Seit jenem Moment - Renate Ahrens - E-Book

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Renate Ahrens

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Beschreibung

Renate Ahrens ist eine Meisterin, wenn es um packende und zutiefst berührende Familiengeschichten geht: Nach "Fremde Schwestern" und "Ferne Tochter" erzählt die Autorin in "Seit jenem Moment" von einer schwierigen Vater-Tochter-Beziehung und einer Tragödie, die Jahrzehnte zurückliegt und immer noch das Leben jedes einzelnen Familienmitglieds überschattet. Paula ist Künstlerin. Ihr Leben besteht aus Leinwänden, Farben, Lichteinfall. Wenn sie in ihrem Hamburger Atelier steht und malt, ist sie zufrieden. Aber der Selbstmordversuch ihres Vaters verändert nicht nur ihren Blick auf die Malerei, sondern ihr komplettes Leben. Paulas bis dahin geordnete Welt gerät ins Wanken, und sie beginnt sich zu fragen, was diesen Mann, der ihr in vielem so fremd und doch so ähnlich ist, zu dieser verzweifelten Tat veranlasst hat. Als sie ihre Tante Lili in Dublin besucht, stößt Paula auf ein rätselhaftes altes Familienfoto. Durch ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit rührt sie an ein tragisches Ereignis, über das die ganze Familie seit Jahrzehnten kein Wort verliert. Langsam dringt Paula hinter die Mauern des Schweigens und kommt letztlich nicht nur ihrem Vater, sondern auch sich selbst ein Stück näher. »Renate Ahrens erzählt […] von Menschen, deren Leben aus den Fugen gerät, Menschen auf der Suche nach ihrer Identität, Menschen, die lernen müssen, sich in einer veränderten Welt zu behaupten.« NDR Kultur

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Seitenzahl: 319

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Renate Ahrens

Seit jenem Moment

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Paula weiß nicht viel über ihren Vater Georg. Das wird ihr umso bewusster, als sie von seinem Selbstmordversuch erfährt. Paulas bis dahin geordnetes Leben gerät ins Wanken, und sie muss lernen, sich in der veränderten Welt zurechtzufinden. Doch bald stößt sie auf Geheimnisse, die Ungeheuerliches an die Oberfläche bringen.

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. KapitelLeseprobe »Der andere Himmel«
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Für Alan

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1.

Ich stehe vor der Leinwand und tupfe ein Goldgelb auf das helle, fast transparente Grün der Wiesen. Hier und da ergänze ich etwas Violett, Zinnoberrot und ein strahlendes Weiß. Auch die Wolken brauchen mehr Weiß, vermischt mit Ocker und Orange. Den Bach rühre ich nicht an; ich habe Tage gebraucht, um das Wasser fließen und glitzern zu lassen. Eine norddeutsche Flusslandschaft im Frühling, getaucht in das milde Licht der Abendsonne. Nichts stört das Auge des Betrachters.

Ich verspüre plötzlich den Drang, mitten ins Bild etwas Fremdes, Sperriges zu setzen, einen Vogelkäfig, eine Gitarre oder ein paar schwarze Balken. Was ist los mit mir? Ich schließe die Augen und hole tief Luft.

Im nächsten Moment habe ich mich wieder unter Kontrolle, reinige meine Pinsel und schreibe eine Einkaufsliste.

Ich greife zum Telefon. Max nimmt sofort ab.

»Paula, ich habe eine Galeristin aus New York in der anderen Leitung. Kann ich dich zurückrufen?«

»Ja …«

New York. Warum sagt er das? Um mir zu verstehen zu geben, wie bedeutend seine Galerie geworden ist? Dass Landschafts- und Blumenmalerinnen wie ich dankbar sein können, wenn er ihnen ab und zu eine Ausstellung ermöglicht?

Unsinn. Ich stehe auf und schließe die Dachfenster. Auf der Wendeltreppe kehre ich noch einmal um, weil ich die Einkaufsliste vergessen habe. Max verdient gut an meinen Bildern. Er lobt sie nie, aber er findet immer neue Abnehmer, die ihre Restaurants, Arztpraxen und Anwaltskanzleien mit Bildern von Paula Brandt ausstatten lassen. Die Galerie Max Fischer ist in Hamburg bekannt für ihre gefällige Kunst.

In der Küche koche ich mir einen Tee und esse ein Stück von Jakobs Schokoladenkuchen. Es macht mir nichts aus, dass er oben etwas angebrannt ist. Jakob ist der erste Mann in meinem Leben, der mir zum Geburtstag einen Kuchen backt.

