Das gerettete Kind - Renate Ahrens - E-Book
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Das gerettete Kind E-Book

Renate Ahrens

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Beschreibung

Hamburg 1939: Die zwölfjährige Irma wird von ihren Eltern für einen jüdischen Kindertransport nach Großbritannien angemeldet. Auf der Insel soll sie – wie viele andere jüdische Kinder – ein neues Zuhause finden. Die Eltern wollen so schnell wie möglich nachkommen, doch vorerst muss das Mädchen die beängstigende Reise ins Ungewisse alleine antreten. Irland 2013: Irma ist 86 Jahre alt und hat gerade einen schweren Herzinfarkt überlebt. Während sie sich erholt, wird sie von Kindheitserinnerungen heimgesucht, die sie in den letzten Jahrzehnten erfolgreich verdrängt hat. Das damals Erlebte hat tiefe Spuren in Irma hinterlassen. Etwas in ihr hat sich verhärtet. Ihre Tochter Leah wirft ihr vor, sie sei zurückweisend und kühl und nie eine gute Mutter gewesen. Leah hat längst resigniert und sich von Irma zurückgezogen. Die Enkelin Rebecca dagegen fängt an, Fragen zu stellen. Mit der Zeit erkennt Irma, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zwar sehr schmerzhaft, aber auch heilsam ist. Und so beginnt sie zu erzählen. Von ihrer Flucht, von ihrer besten Freundin und von einer Schuld, die sie auf sich lud. "Das ist eine bewegende, eine berührende Geschichte. Renate Ahrens schreibt sie vollständig aus der Sicht ihrer drei Protagonistinnen, lässt sie gleichberechtigt abwechselnd erzählen. [...] Renate Ahrens hat gründlich recherchiert und einen spannenden und psychologisch schlüssigen Roman geschrieben." SWR Buchkritik "Mitfühlend und spannend erzählt" Für Sie

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Seitenzahl: 366

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Renate Ahrens

Das gerettete Kind

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Irma (94) musste als jüdisches Kind mit einem Kindertransport aus Nazi-Deutschland nach irland fliehen. Ihre Eltern und Freunde blieben zurück und verschwanden so aus ihrem Leben. Dieses Trauma begleitet sie und ihre irische Familie das ganze Leben – alles Deutsche wurde aus dem Alltag der Familie verbannt. Irmas tochter Leah findet keinen Zugang zu ihrer Mutter und resigniert angesichts ihrer zurückweisenden Art. Als sich Irmas Enkelin Rebecca in den deutschen Studenten Jonas verliebt, rüttelt sie an dem Familien-Tabu. Doch anstatt Rebeccas gewecktes Interesse an Deutschland abzulehnen, beginnt Irma zu erzählen: Von ihrer Kindheit, ihrer damaligen besten Freundin und von einer schuld, die sie auf sich lud. Und langsam verändern sich die Beziehungen der drei Frauen.

Renate Ahrens erzählt in wunderbar-reduzierter Sprache von drei Frauen und der Erkenntnis, dass Schicksalsschläge über Jahrzehnte und Generationen hinweg Zeit brauchen, um zu heilen.

Inhaltsübersicht

Hinweis der AutorinWidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. KapitelNachbemerkungLeseprobe »Der andere Himmel«
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Alle handelnden Personen sind frei erfunden.

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Für meinen Vater

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Prolog

Irma betritt die Bühne. Sie hat einen alten Koffer in der Hand. Wie immer schaut sie mich nicht an. Sie bleibt stehen, blickt auf die Uhr und räuspert sich, als wolle sie sich vergewissern, dass sie ihre Stimme nicht verloren hat. Was für ein Stück wird hier gespielt? Die Tür öffnet sich, und Rebecca kommt herein. Wo warst du? Ich habe dich gesucht, rufe ich. Sie hört mich nicht, sie sieht mich nicht. Sie läuft auf Irma zu, küsst sie auf die Wange, nimmt ihr den Koffer ab. Irma hakt sich bei ihr unter. Die beiden gehen an mir vorbei, sie lachen und reden miteinander. Ich verstehe ihre Sprache nicht.

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1.

Leah

Ich laufe den Pier entlang, habe den Wind unterschätzt. Eine Böe erfasst mich, ich stürze beinahe. Soll ich umkehren? Nein, bis zum Leuchtturm ist es nicht mehr weit.

Wolken ziehen über mich hinweg, hier und da scheint für einen Moment die Sonne. Die Wellen schlagen an die Felsen, höher und höher spritzt die Gischt, ich schmecke Salz auf den Lippen. Ich bin die Einzige hier. Irma würde den Kopf schütteln, wenn sie mich jetzt sähe.

Über dem Leuchtturm kreischen die Möwen. Es fängt an zu regnen, große, schwere Tropfen, im Nu bin ich nass. Ich verzichte auf die Dehnungsübungen und laufe zurück. Alles wirkt auf einmal grau: die Segelboote, der Fährhafen, die Häuserreihe an der Küstenstraße und dahinter die Dublin Mountains. Mir ist kalt.

Der Eisverkäufer am Ende des Piers sitzt unter einem großen, grünen Schirm. Er nickt mir zu, ich nicke zurück. Seit Jahren grüßen wir uns so, ohne jemals ein Wort zu wechseln. Ich überquere die Straße und laufe weiter durch die kleinen Gassen bis zu meinem Haus.

Beim Aufschließen sehe ich, dass an der Tür wieder Farbe abgeplatzt ist. Ich habe kein Blau mehr, um die Stelle auszubessern. Die ganze Fassade braucht einen neuen Anstrich. Und die alten Schiebefenster sind auch nicht mehr dicht. Ich hätte die Renovierung längst in Angriff nehmen müssen. Es wird mir alles zu viel.

»Rebecca?«

Keine Antwort. Keine Nachricht auf dem AB. Keine SMS. Es ist gleich fünf. Ich habe sie heute noch nicht gesehen. Hat sie überhaupt gefrühstückt? Warum sagt sie mir nicht mehr, wo sie hingeht, was sie unternimmt, mit wem sie sich trifft? Ist es zu viel verlangt, dies von seiner achtzehnjährigen Tochter wissen zu wollen? Soll ich sie anrufen? Besser nicht, sie würde sich sofort über meinen vorwurfsvollen Ton beschweren.

Ich dusche und wasche mir die Haare. So geht es nicht weiter, ich muss mich entspannen, vielleicht sollte ich wieder mit Yoga anfangen.

Beim Abtrocknen fällt mein Blick in den Spiegel. Ich bin blass, meine Wangen wirken schmaler als sonst, und wie immer, wenn ich müde bin, zuckt es um meine Augen herum. Sie haben die gleiche Farbe wie Irmas, braun mit orangegelben Sprengseln. Leider habe ich auch Irmas dünne, glatte Haare geerbt, nur ihre sind weiß, und meine sind dunkel, aber nicht mehr lange. Jeden Tag entdecke ich neue graue Haare. Sie sind Ihrer Frau Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, meinte neulich Irmas Nachbarin. Was für ein schrecklicher Ausdruck.

