Der Wintergarten - Renate Ahrens - E-Book

Der Wintergarten E-Book

Renate Ahrens

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Beschreibung

Die Geschichte zweier Menschen, die unverhofft der Liebe begegnen, obwohl sie längst nicht mehr an die großen Gefühle glauben. Joanna, international anerkannte Professorin, hat sich in ihrem New Yorker Leben eingerichtet. Ihrem Vater ist es unbegreiflich, wie sie mit Anfang vierzig noch Single sein kann. Joanna ahnt nicht, dass die Reise zu einer Literaturtagung in Hamburg alles verändern wird. Robert, geschieden und Englischlehrer an einem Hamburger Gymnasium, lebt seit langem allein. Er vermisst seine zwölfjährige Tochter und wünschte, er würde sich besser mit ihr verstehen. Seine Mutter hält ihn für eine verkorkste Existenz und beklagt, dass er immer menschenscheuer wird. Als er Joanna eines Abends in Hamburg kennenlernt und die Nacht mit ihr verbringt, wird er aus seiner gewohnten Ordnung herausgerissen. Soll er sich auf das Wagnis einer Beziehung einlassen?

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Seitenzahl: 406

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Renate Ahrens

Der Wintergarten

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Es lag etwas in ihrer Stimme, was ihn aufhorchen ließ

Joanna, international anerkannte Professorin, hat sich in ihrem New Yorker Leben eingerichtet. Ihrem Vater ist es unbegreiflich, wie sie mit Anfang vierzig noch Single sein kann. Joanna ahnt nicht, dass die Reise zu einer Literaturtagung in Hamburg alles verändern wird.

Robert, geschieden und Englischlehrer an einem Hamburger Gymnasium, lebt seit langem allein. Er vermisst seine zwölfjährige Tochter und wünschte, er würde sich besser mit ihr verstehen. Seine Mutter hält ihn für eine verkorkste Existenz und beklagt, dass er immer menschenscheuer wird.

Als er Joanna eines Abends in Hamburg kennenlernt und die Nacht mit ihr verbringt, wird er aus seiner gewohnten Ordnung herausgerissen. Soll er sich auf das Wagnis einer Beziehung einlassen?

Der Wintergartenerzählt die Geschichte zweier Menschen, die unverhofft der Liebe begegnen, obwohl sie längst nicht mehr an die großen Gefühle glauben.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoVorwort zur Neuauflage1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. KapitelLeseprobe »Der andere Himmel«
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Für Alan

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»Wie sehr sie ihn liebt oder er sie,

wissen wir nicht. Oder wie sehr es ein Spiel voller Geheimnisse ist.«

 

Michael Ondaatje, Der englische Patient

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Vorwort zur Neuauflage

Der Wintergarten ist mein erster Roman. Ich habe 1994 mit der Arbeit daran begonnen, und im selben Jahr spielt auch die Geschichte. Damals waren Mobiltelefone noch eine Seltenheit, und das Internet war nur wenigen bekannt.

Aus heutiger Sicht erscheinen die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den beiden Protagonisten Joanna und Robert manchmal schwer nachvollziehbar, zumal sie für die Handlung nicht unerheblich sind: Das Sich-nicht-Erreichen führt immer wieder zu Missverständnissen und Unsicherheiten.

Natürlich könnte man fragen, wie sich die Beziehung der beiden entwickelt hätte, wenn sie sich in Zeiten des Handys und der E-Mails kennengelernt hätten. Es wäre ein anderer Roman geworden.

Ich habe mich entschieden, ihn für die Neuauflage so zu lassen, wie er ist. Beim Wiederlesen des Textes ertappte ich mich hier und da bei dem Gedanken, dass es nicht nur von Nachteil war, nicht erreichbar zu sein …

 

Renate Ahrens

Dublin, im Februar 2014

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1.

Joanna saß eingezwängt zwischen zwei dicken, schwitzenden Männern und dachte an Bruno. Wenn er nicht im letzten Moment auf Katies Teppichboden gepinkelt hätte, säße sie jetzt auf einem bequemen Fensterplatz in der Nichtraucherzone und käme in den Genuss von mindestens anderthalb Armlehnen. Sie würde mit Carol und Steve plaudern und müsste keine Nachbarn ertragen, die beim Umblättern ihrer Zeitung so ungeschickt waren, dass sie ihr ständig vor der Nase herumfuchtelten. Joanna machte die Augen zu und versuchte sich vorzustellen, sie würde durch einen kühlen See schwimmen. Manchmal half das. Doch statt des Sees tauchte das Bild von Katies Wohnzimmer vor ihr auf. An der Decke surrte der Ventilator, Bruno strich mit eingekniffenem Schwanz um den feuchten Fleck herum, und Katie fing plötzlich an zu weinen, weil irgendein Martin sie nicht angerufen hatte.

»… freuen wir uns, Sie an Bord unserer Maschine auf dem Flug von New York nach Hamburg begrüßen zu dürfen …«

Joanna setzte ihre Kopfhörer auf, suchte einen Sender mit klassischer Musik und lehnte sich zurück. Seit knapp zwei Jahren waren Katie und sie Nachbarinnen. Kennengelernt hatten sie sich in dem kleinen, schmutzigen Hundeauslauf direkt vorm Haus. Joanna hatte Katies Golden Retriever bewundert, und eine halbe Stunde später wusste sie, dass Katie zwanzigeinhalb war, Musik mit Schwerpunkt Klavier studierte und ihren Hund Jupiter mehr liebte als ihren Freund. Ihr Vater hatte ihr freundlicherweise die Wohnung gekauft, weil sie nicht jeden Tag zwischen Westchester County und Manhattan hin und her pendeln konnte. Das war in der Tat niemandem zuzumuten, bestätigte Joanna. Schließlich kam sie selbst aus Westchester County und kannte die Entfernung. Wie Katies damaliger Freund hieß, wusste Joanna nicht mehr. Woran sie sich jedoch noch genau erinnern konnte, war Katies Verblüffung darüber, dass sie, Joanna, weder einen Ehemann noch einen Freund hatte.

Damals, im Hundeauslauf, hätte sie niemals gedacht, dass Katie ihre Freundin werden könnte, so ein verwöhntes Ding, halb so alt wie sie und so naiv, dass es manchmal kaum zu fassen war. Aber Katie hatte etwas an sich, dem sie sich nicht entziehen konnte. Katie fragte nach, wie die Vorlesung über Margaret Atwood gelaufen sei; Katie versorgte sie mit frisch gepresstem Orangensaft, wenn sie mit Grippe im Bett lag; Katie hörte zu, wenn sie sich über ihren Bruder Ron beklagte. Katie war immer für sie da. Ja, Joanna nahm es Katie nicht einmal übel, dass sie ihr regelmäßig Herren im gesetzteren Alter vorstellte, vornehmlich Musikprofessoren.

Langsam fielen ihr die Augen zu. Schon lange war sie nicht mehr so müde gewesen. In den letzten Wochen hatte sie ununterbrochen gearbeitet, so als ob alles von diesem Vortrag für die Hamburger Tagung abhinge. Und wieder war es Katie gewesen, die ihr ab und zu etwas zu essen gebracht hatte und sonntags stundenlang mit Jupiter und Bruno spazieren gegangen war.

Joanna wurde davon wach, dass jemand sie unsanft in die Seite knuffte.

»Wollen Sie nichts essen?« Der Dicke zur Linken zeigte auf das Plastiktablett, das die Stewardess direkt vor ihre Nase hielt. Es roch nach Gulasch.

Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie bei der Buchung des Fluges vergessen hatte, sich ein vegetarisches Menü zu bestellen. Nun musste sie sich mit der Gulaschbeilage, bestehend aus drei Löffeln Reis und zwei Broccoliröschen, begnügen. Zum Nachtisch gab es einen nach Chemie riechenden Zitronenpudding. Den schenkte sie dem Dicken zur Linken, der ihn tatsächlich dankbar aufaß.

Noch vier Stunden und zwanzig Minuten bis zur Landung. Joanna brach auf einmal der Schweiß aus. Sie schälte sich aus ihrem Sitz und bat den Dicken zur Rechten, aufzustehen und sie vorbeizulassen. Als er nicht sofort reagierte, kletterte sie einfach über seine dicken Schenkel hinweg. Empört schimpfte er hinter ihr her.

Sie lief den Gang auf und ab und atmete ein paarmal tief durch. Noch nie zuvor hatte sie beim Fliegen Beklemmungen bekommen; überhaupt waren ihr Beklemmungen fremd, im Gegensatz zu ihrer Mutter, die zeit ihres Lebens in keinen Fahrstuhl gestiegen war.

Als sie wieder ruhig atmen konnte, versuchte sie abzuschätzen, an welcher Toilette die Warteschlange am kürzesten war.

Kaum hatte sie sich angestellt, als jemand sie unsanft am Oberarm packte. »He, wo warst du?«

Hinter ihr stand Nick, bleich, mit einer vollen Spucktüte in der Hand, und sah sie böse an. »Wir haben bis zum letzten Aufruf auf dich gewartet.«

»Soll ich dich vorlassen?«, fragte Joanna und zeigte auf die Spucktüte.

Wortlos nahm Nick ihr Angebot an. »Da bemüht man sich, dir eine Einladung zu der Tagung zu verschaffen …«

»Du weißt genau, dass ich vor dir eingeladen wurde.«

Einen Moment lang schien Nick protestieren zu wollen, dann besann er sich eines Besseren. »Also, nun sag schon, wo warst du?«

»Ich bin aufgehalten worden.«

»Muss was sehr Dringendes gewesen sein.«

»Zweifellos.«

»Wollte dein Hund dich nicht gehen lassen?«

»Genau.«

Nick schüttelte fassungslos den Kopf. »Weißt du, manchmal denke ich, du spinnst.«

»Das denke ich von dir manchmal auch.« Joanna zeigte auf die offene Toilettentür. »Du bist dran.«

Nick verschwand, immer noch kopfschüttelnd, in der winzigen Toilette. Als Joanna hörte, wie ihm erneut schlecht wurde, beschloss sie, sich an einer anderen Schlange anzustellen. Drei Jahre hatte sie mit Nick zusammengelebt; drei Jahre hatte er sie mit seinem kranken Magen belästigt. Nie wieder würde sie eine Toilette benutzen, in die Nick sich gerade zuvor übergeben hatte.

Später versuchte sie zu lesen, Nicks neuesten Aufsatz zur Metaphernbildung im Spätwerk William Faulkners. Auf diesem Text basierte der Vortrag, den er in Hamburg halten würde. Die aufgeblasene Sprache ärgerte sie, zumal er inhaltlich nichts Neues zu bieten hatte; Nick hatte schon seine Dissertation über Faulkner geschrieben. Joanna fand es immer wieder erstaunlich, wie jemand mit Veröffentlichungen, die mehr oder weniger dasselbe Thema variierten, Lehrstuhlinhaber an einer amerikanischen Universität werden konnte.

Der Dicke zur Linken aß geräuschvoll ein Plätzchen nach dem anderen. Joanna zählte mit. Beim achten beschloss sie, ihn zu fragen, ob er ihr auch eins anbieten könnte. Er nickte irritiert, entschuldigte sich, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war, und hielt ihr die Packung hin. Ingwerplätzchen. Die mochte sie eigentlich nicht, aber sie war hungrig, also nahm sie gleich zwei. Damit war für den Dicken zur Linken das Eis gebrochen.

»Sie interessieren sich für Literatur?«, fragte er und zeigte auf den Text, den sie vor sich liegen hatte.

Nur jetzt kein Gespräch über Bücher. Joanna erklärte in kurzen, knappen Worten, dass sie beruflich mit Literatur zu tun habe und bis zu ihrer Ankunft in Hamburg noch viel lesen müsse.

»Womit beschäftigen Sie sich schwerpunktmäßig?«

Emsig blätterte sie in Nicks Manuskript. Der Preis für zwei Ingwerplätzchen war höher als erwartet. »Mit neuerer kanadischer Literatur.«

Diese Bemerkung brachte ihn zum Schweigen. Offenbar hatte er mit Kanada nicht viel im Sinn. Oder es lag daran, dass jetzt ein Film gezeigt wurde und er seine Kopfhörer nicht finden konnte.

»Könnten Sie mir vielleicht Ihre leihen?«, fragte er nach einer Weile. »Sie müssen doch lesen.«

Das war gemein. Die ganze Zeit schon hatte sie sich auf den Film gefreut, auch wenn es wieder nur eine seichte Liebesgeschichte war. Aber wenigstens verging einem dabei die Zeit auf angenehmere Weise als beim Lesen von Nicks Erkenntnissen über Metaphernbildung. Doch jetzt konnte sie nicht mehr zurück.

Mit säuerlicher Miene verlieh sie ihre Kopfhörer und tat dann so, als ob sie sich in das nächste Manuskript vertiefen würde. Es handelte sich um ihren eigenen Vortrag, in dem sie Thesen zur Erzählperspektive in Michael Ondaatjes Roman Der englische Patient entwickelte. Sie überflog den ersten Abschnitt, den sie, wie den Rest, längst auswendig konnte, und wollte gerade zum nächsten Text übergehen, als ihr ein eng beschriebenes Blatt Papier in die Hände fiel. Es war der Brief, den sie neulich vergeblich gesucht hatte, Nicks erster Brief an sie. Er hatte ihn auf einer Bahnreise geschrieben, und über weite Strecken schilderte er tatsächlich nichts anderes als das Zugabteil, die Mitreisenden, die Ausblicke, die Bahnhöfe. Sie war überrascht gewesen, dass er sich solche Mühe gegeben hatte, sie auf diese Weise an seiner Reise teilhaben zu lassen.

Joanna lehnte sich zurück und schloss die Augen. Damals, vor sieben Jahren, ahnte sie noch nicht, dass es für Nick ein Leichtes war, sie auf dem Papier an einer Reise teilhaben zu lassen. Hauptsache, sie kam ihm sonst nicht zu nahe.

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2.

Robert stand vor der neunten Klasse und wartete vergeblich darauf, dass der Lärm sich legte. Zehn vor neun und bereits achtundzwanzig Grad im Schatten. Das hieß, nach dieser Stunde würde es wieder hitzefrei geben. Um zu verhindern, dass seine 9a schon jetzt aus der Klasse rannte, hatte Robert eine Kassette von U 2 mitgebracht. Er verteilte den Songtext, den er ausgewählt hatte, erntete einiges Stöhnen, weil The Joshua Tree bereits halb so alt war wie die Schüler, ließ sich jedoch nicht beirren, und nach einer Weile war die Mehrheit tatsächlich bereit mitzuarbeiten. Robert war immer wieder glücklich, wenn ihm diese Motivationsmanöver gelangen.