Du musst Max gegenüber selbstbewusster auftreten, sagt Jakob. Aber wie? Indem ich ihm erkläre, dass ich Zeit brauche, um neue Ideen zu entwickeln? Dass die Gladiolen-Serie, die er im Winter verkauft hat, sich kaum von der unterscheidet, die ich vor sechs Jahren gemalt habe? Dass auch die vier Meeresstudien, die, laut Max, im April weggingen wie warme Semmeln, all meinen anderen Bildern vom Meer ähneln? Manchmal wünschte ich, ich könnte ihm sagen, dass der Geschmack der Käufer nicht das entscheidende Kriterium für einen Künstler sein darf.

Mein Blick fällt auf Lilis Foto. Grüne Hügel mit einer Schafherde, darüber ein weiter, wolkiger Himmel. Ich falte ihren Geburtstagsbrief auseinander.

 

Meine kleine Nichte wird schon 32! Ich kann es kaum glauben. Happy Birthday, liebe Paula! Lass Dich in die Arme nehmen und Dir viel Glück, Erfolg und Zuversicht für Dein neues Lebensjahr wünschen. Ich würde mich so freuen, wenn Du mich mal in Dublin besuchen kämst. Dann könnten wir am Strand spazieren gehen, uns etwas Leckeres kochen, ein Torffeuer anzünden und stundenlang reden.

Du bist die Einzige in der Familie, bei der ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe, dass Du Dir meine Wahlheimat irgendwann einmal anschauen wirst. Dein Vater reist ja leider nicht und Dein Großvater … Tja, Deine Großmutter hat nie gewollt, dass er nach Irland fährt, und jetzt schafft er es nicht mehr.

Der Wind, die Seeluft, das Licht würden Dir guttun. Du könntest Deinen Skizzenblock mitbringen oder auch eine kleine Staffelei …

Sei ganz lieb gegrüßt

von Deiner Lili

PS Wenn Dir das Kleid nicht gefällt, kann ich es umtauschen. Ich fand, Türkis passt zu Deinen dunklen Haaren und Deinen braunen Augen. Der Schnitt ist etwas gewagt, aber Du bist ja schlank.

 

Ich käme selbst nie auf die Idee, mir so ein Sommerkleid zu kaufen. Es gefällt mir, ein weich fallender Stoff, Seide mit Viskose. Lili hat mir noch nie etwas geschenkt, was mir nicht gefällt. Warum wohnt sie so weit weg?

Vater hat, wie immer, meinen Geburtstag vergessen. Dass Großvater mir nicht gratuliert hat, ist neu. Vielleicht war es früher Großmutters Aufgabe, ihn daran zu erinnern. Oder interessiert er sich seit ihrem Tod nicht mehr für Geburtstage? Sie waren ihm sonst so wichtig, vor allem sein eigener. Als er fünfundachtzig wurde, bestand er darauf, fast hundert Personen zu einem üppigen Menü ins Hotel Vier Jahreszeiten einzuladen. Was für ein steifer Abend inmitten all der Geschäftsleute und Honoratioren. Ohne Jakobs Humor hätte ich es nicht ertragen, dort zu sitzen und mir eine Rede nach der anderen über den erfolgreichen Bauunternehmer Alfred Brandt anzuhören, dem die Stadt so viel zu verdanken habe. Vater war natürlich nicht dabei.

Ich trinke meinen Tee aus. Zwanzig vor sieben. Das Käsegeschäft macht gleich zu und der Bioladen auch. Wann habe ich Max angerufen? Vor einer Dreiviertelstunde? Telefoniert er so lange mit einer Galeristin in New York? Oder spricht er längst mit jemand anderem? Wie oft habe ich schon auf Max’ Rückruf gewartet. Vielleicht ist es Teil seiner Taktik. Warten erzeugt Abhängigkeit. Heute warte ich nicht länger. Und mein Handy lasse ich zu Hause. Ich will nicht auf offener Straße über meine Arbeit sprechen. Auch wenn Max das nie begreifen wird.

Jakob schickt mir eine SMS. Ich steige jetzt in die Maschine. Bin hoffentlich gegen neun zu Hause. Kuss, Dein J.

Guten Flug. Ich koch uns was. Bis nachher, Deine P., antworte ich.

Ich nehme den Einkaufskorb und öffne die Wohnungstür. Unten im Hausflur hustet jemand. Ich schließe ab und gehe die Treppe hinunter.

Im zweiten Stock steht ein hagerer Mann in einer fleckigen Windjacke und studiert die Klingelschilder. Er hat graues, schütteres Haar und trägt eine Nickelbrille.

»Guten Abend. Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich …« Er starrt mich an und fährt sich mit der Hand über den Mund.

