Zeit der Wahrheit - Renate Ahrens - E-Book

Zeit der Wahrheit E-Book

Renate Ahrens

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Beschreibung

Die deutsche Journalistin Pia reist in das vom Umbruch gezeichnete Südafrika, um über die Anhörungen der Wahrheits- und Versöhnungskommission zu berichten. Die geschilderten Schicksale gehen Pia sehr nahe. Die Zeit in Kapstadt ist aber auch eine Reise zu ihren eigenen Wurzeln und den Geheimnissen ihrer Familie, denn hier hat sie ihre ersten Lebensjahre verbracht – bis zu der überstürzten Abreise, deren Grund sie bis heute nicht kennt. Der Aufenthalt am Kap bringt schmerzhafte Klarheit über die Vergangenheit ihrer Familie, aber auch Hoffnung, als sie den Fotografen Jonathan kennenlernt. Renate Ahrens ist die Meisterin der vielschichtigen Familientragödie. Nach ihren Romanen "Fremde Schwestern", "Ferne Tochter" und "Seit jenem Moment" ist ihr Roman "Zeit der Wahrheit" endlich wieder lieferbar. Renate Ahrens lebte selbst ein Jahr in Kapstadt und wohnte in dieser Zeit vielen Anhörungen der Wahrheitskommission bei. In ihren Roman lässt sie die starken Eindrücke einfließen, die die Anhörungen bei ihr hinterlassen haben. "In einfühlsamer Sprache erzählt Renate Ahrens Geschichten, die berühren." Freundin

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Seitenzahl: 349

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Renate Ahrens

Zeit der Wahrheit

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Renate Ahrens, 1955 geboren, hat ein Jahr in Kapstadt verbracht und während dieser Zeit den Anhörungen der Wahrheitskommission beigewohnt. In Zeit der Wahrheit verarbeitet sie die starken Eindrücke, die die Anhörungen bei ihr hinterlassen haben: Die deutsche Journalistin Pia reist in das vom Umbruch gezeichnete Südafrika, um über die Anhörungen der Wahrheitskommission zu berichten. Es ist auch eine Reise zu ihren eigenen Wurzeln und den Geheimnissen ihrer Familie, denn hier hat sie ihre ersten Lebensjahre verbracht – bis zu der überstürzten Abreise, deren Grund sie bis heute nicht kennt. Der Aufenthalt am Kap bringt schmerzhafte Klarheit über die Vergangenheit ihrer Familie, aber auch Hoffnung, als sie den Fotografen Jonathan kennenlernt.

Inhaltsübersicht

WidmungMotto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. KapitelLeseprobe »Der andere Himmel«
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Für Alan

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»Wir umarmen unsere Kinder, um von der Zukunft in die Arme genommen zu werden, um uns über den Tod hinaus weiterzugeben, um mitgenommen zu werden. So war es, wenn ich Dich umarmte, immer.«

 

J. M. COETZEE, Eiserne Zeit

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1

Pia hatte schon geschlafen, als der Anruf aus der Klinik kam.

»Ihr Vater hat einen Schlaganfall erlitten«, sagte die Schwester. »Kommen Sie schnell, bevor es zu spät ist.«

Pias Mund wurde trocken vor Angst. Wie im Taumel zog sie sich ihre Jeans und ihren warmen blauen Pulli an, lief auf die Straße hinunter und brauchte endlose Minuten, bis sie sich erinnerte, wo sie geparkt hatte.

Seine Augen waren geschlossen, die Wangen grau und eingefallen. Sein Atem ging flach. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißperlen.

»Ein Nachbar hat ihn gefunden«, sagte die Schwester. »Er lag bereits im Koma, als er eingeliefert wurde. Wahrscheinlich wird er nicht wieder zu sich kommen.«

Gegen zwei Uhr morgens merkte Pia, wie sein Mund sich bewegte. Sie griff nach seiner Hand. Was war das, was er versuchte, ihr zu sagen? Sie legte ihr Ohr auf seine Lippen und lauschte.

»Zo… Zo… Zoë…«

»Zoë?«, fragte sie.

Er nickte. Zumindest kam es ihr so vor, als ob er nickte. In ihrem Kopf stürzten plötzlich lauter Bilder durcheinander. Mutter streitet mit Vater. Vater schlägt die Haustür hinter sich zu. Mutter packt die Koffer. Zoë drückt mich an sich. Mutter reißt mich aus Zoës Armen. Zoë weint. Ich weine auch.

In diesem Moment kam ein Röcheln aus seiner Kehle. Sein Kopf sackte zur Seite, seine Hand wurde schlaff, und dann hörte er auf zu atmen.

Pia saß reglos, bis der Arzt das Zimmer verlassen hatte und die Schwester begann, das Kinn ihres Vaters hochzubinden.

»Gibt es hier jemanden, der Zoë heißt?«, fragte sie leise.

»Zoë?«

Die Schwester sah sie an, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt.

»Er hat zuletzt ein Wort geflüstert, das wie ›Zoë‹ klang.«

»Hier heißt niemand Zoë.«

Pia nickte und trat ans Fenster. Unter ihr lag der erleuchtete Parkplatz. Kaltes weißes Licht. Sie machte die Augen zu und fuhr sich mit beiden Händen durch ihre krausen roten Haare. Rotlöckchen hatte er sie genannt, als sie klein war. Mein Rotlöckchen.

»Es tut mir leid«, sagte die Schwester. »Das Ganze muss ein schwerer Schock für Sie sein.«

Pia nickte wieder und hoffte, sie würde jetzt gehen.

»Soll ich die Sachen Ihres Vaters …«

»Danke. Das mache ich selbst.«

Endlich war sie draußen. Pia betrachtete ihren Vater, wie er dalag mit diesem zusammengefalteten weißen Tuch um den Kopf, dessen lange Zipfel ihm etwas Häschenhaftes verliehen. Er ist tot. Er ist tot. Er ist tot, dröhnte es in ihrem Kopf. Aber sie begriff es nicht. Noch vor zwei Tagen hatte sie abends bei ihm in der Küche gesessen und ihm beim Kochen zugesehen. Er hatte eine Flasche Sekt aufgemacht, und sie hatten darauf angestoßen, dass die Redaktion ihr den Job als Auslandskorrespondentin angeboten hatte. Wie konnte es sein, dass sie nie wieder dort sitzen und ihm zusehen würde? Nie wieder mit ihm anstoßen, nie wieder mit ihm reden würde? Sie, die immer so viel miteinander geredet hatten. Über alles. Oder fast alles.

Zoë … In ihrem Leben hatte es nur eine Zoë gegeben, und das war lange her, so lange, dass sie sich nicht mal mehr an ihr Gesicht erinnern konnte. Warm und weich war sie gewesen, ihre Zoë. Und gerochen hatte sie nach Zimt und Vanille.