Während die Kassette lief, dachte er an Nick, der heute bei ihm eintreffen würde, und an die Sommerferien, die morgen anfingen. Claudias Stimme war voller Triumph gewesen, als sie ihm gestern Abend am Telefon mitgeteilt hatte, dass Lotte nun doch lieber mit Jochen und ihr nach Irland fahren wolle, als mit ihm in Dänemark zu zelten. So ließe er nicht mit sich umgehen, hatte er gerufen. Seit über zehn Jahren sei er nicht mehr mit Lotte verreist gewesen. Er habe ein Anrecht darauf, seine Tochter endlich auch mal für länger zu sehen. Claudia hatte darauf nur geantwortet, dass sie es nicht ändern könne, wenn Lotte keine Lust habe, die Ferien mit ihrem Vater zu verbringen. Er hatte den Hörer aufgelegt und zu seinem Erschrecken eine große Erleichterung verspürt. Vor sechs Wochen, als er Lotte vorgeschlagen hatte, mit ihm nach Dänemark zu fahren, hatte sie ihn mit großen, ungläubigen Augen angesehen. In dem Moment hatte er begriffen, dass sie wie Fremde miteinander umgingen. Und es stimmte ja, sie kannten sich nicht. Die Lotte, die er kannte, war zweieinhalb und wurde in den Renault ihrer Mutter geladen, um für immer nach Marburg zu entschwinden. Dort lebte Jochen, dort wollte auch Claudia leben. Lotte wurde nicht gefragt.

»Herr Wagner?«

Robert blickte erschrocken hoch. Die 9a sah ihn erwartungsvoll an. Auf der Kassette lief bereits der Anfang des nächsten Songs. Er entschuldigte seine Abwesenheit mit der Hitze, stellte den Kassettenrecorder ab und begann, die unbekannten Vokabeln aus dem Songtext an die Tafel zu schreiben. Dass dabei hinter seinem Rücken gekichert wurde, störte ihn kaum. Er wollte nur diese Stunde überstehen.

Nachdem es längst geklingelt hatte und er noch damit beschäftigt war, ins Klassenbuch einzutragen, welchen Stoff er in den letzten Wochen durchgenommen hatte, sah er Uwe auf sich zukommen. Uwe hatte die neunte Klasse nicht geschafft, unter anderem wegen einer Fünf in Englisch. Robert hatte mehrmals versucht, mit Uwe zu reden, hatte ihn gefragt, warum er im letzten Jahr so abgesackt sei, doch Uwe hatte überhaupt nicht mehr mit ihm gesprochen. Nun stand er vor seinem Pult, die Hände in den Taschen seiner Lederjacke vergraben, und sah ihn an, ohne die Miene zu verziehen. Robert hatte plötzlich Angst, dass Uwe ein Messer zücken könnte. Er war größer und stärker als er; neulich erst hatte er einen Mitschüler zusammengeschlagen und dabei dessen Auge so schwer verletzt, dass er ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.

»Was ist los mit dir, Uwe?«, fragte er leise.

Uwe antwortete nicht. Robert dachte, wenn Uwe ihm jetzt einen Zettel mit seinen Forderungen zuschieben würde, hätte die Szene Ähnlichkeit mit einem Banküberfall, nur dass er auf keinen unter der Tischoberfläche verborgenen Knopf drücken konnte. Niemals käme die Polizei hier vorbei, um Uwe zu überwältigen. Wenn er Pech hatte, brächte Uwe ihn kaltblütig zur Strecke, und er würde erst nach dreizehn Uhr von den Putzfrauen entdeckt werden, denn nach der zweiten Stunde war hitzefrei gegeben worden, ganz wie er es erwartet hatte.

Uwe schwieg noch immer. Robert versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Schließlich hatte Uwe gar keine Waffe, oder zumindest hatte er ihn bisher mit keiner bedroht. Er stand einfach nur da und sah ihn an.

»Willst du einen Kaffee?«

Um Uwes Mundwinkel herum zuckte es. Für Robert sah es aus wie ein Grinsen. Offenbar amüsierte Uwe die Vorstellung, dass er mit einem Spießer wie ihm unten am Kaffeeautomaten stehen könnte. Ja, »Spießer« war das Wort gewesen, das er vor einigen Monaten auf dem Schulhof hinter ihm hergerufen hatte. In Robert stieg eine Wut hoch, wenn er an jenen Moment dachte. Zwei Kollegen, mit denen ihn nichts verband, hatten sich umgedreht und ihm aufmunternd zugenickt, so als gehöre er jetzt zu ihnen. Das hatte ihn fast noch mehr geärgert.

Robert starrte auf seine Schuhe. Er musste etwas unternehmen. Es war geradezu lächerlich, hier vor einem fünfzehnjährigen Schüler zu sitzen und sich tyrannisieren zu lassen. Jawohl, tyrannisieren. Das war es, was Uwe seit der siebten Klasse mit allen gemacht hatte, nur mit ihm nicht. Sie hatten sich verstanden, und er war stolz darauf gewesen. Uwe hatte ihn sogar einige Male zu Hause besucht; sie hatten zusammen Musik gehört und Pizza gegessen. Und dann, an einem Abend kurz vor Weihnachten, hatte Uwe ihn gefragt, ob er eine Weile bei ihm wohnen könnte, weil er Streit mit seinen Eltern habe. Er hatte sich geschmeichelt gefühlt, dass Uwe so viel Vertrauen in ihn setzte, doch dass er bei ihm einzog, kam natürlich überhaupt nicht in Frage. Als er versucht hatte, ihm zu erklären, warum nicht, war Uwe aufgestanden und gegangen. Er konnte doch nicht im Ernst geglaubt haben, dass so etwas möglich war. Allein rechtlich gesehen war es ganz undenkbar, aber auch sonst …

»Versteh doch, es ging nicht«, murmelte Robert noch halb in Gedanken und blickte hoch. Das Klassenzimmer war leer.

Robert wischte sich erschöpft über die Stirn und packte seine Sachen zusammen. Als er durch das ausgestorbene Treppenhaus nach unten lief, hatte er das unbestimmte Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben.

Aus dem Lehrerzimmer drang die Stimme des Direktors, es folgte die unverkennbare Lachsalve von Erwin Meyer, dem Stellvertreter. Robert hatte sich schon öfter gefragt, ob die beiden wirklich den gleichen zynischen Humor hatten, oder ob es für Erwin Meyer eine Frage der Loyalität war, zu lachen, wann immer der Direktor lachte. Vielleicht war es sogar sein genau platziertes Lachen, das ihm, dem unwahrscheinlichsten aller Kandidaten, im letzten Jahr zum Stellvertreterposten verholfen hatte.

Robert beschloss, das Lehrerzimmer heute nicht mehr zu betreten und folglich auch das Klassenbuch nicht in den dafür vorgesehenen Klassenbuchständer zu stellen, sondern es mit nach Hause zu nehmen. Erwin Meyer würde morgen seine Freude daran haben, wegen dieser Nachlässigkeit ein paar ernste Worte mit ihm zu wechseln.

Auf dem Parkplatz standen noch einige Schüler und rauchten. Robert war erleichtert, dass Uwe nicht dabei war. Diese ganze Angelegenheit überforderte ihn; schließlich war er Lehrer und nicht Sozialarbeiter oder Therapeut.

Er stieg in seinen alten, dunkelblauen Passat und ließ den Motor an. Viertel vor zehn, Zeit genug, um noch vor Nicks Ankunft zum Supermarkt zu fahren.

Er versuchte sich zu erinnern, was Nick gern aß. Damals in New York hatte er vor allem getrunken und noch mehr geraucht. Vielleicht hatten sie tatsächlich nie zusammen gegessen. Wundern würde es ihn nicht.

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3.

Kurz bevor die Maschine zur Landung ansetzte, wachte Joanna auf. Ihr Nacken schmerzte, sie hatte einen schlechten Geschmack im Mund, und zu allem Überfluss waren ihr, während sie geschlafen hatte, auch noch sämtliche Texte von den Knien gerutscht. Beide Nachbarn hatten mit ihren riesigen Schuhen darauf herumgetrampelt. Fluchend bückte sie sich, um ihre Papiere wieder einzusammeln. Die Füße des Dicken zur Linken strömten einen intensiven Schweißgeruch aus. Sie hatte genug, sie wollte raus, nie wieder würde sie neun Stunden eingezwängt zwischen zwei dicken Männern verbringen.