»Wen suchen Sie?«

»… Paula Brandt.«

»Das bin ich. Haben Sie bei mir geklingelt? Ich habe nichts gehört.«

»… Die Haustür stand offen.«

»Was kann ich für Sie tun?«

»… Ich heiße Werner Schumann …«

»Tut mir leid, der Name sagt mir nichts.«

»Ich spiele jeden Montagabend Schach mit Ihrem Vater …«

»Ah ja?«

»Schon seit vielen Jahren.« Werner Schumann fährt sich wieder über den Mund. »Hat er Ihnen nie davon erzählt?«

»Entschuldigen Sie, ich muss noch einkaufen. Worum geht es?«

Er schluckt und betrachtet seine Hände. Lange, schmale Finger mit gepflegten Nägeln. »Ich weiß nicht, wie … ich es Ihnen sagen soll …«

»Kommen Sie im Auftrag meines Vaters?«

Er nickt. »Können wir vielleicht in Ihre Wohnung gehen? Hier im Treppenhaus fällt es mir schwer, darüber zu sprechen.«

»Herr Schumann, ich kenne Sie nicht. Sie müssen Verständnis dafür haben, wenn ich …«

»Ihr Vater hat versucht, sich das Leben zu nehmen.«

»Wie bitte?« Mein Mund ist plötzlich trocken.

»Mit Schlaftabletten …«

»Wann?«

»Gestern … Ich habe ihn um Viertel nach sechs gefunden … Wahrscheinlich wollte er, dass ich ihn finde … Wir waren ja verabredet … und die Terrassentür stand offen …« Werner Schumann beginnt zu weinen.

»Kommen Sie.«

Er folgt mir wortlos nach oben, ab und zu schnieft er, dann putzt er sich die Nase.

In der Küche bitte ich ihn, Platz zu nehmen. Zögernd setzt er sich an den Tisch.

»Möchten Sie einen Tee oder Kaffee oder ein Glas Wasser?«

»Nichts … danke.«

»Wo ist mein Vater jetzt?«

»In der Psychiatrie der Uni-Klinik.«

»Kann ich ihn besuchen?«

»Er will niemanden sehen, ich soll auch nicht mehr kommen. Aber es war ihm wichtig, dass ich Ihnen Bescheid sage.«

»Wann haben Sie zuletzt mit ihm Schach gespielt?«

»Gestern vor einer Woche.«

»Wie ging es ihm da?«

Werner Schumann zuckt mit den Achseln. »Mir ist nichts Besonderes aufgefallen … Georg und ich, wir … haben nie viel geredet.«

Er sieht sich verstohlen um. Vergleicht er die helle Einbauküche mit Vaters zusammengestückelten Möbeln? Dem alten Kühlschrank, der wackeligen Spüle und dem Hängeschrank vom Sperrmüll?

»Ich wusste bis heute gar nicht, dass er eine Tochter hat.«

»Das wundert mich nicht. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich ein Jahr alt war. Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen. Mein Vater hat sich nur selten blicken lassen.«

Wir schweigen.

»Ich habe ihm heute ein paar Sachen gebracht«, sagt Werner Schumann nach einer Weile. »Und bei seiner Arbeitsstelle habe ich auch angerufen …«

»… Wo arbeitet er?«

»In der Holzabteilung von BAUHAUS in Lokstedt … seit zwanzig Jahren schon.«

Jetzt verstehe ich, warum Vater mir nie sagen wollte, wo er sein Geld verdient. Er schämte sich, als Sohn von Alfred Brandt in einem Baumarkt Holzplatten zurechtzusägen.

»Georg ist mein bester Freund«, murmelt Werner Schumann. »Warum habe ich nicht gemerkt, dass er … solche Probleme hat?«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe …« Mir schießen Tränen in die Augen. Wir, seine Familie, hätten merken müssen, wie es um ihn steht. Stattdessen haben wir uns damit abgefunden, dass er sich immer mehr von uns zurückgezogen hat, sogar von Lili.

Werner Schumann steht auf. »Ich geh dann mal …«

»Danke, dass Sie gekommen sind.«

Er zieht einen Zettel aus seiner Windjacke. »Hier sind meine Adresse und meine Telefonnummer. Vielleicht werden Sie Ihren Vater ja doch irgendwann besuchen … Ich würde gern hören, wie es ihm geht.«

»Ja, natürlich.«

Ich begleite Werner Schumann zur Tür. Er gibt mir zum Abschied die Hand, sein Händedruck ist erstaunlich fest.

Jakobs Flug aus München landet in einer Dreiviertelstunde. Ich schicke ihm eine SMS, damit er vorbereitet ist. Mein Vater liegt nach einem Suizidversuch im UKE.

Hoffentlich ist Lili zu Hause. Nein, es läuft nur ihr AB. Ich lege auf, kann ihr diese Nachricht nicht aufs Band sprechen. Versuche, sie auf ihrem Handy zu erreichen. The customer is currently unavailable. Ich wähle wieder ihre Festnetznummer.

