unterdrückten stand. Dabei war doch alles nur Gerede, ihre Solidaritätsbekundungen mit den Zukurzgekommenen dieser Welt, ihre Thesen, wie Hunger und Armut zu überwinden seien! Lydia hatte nie wirklich etwas gegen das Elend getan. Sie hatte immer auf Kosten anderer gelebt. Eine verwöhnte Kreatur, die es sich herausnahm, diejenigen zu kritisieren, die sie ernährten.

Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass Lydia Geld hatte und in der Lage war, sich ein Haus oder eine Wohnung zu kaufen. Vielleicht würde sie in Südafrika zur Ruhe kommen, einen Beruf lernen, einen Partner finden. Vielleicht würde sie Merle ein Zuhause geben können.