Nick würdigte sie keines Blickes, als sie in den Bus stiegen, der sie zum Flughafengebäude bringen sollte.

»Du hast ja ordentlich eingekauft«, sagte Joanna und warf einen Blick in Nicks Duty-free-Tüten: zwei Stangen Zigaretten und eine Flasche Jack Daniel’s. »Genau das Richtige für deinen Magen. Gibt’s in Deutschland keinen Whiskey?«

Nick zog die Augenbrauen hoch, wie immer, wenn es ihm große Mühe bereitete, eine Frage zu beantworten. »Ich wohne bei einem Bekannten.«

Als ob das eine Antwort war. Aber es sah Nick ähnlich, dass er seinem Bekannten so etwas Phantasievolles wie Whiskey und Zigaretten mitbrachte.

»Ich wusste gar nicht, dass du in Hamburg jemanden kennst.«

»Wir haben uns vor vierzehn Jahren zuletzt gesehen.« Nick sah plötzlich so aus, als ob er bei der Wahl seiner Unterkunft möglicherweise einen Fehler gemacht hätte.

Joanna war es nur recht so. Immerhin blieb ihr auf diese Weise erspart, Nicks Gesicht auch noch jeden Morgen beim Frühstück ertragen zu müssen.

Beim Aussteigen aus dem Bus sah sie endlich Carol und Steve, ihre beiden anderen Kollegen aus der New York University. Carol war Romanistin; sie stand kurz vor dem Pensionsalter und war eine der klügsten Frauen, die Joanna kannte. Steve war Germanist, Anfang Dreißig und ein Charmeur. Dass sie über zehn Jahre älter war als er, hielt ihn nicht davon ab, sie regelmäßig zum Essen in seine Wohnung einzuladen. Da er vorzüglich kochen konnte, sagte Joanna nie nein. Es hatte eine Weile gedauert, bis Steve begriffen hatte, dass sie an einer intimen Beziehung mit ihm nicht interessiert war. Dennoch lud er sie weiterhin zu Sushi oder Risotto con asparagi ein; das rechnete Joanna ihm hoch an. Nichts war für sie schlimmer, als selbst kochen zu müssen.

Sie fing an zu rennen. Kurz vor der Passkontrolle holte sie die beiden ein.

»Da bist du ja«, rief Carol. »Wir hatten schon gedacht, wir müssten ohne dich und deinen wunderbaren Vortrag auskommen.«

Wie gut, dass es Menschen wie Carol gab, die einem auch mal was gönnten.

»Hi«, sagte Steve und drückte ihr feuchte Küsse auf beide Wangen. »Wo hast du gesessen?«

Joanna deutete mit einer Handbewegung an, dass sie darüber lieber nicht sprechen wollte.

Jetzt schloss sich ihnen auch Nick an. Carol musterte ihn von oben bis unten und verkündete dann, dass es ihr gar nicht gefiel, wie blass er aussah. Carol war die Einzige, die Nick so etwas sagen durfte, ohne dass er gleich ausfallend wurde.

»Du weißt doch, mein Magen«, murmelte er und zündete sich eine Zigarette an.

»Dir ist nicht zu helfen!«, rief Carol und reichte dem Beamten ihren Pass.

Er war jung, höchstens fünfundzwanzig, und trug eine goldumrandete Brille, ohne die er wie sechzehn ausgesehen hätte.

»Are you on holiday in Germany?«, fragte er freundlich, während er in Carols Pass blätterte.

»Schön wär’s«, antwortete Carol und erklärte, dass sie und ihre drei Kollegen an einer wissenschaftlichen Tagung hier in Hamburg teilnähmen.

Der Beamte nickte fast unmerklich und gab Carol den Pass mit einem Lächeln zurück.

Joanna nahm dies mit Erstaunen zur Kenntnis. Sie war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Einreise nach Deutschland länger dauern würde und sich zu einer regelrechten Nervenprobe entwickeln könnte. Das Mindeste, was sie erwartet hatte, war die Aufforderung, ein mehrseitiges Formular auszufüllen und eine Reihe von Fragen, eventuell sogar Fangfragen, zu beantworten. Ihre Vorstellungen von deutscher Bürokratie bezog Joanna aus der Literatur, vornehmlich aus den Werken von Franz Kafka. Doch für den jungen Hamburger Beamten waren vier Amerikaner mit gültigen Pässen kein Grund, sich in zusätzliche Arbeit zu stürzen. Offensichtlich war die Teilnahme an einer wissenschaftlichen Tagung genau das, was er ihnen zutraute, nicht mehr und nicht weniger. Joanna war beinahe enttäuscht, als sie hinter den anderen her zur Gepäckausgabe ging.

Während sie auf das Förderband starrte, um unter den unzähligen schwarzen Koffern den ihren zu entdecken, dachte sie an ihren Vater, mit dem sie sich vor zwei Tagen zum Mittagessen getroffen hatte. Es war ihre Idee gewesen. Sie hatte sich vorgestellt, dass es ihm gut täte, aus seinem Anwesen in Pound Ridge herauszukommen. Vielleicht hatte sie auch nur ein schlechtes Gewissen gehabt, dass sie sich seit fast zwei Monaten nicht gesehen hatten, aber sie lebte und arbeitete nun mal in Manhattan und konnte nicht, wie ihr Bruder Ron, jeden Abend auf dem Nachhauseweg in Pound Ridge vorbeischauen.

Statt sich über ihre Einladung zu freuen, hatte sich ihr Vater zwanzig Minuten lang über den Verkehr beklagt, als ob die knapp einstündige Fahrt nach Manhattan eine Zumutung sei für einen Mann, der gerade mal siebzig und bei bester Gesundheit war. Es war das erste Mal, dass sie zu zweit in einem Restaurant saßen. Sie hatte das Time Café gewählt, ein Ort, den sie mochte und von dem sie wusste, dass er ihn von sich aus nie betreten würde: keine Tischtücher, eine Uhr wie im Bahnhofssaal, an den Wänden eine schwarz-weiße Fototapete mit Wüstenkakteen, dazu Jazzmusik. Während sie auf ihr Essen warteten, hatte er plötzlich begonnen, von ihrer Mutter zu sprechen. Dass er sie noch genauso vermisse wie vor zehn Jahren. »Dabei hast du doch Ruth«, hatte sie eingewandt. »Und vorher waren es Lorraine und Evelyn, und was weiß ich, wie sie alle hießen.« Ihr Vater hatte sie mit seinem durchdringenden Richterblick angesehen und gesagt: »Joanna, Liebes, davon verstehst du nichts.«

Fast hätte sie ihren Koffer übersehen.

»Willst du den ganzen Monat bleiben?«, fragte Nick, während sie den Koffer vom Band zog.

Joanna lächelte ihn an, ohne zu antworten. Die Zeiten waren vorbei, in denen sie Nick oder sonst irgendwem Kommentare darüber gestattete, wie viel Gepäck sie mitnahm.

Jetzt warteten sie nur noch auf Steves Koffer. Nick hatte bereits seinen alten Rucksack umgehängt und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

»Warum gehst du nicht schon?«, schlug Joanna vor. »Du wohnst doch sowieso woanders.«

»Wieso das denn?«, fragte Carol. »Ich habe zwei Doppelzimmer bestellt.«

»Er wohnt bei einem Bekannten, den er seit vierzehn Jahren nicht gesehen hat.«

»Aha. Und wer zahlt seine Doppelzimmerhälfte?«

Nick zuckte mit den Achseln. »Das wird sich schon finden.«

»Von wegen«, murmelte Carol.