Ich ziehe eine Jeans und einen leichten Pulli an, koche mir einen Tee und setze mich an den Küchentisch. Ich greife nach der Zeitung, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Eine Leere breitet sich in mir aus, ich vermisse die Schule, dabei haben die Ferien gerade erst begonnen. Es ist immer dasselbe. Warum begreife ich nicht, dass es keinen Grund zur Aufregung gibt? Ich werde genug zu tun haben. Die Korrekturen der Leaving-Certificate-Klausuren dauern mindestens drei Wochen, im letzten Jahr waren es fast vier. Angela kann es nicht fassen, dass ich wieder den Juli dafür opfere. Wie kommst du bloß auf die Idee, dich für so etwas zu bewerben? Die Bezahlung ist nicht gut, außerdem hast du genug Geld. Was habe ich ihr geantwortet? Es interessiert mich, wie sich das Niveau der Schüler von Jahr zu Jahr entwickelt. Ihr skeptischer Blick. Ich bin froh, wenn ich mich mal nicht mit Schülerniveaus beschäftigen muss, sondern irgendwo im Süden am Strand liegen und abschalten kann. Wirst du wenigstens im August verreisen? Nein, es ist noch völlig offen, was Rebecca ab Herbst machen wird, ob sie für eine Weile in die USA geht oder nach Frankreich. Da muss ich hier sein und die Dinge mit ihr durchsprechen. Außerdem will ich die neuen Englischkurse vorbereiten. Leah, du brauchst Erholung, rief Angela entsetzt. Guck dich an, wie dünn du bist. Ich wette, du hast wieder abgenommen. Lass mal, ich sorge schon für mich.

Hätte ich ihr sagen sollen, dass der Gedanke an zwei freie Sommermonate für mich unerträglich ist? Vielleicht ahnt sie es, ohne dass ich es ihr sage. Angela kennt mich seit über zehn Jahren, wir sind Kolleginnen, keine Freundinnen, aber sie weiß, dass Simon mich vor acht Jahren wegen einer jüngeren Frau verlassen hat. Nein, ich will jetzt nicht an Simon und seine neue Familie denken. Warum zum Teufel meldet Rebecca sich nicht? Ich werde sie doch anrufen.

Augen zu und ein paarmal tief durchatmen. Ganz ruhig. Wenn sie abnimmt, werde ich sie freundlich fragen, wie es ihr geht und wo sie gerade ist.

Sie hat ihr Handy ausgestellt. Das macht sie in letzter Zeit öfter.

Ich gehe in ihr Zimmer. Ihr Bett ist zerwühlt wie immer. Auf ihrem Schreibtischstuhl liegen ein blaues T-Shirt, ihr Jeansrock und ein bunter Baumwollschal. Lag das nicht alles gestern schon hier? Vielleicht ist Rebecca heute Nacht gar nicht nach Hause gekommen. Das hat es bisher noch nicht gegeben. Übernachtungen bei Freundinnen, ja, aber nicht dieses Wegbleiben, ohne mir Bescheid zu sagen. Und wenn ihr etwas zugestoßen ist? Unsinn. Dann hätte ich längst etwas gehört.

Das Telefon klingelt. Ich laufe in mein Zimmer, stolpere über herumliegende Schuhe, fange mich wieder und nehme den Hörer ab, ohne auf das Display zu blicken. »Hallo?«

»Hier ist Jeremy. Ich habe leider schlechte Nachrichten.«

»Worum geht’s?«

»Mutter ist heute Morgen ins Krankenhaus eingeliefert worden.«

Ich schlucke.

»Zum Glück war ich bei ihr und habe gemerkt, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmt.«

»Gibt es schon eine Diagnose?«

»Herzinfarkt.«

»Oh, nein …«

»Gestern ging es ihr noch so gut …« Jeremy räuspert sich. »Nachmittags hat sie mit ihren Damen Bridge gespielt, und abends war sie mit Thomas im Konzert.«

Es vergeht kaum ein Tag, an dem meine Zwillingsbrüder Irma nicht sehen. Wann bin ich zuletzt bei ihr gewesen? Vor drei Wochen? Oder sind es schon vier?

»Sie liegt im St. Vincent’s Hospital. Wenn du sie besuchen willst, sprich dich vorher mit uns ab, damit wir nicht alle auf einmal bei ihr auftauchen.«

»Natürlich will ich sie besuchen. Was ist denn das für eine Formulierung?«

»Bei dir weiß man’s nie.«

»Ich werde gleich zu ihr fahren.«

»Gut, aber reg sie nicht auf.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Es wäre nicht das erste Mal. Als dein älterer Bruder möchte ich dich darauf hinweisen …«

»Ich habe dich verstanden«, unterbreche ich ihn. »Du musst bei mir nicht diesen Juristenton anschlagen.«

»Wir hören voneinander.« Er legt auf.

Stirbt sie? Ich kann mich nicht rühren. Es ist, als ob in meinem Innern etwas gefriert.

Rebecca

Ich hätte Leah zwischendurch anrufen sollen, sonst wird sie misstrauisch. Wie viele Bahnen bin ich gekrault? Sechsunddreißig oder achtunddreißig? Mensch, warum finde ich meinen Atemrhythmus heute nicht? Jonas sitzt am Beckenrand und schaut mir zu. Er hat seine tausend Meter längst geschafft. Klar. Die letzte Wende war wieder zu langsam. Wieso kann ich mich nicht konzentrieren? Zwei Bahnen noch, dann höre ich auf.

Ich atme Wasser ein und fange an zu husten. Anfängerfehler. Was ist los mit mir? Ich schere aus der Bahn aus, rette mich hinüber in den Nichtschwimmerbereich.

Nach ein paar Sekunden taucht Jonas neben mir auf. »Alles okay?«

Ich nicke. Er umarmt mich und will mir einen Kuss geben, aber ich keuche noch.

»Passiert mir auch manchmal, dass ich falsch atme.«

»Kann ich mir kaum vorstellen.«

»Doch, wenn ich an was anderes denke.«

Er grinst und streicht mir über den Rücken. Seine hellblauen Augen leuchten. Die Augen waren das Erste, was mir an ihm aufgefallen ist, hier im Monkstown Pool, vor vier Monaten. Noch nie hatte ich jemanden mit so strahlenden Augen gesehen.

Allmählich bekomme ich wieder Luft. Jonas glaubt bestimmt, ich hätte daran gedacht, wie wir vorhin miteinander geschlafen haben.

»Weißt du eigentlich, wie schön du bist?«, flüstert er mir ins Ohr.

Ich küsse ihn. Er drückt mich an sich. Ich möchte, dass dieser Moment nie endet.

»Wollen wir los?«

Ich nicke.

Unter der Dusche versuche ich, an den Kuss zu denken, aber es gelingt mir nicht. Am Montag wird Jonas nach Hamburg zurückgehen. Knapp anderthalb Tage bleiben uns noch. Bisher haben wir es beide vermieden, über den Abschied und über die Zukunft zu sprechen. Wie soll ich es ohne ihn aushalten? Die letzten vier Monate waren die besten meines Lebens.