»Hier ist Paula. Ruf mich bitte sobald wie möglich zurück.«

Und Großvater? Ich sehe den hochgewachsenen, auch im Alter kaum gebeugten Mann mit seinen schneeweißen Haaren und den leuchtend blauen Augen vor mir. Nein, ich werde ihm nicht mitteilen, dass sein Sohn versucht hat, sich umzubringen. Nicht heute Abend.

Eine seltsame Leere breitet sich in mir aus. Ich muss mit jemandem reden. Eine enge Freundin habe ich nie gehabt. Und meine Kolleginnen? Am ehesten Franziska. Aber auch ihr bin ich nicht so vertraut, dass ich mich an sie wenden könnte. Und Mutter ist tot. Erwarte nichts von deinem Vater, sagte sie in der Woche, bevor sie starb. Du wirst nur enttäuscht sein. Ob sie sich jemals vorgestellt hat, er könnte sich etwas antun?

 

Ich greife nach Papas Hand. Sie ist warm und feucht. Ich bin fünf. Wir gehen durch den Park zum Spielplatz. Überall liegen bunte Blätter. Im Kindergarten trocknen wir die Blätter und kleben sie in ein Heft, sage ich. Hm, murmelt Papa. Darf ich schaukeln? Wieder ein Hm. Du musst mich anschubsen. Er schubst mich ein bisschen an. Doller, rufe ich. Er schubst nicht doller. Das macht keinen Spaß. Ich springe von der Schaukel und laufe zum Kletterturm. Papa soll sehen, wie hoch ich schon klettern kann. Ruck, zuck klettere ich bis nach oben. So schnell habe ich es noch nie geschafft. Papa, guck mal! Er sitzt auf der Bank und guckt nicht. Schläft er? Plötzlich rutsche ich ab und falle in den Sand. Aua!, schreie ich. Kind, hast du dir weh getan?, ruft eine Frau und beugt sich über mich. Wo ist denn deine Mama? Jetzt kommt Papa auf mich zugelaufen. Er ist bleich. Ich weine. Er nimmt mich in die Arme. Alles in Ordnung? Ich schüttele den Kopf. Mit Papa geht immer alles schief.

 

Das Telefon klingelt. Lili, denke ich, und nehme ab, ohne auf das Display zu blicken.

»Hier ist Max.«

»Ach …«

»Tut mir leid, Paula, dass es etwas länger gedauert hat.«

Mein Blick fällt auf den Korb. Ich habe nicht eingekauft.

»Ich stecke in wichtigen Verhandlungen mit dieser New Yorker Galerie … Bist du noch dran?«

»Ja …«

»Wir denken über eine breit angelegte Kooperation nach. Da bahnen sich ungeheure Möglichkeiten an. Vielleicht interessieren sich die Amerikaner eines Tages auch für norddeutsche Flusslandschaften. You never know.«

Ich höre den Spott in seiner Stimme und denke mir sein Grinsen dazu.

»Ist mit der Leitung irgendwas nicht in Ordnung?«

»Wieso?«

»Du verschwindest immer wieder.«

»Nein.«

»Und warum sagst du nichts?«

»Ich … kenne mich mit den Vorlieben amerikanischer Galeristen nicht aus.«

Max schnalzt mit der Zunge. »Also, was ist? Wann kann ich mit der Serie rechnen?«

»Ich … weiß es nicht …«

»Du weißt es nicht? Warum hast du mich denn vorhin angerufen?«

Vorhin. Da wollte ich ihm sagen, dass ich vier Variationen der Flusslandschaft fertighätte. Später Vormittag, Mittag, Nachmittag und Früher Abend. Dass die Arbeit an Mondnacht und Morgennebel hoffentlich auch nicht zu lange dauern werde und ich ihm mit etwas Glück in einer Woche sechs Bilder liefern könne.

»Ich habe einem Augenarzt von deinem Projekt erzählt, ein und denselben Blickwinkel in unterschiedlichem Licht festzuhalten. Er meinte, das sei was für seine Praxis. Es erinnert ihn an Claude Monet. Der hat irgendeine französische Kathedrale in derselben Weise immer wieder gemalt. Und da der Arzt die Impressionisten liebt …«

»Vier Bilder kannst du morgen abholen«, unterbreche ich Max.

»Aber es sollten sechs werden. Welche fehlen denn noch?«

»… Mondnacht und Morgennebel …«

»Das müsste bis Ende der Woche zu schaffen sein, oder?«

Der Gedanke, weitere Flusslandschaften zu malen, hat plötzlich etwas Beklemmendes.

»Was ist los mit dir? Ich habe schon die ganze Zeit das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmt.«

»Nein … alles okay …«

»Gut. Dann komme ich vorbei, wenn die Serie fertig ist. Frohes Schaffen.«

Langsam lege ich den Hörer auf. Meine Hand zittert.

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2.

Jakob ruft mich aus dem Taxi an. Ich höre das Entsetzen in seiner Stimme.