Ihr Vater hatte nie über sie gesprochen, und auch ihre Mutter hatte bis zu ihrem Tod nie den Namen Zoë erwähnt. Das war insofern nichts Besonderes, als bei ihnen zu Hause grundsätzlich nicht über Südafrika gesprochen wurde. Ihre Eltern hatten die sechs Jahre, die sie dort verbracht hatten, aus ihrem Leben gestrichen. Als Pia ihren ersten Ausweis bekam und wissen wollte, wieso da als Geburtsort nicht Hamburg stand, hatte ihre Mutter gemurmelt, dass Vater eben damals in Kapstadt gearbeitet habe. Pia hatte sich dieses Schweigen nur so erklären können, dass sich ihre Eltern insgeheim dafür schämten, jahrelang ein luxuriöses Leben in einem Apartheidstaat geführt zu haben. Ihr selbst ging es ja auch nicht anders. Sie hatte es immer peinlich gefunden, in Kapstadt geboren zu sein, obwohl sie nun wirklich nichts dafür konnte. Bis auf Britta wusste es niemand. Selbst vor Klaus hatte sie es all die Jahre verbergen können.

Pias Blick fiel auf die zusammengepressten Lippen ihres Vaters. Hatte er Schmerzen gehabt? Hatte er geahnt, dass er nicht mehr lange leben würde? Plötzlich musste sie an den Elbspaziergang denken, den sie vor ein paar Wochen mit ihm gemacht hatte. Da hatte er über Südafrika gesprochen, das erste und einzige Mal in ihrem Leben.

Es war ein kalter, stürmischer Tag gewesen. Sie hatte ihn abgeholt, wie an jedem Sonntag, und vorgeschlagen, ins Kino zu gehen oder irgendwo Tee zu trinken. Aber ihr Vater wollte an die Elbe.

Schon auf der Fahrt nach Teufelsbrück hatte Pia das Gefühl, dass ihn etwas beschäftigte. Er blickte starr geradeaus, hörte ihr nicht richtig zu und gab nur einsilbige Antworten.

Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergelaufen waren, fing er auf einmal an, über die Wahrheitskommission zu sprechen, die demnächst ihre Arbeit aufnehmen würde. Er habe die Berichte über die Vorbereitungen genauestens verfolgt und sei sehr skeptisch, ob die Weißen in Südafrika wirklich wissen wollten, was in ihrem Staat all die Jahre passiert sei. Pia war so überrascht, dass sie zunächst nicht wusste, was sie sagen sollte.

»Weißt du, wovon ich rede?«

»Natürlich weiß ich das.«

»Und was sagst du dazu?«

»Dass du wahrscheinlich recht hast, aber …«

»Aber was?«

»Ich denke, für die Schwarzen ist die Reaktion der Weißen nicht das Vorrangige.«

»Sondern?«

»Dass sie die Wahrheit erfahren über die Morde an ihren Männern und Frauen und Kindern.«

Er nickte und schwieg dann wieder. Der Wind blies jetzt so stark, dass Pia Mühe hatte, mit ihrem Vater Schritt zu halten. Dabei war sie wesentlich durchtrainierter und sogar ein Stück größer als er. Mit leicht gebeugtem Oberkörper hastete er vorwärts, ohne nach rechts oder links zu blicken, und Pia hatte plötzlich das Bild eines gehetzten Tieres vor Augen.

»Ich wusste nicht, dass du dich für südafrikanische Politik interessierst«, sagte sie schließlich.

»Nun weißt du es.«

»Und warum haben wir bisher nie darüber gesprochen?«

Er seufzte und strich ihr mit der Hand leicht über ihre roten Locken, wie er es früher schon immer getan hatte, wenn sie quengelte, weil sie irgendetwas haben wollte. Spätestens dann war ihr klar, dass sie es nicht bekommen würde.

Sie hatte die Geste respektiert und nicht weitergefragt. Hätte sie weiterfragen sollen? Hatte er dieses Gespräch über die Wahrheitskommission überhaupt nur deshalb begonnen, damit sie weiterfragte? Hatte er ihr womöglich bei jenem Spaziergang von Zoë erzählen wollen?

Sie wünschte, sie könnte weinen, aber ihre Augen waren trocken, so trocken, dass es beinahe weh tat.

 

Es war ein sonniger Tag, der 19. April 1996, an dem ihr Vater beerdigt wurde. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof blühten die Osterglocken, und in der Kapelle roch es nach Veilchen. Pia merkte erst nach einer Weile, dass der Duft nicht vom Blumenschmuck, sondern vom Parfum irgendeines Trauergastes herrührte. Nur die ersten Reihen waren besetzt; ihr Vater hatte sich nie darum bemüht, Freundschaften zu schließen.

Am Abend zuvor hätte sie beinahe Klaus angerufen, um ihn zu bitten, heute hier neben ihr zu sitzen. Aber jetzt war sie froh, dass sie das nicht getan hatte, weil es sie doch nur in neue Abgründe gestürzt hätte.

Wen sie vermisste, war Britta, die natürlich gekommen wäre, wenn sie nicht an diesem Wochenende zu der Historikertagung nach New York gemusst hätte, um dort einen Vortrag zu halten.

»Dass der Golfclub niemanden geschickt hat, verstehe ich nicht«, sagte Tante Hilde, die Schwester ihres Vaters, und zupfte ihren Schleier zurecht.

Dann ertönte ein Präludium von Bach.

Die Ansprache des Pfarrers war so allgemein, dass er sie für unzählige andere Tote hätte halten können. Dennoch lobte später Tante Hilde mit tränenerstickter Stimme die passenden Worte des Herrn Pfarrer.

Pia hatte ein Café mit Elbblick gewählt, in dem etwa zwanzig Trauergäste mit Streuselkuchen und wahlweise Tee oder Kaffee bewirtet wurden. Die Herren in dunklen Anzügen sprachen über Bilanzen und verabschiedeten sich nach einer knappen Dreiviertelstunde. Kurz darauf gingen auch die zwei Männer aus dem Segelverein.

»Ich hätte nichts gegen einen Cognac einzuwenden«, verkündete Tante Hilde.

Nach dem zweiten Cognac fing Tante Hilde an zu erzählen. Was für ein fröhliches Kind er gewesen sei, der Dieter. Er habe immer nur Schabernack im Kopf gehabt.