Wir radeln zu ihm zurück. Gleich bei unserer ersten Verabredung im Februar habe ich ihm gesagt, dass meine Mutter schwierig ist und wir uns deswegen besser bei ihm treffen. Er fand nichts dabei, vielleicht kennt er schwierige Mütter.

Das Haus in der Monkstown Road, in dem sein WG-Zimmer liegt, ist nicht weit von Simons Praxis entfernt. Neulich wären wir ihm fast begegnet. Simon stieg in sein Auto, er hat uns nicht gesehen. Ich hätte winken können, dann wäre er wieder ausgestiegen. Im Nachhinein finde ich es schade, dass Jonas meinen Vater nicht kennengelernt hat.

In Jonas’ Zimmer herrscht das übliche Chaos. Er hat noch nicht angefangen zu packen.

»Du siehst traurig aus.«

Ich presse die Lippen zusammen. Wehe, ich fange jetzt an zu heulen.

»Nicht weinen.«

»Kannst du nicht … noch ein Jahr anhängen? Dir hat das Filmstudium hier doch … total gut gefallen.«

»Ach Süße, du weißt, dass das nicht geht. Mehr als ein Auslandsjahr ist nicht drin.«

»Vielleicht machen die auch mal Ausnahmen?!«

Jonas zieht mich zu sich heran und legt mir die Hände auf die Schultern. »Warum kommst du nicht für eine Weile nach Hamburg? Das habe ich dich schon seit Wochen fragen wollen.«

Ich habe es geahnt, dass es darauf hinauslaufen würde.

»Du bist gerade mit der Schule fertig, weißt noch nicht, was du studieren willst. Das ist der ideale Zeitpunkt.«

»Ja …«

»Ich fände es super. Stell dir vor, wir beide in Hamburg! Wir könnten an der Elbe picknicken, Radtouren ins Alte Land machen und die Nächte in meinen Lieblingsclubs durchtanzen.«

Was soll ich ihm antworten? Ich werde niemals nach Deutschland gehen können. Den Grund dafür kann ich ihm nicht sagen. Er würde es nicht verstehen, niemand würde es verstehen.

»Was meinst du?«

»… Ich denke darüber nach.«

»Je eher du dich entscheidest, desto besser. Dann kann ich dir ein Zimmer besorgen. Vielleicht gibt’s sogar noch eins in meiner WG in Ottensen. Das ist ein richtig cooler Stadtteil.«

Jonas sucht meinen Blick, ich weiche ihm aus.

»Was ist?«

»Die Dinge sind nicht so einfach …«

»Wieso nicht? Wir wären zusammen, das ist doch das Wichtigste. Außerdem würde dir ’n bisschen Abstand zu deiner Mutter auch guttun. Du könntest endlich machen, was du willst.«

»Klingt schön«, sage ich und seufze.

»Möchtest du einen Cappuccino?«

»Ja, gern.«

Wir gehen in die Küche. Hier hat jemand aufgeräumt und abgewaschen, seitdem wir zum Schwimmen gegangen sind.

Jonas zieht sein Handy aus der Hosentasche und checkt seine SMS. »Sven schreibt, dass Marie und er bis morgen Abend in Galway sind. Das heißt, wir haben die Bude für uns allein.«

»Aber ich kann nicht bis morgen Abend hierbleiben.«

»Warum eigentlich nicht?«

»Du weißt doch, meine Mutter findet es nicht gerade grandios, wenn ich über Nacht weg bin.«

»Mensch, Rebecca, du bist volljährig. Sie kann nicht erwarten, dass du immer zu Hause schläfst.«

»Tue ich ja auch nicht.«

»Nein, aber wenn du mal hiergeblieben bist, dann ging das nur, weil du deiner Mutter erzählt hast, dass du bei Aisling übernachtest.«

»Ach, Jonas …«

Ich schalte mein Handy ein. Eine SMS von Leah. Deine Großmutter ist mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ich fahre jetzt zu ihr. Gruß, L.

In meinen Ohren rauscht es.

»Du bist ganz bleich«, höre ich Jonas wie aus weiter Ferne sagen.

Ich zeige ihm die Nachricht. Er erschrickt, weil er weiß, wie sehr ich Oma liebe.

Irma

Ich habe meine Lackschuhe an und eine schwarze Samtschleife im Haar. Ich bin fünf. Mutter und Vater tragen schwarze Mäntel und Hüte. Sie sagen nichts. Wir gehen an der Alster entlang, die Enten schnattern, heute füttern wir sie nicht. Vor dem Haus der Großeltern bleiben wir stehen. Mutter macht das Tor auf, der Kies knirscht unter meinen Schuhen. Wir steigen die Stufen zur großen Tür hinauf. Mutter klingelt. Das Hausmädchen öffnet uns. Es hat ein weißes Häubchen auf und eine Schürze um. Im Wohnzimmer sitzen meine Tanten und Onkel um Großpapa herum. Er hält die Hände vors Gesicht. Alle haben schwarze Kleidung an, sie reden ganz leise. Mutter nimmt Großpapa in die Arme. Das Hausmädchen schenkt Mutter und Vater Tee ein, ich bekomme einen Apfelsaft. Später gehen wir die Treppe nach oben, vor der Schlafzimmertür bleiben wir stehen. Vielleicht sollte Irma lieber draußen bleiben, flüstert Vater. Nein, murmelt Mutter und drückt die Klinke herunter. Im Raum ist es dämmerig, Großmama liegt im Bett, sie hat die Hände gefaltet, ihre Augen sind zu. Ihr Gesicht ist weiß, sie hat fast keine Falten mehr, und ihre Lippen sind verschwunden. Mutter küsst sie auf die Stirn, Tränen laufen ihr über die Wangen. Großmama wird jetzt lange schlafen, sagt Vater. Ich schüttele den Kopf, sie schläft nicht, sie ist tot.

 

Wo bin ich? Warum liege ich nicht in meinem Bett? Was sollen die Schläuche in meiner Nase und in meinem Arm? Und wieso steht neben mir so ein piepsendes, blinkendes Gerät? Haben sie mich etwa in ein Krankenhaus gebracht? Wer hat das erlaubt? Jeremy? Er war bei mir, wir haben zusammen Tee getrunken. Und auf einmal hatte ich diesen starken Schmerz in der Brust und in der Schulter, und ich habe keine Luft mehr bekommen. Was ist danach passiert? Ich weiß es nicht. Wenn mir nur nicht so schwindelig wäre. Habe ich vorhin geträumt? Nein, es war kein Traum. Zwischen Schlaf und Wachsein bin ich in der Erinnerung versunken. Seit Jahrzehnten habe ich nicht an Großmamas Tod gedacht.