»Wie geht es deinem Vater?«

»Keine Ahnung … Er will niemanden sehen.«

Ich erzähle ihm, was ich von Werner Schumann erfahren habe.

»Als Tochter hast du das Recht, mit den Ärzten zu sprechen.«

»Ja …«

»Wenn du willst, können wir gleich zur Klinik fahren.«

»Nein, nicht heute Abend … morgen vielleicht.«

»Wann hast du deinen Vater zuletzt getroffen? Bei der Beerdigung deiner Großmutter?«

»Ja.«

Das war Ende April. Seitdem sind acht Wochen vergangen. Es hat schon Zeiten gegeben, in denen ich Vater anderthalb Jahre lang nicht gesehen habe. Dabei wohnt er mit dem Auto höchstens zwanzig Minuten von uns entfernt.

 

Kurz darauf steht Jakob vor mir und nimmt mich in die Arme.

»Es tut mir so leid.«

Meine Kehle schnürt sich zu.

»Hat dein Vater so was schon mal versucht?«

»Nicht dass ich wüsste … Aber ich weiß so wenig über ihn …«

»Bist du dir wirklich sicher, dass du nicht hinfahren willst?«

»Ja … ich muss erst mit Lili sprechen. Sie ist leider nicht zu Hause, und ihr Handy ist nicht eingeschaltet.«

Jakob geht ins Badezimmer und wäscht sich die Hände. Ich folge ihm. Im Spiegel betrachte ich seine kurzen blonden Haare, die hohe Stirn, seine braunen Augen. Er ist heute Morgen um halb fünf aufgestanden und sieht trotzdem nicht müde aus. Jakobs Energie möchte ich haben.

Er dreht sich um und streicht über die schmale Goldkette mit dem Saphiranhänger, die ich von ihm zum Geburtstag bekommen habe. »Steht dir gut.«

Ich gebe ihm einen Kuss. »So ein schönes Geschenk.«

Wir beschließen, essen zu gehen. Nach dem Regen der letzten Wochen ist dies der erste trockene, laue Abend. Die Tische vor den Kneipen und Restaurants sind alle besetzt. Beim Italiener an der Ecke finden wir schließlich zwei freie Plätze. Wir bestellen Risotto mit Salat und einen halben Liter Rotwein.

»Vielleicht kann dein Vater den Tod seiner Mutter nicht verwinden«, meint Jakob und schenkt uns ein.

»Das glaube ich nicht … Die Beziehung zwischen den beiden war äußerst schlecht. Meine Großmutter hat ihn immer als Versager beschimpft.«

»Weil er die Firma nicht übernommen hat?«

»Mein Vater ist schon in der Schule gescheitert. Und als er auch noch seine Tischlerlehre abgebrochen hat, haben seine Eltern ihn fallenlassen.«

»Dann hätte der Tod deiner Großmutter ihn ja eher erleichtern müssen.«

Ich nicke.

»In den drei Jahren, seitdem wir uns kennen, habe ich ihn nur einmal gesehen … auf der Beerdigung. Und da haben wir kaum miteinander geredet.«

»An dir liegt es nicht.«

»Ich hätte mich vielleicht mehr bemühen müssen.«

»Das nützt alles nichts. Er ist so verschlossen, keiner kommt an ihn heran. Dieser Werner Schumann hat auch nicht geahnt, was mit ihm los ist. Und er sagte, mein Vater sei sein bester Freund.«

»Ist er im selben Alter?«

»Ja.«

Schweigend beginnen wir zu essen. Ich denke an Vaters sechzigsten Geburtstag, ein Montag, Ende Januar. Jakob und ich hatten ihm eine CD mit den Goldberg-Variationen geschickt, gespielt von Glenn Gould. Vor Jahren hatte er einmal erwähnt, wie sehr er diesen Pianisten bewundere. Auch so ein Einsiedler. Zu der CD hat er sich nie geäußert. Dreimal habe ich an jenem Tag versucht, ihn anzurufen, um ihm zu gratulieren. Er hat nicht abgenommen. Einen Anrufbeantworter besitzt er nicht. Vermutlich hat er mit Werner Schumann Schach gespielt.

Jakob runzelt die Stirn. Meine Familie ist ihm ein Rätsel. Seine Geschwister, Eltern, Großeltern, Cousins, Cousinen, Tanten, Onkel, Nichten und Neffen haben ständig Kontakt, sie telefonieren, treffen sich zum Essen, feiern große Feste und verbringen sogar einen Teil ihrer Ferien zusammen. Sie streiten und vertragen sich und können sich immer aufeinander verlassen. Bis ich Jakob kennenlernte, dachte ich, solche Familien existieren nur in Büchern.

»Wie war dein Tag?«, frage ich.