»Bis später.« Nick verschwand mit schnellen Schritten in Richtung Ausgang.

»Wir sprechen uns noch«, rief Carol ihm nach.

Joanna sah, wie sich auf ihrem Hals kleine rote Flecken bildeten. »Reg dich nicht auf. Schick ihm die Rechnung, und damit hat sich’s.«

»Die wird er nie bezahlen.«

»Das wollen wir doch mal sehen. Wir bezahlen sie jedenfalls auch nicht.«

Die Universitätsverwaltung hatte ihnen kurz vor der Abreise mitgeteilt, dass sie für die Flugkosten, nicht aber für die Unterbringung aufkommen werde. Joanna konnte sich genau vorstellen, wie der geizige Nick noch am selben Tag sein Adressbuch gewälzt und diesen deutschen Bekannten ausgegraben hatte.

»Weißt du«, seufzte Carol, »in Momenten wie eben stellt sich mir immer wieder die Frage, wie du es drei Jahre mit diesem Mann ausgehalten hast.«

»Das frage ich mich auch«, sagte Steve und sah sie halb beleidigt, halb vorwurfsvoll an, als ob er sagen wollte: Und mich weist du zurück.

»Jeder Mensch macht Fehler. Im Übrigen hat sogar Nick nette Seiten, auch wenn ihr das nicht für möglich haltet.« Joannas Stimme klang schärfer, als sie es beabsichtigt hatte. »Wo bleibt dein Koffer?«

Sie waren mittlerweile fast die Einzigen in der Halle, und auf dem Band lag nur noch eine alte Reisetasche. Steve lief sofort los, um sich zu erkundigen, ob noch weiteres Gepäck ausgeladen würde. Das Gespräch über Nick musste ihn ziemlich in Anspruch genommen haben, sonst hätte er sich längst um seinen Koffer gekümmert.

Als er zurückkam, war er blass. »Was soll ich jetzt machen? Ohne meinen Koffer kann ich nicht an der Tagung teilnehmen.«

Carol hakte sich bei ihm ein. »Hauptsache, du hast deinen Vortrag!«

Er schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt. Joanna kannte keinen Mann, der so viel Wert auf sein Äußeres legte wie Steve. Seine Garderobe war farblich immer genauestens aufeinander abgestimmt; seit einiger Zeit bevorzugte er Senfgelb, was Joanna als wahre Zumutung empfand.

Gemeinsam zogen sie los, um den verlorengegangenen Koffer zu melden. Nun mussten also doch Formulare ausgefüllt und Fragen beantwortet werden. Während Steve mit der Flughafenangestellten sprach, dachte Joanna an ihre Mutter, die irgendwann mal behauptet hatte, eine glückliche Ehe zu führen. »Mit einem Mann, der dich ständig betrügt?«, hatte sie ungläubig gefragt. Ihre Mutter hatte diesen gläsernen Blick bekommen, den sie immer dann bekam, wenn es um etwas Körperliches, womöglich Sexuelles ging. Sie hatte sich geräuspert und zufrieden festgestellt: »Wir haben seit Jahren getrennte Schlafzimmer.« Joanna hatte darauf verzichtet, ihre Mutter daran zu erinnern, dass ihnen als Kindern immer gesagt worden war, der schnarchende Vater sei der Grund für diese Trennung.

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4.

Robert war bereits zweimal um den Block gefahren, als er am Ende der Ottenser Hauptstraße einen Parkplatz fand. Er parkte nicht gern hier, wo die Flaschencontainer ständig überquollen und die Häuserzeile durch ein Stück Ödland unterbrochen war, auf dem sich die Junkies trafen. Vor einiger Zeit waren hier drei riesige Plakatwände aufgestellt worden, die offensichtlich das Ödland verdecken sollten, es aber nur umso augenfälliger machten. Neben der obligaten Waschmittelwerbung prangten dort seit gestern eine fröhliche Aquavit- und eine Bacardi-Rum-Reklame, auf der sich, wie üblich, spärlich bekleidete Paare unter karibischen Palmen aufhielten. Robert fragte sich, ob die Person, die darüber zu entscheiden hatte, welche Reklame wo angebracht wurde, jemals in der Ottenser Hauptstraße gewesen sei.

Es war erst kurz vor elf und bereits so heiß, dass ihm beim Aussteigen schwarz vor Augen wurde und er sich an der Autotür festhalten musste. Seit seiner Kindheit hatte er diese lächerliche Tendenz zur Ohnmacht. Als nach einigen Sekunden das Rauschen in den Ohren nachließ, lief er in einen offenen Hausflur und blieb dort eine Weile auf der untersten Treppenstufe sitzen, bis er auch den Druck auf den Schläfen nicht mehr spürte. Dann trieb ihn der Geruch nach angebranntem Kohl wieder auf die Straße. Er lud seine Einkäufe aus und schleppte sie hundertfünfzig Meter weiter bis zu jener Einfahrt, durch die er hindurch musste, um zu seiner Wohnung zu gelangen.

Er wohnte im ersten Stock des Hinterhauses, gleich über einer Druckerei, aus der es an einem heißen Tag wie diesem noch intensiver nach Druckerschwärze roch als sonst. Durch die geöffneten Fenster drang das gleichmäßige Rattern der Maschinen. Im Hof stand ein weißer Kombi mit der Aufschrift: Dreiser-Druck: schnell und zuverlässig. Johann Dreiser war damit beschäftigt, den Kombi zu beladen. Als er Robert sah, kam er auf ihn zu, um ihm zu sagen, dass ihn ein Amerikaner mit Rucksack habe sprechen wollen. Er sei nicht mehr ganz jung gewesen und habe kein Wort Deutsch verstanden.

»Danke.« Robert schloss die Tür auf. Das ging ja gut los. Nick hatte geschrieben, er käme nicht vor zwölf.

Im Briefkasten lag eine Postkarte von seiner Mutter, die sich darüber beklagte, dass ihre Kur eine Zumutung sei, Bad Pyrmont sich sehr zu seinem Nachteil verändert habe und sie nicht wisse, wie sie es dort noch fünf Wochen aushalten solle. Wann Robert sie besuchen käme? Bald würden doch die Ferien anfangen.

Robert begann, die Lebensmittel auszupacken. Warum fuhr sie auch nach Bad Pyrmont? Um sich beklagen zu können über das zu laute Zimmer, das zu fette Essen und die Tischnachbarn ohne Niveau? Er wusste nicht, wie sie es angestellt hatte, überhaupt an eine Kur zu kommen. Sie war kerngesund.

Wie schon oft in seinem Leben empfand Robert es als überaus ungerecht, ein Einzelkind zu sein. Er hatte sich vorgestellt, nach Nicks Abreise am nächsten Sonntag endlich wieder Zeit für sich zu haben, um schwimmen zu gehen, die Küche zu streichen und seine Steuererklärung vorzubereiten. Stattdessen würde er am kommenden Montag, wahrscheinlich bei über dreißig Grad im Schatten, mit Tausenden von Urlaubern auf der Autobahn im Stau stehen, um irgendwann in Bad Pyrmont anzukommen und sich dort in einer stickigen Pension einzumieten. Er kannte Bad Pyrmont zur Genüge; dort hatte schon sein nierenkranker Vater drei Kuren absolviert, bevor er vor knapp vierundzwanzig Jahren an einem Gehirnschlag gestorben war.