»Mrs. Goldberg?«

Vor mir steht eine junge Krankenschwester und lächelt. »Wie geht es Ihnen?«

»Ich bin so benommen … Was ist geschehen? Ich muss nach Hause und meinen Hund füttern. Wenn Henry nicht regelmäßig etwas zu fressen bekommt, wird er unleidlich.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ihr Sohn hat mir gesagt, dass er sich um Ihren Hund kümmern wird.«

»Aber mir wäre es lieber, wenn ich ihm selbst das Futter geben könnte. So ein Border Terrier hat seine Gewohnheiten. Und er mag es nun mal, wenn sein Frauchen ihn füttert.«

»Mrs. Goldberg, seien Sie froh, dass Sie hier sind. Sie haben einen Herzinfarkt gehabt.«

»Wirklich?«

»Zum Glück war Ihr Sohn bei Ihnen und hat sofort den Notarzt gerufen.«

»Jeremy ist rührend, genau wie sein Zwillingsbruder Thomas. Sie besuchen mich fast jeden Tag.«

»Da haben Sie es aber gut.«

»Ja, ich bin sehr dankbar dafür, solche Söhne zu haben. Sie sind beide Rechtsanwälte, genau wie ihr Vater, mein geliebter Mann … Samuel ist leider schon vor zwanzig Jahren gestorben, aber er konnte Jeremy und Thomas noch die Kanzlei übergeben. Die beiden sind vor zwei Monaten sechsundfünfzig geworden, ich kann es kaum glauben. Meine Schwiegertöchter sind auch ganz reizend. Und stellen Sie sich vor, ich habe acht Enkel. Der älteste ist dreißig, und die jüngste achtzehn. Meine kleine Rebecca, ein wahrer Schatz.«

»Ich freue mich für Sie, dass Sie so eine große Familie haben. Draußen wartet übrigens wieder jemand, der Sie besuchen möchte.«

»Wer?«

»Ihre Tochter.«

»Ich bin doch recht müde …«

»Sie sagte mir, dass ihr der Besuch sehr wichtig sei.«

»Ah so?«

»Sie wolle auch nicht allzu lange bleiben.«

»Na, gut. Dann soll sie hereinkommen.« Ich schließe die Augen, will Leahs beklommenen Blick nicht sehen.

»Irma?«

»Hm …«

»Wie geht es dir?«

»Ich bin erschöpft.«

»Du hast bestimmt furchtbare Schmerzen gehabt.«

»Ja.«

»Was für ein Segen, dass Jeremy bei dir war und sofort etwas unternommen hat.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Hier bist du bestens aufgehoben, oder?«

»Scheint so.«

»Kann ich irgendetwas für dich tun?«

»Nein.

»Ich wünsche dir gute Besserung.«

»Danke.«

»Bis bald.«

Die Tür fällt ins Schloss. Ich mache die Augen auf. Leahs Geruch hängt noch in der Luft. Seit Jahren benutzt sie dieses Eau de Toilette, das nach Zitronen riecht. Ich werde die Krankenschwester bitten, zu lüften.

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2.

Leah

Ich verlasse das Krankenhaus und versuche, mich zu erinnern, wo ich geparkt habe. In mir brodelt es. Habe ich die Szene geträumt? Warum kann Irma nicht für einen Moment die Augen öffnen und mich anschauen? Sie ist nicht zu schwach, im Gegenteil. Ihr gehe es erstaunlich gut, sagte die Schwester, als ich sie fragte, ob ein kurzer Besuch zu anstrengend für meine Mutter sei. Sie habe großes Glück gehabt, weil sie direkt nach dem Infarkt eingeliefert worden sei.

Irma wollte mich nicht sehen.

Ich entdecke meinen Wagen und setze mich hinein. Meine Kehle ist so trocken, dass es weh tut. Irgendwo muss noch eine Wasserflasche liegen. Ich greife nach hinten und ziehe die Flasche und ein rotes Haargummi von Rebecca hervor. Ob sie meine Nachricht gelesen hat? Ich trinke ein paar Schlucke und schalte mein Handy ein. Zwei Voicemails und drei SMS von Rebecca.

»Ich hab mich total erschrocken. In welchem Krankenhaus liegt Oma denn?«

»Warum meldest du dich nicht?«

Vielleicht kannst du gerade nicht telefonieren. Schick mir bitte eine SMS, wo ich Oma besuchen kann.

Wieso antwortest du nicht? Was ist mit Oma? Liegt sie im Sterben?

Habe mit Jeremy telefoniert. Radele sofort zum St. Vincent’s Hospital.

Die letzte SMS hat sie mir um zehn nach sieben geschickt. Jetzt ist es kurz nach halb acht. Wer weiß, von wo sie losgefahren ist. Ich rufe sie an.

»Hallo.« Ihre Stimme klingt atemlos.

»Wo bist du?«

»In Blackrock.«

»Ich könnte vorm Krankenhaus auf dich warten.«

»Okay. In zehn Minuten bin ich da.«

Ich steige aus und gehe zum Eingang zurück. Soll ich Rebecca warnen, dass ihre Großmutter niemanden sehen möchte? Nein, ich wette, ihrer Lieblingsenkelin gegenüber wird Irma sich anders verhalten.

Mir schießen Tränen in die Augen. Irma und ich haben uns nichts zu sagen, jede Begegnung hat etwas Quälendes. Wenn sie nicht einsilbig antwortet wie heute, redet sie über ihre wunderbaren Söhne, ihre hilfsbereiten Schwiegertöchter, ihre begabten Enkel. So war es immer schon. Warum habe ich eine so unnahbare Mutter? Ich weiß es nicht. Aber ich muss es aufgeben, daran etwas ändern zu wollen. Ich ertrage es nicht, dass sie mich ständig von neuem zurückweist.

Ich wische mir über die Augen und putze mir die Nase. Jeremy und Thomas verstehen nicht, was ich meine, wenn ich von Irmas emotionaler Distanz spreche. Sie haben keine Probleme mit Irma. Vielleicht weil sie sich als Zwillinge immer selbst genug waren. Oder weil sie Irma weniger beansprucht haben. Sie hasst es, wenn Menschen in ihrer Umgebung bedürftig sind. Aber Kinder sind bedürftig. Jeremy und Thomas hatten es gut, weil sie jahrelang von Carmel, ihrer geliebten Nanny, mit Hingabe versorgt wurden. Sie war für all ihre Nöte zuständig. Als ich acht Jahre später geboren wurde, wohnte Carmel nicht mehr bei uns, sie hatte eine eigene Familie gegründet. Und die Putzfrau, die dann zu uns kam, war mit dem Haus und nicht mit mir beschäftigt. Vater war offenbar der Ansicht, dass seine Frau nicht dieselbe Unterstützung bei der Aufzucht einer Tochter brauchte wie bei den Zwillingen. Schone bitte die Nerven deiner Mutter, pflegte er zu sagen, wenn Irma und ich wieder eine unserer Auseinandersetzungen hatten. Und wer schont meine Nerven?, schrie ich. Leah, du musst Verständnis für deine Mutter haben. Sie hat so viel durchgemacht, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Was denn? Frag sie nicht, frag sie nie.