»Und wann hat das aufgehört?«

»Na, wann wohl? Als er deine Mutter geheiratet hat. Die hatte zwar Geld, aber …« Tante Hilde schnalzte mit der Zunge. »Diese Kälte! Das war ja nicht zum Aushalten!«

»Hat er dir gegenüber jemals den Namen Zoë erwähnt?«

Tante Hilde stutzte. »Zoë? Was ist das denn für ein Name?«

»Ein englischer.«

»Kenn ich nicht. Soll das ein Frauenname sein?«

Pia nickte.

»Der hat nie eine andere Frau gehabt, das kannst du mir glauben. Dabei habe ich’s ihm immer gewünscht, dass er mal mit jemandem richtig glücklich wird, vor allem nachdem deine Mutter gestorben war.«

»Ihr Tod ist ihm sehr nahegegangen.«

»Dass er sich nicht befreit gefühlt hat, nach all den Jahren …«

»Er hat sie geliebt.«

»Das mag ja sein. Aber sie … sie hat ihn nicht geliebt. Die konnte gar nicht lieben.«

 

Am Tag nach der Beerdigung fuhr Pia zum Haus ihres Vaters. Sie war besessen von dem Gedanken, dass es irgendwo in diesen Räumen einen Hinweis auf Zoë geben musste. Stundenlang blätterte sie in alten Briefen, Notizbüchern und Reiseaufzeichnungen. Sie sah sich unzählige Ordner mit Steuerunterlagen und Hefter mit Bankauszügen an, die bis zum September 1966 zurückreichten, dem Monat, in dem sie Südafrika verlassen hatten. Irgendwann fand sie ein altes Adressbuch, das nur noch von einem Bindfaden zusammengehalten wurde, und darin entdeckte sie ihren Namen: Zoë Shenton, 8Hanover Street. Keine Telefonnummer.

Wieso hatte ihr Vater im Sterben an diese Frau gedacht? Dreißig Jahre waren vergangen seit jenem Aufbruch aus Kapstadt. Hatte er ein Verhältnis mit ihr gehabt? Ein weißer Geschäftsmann, der mit seiner farbigen Angestellten schläft? Nein. Ihr Vater hätte ihre Mutter niemals betrogen. In all den Jahren, in denen es ihr so schlechtgegangen war, hatte er immer zu ihr gehalten. Hatte sie in die Klinik gefahren, wenn sie wieder operiert werden musste. Hatte sie nach Hause geholt, sobald es ihr wieder besserging. Für jede Chemotherapiebehandlung hatte er sich freigenommen, um an ihrem Bett sitzen zu können und ihr die Schüssel zu halten, wenn sie sich übergeben musste. Er hatte sie angefleht, nicht aufzugeben. Als sie vor fünf Jahren gestorben war, hatte er wochenlang mit niemandem gesprochen.

Und ihre Mutter? Die hätte sofort die Scheidung eingereicht, wenn sie von einer Geliebten erfahren hätte. Ihr konnte niemand etwas vormachen. Sie hatte eine untrügliche Nase, hätte jede andere Frau gerochen.

Als Pia das Adressbuch einsteckte, wusste sie, dass sie eines Tages versuchen würde, Zoë zu finden. Es war nur eine Frage der Zeit.

 

Die Auflösung des Haushalts dauerte fast zwei Monate. Pia brachte die Kleidung ihres Vaters zum Roten Kreuz, gab eine Anzeige zum Verkauf seiner Möbel auf und überlegte, was sie selbst behalten wollte. Bis auf eine alte russische Brücke, ein paar Bilder und einen Teil seiner Bücher gab es nichts, woran sie hing und was sie an ihn erinnert hätte.

 

Ende Juni übergab sie das Haus einem Makler zum Verkauf. In der darauffolgenden Nacht hatte sie einen seltsamen Traum. Hunderte von Menschen zogen am offenen Grab ihres Vaters vorbei, warfen Blumen hinein und schüttelten ihrer Mutter und ihr die Hände. Sie schaute sich selbst zu, wie sie immer neue Hände ergriff, Hände von Menschen, die sie noch nie gesehen hatte. Kennst du all diese Leute, fragte sie ihre Mutter. Sie antwortete ihr nicht. Pia drehte sich zu ihr um und sah, dass neben ihr nicht ihre Mutter, sondern eine fremde alte Frau stand. Sie war klein, untersetzt und von milchkaffeefarbener Hautfarbe. Wer sind Sie, fragte sie. Mein Name ist Zoë Shenton, sagte die Frau. Zoë?, rief sie. Warum erkenne ich dich nicht? Zoë zuckte mit den Achseln. Mich erkennt selten jemand wieder. Wie hast du vom Tod meines Vaters erfahren? Aber Pia, sagte sie und schüttelte fünf weitere Hände, weißt du nicht mehr, dass du es warst, die mich geholt hat? Nein, flüsterte Pia. Sag mir, wo ich dich gefunden habe. In dem Augenblick begannen Zoës Umrisse zu verschwinden. Pia wollte sie umarmen, doch sie fasste schon ins Leere.

Am nächsten Morgen war sie drauf und dran, in ein Reisebüro zu gehen und einen Flug nach Kapstadt zu buchen. Im letzten Moment machte sie wieder kehrt.

 

Und dann kam die Redaktionssitzung am 1. August, auf der der Redaktionsleiter verkündete, dass der Südafrika-Korrespondent schwer erkrankt sei und sich bereits auf der Rückreise nach Deutschland befände.

»Irgendjemand von euch muss für ihn einspringen und über die Anhörungen der Wahrheitskommission berichten. Gerade in den nächsten beiden Wochen wird es um sehr wichtige Fälle gehen.«

»Wo?«, fragte Pia.

»In Kapstadt und Durban.«

»Ich fliege hin«, hörte sie sich sagen.

Die anderen sahen sie erstaunt an. Sie neigte sonst nicht zu schnellen Entscheidungen.

»Gut«, sagte der Redaktionsleiter. »Ihre Maschine geht in zwei Tagen.«

 

»Du wirst dich wundern, an was du dich alles erinnerst, wenn du erst mal da bist«, sagte Britta auf der Fahrt zum Flughafen.

Pia schüttelte den Kopf. »Ich war vier, als wir Kapstadt verlassen haben. Ich kann mich an gar nichts erinnern.«

»Wie lange bleibst du?«

»Zwölf Tage.«

»Ich wette, daraus wird mehr.«

 

Als Pia ihre Bordkarte vorzeigte, sah sie auf einmal die grauen, eingefallenen Wangen ihres Vaters wieder vor sich, sah seine Lippen, die versuchten, dieses eine Wort zu formen, und dann hörte sie sein Wispern …

Sie nahm ihr Handgepäck und lief durch einen hell erleuchteten, schlauchförmigen Gang, der ein wenig zu schwanken schien, aber vielleicht war sie es auch, die schwankte.