Die Nachricht von seinem Tod hatte ihn damals in Birmingham erreicht, wo er wenige Wochen zuvor angekommen war, um zwischen Grund- und Hauptstudium ein Jahr als Fremdsprachenassistent an einer Schule zu arbeiten. Er fuhr noch am selben Tag nach Hamburg zurück. Nach der Beerdigung bat seine Mutter ihn immer wieder, die Rückkehr nach Birmingham zu verschieben. Als er schließlich eine Fähre gebucht hatte, wurde sie krank. Von einem Tag auf den anderen versagten ihre Beine; die Ärzte wussten keine Erklärung für diese plötzliche Lähmung, die nach drei Wochen ebenso plötzlich wieder verschwand. Inzwischen hatte die Schulleitung in Birmingham ihm mitgeteilt, dass die Stelle anderweitig besetzt worden war. Robert hatte seiner Mutter diese Krankheit nie verziehen. Bis heute litt er darunter, dass sein Englisch nicht so gut war wie das seiner Kollegen, die alle mindestens ein Jahr im englischsprachigen Ausland verbracht hatten.

Er starrte auf das Bild vom Pyrmonter Schloss, auf dem sich die steife Schrift seiner Mutter durchgedrückt hatte, und hoffte, es möge irgendetwas passieren, was es ihm unmöglich machen würde, nach Bad Pyrmont zu fahren.

Zwanzig vor zwölf. Bestimmt saß Nick in einem Café und kam auch gut ohne ihn zurecht. Robert betrachtete den Berg schmutzigen Geschirrs, wusch ein Glas ab und mixte sich eine Apfelsaftschorle. Dann ging er, mit der Frankfurter Rundschau und einer Packung Vanillekipferl unterm Arm, in den Wintergarten, der nach Westen auf den Hof zeigte und in dem es um diese Zeit noch nicht so heiß war wie in den übrigen Zimmern. Der Wintergarten war ausschlaggebend dafür gewesen, dass er sich vor zwanzig Jahren, direkt nach dem Examen, für diese Wohnung entschieden hatte, seine erste eigene Wohnung. Zum Entsetzen seiner Mutter war er gleich eingezogen, ohne die Wände zu tapezieren oder den Linoleumfußboden auszuwechseln. Das hatte erst Claudia später in Angriff genommen.

Robert hatte sich gerade in einem seiner Korbsessel niedergelassen, als er die Stimme von Johann Dreiser hörte.

»Klingeln Sie nur. Der ist jetzt zu Hause. JA! ROBERT IST ZU HAUSE!«

Robert fand es immer wieder erstaunlich, zu beobachten, wie manche Leute automatisch anfingen zu schreien, wenn sie sich mit einem Ausländer unterhielten.

Auf dem Weg zur Tür warf er einen Blick in den Spiegel und versuchte, sich zu erinnern, wie er vor vierzehn Jahren ausgesehen hatte. Seitdem ihm in den letzten Jahren fast alle Haare ausgefallen waren, machte er immer wieder die Erfahrung, dass Menschen, die ihn lange nicht gesehen hatten, ihn zuerst nicht wiedererkannten. Aber vielleicht lag das nicht nur an den fehlenden Haaren.

Er öffnete die Tür, und da stand Nick auch schon vor ihm. Er hatte sich fast überhaupt nicht verändert, war genauso hager und blass im Gesicht; nur seine Nase schien noch spitzer geworden zu sein.

Nach kurzem Zögern streckte Robert ihm die Hand entgegen. »Hi.«

»Hi«, sagte Nick und verzog die untere Gesichtshälfte zu diesem merkwürdigen Grinsen, das so aussah, als ob er sich den Mund verbrannt hätte.

»Komm rein«, murmelte Robert und konnte Nick dabei nicht ansehen. Nicks Art zu grinsen hatte ihn schon in jenem Sommer in New York verunsichert, im Gegensatz zu Claudia, die sich immer darüber amüsiert hatte. Nick stellte seinen Rucksack ab und blieb unschlüssig im Flur stehen.

»Willst du was trinken?«

»Wenn du ’n Kaffee hast.«

Robert trank nur Tee, aber irgendwo musste er noch eine angebrochene Packung Jacobs-Kaffee und einen alten Melitta-Filter haben. Als er sich bückte, um in seinem Küchenschrank danach zu suchen, sah er aus den Augenwinkeln, wie Nick sich auf einen der beiden orangefarbenen Klappstühle setzte und sich eine Zigarette anzündete. Er überlegte einen Moment lang, ob er ihm sagen sollte, dass er mittlerweile Nichtraucher sei, aber dann entschied er sich dagegen. Schließlich hatte er nicht vergessen, wie kleinlich ihm früher die Leute erschienen waren, die ihn auf den Balkon geschickt hatten, wenn er rauchen wollte.

Nachdem er die verstaubte Packung Jacobs-Kaffee gefunden hatte, setzte er Wasser in seinem elektrischen Kessel auf. Er begann zu schwitzen. Besuch strengte ihn immer an, vor allem, wenn er sich auf Englisch unterhalten musste, was er außerhalb der Schule schon seit Jahren nicht mehr getan hatte.

»Hunger?«

Nick schüttelte den Kopf.

Während der Kaffee durchlief, ging Robert in den Wintergarten, um die Vanillekipferl zu holen. Er blieb etwas länger als nötig, schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Er musste sich entspannen, sonst würde er die nächsten Tage nicht überstehen.

Als er in die Küche zurückkam, hatte Nick seine Schuhe ausgezogen. Eigentlich hatte Robert vorschlagen wollen, hinüber in den Wintergarten zu gehen, anstatt hier in der winzigen Küche zu sitzen, in der das schmutzige Geschirr bereits angefangen hatte zu stinken. Aber Nick sah nicht so aus, als ob ihm ein nochmaliger Ortswechsel gefallen würde.

»Zucker?«

Wieder schüttelte Nick den Kopf. Aber immerhin nahm er ein Vanillekipferl.

»Hattest du einen guten Flug?«

»Ging so.«

Robert stand auf, um sich noch eine Apfelsaftschorle zu mixen; dann setzte er sich wieder an den Tisch. Er wusste nicht, wie ein Gespräch in Gang kommen sollte, wenn Nick nur rauchte, Kaffee trank und ab und zu aus dem Fenster sah. Fast hätte Robert ihn um eine Zigarette gebeten, aber so weit kam das noch. Er hatte seit über zehn Jahren nicht geraucht.

»Wo ist Claudia?«, fragte Nick nach einer Weile, und seine Stimme klang zum ersten Mal weniger monoton.

»In Marburg. Wieso?«

»Was macht sie da?«

Erst jetzt begriff Robert, dass Nick nichts von ihrer Scheidung wusste. Er war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Claudia ihm damals ihre neue Anschrift mitgeteilt hatte.

Es fiel ihm immer noch schwer, über das Ende seiner Beziehung mit Claudia zu sprechen. Aber da Nick nicht lockerließ, sondern ihn weiterhin fragend ansah, erzählte er ihm schließlich, dass sie sich getrennt hätten, weil Claudia mit einem anderen Mann zusammenleben wollte, und dass sie auch Lotte mitgenommen habe, was ihm am meisten zu schaffen mache.

Nick bemühte sich nicht im Geringsten, seine Enttäuschung zu verbergen. Er zog seine Schuhe wieder an, und Robert dachte schon, er würde sich jetzt verabschieden und in ein Hotel ziehen.