»Da bin ich.«

»Oh, ich habe dich gar nicht kommen sehen.« Ich nehme Rebecca in die Arme, spüre ihr Schlüsselbein an meiner Wange. Seit zwei Jahren ist sie größer als ich. Sie duftet nach Aprikosen. Ist das ihr neues Shampoo?

Sie löst sich aus der Umarmung und fährt sich mit beiden Händen durch ihre hellbraunen Locken. »Wieso hast du nicht geantwortet?«

»Mein Handy war ausgeschaltet.«

»Mich meckerst du immer an, wenn ich das tue. Und jetzt tust du’s selbst, ausgerechnet heute, nachdem du mir diese Horror-SMS geschickt hast. Ich habe richtig Panik gekriegt.«

»Tut mir leid. Im Krankenhaus ist die Benutzung von Handys verboten.«

»Wie geht’s Oma?«

»Ganz gut. Jeremy war heute Morgen bei ihr und hat sie gleich …«

»Ja, das hat er mir erzählt«, unterbricht sie mich. »Aber trotzdem. Ein Herzinfarkt in dem Alter …«

»Mach dir keine Sorgen, deine Großmutter ist zäh.«

Rebecca runzelt die Stirn. »Hast du keine Angst um sie?«

»Doch, natürlich habe ich das.«

»Na, also. Kommst du noch mal mit rein?«

»Nein, ich habe nur gewartet, weil ich dich kurz sehen wollte. Wo warst du eigentlich den ganzen Tag?«

»… Mit Aisling unterwegs und später schwimmen. Wieso?«

»Du hättest dich ruhig zwischendurch mal melden können.«

»Leah!«

»Ich habe mich schon gefragt, ob du heute Nacht überhaupt zu Hause geschlafen hast.«

»Hör auf!« Ihre blauen Augen funkeln mich wütend an.

»Versetz dich mal in meine Lage …«

»Du weißt genau, dass ich dir immer Bescheid sage, wenn ich bei Aisling übernachte.«

Ich will ihr versöhnlich über die Haare streichen, aber sie weicht mir aus. »Essen wir nachher zusammen?«

»Nein, ich treffe mich mit den anderen in der Stadt. Es wird bestimmt spät.«

»Pass gut auf dich auf.«

Sie nickt und verschwindet durch die Tür. Kein Abschiedskuss.

Irma

»Mrs. Goldberg?«

»Ja?«

Die junge Krankenschwester tritt an mein Bett. »Sie haben erneut Besuch. Ihre Enkelin Rebecca.«

»Oh, wie schön.«

»Aber vielleicht sind Sie müde und möchten lieber schlafen. Vorhin wirkten Sie sehr erschöpft.«

»Nein, schicken Sie meine kleine Rebecca herein.«

»Hoffentlich liegt da keine Verwechslung vor. Die junge Frau vor der Tür ist mindestens eins achtzig.«

»Ja, ja, mein ehemaliger Schwiegersohn ist auch so groß. Sie müssen wissen, meine Tochter ist geschieden.«

»Das tut mir leid.«

»Mir auch. So ein gutmütiger, freundlicher Mann. Er ist Arzt von Beruf.«

»Ich hole jetzt mal Ihre Enkelin.«

Wahrscheinlich hat Simon es mit der arbeitswütigen, verhärmten Leah nicht länger ausgehalten.

»Hallo, Oma.«

»Rebecca, Liebes.«

Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Was für ein köstlicher Duft.

»Hübsch siehst du aus. Das Blau in deiner Bluse passt genau zu deinen Augen.«

»Danke.«

»Setz dich auf den Stuhl dort und gib mir deine Hand.«

»Du machst Sachen. Ich hab einen Riesenschrecken bekommen.«

»Ja, es war sehr unangenehm, aber jetzt geht es mir schon viel besser. Erzähl mir von dir.«

»Wir haben in dieser Woche die letzten Klausuren für das Leaving Certificate geschrieben.«

»Und? Was hast du für ein Gefühl?«

»Ich glaube, es ist ganz gut gelaufen. Die Ergebnisse bekommen wir leider erst Mitte August.«

»Nun musst du dich erholen, nach der vielen Arbeit. Was machen deine Reisepläne?«

»… Eigentlich wollte ich mit Aisling und unserer ganzen Clique für zwei Wochen nach Südfrankreich fahren, an die Atlantikküste. Wir hatten vor, uns dort ein Haus zu mieten.«

»Und?«

»Ich bin mir nicht mehr sicher, ob was daraus wird.«

»Wieso nicht? Erlaubt deine Mutter die Reise nicht?«

»Doch.«

»Oder hast du etwas Besseres vor?«

»Wie meinst du das?«

Ich drücke ihre Hand und zwinkere ihr zu. »Hast du dich vielleicht verliebt?«

Sie wird rot und sieht auf einmal traurig aus. Ich hätte meinen Mund halten sollen.

»Oma?«

»Ja?«

»Ich … Wie lange musst du im Krankenhaus bleiben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Darf ich dich bald wieder besuchen?«

»Natürlich, mein Liebes.«

Sie steht auf und küsst mich auf die Wangen. »Tschüs, Oma.«

»Auf Wiedersehen, meine kleine Rebecca.«

An der Tür dreht sie sich um und winkt mir zu. »Gute Besserung.«

»Danke.«

Ich habe das Gefühl, dass sie mich zum Schluss etwas anderes fragen wollte.

Rebecca

Ich rufe Jonas an und erzähle ihm, dass es Oma im Moment anscheinend ganz gutgehe.

»Ist doch super.«

»Ja, oder sie hat sich extra für mich zusammengerissen.«

»Ich glaube, das kann man nicht. Wahrscheinlich hat sie einfach großes Glück gehabt.«

»Hm. Wo bist du?«

»Noch zu Hause. Ich habe angefangen zu packen, aber ich fahre gleich los in die Stadt. Spätestens um neun bin ich da.«

»Ich warte unten an der Liffey, an unserer Bank, auf dich.«

»Gut. Wollen wir dann Pizza essen gehen?«

»Ja, das können wir gerne machen. Aisling und Owen kommen sowieso erst später.«

»Haben sie sich wieder vertragen?«

»Sieht so aus. Ich habe vorgeschlagen, dass wir uns um halb zwölf im Club M treffen.«

»Okay. Bis nachher.«

Wir sind schon oft zu viert unterwegs gewesen. Wie wird es sein, wenn Jonas nicht mehr da ist? Werden wir zu dritt losziehen? Oder werde ich dann alleine zu Hause hocken?

Ich schließe mein Rad auf und schlage den Weg in Richtung Innenstadt ein. Der Gedanke, dass Oma sterben könnte, macht mir Angst. Seltsam, dass sie mich ausgerechnet heute gefragt hat, ob ich verliebt bin. Ich besuche sie jede Woche und habe es monatelang vor ihr verbergen können. Hat es mit ihrem Herzinfarkt zu tun? Will sie alles aussprechen, alles fragen, was ihr in den Sinn kommt, weil sie spürt, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt? Oder liegt es an mir? Ich bin dünnhäutiger als sonst, muss ständig an den Abschied von Jonas denken. Vielleicht sieht man mir das Verliebtsein an. Leahs Bemerkung, ob ich heute Nacht überhaupt zu Hause geschlafen hätte, ging auch in die Richtung.