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2

Pia hatte fast sechseinhalb Stunden geschlafen. Als sie aufwachte, sah sie unter sich eine Bergkette aus rotbraunem, karstigem Gestein. In weniger als zwei Stunden würden sie in Kapstadt landen.

Die Stewardess reichte ihr ein Frühstückstablett, auf dem sich außer einem pappigen Brötchen mit Marmelade auch eine Schale mit frischer Ananas befand. Pia schob sich ein Stück in den Mund und spürte, wie ihr plötzlich der Schweiß ausbrach. Es war, als ob sich etwas in ihrem Innern an diesen saftig süßen Geschmack erinnerte, in den sich eine kribbelige Säure mischte. Pia machte die Augen zu und wünschte, ihr wäre das letzte Wort ihres Vaters erspart geblieben.

 

Eine Lautsprecherdurchsage forderte die Fluggäste auf, sich anzuschnallen und das Rauchen einzustellen. Erst in diesem Augenblick sah Pia unter sich das blaugrüne Meer mit Robben Island, den langgestreckten Tafelberg, der in der Sonne glitzerte, und dazwischen die riesige Stadt. Sie war so aufgeregt, dass sie beinahe nach der Hand ihrer blondierten Nachbarin griff. Vielleicht hatte sie bis zuletzt daran gezweifelt, dass es sie wirklich gab, diese Stadt, in der sie geboren war.

Die Maschine setzte mit einem harten Ruck auf. Einige Leute fingen an zu klatschen, hörten jedoch schnell wieder auf, als sie merkten, dass niemand mitklatschte.

Sie hielten in der Nähe eines flachen Gebäudes, das aussah, als sei es bei Pias Abreise 1966 nagelneu gewesen. Niemand erklärte ihnen, wieso es zwanzig Minuten dauerte, bis die Türen geöffnet wurden und das Aussteigen begann. Durchs Fenster sah Pia, dass es hier weder schlauchförmige Gänge noch Busse gab, die die Passagiere zur Ankunftshalle brachten. Hier lief man direkt übers Rollfeld, wie in einem Film aus den vierziger Jahren.

Als sie endlich auf der Gangway stand, blendete sie die Sonne. Es war warm; dabei herrschte hier doch Winter. Ihre Knie wurden weich. Sie hielt sich am Geländer fest und ging langsam die Stufen hinunter. Hinter ihr drängelte die Blondine. Sie ließ sie vorbei, ignorierte ihr leises Fluchen und lief erst schneller, als von oben jemand rief, warum es denn unten nicht weiterginge.

An der Passkontrolle gab es eine lange Warteschlange. Pia stellte ihr Handgepäck ab und begann die Hinweisschilder zu studieren, die alle zweisprachig, auf Englisch und Afrikaans, abgefasst waren. Sie beobachtete die farbigen Arbeiter, die draußen das Gepäck auf einen Wagen luden, und die weißen Beamten, die die Pässe kontrollierten. War das das neue Südafrika?

Vor ihr unterhielten sich zwei Männer auf Englisch über ein Rugbymatch. Ihr starker südafrikanischer Akzent fiel Pia auf, erinnerte sie jedoch an nichts. Schon im Flugzeug hatte sie sich gewundert, wie fremd ihr dieses Englisch mit seinen breiten Vokalen vorkam. Hatte sie insgeheim doch etwas anderes erwartet?

Sie lauschte den Gesprächsfetzen um sie herum, dem Lachen und Weinen der Kinder, und als sie sich umschaute, sah sie, dass sie fast die Einzige war, die weder zu einer Familie, einem Paar noch einer Reisegruppe gehörte. Plötzlich sehnte sie sich nach Klaus. Bis auf den Abend vor der Beerdigung hatte sie es ein Jahr lang durchgehalten, nicht diese Sehnsucht nach ihm zu spüren. Da war nur Wut gewesen, nichts als Wut. Und jetzt erwischte es sie hier.

»Sie sind dran«, sagte eine barsche Männerstimme hinter ihr.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Pia begriff, dass sie gemeint war.

Der Beamte blätterte durch ihren Pass, prüfte, ob die Nummer in seinem Computer vermerkt war, und stempelte die Landekarte ab. Damit war ihr Fall für ihn erledigt. Aus irgendeinem Grund war Pia enttäuscht, dass er keine Miene verzogen und ihren Geburtsort mit keinem Wort erwähnt hatte. Es war doch sicherlich nicht an der Tagesordnung, dass jemand mit einem deutschen Pass aus Kapstadt stammte.

Das Gepäck von zwei Interkontinentalflügen kam auf einem Band. Pia wurde immer ungeduldiger. Ihr Koffer war einer der letzten. Als sie auf den Ausgang zuging, sah sie, wie ein Mann in Khakihosen wild gestikulierend auf einen der Flughafenangestellten zulief und ihn auf Afrikaans anschrie. Dabei zeigte er auf seine große Reisetasche, die offensichtlich beim Transport beschädigt worden war. Seine Frau stand neben dem Rest des Gepäcks und umklammerte ängstlich den Bügel ihrer Handtasche. Sie nickte ihr zu und zuckte dabei hilflos mit den Achseln, als wollte sie sich für ihren cholerischen Mann entschuldigen.

In der Ankunftshalle stand eine junge Frau und hielt ein Pappschild mit Pias Namen in die Höhe. Sie stellte sich als Alice vor, die Vertreterin der Mietwagenfirma, bei der Pias Hamburger Reisebüro einen Wagen in der billigsten Preisklasse reserviert hatte.

Alice sprach so schnell und mit dem für Pia so ungewohnten Akzent, dass sie Mühe hatte, sie zu verstehen. Sie führte sie zu einem kleinen weißen Opel, in dem es heiß und stickig war, und erklärte ihr, dass sie nur verbleites Benzin tanken dürfe. Als Pia die Stirn runzelte, bekam sie zu hören, dass man in Südafrika der Meinung sei, verbleites Benzin sei weniger gesundheitsschädlich als bleifreies, was Pia bestritt, aber da hatte Alice schon das Thema gewechselt.

Nachdem sie ihr ihre Kreditkartennummer und die Anschrift ihres Hotels genannt hatte, fragte Alice sie, ob sie zum ersten Mal in Südafrika sei. Es klang wie eine Routinefrage, und der Einfachheit halber hätte Pia sie beinahe mit Ja beantwortet, aber dann erzählte sie ihr doch, dass sie in Kapstadt geboren und dies ihre erste Rückkehr nach dreißig Jahren sei. Alice strahlte sie an, wünschte ihr einen schönen Urlaub und stieg in ihren Wagen, ohne sich ihren Führerschein angesehen zu haben.