»Wo ist das Klo?«

»Zweite Tür links.«

Natürlich hatte Nick vor allem Claudia wiedersehen wollen. Mit Claudia hätte er niemals so steif dagesessen. Claudia hatte Nick aus der Reserve locken können; mit ihr zusammen war er witzig und unterhaltsam gewesen. Robert erinnerte sich, wie ausgeschlossen er sich oft gefühlt hatte, wenn die beiden sich gegenseitig die Bälle zuwarfen, in jener Woche in New York, als sie bei Nick wohnten. Und da half es nicht viel, wenn er sich sagte, dass Claudia Nick viel besser kannte, weil sie ein ganzes Jahr bei ihm studiert hatte. Nick gab Claudia ständig Tipps, welche neuere amerikanische Literatur sie lesen und möglicherweise übersetzen könnte. Als Robert an einem Abend kurz vor ihrer Rückreise nach Deutschland gefragt hatte, ob man sich vielleicht auch noch über etwas anderes unterhalten könnte, war es zu einem heftigen Streit gekommen, in dem Claudia ihm vorwarf, ein eifersüchtiger Langweiler zu sein, der kein Interesse an ihrer Karriere habe. Als sie später tatsächlich einen größeren Übersetzungsauftrag bekam, der auf einen von Nicks Vorschlägen zurückging, rieb sie ihm immer wieder unter die Nase, dass Nick mehr für sie getan habe, als er jemals zu tun in der Lage sei. Vielleicht war da bereits ihre Beziehung in Gefahr gewesen.

»Robert?« Nick stand in der Tür und grinste. »Ich muss mich bewegen. Hast du ’n Schlüssel für mich?«

Stumm reichte Robert ihm seinen Ersatzschlüssel. Er wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war. Dann stand er auf und ging zurück in den Wintergarten.

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5.

Der Taxifahrer war jung und sprach Englisch. Als er sich zum wiederholten Male über den vielen Verkehr beklagte, versuchte Carol ihn mit den Worten zu beruhigen, dass dies nichts sei im Vergleich mit dem Verkehr in Manhattan. Joanna sah im Rückspiegel, wie der Taxifahrer die Augen verdrehte. Dann erklärte er, dass er nicht vorhabe, jemals in seinem Leben nach Amerika zu fahren.

Der Dänische Hof war ein unscheinbares, nicht gerade ruhig gelegenes Hotel der mittleren Preisklasse. Das Zimmer, das Carol und sie bezogen, lag im dritten Stock und blickte auf einen Hinterhof. Die grüngestreiften Gardinen nahmen das Grün des Teppichbodens wieder auf, selbst die Zahnputzbecher waren grün.

Grün beruhigt, dachte Joanna und ließ sich aufs Bett fallen, während Carol in Windeseile ihren Koffer auspackte und dann im Badezimmer verschwand. Joanna starrte an die Decke und überlegte, wie es kam, dass manche Menschen einen unerschöpflichen Energievorrat hatten. Carol würde als Nächstes ankündigen, dass sie nach dem vielen Sitzen unbedingt laufen müsse, und so war es auch. Frisch geduscht und ohne Ringe unter den Augen verließ Carol das Zimmer, den Hamburg-Führer unterm Arm.

Joanna knipste ihre Nachttischlampe an und griff nach der Hotelbroschüre, in der die hervorragende Innenstadtlage und die geräumigen Konferenzräume angepriesen wurden. In der Nachttischschublade befand sich ein Buch mit einem roten Plastikeinband. Erst bei genauerem Hinsehen stellte Joanna fest, dass es sich um eine Bibel handelte. Sie musste sofort an Katie denken; die Entdeckung einer Bibel in einem Hotelnachttisch würde ihr gefallen.

In New York war es jetzt sieben Uhr morgens, Katie schlief selten länger als bis sechs. Sie würde sie anrufen, allein schon, um sich nach Bruno zu erkundigen.

Joanna wählte die Nummer der Rezeption und ließ sich die Vorwahl der Vereinigten Staaten geben. Dann bestellte sie sich ein Omelett und ein Bier.

Sie schob sich das kleine Marzipanbrot in den Mund, das auf ihrem Kopfkissen gelegen hatte, und wählte Katies Telefonnummer. Der Anrufbeantworter sprang an, und sie wollte schon wieder auflegen, als Katie abnahm.

»Wer ist da?« Ihre Stimme klang gereizt.

»Ich bin’s.«

»Mein Gott, ich dachte, es würde irgendwo brennen.«

»Hast du noch geschlafen?« Joanna fühlte sich irritiert durch das Echo ihrer eigenen Stimme. Es war, als würde sie sich selbst ständig dazwischenreden.

»Nein«, antwortete Katie. »Ich war überhaupt noch nicht im Bett. Mit Martin ist es endgültig aus.«

»Wirklich?« Joanna rollte eine Kugel aus dem Papier, in dem das Marzipanbrot eingewickelt war. »Vergiss ihn. Der hat so jemanden wie dich gar nicht verdient.«

»Doch«, rief Katie und brach in Tränen aus.

»Glaub mir …«

»Was weißt du denn schon von Liebe?«

Joanna biss sich auf die Lippen. Ihr Blick fiel auf die Bibel, doch sie hatte plötzlich keine Lust mehr, Katie davon zu erzählen. »Wie geht’s Bruno?«

»Schlecht«, schniefte Katie. »Er vermisst dich.«

»Ich vermisse ihn auch. Hat er noch mal auf den Teppich gepinkelt?«

»Nein.«

Sie hörte, wie Katie sich die Nase putzte.

»Joanna?«

»Ja?«

»Tut mir leid, was ich eben gesagt habe …«

»Ist schon gut. Bis bald.« Sie legte auf, obwohl Katie sicher gern noch weitergeredet hätte. Aber schließlich war sie diejenige, die dieses Transatlantikgespräch bezahlen musste.

Der Ober, der das Omelett brachte, war höchstens siebzehn. Er stellte das Tablett auf den Couchtisch und verschwand, ohne ein Trinkgeld abzuwarten.

Joanna stand auf und schenkte sich ihr Bier ein. Katies Bemerkung hatte sie verletzt, auch wenn sie das ihr gegenüber nicht zugegeben hätte. Sie scherzten immer gemeinsam über all die Männer, die nicht zu Joanna passten. Aber dass Katie ihr so pauschal jedes Wissen über die Liebe absprach, das ging doch zu weit.

Nachdem sie geduscht hatte, verließ sie das Hotel, um sich ein Café zu suchen. Es war heiß, heißer als in New York. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und faltete den kleinen Stadtplan auseinander, den ihr der Mann an der Rezeption in die Hand gedrückt hatte. Sie solle sich links halten, hatte er gesagt. Dann käme sie zu den Colonnaden, einer reinen Fußgängerzone; dort seien mehrere Cafés.

Joanna stutzte, als sie sah, dass nur wenige Meter vom Hotel entfernt ein Notarztwagen stand, auf dem das Blaulicht noch blinkte. Immer mehr Menschen blieben stehen und starrten auf den Eingang zu einer Buchhandlung. Joanna verabscheute diese glotzenden Massen, die sich nicht satt sehen konnten an Unfallopfern auf der Autobahn oder dem Selbstmörder, der jeden Augenblick von der Brücke springen konnte. Und dennoch ging auch sie nicht weiter. Aus der Buchhandlung kamen jetzt zwei Pfleger mit einer Trage, auf der eine junge Frau lag, die grau im Gesicht war. Die Pfleger baten darum, dass ihnen Platz gemacht würde. Nur sehr langsam teilte sich die Menge. Die Trage wurde in den Notarztwagen geschoben, einer der Männer stieg hinten ein, der andere vorn, ein Martinshorn heulte auf, der Wagen fuhr davon und gab den Blick frei auf eine Litfaßsäule, auf der eine Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle angekündigt wurde: Bilder aus dem Guggenheim Museum.

Joanna spürte einen leichten Schwindel. Sie hätte kein Bier trinken sollen.

In den Colonnaden waren um diese Zeit nicht viele Leute unterwegs. Katie würde ihr Vergnügen daran haben, sich über diese Ansammlung von teuren Geschäften zu mokieren. Andererseits wäre sie, ohne darüber nachzudenken, in der Lage, im Steinway-Haus, das den Mittelpunkt der Colonnaden bildete, Hunderte von Mark für CDs auszugeben.