Ich stelle das Rad an der Halfpenny Bridge ab und gehe hinunter an den Fluss. Es ist immer noch hell. Überall sind Leute unterwegs. An der Mauer steht ein älterer Mann und spielt Saxophon. Auf unserer Bank sitzt ein Pärchen und küsst sich.

Fast hätte ich Oma von Jonas erzählt, natürlich ohne zu sagen, dass er aus Deutschland kommt. Ich müsste ihm einen anderen Namen geben oder behaupten, er sei Schwede oder Norweger. Aber ich will nicht lügen.

[home]

3.

Irma

Ich sitze im Vorzimmer von Mr. Bernstein und tippe einen Brief. London, 30. Mai 1952. Das Fenster ist offen, warme Luft strömt herein, meine Finger fliegen über die Tasten. Ich schreibe einer Klientin, dass Mr. Bernstein sie zu einem weiteren Gespräch in die Kanzlei bittet, möglichst in der nächsten Woche. Erst danach wird er den Scheidungstermin beantragen können. Ich lehne mich zurück. Ihr Ehemann schlägt sie. Ein bekannter Politiker mit viel Einfluss. Neuerdings behauptet er, seine Frau sei nervenkrank. Sie hat Angst, die Kinder zu verlieren. Letzte Woche kam sie weinend hier an. Sie tut mir so leid. Bei Mr. Bernstein sind Sie gut aufgehoben, versuchte ich, sie zu trösten. Wenn mir die Kinder genommen werden, bringe ich mich um, flüsterte sie. Nein, rief ich, nein, das dürfen Sie nicht. Sie sind noch jung, Sie wissen nicht, wie verzweifelt man sein kann, entgegnete sie. Vielleicht hätte ich ihr sagen sollen, dass ich es trotz meiner Jugend weiß. Aber ich habe geschwiegen. Ich lege den Brief in die Mappe zu den anderen Briefen, die Mr. Bernstein nachher unterschreiben muss. In dem Moment klingelt es. Ich stehe auf und öffne die Tür. Vor mir steht ein kleiner, schlanker Mann in einem feinen, dunkelblauen Anzug mit Weste. Seine braunen Augen schauen mich freundlich an. Er lächelt. Mir schießt das Blut in den Kopf. Samuel Goldberg ist mein Name. Seine Stimme hat einen weichen Klang. Wäre es möglich, Mr. Bernstein kurz zu sprechen? Ja … stammele ich, kommen Sie herein … Ich sage Mr. Bernstein sofort Bescheid. Meine Hand zittert, als ich an seine Tür klopfe. Hoffentlich telefoniert er nicht. Nein, aber es passt ihm nicht, dass ich ihn störe. Sir, Mr. Samuel Goldberg möchte Sie sprechen. Was?, ruft Mr. Bernstein und springt auf. Das ist ja eine Überraschung. Sam, wie schön, dass du vorbeikommst. Er klopft ihm auf die Schulter und strahlt, so habe ich ihn noch nie gesehen. Sag bloß, du arbeitest jetzt in London. Mr. Goldberg nickt. Die Kanzlei, in der ich seit kurzem tätig bin, liegt zu Fuß nur fünf Minuten von hier entfernt. Mein Herz klopft. Wunderbar, sagt Mr. Bernstein. Dann schließt sich seine Tür. Ich habe noch nie gelauscht und tue es auch heute nicht, aber es fällt mir schwer. Zehn Minuten später öffnet sich die Tür wieder. Wir gehen jetzt Mittagessen, verkündet Mr. Bernstein, vor vierzehn Uhr dreißig bin ich nicht zurück. Auf Wiedersehen, sagt Mr. Goldberg und lächelt. Es liegt etwas Fragendes in seinem Blick. Oder bilde ich mir das ein? Samuel Goldberg ist der Sohn sehr guter Freunde aus Dublin, erzählt mir Mr. Bernstein bei seiner Rückkehr. Ich habe ihm damals geraten, Jura zu studieren. Er hat alles mit Bravour absolviert.

Drei Tage später, am Montagmorgen, bekomme ich einen Brief von Samuel Goldberg. Er lädt mich ein, am Mittwochabend mit ihm essen zu gehen. Der Name des Restaurants klingt französisch, es liegt in Highgate, ich bin noch nie essen gegangen. Und ich habe nichts anzuziehen, habe nur die abgetragenen, geänderten Kleider meiner Vermieterin. Am Dienstag, nach Büroschluss, kaufe ich mir von meinen Ersparnissen ein Sommerkleid aus einem leichten Baumwollstoff, hellblau mit weißen Punkten. Es ist durchgehend geknöpft und hat einen weiten, schwingenden Glockenrock. Das Geld reicht sogar für ein Paar weiße Sandalen mit Riemchen und kleinem Absatz. Meine Vermieterin leiht mir eine weiße Handtasche. Sie sehen bezaubernd aus, sagt Samuel Goldberg zur Begrüßung. Ich bedanke mich für die Einladung. Für uns ist ein Tisch am Fenster reserviert. Er zieht einen Stuhl für mich heraus und wartet, bis ich mich gesetzt habe. Heute trägt er einen hellen Leinenanzug und eine blau-weiß gestreifte Krawatte. Wie alt er wohl ist? Höchstens dreißig. Er blättert in der Speisekarte, mit der anderen Hand streicht er über seine Schläfe. Seine Finger sind lang und schmal. Mögen Sie Fisch?, fragt er. Ich nicke, sage ihm nicht, dass ich alles mag. Was halten Sie von gegrilltem Lachs mit gratinierten Kartoffeln und grünen Bohnen? Gern, antworte ich. Als Vorspeise bestellt er für uns eine Rinderbouillon. Zum Nachtisch gibt es Erdbeeren mit Schlagsahne. Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas so Gutes gegessen zu haben. Stammen Sie aus Nordirland?, fragt er, als wir beim Kaffee sind. Sie haben einen nordirischen Akzent. Nein, antworte ich, aber ich habe lange dort gelebt … im Krieg und auch noch danach. Und Ihre Familie? Ich bekomme kein Wort heraus. Er merkt, dass ich nicht darüber sprechen kann, und fragt nicht weiter, legt nur seine Hand auf meine.

 

Ich spüre plötzlich mein Herz. Fangen die Schmerzen wieder an? Dann muss ich der Schwester Bescheid sagen. War sie nicht eben noch hier? Ruhig, Irma, ganz ruhig.

Jetzt geht es schon wieder besser.

Es ist so lange her, dass ich Samuel begegnet bin, und doch kommt es mir vor, als sei es erst gestern gewesen. An jenem Abend hat er mich nach Hause begleitet und mir einen Kuss auf die Wange gegeben. Zwei Wochen später haben wir uns verlobt.