Pia öffnete das Fenster und breitete ihren Stadtplan aus. Während sie nach dem Zettel suchte, auf dem sie sich notiert hatte, wie sie am direktesten zu ihrem Hotel nach Newlands kam, sah sie, wie neben ihrem Wagen zwei abgerissen aussehende Männer stehen blieben.

»Können wir Ihnen helfen?«

»Nein danke«, antwortete sie und kurbelte schnell die Scheibe hoch.

Dann ließ sie den Motor an und fuhr los in Richtung Innenstadt.

Sie hatte Bilder von südafrikanischen Townships in ihrem Reiseführer gesehen; dass es so viele sein würden, hatte sie nicht gewusst. Sie lagen rechts und links der Autobahn, die vom Flughafen in die Stadt führte, notdürftig errichtete Schuppen aus rissigem Wellblech, Holzpflöcken und Plastikplanen, dicht an dicht, kilometerlang. Mauern trennten die Vorbeifahrenden von denen, die barfuß durch den Müll liefen. Plötzlich tauchte ein Kind hinter einem Busch auf und rannte über die Fahrbahn. Der Fahrer des dunkelgrünen BMWs neben ihr hupte und blinkte und riss dann im letzten Moment das Steuer herum, wobei sein Wagen beinahe mit ihrem Opel zusammenstieß. Im Rückspiegel sah sie das Kind auf dem Mittelstreifen stehen; es drehte sich nicht nach ihnen um. Sie dachte an deutsche Verkehrsvorschriften und fing an zu begreifen, was es hieß, in einer anderen Welt angekommen zu sein.

Inzwischen hatte sie ihre Wegbeschreibung gefunden, und trotzdem landete sie nicht in Newlands, sondern in einem Industrieviertel, in dem alle, die zu Fuß gingen, Schwarze waren. Sie hielt am Straßenrand und holte ihren Stadtplan heraus. Unablässig fuhren Minibusse an ihr vorbei, die so voll beladen waren, dass die Menschen übereinander zu sitzen schienen. Aus den Fenstern lehnten sich Männer, die immer wieder dasselbe ausriefen. Während sie noch versuchte zu verstehen, was sie sagten, sah sie, wie einer der Minibusse mit quietschenden Bremsen neben einem der Fußgänger zum Stehen kam und ihn zusteigen ließ. Es musste sich um eins dieser Taxis handeln, über die sie vor ein paar Wochen einen Artikel in der Zeitung gelesen hatte. Angeblich gehörten sie rivalisierenden Unternehmen an, die sich in einem regelrechten Taxikrieg befanden, bei dem jede Woche mehrere Menschen erschossen wurden. Pia wendete, ohne auf der Karte ihren Weg nach Newlands gefunden zu haben.

Nachdem sie sich noch zweimal verfahren hatte, erreichte sie schließlich das Vineyard Hotel. Es lag in einer Seitenstraße voller Bäume, durch die kein einziges Minibus-Taxi fuhr. Hier blühten Mimosen und roter Hibiskus. Ein Zitronenbaum hing voller reifer Früchte. Im Garten gackerten zwei Perlhühner.

Der Redaktionsleiter hatte darauf bestanden, dass sie ein Luxushotel bezog. Südafrika sei schon gefährlich genug. Er musste es wissen. Er hatte selbst jahrelang hier gelebt. Pia erinnerte sich sehr genau an seinen ausführlichen Bericht über die Freilassung Nelson Mandelas im Februar 1990. Später war er für seine Reportagen über die gewalttätigen Auseinandersetzungen vor den ersten freien Wahlen mit einem Preis ausgezeichnet worden. Sie hatte seinen Mut immer bewundert.

Von ihrem Zimmer aus sah sie die schroffen Felswände des Tafelbergs, auf dem jetzt eine dichte, flache Wolkenschicht lag. Das musste das berühmte tablecloth sein, von dem sie in ihrem Reiseführer gelesen hatte. Ein Wahrzeichen der Stadt. Und nicht mal das erinnerte sie. Sie öffnete die Terrassentür und holte tief Luft. Auf einmal hörte sie das Gurren einer Taube. Sie hielt inne. Es war kein gewöhnliches Gurren, sondern eins mit einem ganz bestimmten jazzartigen Rhythmus. Immer dieselbe Tonfolge, immer derselbe Rhythmus. Pia lehnte sich an den Türrahmen und lauschte. Von irgendwoher kam ein zweites Gurren, immer dieselbe Tonfolge, immer derselbe Rhythmus. Sie kannte diesen Rhythmus, diese Tonfolge. Jetzt gurrten sie im Wechsel, sie kannte dieses Gurren, sie kannte es genau, auch wenn sie nicht geahnt hätte, dass sie es kannte. Mutter schläft. Es ist heiß im Garten. Zoë sitzt unterm Baum. Ich klettere auf Zoës Schoß. Zoë hält mich in den Armen. Zoë lacht. Ihre Zähne blitzen. Ich lache auch. Plötzlich ist Zoë still. Sie hört etwas im Baum. Sie zeigt nach oben. Jetzt höre ich es auch. Aus dem Baum kommt Musik. Eine Taube, sagt Zoë. Eine Taube, die Musik macht. Zoë summt mit. Ich summe auch. Zoë wiegt mich hin und her. Dann ist sie wieder still. Hörst du, noch eine Taube. Sie zeigt auf den Busch vorm Haus. Mal gurrt die eine, mal die andere. Die Tauben machen Musik. Wir summen mit. Wir wiegen uns mit. Ich höre die Tauben, ich sehe sie nicht. Ich höre sie. Höre sie.

Sie hörte sie immer noch. Pia legte sich aufs Bett und machte die Augen zu. Von draußen duftete es nach Zitronen. Wo mochte Zoë jetzt sein? In einem der Schuppen entlang der Autobahn? Oder in einem der winzigen Häuser, die sie in der Nähe des Industrieviertels gesehen hatte und die wenigstens an eine Stromleitung angeschlossen waren? Oder im Bedienstetenzimmer einer Villa, in der sie die Kinder reicher Leute hütete, so wie sie damals sie gehütet hatte?

Als Pia aufwachte, war es bereits halb drei. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie hatte von ihrer Mutter geträumt, die in einem Krankenhausbett lag und sich einen Schlauch nach dem anderen aus ihrem frisch operierten Unterleib riss. Pia bemühte sich, die Schläuche wieder anzuschließen, aber es gelang ihr nicht. Da drehte sich ihre Mutter zu ihr um und grinste sie an.

Pia stand auf, stellte sich unter die Dusche und versuchte, den Traum zu vergessen.