»Super.« Jakob strahlt. »Die Tagung hat richtig was gebracht. Mit drei Allergologen konnte ich längere Interviews führen, außerdem habe ich viele Tipps und weitere Infos bekommen.«

»Das klingt gut.«

»Ich bin froh, dass ich vorher so gründlich recherchiert hatte. Morgen früh fange ich mit meinem Artikel an. Die Redaktion will ihn spätestens am Donnerstag haben.«

»Schaffst du das bis dahin?«, frage ich erschrocken.

»Na klar.«

»Das soll doch eine längere Reportage werden.«

»Ich habe die Gliederung schon im Kopf.« Jakob schenkt uns nach. »Und wie war’s bei dir, bevor du erfahren hast, was mit deinem Vater passiert ist?«

»Ich habe mich mal wieder über Max geärgert. Er lässt keine Gelegenheit aus, mir zu zeigen, wie klein ich in seinen Augen bin.«

»Du bist nicht klein! Max ist einer der wichtigsten Galeristen in Hamburg. Meinst du, er würde dich vertreten, wenn er von deinen Bildern nicht überzeugt wäre?«

»Für ihn zählt nur das Geld.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Seine neueste Masche ist ein möglicher Deal mit einer Galerie in New York.«

»Das ist doch toll. Vielleicht hast du demnächst eine Ausstellung in New York.«

»Nein, bei diesen Verhandlungen geht es nicht um meine Bilder. Max hat wieder mit seinem typisch ironischen Unterton über meine norddeutschen Flusslandschaften gesprochen …«

»An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher … Warum sollten Amerikaner sich nicht für Landschaftsbilder aus Deutschland interessieren?«

Ich zucke mit den Achseln und esse mein Risotto auf.

»Bist du heute mit der Arbeit an der Abendstudie fertig geworden?«, fragt Jakob nach einer Weile.

»Ja.«

»Und? Zufrieden?«

»Hm …«

»Sei doch nicht immer so streng mit dir. Glaub mal an das, was du tust.«

Ich spüre eine leichte Ungeduld in seiner Stimme. Für ihn ist es selbstverständlich, dass ich die Bildbestellungen, die Max bei mir in Auftrag gibt, eine nach der anderen abarbeite, so wie er seine Artikel abliefert.

Soll ich ihm erzählen, dass ich vorhin am liebsten etwas Fremdes mitten ins Bild gesetzt hätte? Nein, das würde er nicht verstehen. Ich verstehe es selbst kaum. Ich weiß nur, dass ich einen wachsenden Widerwillen gegen diese Fließbandproduktion verspüre.

 

Ich kann nicht einschlafen. Um kurz nach zwölf klingelt das Telefon. Jakob murmelt etwas und dreht sich auf die andere Seite.

»Hallo«, sage ich leise und stehe auf.

»Hier ist Lili. Ich war heute Abend im Theater und bin eben erst nach Hause gekommen.«

Ich gehe in die Küche und schließe die Tür hinter mir.

»Habe ich dich geweckt?«

»Nein, ich war noch wach.«

»Ist etwas mit meinem Vater?«

»Nein … Es geht um Georg … Er hat Schlaftabletten genommen …«

»Was?«

Ich fasse für Lili zusammen, was ich weiß.

»Oh, Paula …« Sie fängt an zu weinen. »Am Freitag haben wir noch telefoniert … Er war wortkarg wie immer … wollte nur wissen, was Flynn macht. Verrückt, er interessiert sich eher für meinen Kater als für mich … Jahrelang habe ich damit gerechnet … dass er sich etwas antut … Aber in letzter Zeit nicht mehr … Ich dachte, der Tod unserer Mutter hätte ihn befreit …«

»Jakob wollte ihn heute Abend sofort besuchen, doch er will niemanden sehen …«

»Dann hat es keinen Zweck.«

»Das denke ich auch.«

»Es wäre gut, mit den Ärzten zu sprechen.« Lili putzt sich die Nase. »Ich komme morgen.«

»Wirklich?« Erleichterung breitet sich in mir aus. Mit Lili zusammen wird alles leichter sein.

»Natürlich komme ich. Entweder mit dem Aer-Lingus-Direktflug gleich morgen früh, oder ich fliege über London.«

»Du kannst bei uns wohnen. In meinem Atelier steht ein Schlafsofa.«

»Danke, das Angebot nehme ich gern an. Bei meinem letzten Besuch, als Mutter beerdigt wurde, habe ich ja noch mal in unserem alten Haus übernachtet. Das hat mir nicht gutgetan.«

»Wenn ich das gewusst hätte …«

»Das konntest du nicht ahnen. Außerdem hättest du mich nicht davon abhalten können. Es war eine Art Test, den ich mir abverlangt habe.«

»Wie machst du es mit deiner Arbeit? Hast du dringende Abgabetermine?«

»Die habe ich eigentlich immer. Ich bringe meine aktuelle Übersetzung mit.«

»Und Flynn?«

»Den wird meine Nachbarin versorgen. Das hat sie schon oft gemacht.«

»Schick mir eine SMS, wann du ankommst. Ich hole dich vom Flughafen ab.«

»Ist gut. Bis morgen.«

Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und setze mich auf den Balkon. Es ist noch warm und fast windstill. Das hat mir nicht gutgetan. Lilis Satz geht mir nicht aus dem Kopf. Ich weiß so wenig von ihr, und trotzdem ist sie mir nah.