»Mrs. Goldberg?«

»Hm?«

»Alles in Ordnung?«

»Danke, ja …«

»Schlafen Sie gut.«

»Ich tue, was ich kann.«

Im Schlaf kommen immer die Träume.

Leah

Ich irre durch eine zerstörte Stadt. Es ist kalt. Schüsse fallen, Maschinengewehre rattern, eine Bombe schlägt ein. Ich versuche, mir den Judenstern vom Mantel zu reißen, es gelingt mir nicht. Mit dem Stern darf ich in keinen Luftschutzkeller. Und wenn die Gestapo mich erwischt, bin ich dran. Ich ziehe den Mantel aus, lasse ihn fallen. Ich gehe auf eine Häuserruine zu, vielleicht kann ich mich dort verstecken. In dem Moment fängt sie Feuer. Brennende Menschen laufen schreiend auf die Straße, brechen zusammen, winden sich vor Schmerzen. Ich renne weiter, der Rauch nimmt mir den Atem, ich fange an zu husten. Soll ich umkehren? Ich blicke zurück, sehe nichts als eine Feuerwand, sie fegt auf mich zu, gleich wird sie mich verschlingen, ich bekomme keine Luft mehr …

Ich schrecke hoch, bin in Schweiß gebadet. Wie spät ist es? Viertel vor zwei. Ist Rebecca schon zu Hause?

Ich stehe auf, gehe in den Flur, ihre Zimmertür ist angelehnt. Ich schiebe sie vorsichtig auf, hoffe, mein schlafendes Kind zu sehen. Nein. Ich seufze. Sie tanzt vermutlich noch in irgendeiner Disco in der Innenstadt, mit Aisling und Owen und den anderen, von denen sie mir nie erzählt. Hat sie mir eine SMS geschickt? Hat sie nicht. War auch nicht zu erwarten. Warum kann ich mich so schwer daran gewöhnen, dass sie erwachsen wird und ihre eigenen Wege geht?

In der Küche koche ich mir einen Früchtetee, setze mich ans Fenster und schaue in die Dunkelheit. Wann habe ich zum ersten Mal vom Krieg geträumt? Mir kommt es so vor, als hätte es diese Alpträume immer schon gegeben. Dabei meide ich Kriegsfilme, lese keine Bücher, in denen es um Krieg geht, überschlage in der Zeitung die Artikel, in denen über Kriege irgendwo auf der Welt berichtet wird. Und natürlich war ich nie in einem Land, in dem Krieg herrscht. Es ist, als ob ich den Krieg von Irma geerbt hätte. Ich weiß so wenig über sie, weiß nur, dass sie als Einzige in der Familie den Holocaust überlebt hat. Vater hat es mir kurz vor seinem Tod erzählt. Frag sie nicht, frag sie nie. Wenn ich sie fragen dürfte, hätte ich vielleicht nicht mehr diese Alpträume.

Rebecca

Kurz vor drei, der letzte Song, Jonas und ich tanzen seit Stunden. Ich wünschte, diese Nacht würde nie zu Ende gehen. Aisling und Owen sind längst gegangen, sie haben sich wieder gestritten.

Draußen ist es kühl. Erst jetzt merke ich, wie nassgeschwitzt ich bin.

»Willst du meinen Pulli haben?«, fragt Jonas.

»Oh, gerne.«

Er holt seinen dunkelblauen Pullover aus dem Rucksack und reicht ihn mir. Einen Moment lang drücke ich mein Gesicht in die Wolle. Jonas’ Geruch. Ich ziehe den Pulli an, er reicht mir über die Hüften.

Jonas nimmt mich in die Arme. »Und jetzt?«

»Wollen wir ans Meer fahren und warten, bis die Sonne aufgeht?«

»Okay. Nach Sandymount?«

»Ja. Ich glaube, es ist Ebbe. Dann können wir im Watt laufen.«

Wir radeln durch die Stadt, vorbei an einer Gruppe betrunkener Rugby-Fans und an ein paar Leuten aus meiner Schule. Sie winken mir zu, aber ich will jetzt nicht mit ihnen reden, will mit Jonas allein sein. Vorhin, als Aisling mir sagte, sie hätte die Nase voll von Owen und würde nach Hause fahren, war ich richtig erleichtert. Die ständige Streiterei zwischen den beiden nervt, und ich wollte nicht, dass sie unseren vorletzten Abend kaputt machen. Selbst Jonas, der so gutmütig ist, verdrehte irgendwann die Augen.

Ein Fuchs läuft vor uns über die Straße, er schaut sich einmal kurz um, sieht mir direkt in die Augen und verschwindet im Vorgarten eines Hauses.

In Sandymount schläft noch alles. Es fängt an zu dämmern, ich bin müde und wach zugleich.

Ich höre die ersten Möwen, wir biegen in die Küstenstraße ein, vor uns liegt das Watt. Es erstreckt sich bis zum Horizont. Ich rieche das Meer, aber ich sehe es nicht.

Wir stellen unsere Räder ab und setzen uns auf eine Bank. Vorne im Watt läuft ein Mann mit einem Hund, sonst ist hier niemand unterwegs.

»Hast du Hunger?«, fragt Jonas.

»Und wie.«

»Ich habe zwei Bananen und eine Tüte Chips.«

»Du bist der Beste.«

Er entdeckt auch noch zwei Müsliriegel in seinem Rucksack. Der dünne Jonas ist der Einzige, den ich kenne, der immer etwas zu essen dabeihat. Auch für mich.

In meiner Kehle brennt es.

Ich beiße in die Banane und versuche, mir vorzustellen, dass dies ein ganz normaler Sonntag ist. Es gelingt mir nicht.

»Wenn du nach Hamburg kommst, können wir sonntagmorgens um fünf zum Fischmarkt gehen.«

Ich verschlucke mich fast. »Willst du etwa um die Zeit Fisch kaufen?«

»Nicht unbedingt. Da gibt’s auch Bananen und zig anderes Obst und Blumen und Klamotten. Aber das Wichtigste ist die super Stimmung. Wenn ich mit meinen Leuten samstagnachts durch die Stadt ziehe, landen wir morgens immer am Fischmarkt.«

Zu den Leuten gehört auch Svenja. Drei Jahre lang war Jonas mit ihr zusammen. Das ist vorbei, behauptet er, wenn ich ihn nach Svenja frage. Sie simst ihm regelmäßig, er findet nichts dabei. Und ihr Foto hat er auch noch nicht gelöscht. Sie hat glänzende, hellblonde Haare und ein schüchternes Lächeln. Wenn sie nicht Jonas’ ehemalige Freundin wäre, würde ich sie gern kennenlernen.

Es wird heller. In der Ferne sehe ich einen schmalen, silbernen Streifen, der sich bewegt. Das Meer.

»Gehen wir ins Watt?«

Jonas nickt. Wir ziehen unsere Schuhe und Strümpfe aus und laufen los.

Ich mag den feuchten, festen Sand unter meinen Füßen. Es gibt weniger Algen und Muscheln als sonst, hier und da liegt ein Stück Schwemmholz, ein Stück weiter entfernt trippeln drei Austernfischer, auf der Suche nach Würmern und Krebsen.