Doch das Bild vom verletzten Unterleib ihrer Mutter war ihr noch vor Augen, als sie schon längst bei einem Eiskaffee an der Waterfront saß. Sie hatte keine einzige körperliche Erinnerung an ihre Mutter. Es gab kein Foto, auf dem sie sie im Arm hielt, keine Erwähnung, dass sie jemals auf ihrem Schoß gesessen hatte. Sie lebten wie durch eine Glasscheibe getrennt. Sie konnte sie immer sehen, in ihren schönen Kleidern und ihren hohen Schuhen, wie sie im Wohnzimmer saß, ihren Tee trank und dabei in einer Modezeitschrift blätterte. Wenn Pia Trost brauchte, lief sie zur Haushälterin, so wie sie in Kapstadt vermutlich zu Zoë gelaufen war.

Am Nebentisch saßen jetzt zwei Deutsche, ein Mann und eine Frau, beide um die fünfzig; der Mann trug ein Toupet, die Frau ein aufdringliches Parfum. Vor ihnen stand eine Flasche Sekt.

Pia wollte gerade ihren Reiseführer aufschlagen, als nebenan eine lautstarke Diskussion darüber begann, wie die nächsten Tage verbracht werden sollten.

Die Frau bestand darauf, morgen früh als Erstes mit der Seilbahn auf den Tafelberg zu fahren. »Von dort gibt’s die besten Fotos.«

»Meinst du, dafür stehe ich zwei Stunden lang in der Schlange?«, rief der Mann, der ans Kap wollte, ans Kap der Guten Hoffnung. Davon träume er schon seit seiner frühesten Kindheit.

»Aber da unten stürmt es doch wie verrückt«, protestierte die Frau. »Hast du nicht gehört, was die Leute im Hotel gesagt haben? Windstärke acht. Das machen meine Ohren nicht mit.«

»Dann stopf dir Watte rein«, rief der Mann. »Oder ich fahr allein.«

Die Frau drehte schmollend den Kopf zur Seite; der Mann kippte seinen Sekt hinunter und schenkte sich gleich noch mal nach.

»So habe ich mir das nicht vorgestellt«, beklagte sich die Frau.

»Mein Gott, Inge, wir sind in Afrika«, rief der Mann. »Da wirst du deine Ohren wohl mal vergessen können.«

Pia zahlte und ging. Das Letzte, was sie hörte, war die weinerliche Stimme der Frau, die dem Mann zurief, sie habe es ja von Anfang an gewusst, dass diese Reise ihre Ehe auch nicht mehr retten könne.

Der Wagen war von der Sonne aufgeheizt. Pia fuhr am Meer entlang, vorbei an den Apartmenthochhäusern in Sea Point, wo beinahe so viel Betrieb herrschte wie an der französischen Riviera.

Klaus und sie hatten nie darüber gesprochen, ob es bei ihnen etwas zu retten gab oder nicht. Drei Wochen nach der Fehlgeburt teilte er ihr mit, dass er sie nicht mehr liebe. Die Sache mit der Schwangerschaft habe ihm den Rest gegeben. Sie hätte immer gewusst, dass er kein Kind wollte. Und trotzdem hätte sie darauf bestanden, dieses Kind zu bekommen. Das sei ihm ja nun zum Glück erspart geblieben, aber ihm sei bewusst geworden, wie sehr er an seiner Freiheit hinge. Dann hatte er sein Waschzeug zusammengepackt und war gegangen.

Pia hielt am Straßenrand und stieg aus. Eine Reihe großer Palmen säumte die Bucht von Camps Bay. Unten am Strand spielten zwei Kinder im Sand. Sie kletterte auf die Felsen und blickte aufs Meer. Die untergehende Sonne färbte das Wasser orangerot; in der Ferne glitt ein Segelboot vorbei. Ein Bild wie ein Urlaubsfoto, aufgenommen irgendwo zwischen Nizza und St. Tropez, wäre da nicht diese Schwarze, die mit ihren Armen hin und her ruderte und etwas in den Wind schrie in einer Sprache, die Pia nicht verstand. Es waren immer dieselben Worte, die sie schrie, eine Wehklage ans Meer, an den Himmel, an die Welt. Sie schrie, bis sie so heiser war, dass nur noch krächzende Laute aus ihrem Mund kamen und sie schließlich in sich zusammenfiel wie ein angeschossenes Tier.

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3

Am nächsten Morgen wachte Pia um halb sechs auf. Sie hatte sich die halbe Nacht im Bett herumgewälzt und darüber nachgedacht, wie sie es anfangen sollte, Zoë zu finden.

Jetzt, im Morgengrauen, war sie beinahe erleichtert darüber, dass sie heute einen Job zu erledigen hatte und keine Zeit haben würde, um mit der Suche nach ihr zu beginnen.

Sie griff nach der Mappe mit den Zeitungsartikeln über die Wahrheitskommission, die die Redaktion für sie zusammengestellt hatte. Seit April legten Opfer des Apartheidregimes öffentlich Zeugnis ab vor dieser Kommission, die an ständig wechselnden Orten tagte. Auf den Auftritt der Täter, die hier ihre Verbrechen eingestehen und Amnestie beantragen konnten, wartete man noch.

Pia las, dass der Vorsitzende Bischof Desmond Tutu in Tränen ausgebrochen war, während eine der ersten Zeuginnen ihre Aussage machte. Am nächsten Tag gab er zu Protokoll, dass er nicht wisse, ob ihn diese Aufgabe nicht überfordere. Pia überforderte bereits das Lesen einer siebenzeiligen Zeitungsmitteilung, in der von einer Mutter die Rede war, deren sechzehnjähriger Sohn 1985 von einem Sonderkommando der südafrikanischen Regierung zu Tode gefoltert worden war. Man warf ihr einen Plastiksack vor die Tür, in dem sich sein Körper befand. Sie erkannte ihn nur an einer kleinen Narbe am linken Daumen wieder.

Truth and Reconciliation – Wahrheit und Versöhnung. Wie sollte es da jemals Versöhnung geben, fragte sich Pia und stand auf.

Nach dem Frühstück erkundigte sie sich an der Rezeption nach dem direktesten Weg zur University of the Western Cape in Bellville, wo heute ab neun Uhr die Kommission tagen würde.

Bellville war weiter vom Stadtzentrum entfernt, als die Beschreibung der Dame an der Rezeption vermuten ließ. Pia fragte sich, ob sie die Abzweigung zur Universität verpasst hatte, denn sie fuhr bereits durch die Hauptstraße Bellvilles. Rechts und links nichts als triste Kaufhäuser, Spielhallen und Schnellimbisse.

Plötzlich sah sie eine Straßensperre vor sich, Polizei regelte den Verkehr, im Hintergrund ertönten Sprechchöre von Menschen, die ein Ende der Gewalt forderten. Erst jetzt entdeckte sie eine Reihe gepanzerter gelber Jeeps, vor denen unzählige Polizisten mit Maschinengewehren standen.