In der Ferne ertönt ein Martinshorn. Ich schließe die Augen. Wie konnte Vater so etwas tun?

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3.

Die Treppe im Turm wird immer schmaler. Es ist dunkel. Vater ächzt und stöhnt. Wann sind wir endlich oben?, rufe ich. Er antwortet nicht. Lehm klebt unter seinen Stiefeln. Meine Schultern berühren die rauhen Wände. Gleich bleiben wir stecken. Da höre ich das Pfeifen des Windes. Es wird heller. Eine Stufe noch. Wir haben es geschafft. Die Sonne blendet mich. Guck dir das an!, sagt Vater und zeigt auf die hügelige Landschaft. Siehst du den See? Ich nicke. Mussten wir uns deshalb hier raufquälen?, frage ich. Du hast immer an allem etwas auszusetzen, genau wie deine Mutter, antwortet Vater und zieht eine kleine Holzkassette aus seiner Jacke. Er klappt sie auf und stellt sie auf die Brüstung. Ein Schachspiel. Magnetfiguren, sagt er und hält mir einen Turm unter die Nase. Aber ich kann kein Schach, protestiere ich. Ich bringe es dir bei, sagt er und stellt die Figuren auf. Er erklärt mir die Regeln, ich begreife sie nicht. Er erklärt sie mir noch einmal, meine Gedanken schweifen ab. Was ist mit dir los?, fragt Vater und schüttelt den Kopf. Wut steigt in mir hoch. Warum soll ich lernen, Schach zu spielen? Ich male lieber. Vater starrt mich an. Spiel doch mit deinem Freund!, rufe ich. Wie kannst du mich so enttäuschen, sagt Vater und schwingt sich auf die Brüstung. Nein!, schreie ich und will ihn festhalten. Im nächsten Moment stürze ich in einen schwarzen Abgrund.

Ich schrecke hoch, spüre eine Hand auf meinem Arm. Jakob. Er knipst das Licht an, streicht mir über die nasse Stirn.

»Du hast geschrien.«

»Ich hatte einen Alptraum.«

»Kein Wunder, nach dem Tag gestern. Schlaf schnell wieder ein.«

Nach ein paar Sekunden höre ich seine gleichmäßigen Atemzüge.

Wie oft habe ich diese Fallträume schon gehabt. Aber zum ersten Mal kam Vater darin vor.

Ich liege wach, bis es hell wird.

 

Mein Wecker klingelt um sieben. Einen Moment lang weiß ich nicht, wo ich bin.

Jakobs Bettseite ist leer. Er joggt, wie jeden Morgen. Hätte er nicht heute einmal darauf verzichten können, um in Ruhe mit mir zu frühstücken?

Ich höre, wie er zurückkommt, die Kaffeemaschine startet und unter die Dusche steigt. Er pfeift eine Melodie, die ich nicht kenne. Wie kann er so gut gelaunt sein?

Ich stehe auf und schaue nach, ob Lili mir geschrieben hat. Ja, da ist ihre SMS.

Liebe Paula, ich habe noch ein Ticket für den Aer-Lingus-Flug bekommen. Ankunft heute um 9.50 Uhr.

Bis dahin liebe Grüße, Deine Lili

Jakob stürmt ins Zimmer und gibt mir einen Kuss. »Morgen. Ich bin eine neue Bestzeit gelaufen.« Plötzlich hält er inne. »Tut mir leid, ich habe eben nicht daran gedacht, dass …«

»Ist schon gut.«

»Leider muss ich mich wahnsinnig beeilen.« Er reißt den Schrank auf. In seiner Hälfte herrscht das übliche Chaos.

Ich sehe ihm zu, wie er nach frischen Anziehsachen sucht. »Lili kommt nachher.«

»Aus Dublin? Oder ist sie sowieso gerade in Deutschland?«

»Nein. Wir haben heute Nacht telefoniert. Und dann hat sie sofort einen Flug nach Hamburg gebucht.«

»Das nenne ich Einsatz.«

»Ich habe ihr angeboten, dass sie bei uns wohnen kann.«

»Ja, klar.«

Ich folge Jakob in die Küche. Er isst sein Müsli im Stehen, trinkt seinen Milchkaffee aus und greift nach seinem Rucksack.