Jonas greift nach meiner Hand. »Komm, wir rennen.«

Ein, zwei Minuten lang schaffe ich es, mit ihm Schritt zu halten, dann lasse ich los und falle zurück. Er dreht sich kurz um und läuft weiter.

Wenn ich Leah doch von Jonas erzählen könnte, aber ich kann es nicht, werde es nie können. Neulich, als Aisling zum Mittagessen bei uns war und sagte, dass ihr Bruder im Sommer in München jobben werde, wurde Leahs Gesicht ganz starr, wie immer, wenn jemand über Deutschland spricht.

Ich sehe den ersten orangeroten Schimmer über dem schmalen Meeresstreifen. Der letzte Tag mit Jonas hat begonnen.

Leah

Was war das für ein Geräusch? Ich blicke auf die Uhr. Halb sieben. Ist Rebecca jetzt erst nach Hause gekommen? Lass sie in Ruhe, sage ich mir. Bleib liegen und schlaf weiter. Vergeblich.

Ich betrete die Küche. Rebecca steht mit dem Rücken zu mir am Schrank und sucht nach etwas. Sie trägt einen dunkelblauen Pullover, den ich noch nie gesehen habe. Einen Männerpullover.

»Guten Morgen, mein Kind.«

»Hallo. Weißt du, wo der Kakao ist?«

»Hinten links irgendwo. Was ist denn das für ein Pullover?«

Sie hält inne. »Habe ich mir geliehen.«

»Von wem?«

»Ist doch egal, oder?«

»Rebecca, ich wüsste gern, mit wem …«

»Leah, hör auf«, unterbricht sie mich und stürmt an mir vorbei.

»Ich dachte, du wolltest einen Kakao trinken.«

»Keine Lust mehr.« Sie schlägt ihre Zimmertür hinter sich zu.

In der Eile hat sie ihr Handy auf dem Küchentisch liegen gelassen. Das passiert ihr sonst nie. Ich könnte nachschauen, mit wem sie in den letzten Tagen telefoniert und gesimst hat.

Nein, das tue ich ihr und mir nicht an.

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4.

Irma

Ich stehe in einem zugigen Wartesaal, an jeder Hand ein Kind. Ihre Rucksäcke sind viel zu groß. Jeremy hüpft auf und ab. Wir verreisen, wir verreisen. Nun halt doch mal still, sage ich. Thomas’ Finger sind kalt. Wo hast du deine Handschuhe gelassen? Weiß ich nicht, schnieft er. Und dein Taschentuch? Habe ich vergessen. Ich wische ihm die Nase mit meinem ab. Wann wirst du endlich lernen, auf deine Sachen zu achten? Thomas’ Mundwinkel zucken. Mein Kleiner, murmele ich und streiche ihm über den Kopf. Habt ihr wenigstens eure Butterbrote? Ja, Mama, rufen sie im Chor. Von allen Seiten strömen Eltern mit ihren Kindern in den Wartesaal. Ich blicke in ernste, blasse Gesichter. Eine Mutter drückt ihren Sohn an sich, ein Vater nimmt seine Tochter auf den Arm, ihm laufen Tränen über die Wangen. Warum weint der Mann?, fragt Thomas. Weil er traurig ist, antworte ich, ich bin auch traurig. Wieso?, fragt Jeremy. Weil ihr wegfahrt. Aber du kommst doch bald nach, das hast du gesagt. Ja … In dem Moment höre ich die Lautsprecheransage: Achtung an Gleis 8. Einfahrt des Zuges nach Hoek van Holland. Bitte zurücktreten. Jeremy zieht an meiner Hand. Schnell, Mama, sonst kriegen wir keinen Platz. Meine Kehle schnürt sich zu. Ich kann sie nicht gehen lassen, darf sie nicht gehen lassen. Von hinten drängen die Menschen. Jemand rammt mir seinen Koffer in die Kniekehlen. Ich drehe mich um. Können Sie nicht aufpassen? Eine Frau starrt mich ängstlich an. Schauen Sie lieber nach vorn, sagt ein Mann. Wir werden weitergeschoben. Vor mir taucht eine Absperrung auf. Keiner der Erwachsenen betritt den Bahnsteig!, schreit ein Beamter. Ich will die Kinder festhalten, aber sie lassen meine Hände los. Jeremy, Thomas, kommt zurück. Wir haben uns noch nicht verabschiedet. Wo seid ihr? Jeremy! Thomas! Ich sehe euch nicht mehr. Ihr könnt doch nicht weglaufen, ohne mir adieu zu sagen. Jeremy! Thomas! Nein, bitte nicht. Nein! Nein!

»Ruhig, ganz ruhig.«

Wer spricht da? Ich öffne langsam die Augen. Mir ist heiß. Wo bin ich?

Eine junge Frau in einem weißen Kittel legt mir ihre Hand auf die Stirn. Sie ist kühl und trocken.

»Mrs. Goldberg, Sie haben im Schlaf geschrien.«

»Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Cathy. Ich habe heute Nachtdienst.«

»Was ist mit mir?«

»Sie haben gestern einen Herzinfarkt erlitten und liegen seitdem im Krankenhaus.«

»… Jetzt erinnere ich mich.«

»Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, ich habe schlecht geträumt.«

»Das liegt sicherlich an den Medikamenten.«

»Glaube ich nicht.«

»Möchten Sie etwas trinken?«

»Danke, gern.«

Sie reicht mir mein Wasserglas. »Heißen Ihre Kinder Jeremy und Thomas?«

»Ja. Woher wissen Sie das?«

»Sie haben im Schlaf ihre Namen gerufen.«

Ich trinke einen Schluck. Seitdem die beiden auf der Welt sind, träume ich immer wieder, dass ich sie verliere.

»Wie alt sind Ihre Söhne?«

»Sechsundfünfzig.«

Die Nachtschwester schaut mich ungläubig an. »Sagen Sie bloß, Sie haben Zwillinge.«

»Ja.«

»Sie Glückliche.«

»In meiner Familie sind Zwillinge nicht so selten. Meine Mutter hatte auch …« Meine Hand beginnt plötzlich zu zittern. Ich lasse das Glas fallen. Es zerspringt auf dem Boden. »Entschuldigung.«

»Macht nichts, Mrs. Goldberg.«

Ich schließe die Augen, höre, wie die Schwester das Zimmer verlässt und kurz darauf wiederkommt, die Scherben zusammenkehrt und das Wasser aufwischt.

»Ich stelle Ihnen ein neues Glas auf den Nachttisch.«

»Danke.«

»Haben Sie noch einen Wunsch?«

»Setzen Sie sich einen Moment zu mir. Haben Sie Kinder?«

»Ja, drei Mädchen. Sie sind fünf, sieben und neun. Eine wilde Bande.«

Ihre Erzählung von den lebhaften Töchtern lenkt mich für ein paar Minuten ab. Ich wünschte, Cathy könnte länger bleiben.

»Soll ich das Licht ausmachen?«

»Ja.«