Ihre Handflächen wurden feucht. Sie hatte keine Ahnung, in was für eine Gegend sie geraten war. Ihr Reiseführer riet dringend davon ab, als Weiße allein in die Townships zu fahren. War Bellville eine Township? Sie wusste es nicht. Ihr Reiseführer sagte nichts darüber aus, ob es in den Townships Einkaufsstraßen gab. Die Häuser, an denen sie jetzt vorbeifuhr, waren grau und verfallen, überall lag Müll herum, es waren mehr Hunde unterwegs als Menschen. Bisher hatte sie kein einziges Straßenschild entdeckt, das auf die University of the Western Cape hinwies.

Sie hielt am Straßenrand und stieg aus, um zwei Schwarze nach dem Weg zu fragen. Sie lächelten sie an und schüttelten die Köpfe. Sie wiederholte langsam und deutlich ihre Frage, wobei sie das Wort Universität besonders betonte. Wenn sie in Bellville wohnten, mussten sie doch wissen, wo die Uni war. Die beiden sahen sich an, wechselten ein paar Worte in einer Sprache, die sie nicht verstand, und schüttelten wieder die Köpfe. Erst da begriff sie, dass sie kein Englisch sprachen. Die junge Schwarze, die sie als Nächste fragte, sah sie genauso verständnislos an und ging dann achselzuckend weiter.

Pia setzte sich wieder in ihren Wagen und schlug ihren Stadtplan auf, obwohl sie schon im Hotel festgestellt hatte, dass er längst nicht bis Bellville reichte. Auch die zahlreichen Umgebungskarten in ihrem Reiseführer, auf denen Weingüter verzeichnet waren, die über hundert Kilometer von der Stadt entfernt lagen, erwähnten das höchstens zwanzig Kilometer entfernte Bellville mit keinem Wort.

Schließlich fuhr sie weiter, bis sie an eine Tankstelle kam. Der Tankwart sprach ebenfalls kaum Englisch, aber er nickte, als sie erklärte, dass sie die Uni suche, und zeichnete ihr den Weg auf.

»Ich will zu den Anhörungen der Wahrheitskommission«, sagte sie, ohne dass dies nötig gewesen wäre.

Er nickte wieder und murmelte etwas, was Pia nicht verstand. Aber es klang, als ob ihm die Anhörungen gestohlen bleiben könnten.

Es war zwanzig vor zehn, als sie das Gelände der Universität erreichte. Die Zufahrt zu dem Gebäude, in dem die Kommission tagte, war bestens ausgeschildert, was ihr absurd vorkam angesichts der Tatsache, dass nur Eingeweihte den Weg hierher fanden.

Die Sicherheitskontrollen waren äußerst streng, aber im Übrigen gab es keine Probleme beim Einlass in den großen Vorlesungssaal. Sie musste niemandem erklären, wer sie war und was sie hier wollte, ja, sie musste nicht einmal Eintritt bezahlen.

Auch wenn sich Hunderte von Menschen in dem Saal befanden, so war er dennoch höchstens zur Hälfte gefüllt. Vorn auf der Bühne standen zwei lange Tische. An dem einen saß Bischof Desmond Tutu mit vier Kommissionsmitgliedern. Ihnen gegenüber saßen eine junge Frau und ein älterer Mann, der gerade eine Aussage machte.

Pia setzte sich auf den erstbesten Stuhl und versuchte zu verstehen, worum es ging. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass ihre Verständnisschwierigkeiten nichts mit der Akustik zu tun hatten, sondern mit der Tatsache, dass der Mann Afrikaans sprach. Sie sah sich nach einem Kopfhörer um. Ohne Simultanübersetzung konnte sie gleich wieder nach Hause fahren. Wo die Kopfhörer verteilt würden, fragte sie ihre Nachbarin, eine junge Schwarze, die nervös auf ihrem Stuhl herumrutschte. Es seien nicht genügend vorhanden, lautete die Antwort. Sie müsse warten, bis jemand den Saal verlasse.

Pia lehnte sich zurück. Wäre sie nur eher losgefahren. Plötzlich fing der Mann vorn an zu weinen. Sofort standen zwei Fotografen auf, um die Tränen mit ihren Kameras festzuhalten. Aber nur der eine machte tatsächlich seine Fotos. Der andere, ein dünner, blasser Mann mit dunklen Locken, stand regungslos da und blickte zu dem Weinenden hinüber. Dann setzte er sich wieder.

Die junge Frau, die neben dem weinenden Mann saß, legte jetzt eine Hand auf seinen Arm und schenkte ihm mit der anderen ein Glas Wasser ein, das er in einem Zug austrank. Er weinte noch immer. Alle im Saal schienen die Luft anzuhalten.

»Sie haben Schlimmes erlebt«, sagte ein Mitglied der Kommission. »Wir danken Ihnen, dass Sie uns Ihre Geschichte erzählt haben.«

Pia konnte vom Namensschild der Frau, die gesprochen hatte, nur so viel erkennen, dass sie einen Doktortitel trug. Vielleicht handelte es sich um jene Ärztin, die in einem der Zeitungsartikel erwähnt wurde, die sie morgens gelesen hatte: Wendy Orr hatte Mitte der achtziger Jahre ihren Job verloren, weil sie das Verhalten vieler ihrer Kollegen angeprangert hatte. Ärzte, die sich entweder direkt an den Folterungen des Regimes beteiligt hatten oder indirekt am Tod vieler Gefangener schuld waren, weil sie keine Hilfe geleistet und obendrein noch gefälschte Todesursachen auf den Totenscheinen vermerkt hatten.

»Erlauben Sie, dass wir noch ein paar Fragen an Sie richten?«

Der Mann nickte und griff zu der Karaffe, um sich Wasser nachzuschenken. Die junge Frau wollte ihm dies abnehmen, doch er schüttelte energisch den Kopf und goss sich selbst ein, wobei er beinahe sein Glas umstieß. Pia sah erst jetzt, dass sein rechter Arm schlaff herunterhing.

Die Kommissionsmitglieder stellten ihre Fragen zum Glück auf Englisch. Es ging ihnen darum, was für finanzielle Entschädigungen der Mann für seine schweren Verletzungen erhalten hatte, die ihm von zwei Polizeibeamten des Apartheidregimes zugefügt worden waren und von denen er sich nie erholt hatte. Pia hatte immer noch keinen Kopfhörer und konnte somit seine Antwort nicht verstehen; sie hörte nur die fassungslosen Ausrufe des Publikums.

»Was hat er bekommen?«, fragte sie ihre Nachbarin.