Joanna suchte sich einen schattigen Platz in einem der Straßencafés und bestellte einen Espresso. Manchmal fragte sie sich, ob es nicht gut wäre, wenn Katie und sie etwas mehr Abstand voneinander bekommen würden. Sie wusste doch seit langem, dass sie für Katie mehr war als nur eine Freundin. Katies Mutter war gestorben, als Katie sieben Jahre alt war. Irgendeiner von Katies Freunden hatte ihr dies erzählt; sie selbst sprach nie über ihre Mutter. Angeblich war sie im Suff gegen einen Baum gefahren und sofort tot gewesen. Katie hatte mit ihrer kleinen Schwester hinten im Wagen gesessen und war unverletzt geblieben. Die Schwester konnte sich seit jenem Unfall nicht mehr bewegen. Über sie wurde ebenfalls nie gesprochen.

Joanna hatte gerade ihren zweiten Espresso bestellt, als sie Steve auf sich zukommen sah. Er war von Kopf bis Fuß in Dunkelblau gekleidet, seine Haare waren sorgfältig geföhnt, nur sein Gesicht wirkte merkwürdig verspannt.

»Tut dir was weh?«, fragte Joanna, als Steve sich zu ihr gesetzt hatte.

»Wieso?«

»Du verziehst so das Gesicht.«

»Meine Schuhe drücken.«

Joanna deutete auf seine Garderobe. »Warst du schon einkaufen, oder ist dein Koffer inzwischen angekommen?«

»Wie wohl? Meinst du, hier landet stündlich eine Maschine aus New York? Nein, nein. Ich habe eine Menge Geld ausgegeben. Vielleicht sind die Schuhe eine halbe Nummer zu klein.«

»Du solltest öfter Dunkelblau tragen. Das steht dir besser als Senfgelb.«

An Steves Stirnrunzeln konnte sie absehen, dass sie mit dieser Bemerkung zu weit gegangen war.

»Wenn du schon solche Unkosten hattest, darf ich dich vielleicht zu einem Espresso einladen? Der ist vorzüglich.«

»Ich nehme einen Eiskaffee.«

Während sie auf die Bedienung warteten, entfernte Steve mit spitzen Fingern einen Fussel von seiner neuen Hose, zog die Bügelfalte hoch und schlug dann vorsichtig die Beine übereinander. Katie würde diesen Anblick nicht ertragen, ohne einen ihrer beißenden Kommentare abzugeben, dachte Joanna. Und plötzlich tat es ihr leid, dass sie vorhin einfach eingehängt hatte.

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6.

Robert wurde davon wach, dass jemand die Wohnungstür aufschloss. Viertel vor fünf. Er hatte fast zwei Stunden lang geschlafen. Im Zimmer war es unerträglich heiß, das Unterhemd klebte an seinem Körper, und sein Mund war trocken.

Er hatte von Lotte geträumt. Sie stand auf einer Brücke und winkte ihm aufgeregt zu, um ihm etwas zu zeigen. Er wollte auf sie zugehen, konnte sich jedoch nicht vom Fleck rühren. »Papi, warum kommst du denn nicht?«, rief Lotte und deutete auf die Uferböschung. Dort lief eine riesige Ratte durchs Gras; sie hielt ein paarmal inne, lief dann weiter und verschwand plötzlich im Wasser. Und nun sah er, warum Lotte so aufgeregt war. Nur wenige Meter entfernt schwamm eine Ente mit vier Entenküken, drei braunen und einem gelben. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchte die Ratte an der Wasseroberfläche auf, und schon war das gelbe Küken verschwunden. »Nein«, schrie Lotte und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie drehte sich zu Robert um, und ihre Augen starrten ihn entsetzt an. Langsam, wie in Zeitlupe, ließ sie die Hand wieder sinken. »Papi, warum bist du nicht gekommen?«

Robert erinnerte sich nicht, wann Lotte zum letzten Mal »Papi« zu ihm gesagt hatte. Er stand auf und zog sich seinen Bademantel über. Sonderbar, an die Geschichte mit dem Entenküken hatte er schon lange nicht mehr gedacht. Kurz nachdem Claudia ihm mitgeteilt hatte, dass sie ihn verlassen wolle, war er mit Lotte zum Entenfüttern an die Alster gegangen. Lotte hatte gequietscht vor Begeisterung über die Entenküken, die eifrig hinter ihrer Mutter herschwammen. Plötzlich war etwas über ihn gekommen, und er hatte ihr die Geschichte von der Wasserratte erzählt, die er als kleiner Junge erlebt hatte. Lotte hatte ihn so fassungslos angesehen, als ob er das Küken verschlungen hätte. Dann war sie in Tränen ausgebrochen. Sie hatten nie wieder zusammen Enten gefüttert.

Schon vom Flur aus konnte Robert sehen, dass in der Küche geraucht wurde. Es ärgerte ihn, dass Nick nicht einmal gefragt hatte, ob ihn der Rauch störe. Er zog den Gürtel des Bademantels fester, strich sich über den Kopf und beschloss, in dieser zweiten Runde nicht so jämmerlich zu versagen wie in der ersten. Der Schlaf hatte ihm gut getan, trotz des Traums.

Nick grinste, als er hereinkam. Wahrscheinlich fand er in ihm all das bestätigt, was er schon immer über Lehrer gedacht hatte. Ein faules Pack, das Zeit hat, nachmittags zu schlafen.

»Wann beginnt die Tagung?«

»Um sieben.«

»Willst du auch einen Tee?«

»Nein, danke.«

Robert setzte den Wasserkessel auf und holte einen Becher aus dem Schrank. Immerhin war es ihm vorm Schlafen noch gelungen, den Abwasch zu machen. »Worum geht’s bei eurer Tagung?«

»Krieg und Gewalt in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts.«

Für Robert hörte sich das nicht gerade nach einem klar umrissenen Thema an. »Hast du was gegessen?«

»Ja, ich war bei einem Griechen hier um die Ecke.«

»Du schläfst in dem vorderen Zimmer«, sagte Robert und begann, sich ein Leberwurstbrot zu schmieren. »Wenn dir das zu laut ist, kannst du auch in den Wintergarten umziehen.« Er schnitt eine Gewürzgurke in dünne Scheiben und verteilte sie auf dem Leberwurstbrot. Dabei blickte er nicht von seinem Teller hoch, obwohl er genau wusste, dass Nick ihn beobachtete. »Ist was?«

»Ich probiere auch eine«, murmelte Nick und griff in das Gurkenglas.

Vielleicht würde er die nächsten Tage doch überstehen, dachte Robert und stand auf, um den Tee aufzugießen.

»Funktioniert die Dusche?«

»Wieso?«

Nick zuckte mit den Achseln. »Sieht etwas angegriffen aus.«

»Heute Morgen hat sie noch funktioniert.«

»Übrigens … der Eröffnungsvortrag ist öffentlich. Es geht um Margaret Atwood.«

»Ist mir ein Begriff.«

»Könnte interessant werden. Vielleicht hast du Lust mitzukommen.«

Robert nahm sich noch eine Gewürzgurke. »Ich überleg’s mir.«

»Der Vortrag findet in der Universität statt.« Nick stand auf, ging in den Flur und fing an, in seinem Rucksack zu wühlen. »Von-Melle-Park 6. Hast du Shampoo?«

»Brauche ich nicht.«

Nick drehte sich erstaunt um.

Robert deutete auf seine Glatze und grinste.

»Ach so, natürlich. Blöde Frage.« Nick verschwand in der Dusche.