»Nichts. Das ganze Geld ging an die Anwälte, die ihn verteidigt haben.«

Bischof Desmond Tutu räusperte sich, und sofort wurde es still im Saal. Dann verkündete er mit seiner singenden Stimme, der Mann habe die Tatsache, dass er Farbiger sei, mit seiner Gesundheit bezahlen müssen. Er wünsche ihm die Kraft, seine Behinderungen zu ertragen und nicht den Lebensmut zu verlieren. Letztlich habe auch er durch das Opfer, das er gebracht habe, zur Befreiung dieses Landes beigetragen. Die Kommission werde sich dafür einsetzen, dass er wenigstens einen Teil der ihm zustehenden Entschädigungssumme erhalte.

Der Mann dankte der Kommission und erhob sich mühsam. Auf zwei Stöcke gestützt, verließ er den Saal, gefolgt von der jungen Frau, die sein Wasserglas trug.

»Wir machen eine halbe Stunde Pause«, verkündete Tutu. »Bitte erweisen Sie den Zeugen und ihren Angehörigen den entsprechenden Respekt, indem Sie aufstehen und warten, bis diese den Saal verlassen haben.«

Die Gruppe derer, die jetzt langsam nacheinander durch eine schmale Seitentür hinausgingen, bestand aus vierzig bis fünfzig Männern und Frauen. Der Älteste war weit über neunzig, die Jüngste höchstens achtzehn. Weiße waren nicht dabei.

Ein Großteil des Publikums verließ nun ebenfalls den Saal. Der Fotograf war verschwunden. Pia besorgte sich einen Kopfhörer und setzte sich wieder auf ihren Platz, um sich Notizen für ihren Bericht zu machen. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Was war, wenn Zoë Ähnliches erlebt hatte wie dieser Mann? Wenn auch sie sich nur noch unter Schmerzen bewegen konnte, weil ein Polizist sie zum Krüppel geschlagen hatte? Pia spürte, wie es eng wurde in ihrer Kehle. Bisher hatte sie kein einziges Mal daran gedacht, dass irgendjemand Zoë etwas angetan haben könnte. Dass sie vielleicht längst tot war.

Nein. Pia stand auf. Zoë war nicht tot. Sie konnte nicht tot sein. Wenn Zoë tot wäre, würde sie niemals erfahren, worin das Geheimnis bestand, das ihr Vater all die Jahre mit sich herumgetragen hatte. Sie würde Zoë finden, egal wie. Ja, sie würde noch heute, an diesem Ort, damit anfangen.

Die ersten Zuhörer kamen bereits wieder in den Saal zurück. Pia schaute sich um und ging dann auf zwei farbige Frauen zu, die etwa fünfzig oder fünfundfünfzig waren, so alt, wie Zoë jetzt sein musste.

»Entschuldigen Sie …«

Die Frauen sahen sie misstrauisch an.

»Ich suche eine Frau, die in den sechziger Jahren in der Hanover Street gewohnt hat …«

»Da können Sie lange suchen«, sagte die eine. »Die Hanover Street gibt’s nicht mehr.«

»Wieso nicht?«

»Weil’s den ganzen Stadtteil nicht mehr gibt«, antwortete die andere.

Dann gingen sie weiter. Pia sah ihnen nach. Warum hatten ihre Stimmen so bitter geklungen?

Zögernd kehrte sie an ihren Platz zurück. Auf dem Stuhl neben ihr saß wieder die junge Frau von vorhin. Sie rollte ein Taschentuch zwischen ihren Fingern hin und her und blickte dabei starr nach vorn.

»Darf ich Sie etwas fragen?«

Die Frau drehte sich halb zu ihr um. »Kommt ganz drauf an, was.«

»In welchem Stadtteil lag die Hanover Street?«

»Sie waren wohl noch nie hier«, sagte die Frau und sah auf einmal müde aus.

»Doch, ich …« Pia zögerte.

»Die Hanover Street lag im District Six. Aber den hat die Regierung plattgemacht.«

»Und was ist mit den Leuten passiert?«

»Die sind alle in Townships verfrachtet worden.«

»Ich suche eine Frau, die damals dort gewohnt hat. Sie heißt Zoë Shenton.«

»Nie gehört.«

»Wissen Sie, an wen ich mich wenden könnte?«

»Keine Ahnung.«

»Es ist sehr dringend.«

»Das ist es immer.«

»Wie meinen Sie das?«

Die Frau stand auf. »Sie sind hier nicht die Einzige, die jemanden vermisst.«

Dann nahm sie ihren Kopfhörer und setzte sich ein paar Reihen weiter nach vorn.

Pia holte tief Luft. Was war passiert? Hatte sie etwas Falsches gesagt? Oder konnte diese Frau es nicht ertragen, dass auch Weiße auf der Suche waren nach vermissten Personen? War das ein Privileg der Schwarzen?

Pia spürte, wie ihre Hand zitterte, als sie sich notierte, dass es die Hanover Street und den District Six nicht mehr gab.

Die Anhörungen wurden fortgesetzt. Pia schrieb und schrieb. Nur einmal konnte sie nicht weiterschreiben. Da ging es um die Aussage zweier Schwestern, deren Bruder Ashley im Juli 1987 von zwei Polizisten in Athlone gefoltert und ermordet worden war, eine Tat, die von den betreffenden Beamten bis heute geleugnet wurde. Ashley war seit seinem vierzehnten Lebensjahr Mitglied der bewaffneten Widerstandsbewegung Umkhonto we Sizwe gewesen und hatte seit 1984 im Untergrund gelebt. Die Schwestern berichteten, dass ihr Haus in Bonteheuwel immer wieder von der Polizei durchsucht worden sei. Bei einer dieser Durchsuchungen habe ein Polizist ihnen verkündet: »Wenn wir euren Bruder finden, werden wir ihn erschießen wie ein Kaninchen.«

Anstatt sich in der Mittagspause weiter nach dem Verbleib der Menschen aus dem District Six zu erkundigen, setzte Pia sich in eine Ecke der Cafeteria und versuchte einen Tee zu trinken, aber sie bekam kaum einen Schluck herunter. Wie sollte sie das, was sie morgens gehört hatte, in einem Zeitungsbericht zusammenfassen? Je länger sie darüber nachdachte, umso zerschlagener fühlte sie sich. Das war ihr in ihrem Beruf noch nie passiert.

Auf einmal sah sie in der Ferne den Fotografen, wie er auf eine farbige Frau in einem roten Leinenkleid zuging. Er klopfte ihr auf die Schulter, sie drehte sich um und nahm ihn dann lachend in den Arm, als hätte sie schon auf ihn gewartet. Warum fiel ihr die Szene überhaupt auf? Weil es ein Weißer und eine Farbige waren, die sich begrüßten?