»Bis heute Abend.«

Ich höre, wie er die Treppen hinunterrennt. Gleich wird er sich auf sein Mountainbike schwingen und vielleicht auch in einer neuen Bestzeit zur Redaktion radeln.

Unter der Dusche denke ich über den Traum nach. Ich wollte Vater retten und komme selbst dabei um. Sind meine Schuldgefühle ihm gegenüber so groß, dass ich mein Leben für ihn opfern muss? Eine Auseinandersetzung wie im Traum hat es zwischen uns nie gegeben. Vor vielen Jahren, ich war nicht älter als zwölf, wollte er mir beibringen, Schach zu spielen. Er war enttäuscht, dass ich kein Interesse daran hatte. Danach hat er das Thema nie wieder angesprochen. Und auch nie versucht, mir etwas anderes beizubringen.

Die Sonne ist herausgekommen. Ich ziehe meinen kurzen Jeansrock an und ein schwarzes T-Shirt. Dazu flache Sandalen. Meine Haare binde ich zu einem Zopf zusammen. Du könntest mehr aus dir machen, wird Lili sagen. Oder denken.

Ich frühstücke, beziehe ihr Bett und räume mein Atelier auf. Die vier Flusslandschaften verschwinden in der Ecke, wo verschiedene angefangene oder aussortierte Bilder stehen. Ich würde gern ein neues, ganz anderes Bild auf die Staffelei stellen. Doch so etwas habe ich nicht, habe zuletzt während meines Studiums abstrakte Themen und ungewöhnliche Techniken ausprobiert. Meine Versuche haben mich nie überzeugt. Bleibe bei dem, was du kannst, war in den letzten acht Jahren meine Devise. Jetzt bin ich im Bekannten steckengeblieben.

Ich kaufe ein, besorge Blumen, auch für den Balkon. Lobelien, Margeriten und dunkelrote Bartnelken. Seit Wochen habe ich die Kästen bepflanzen wollen.

Zwanzig nach neun. Ich schaffe es gerade noch, im Internet nachzusehen, in welchem Gebäude der Uni-Klinik sich die Psychiatrie befindet. Haus W 37, Martinistraße 52. Bis dorthin sind es zu Fuß nicht mehr als zehn Minuten. Es ist eine seltsame Vorstellung, dass Vater sich ganz in meiner Nähe befindet. Werden suizidgefährdete Patienten in geschlossenen Abteilungen untergebracht? Ich sehe ihn an einem vergitterten Fenster stehen. Nein, die Psychiatrie ist kein Gefängnis.

 

Der Flug aus Dublin hat eine halbe Stunde Verspätung. Ich kaufe mir eine Süddeutsche und setze mich so, dass ich die ankommenden Passagiere im Blick habe. Zwei kleine Kinder halten ein Plakat in den Händen: Willkommen, liebe Omi! Niemals hätte ich Großmutter so empfangen.

Es ist kühl hier. Die Klimaanlage läuft. Ich ziehe meine Strickjacke an und wickele mir ein Baumwolltuch um den Hals. Es fehlt noch, dass ich mich erkälte. Du bist viel zu ängstlich, würde Jakob jetzt sagen. Jakob hat gut reden, er ist nie krank. Bei mir dagegen wird aus einem Schnupfen sofort eine Bronchitis.

Ein englisch sprechendes Paar geht an mir vorbei. Und gleich darauf noch eins. Es folgt eine deutsche Schulklasse mit lauter kichernden Mädchen und prahlenden Jungen. An ihren Kofferanhängern erkenne ich, dass sie in Dublin waren.

Wo bleibt Lili? Hat sie die Maschine verpasst? Sie neigt dazu, zu spät zu kommen.

Wieder öffnet sich die Schiebetür. Da ist sie. Mit ihren einsfünfundachtzig überragt sie alle anderen. Ihre langen, rotbraunen Locken glänzen. Sie trägt eine schwarze Lederjacke, enge Jeans und silberne Ballerinas. Jetzt hat sie mich entdeckt.

»Paula!«

Wir nehmen uns in die Arme.

»Ich bin so froh, dass du da bist«, murmele ich.

Lili legt ihre Hände auf meine Schultern. Ihre grünen Augen schauen mich prüfend an.

»Du bist blass.«

»Ich habe wenig geschlafen und schlecht geträumt.«

»Fahren wir sofort zur Klinik?«

Ich nicke.

Auf dem Weg zum Parkplatz drehen sich mehrere Leute nach Lili um. Ich kenne niemanden, der so auffällt wie sie.

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4.

Es gibt viel Verkehr. Ich kann mich nur schlecht konzentrieren. Beinahe hätte ich die Abzweigung zur Klinik verpasst.

»Hat Georg in letzter Zeit einen veränderten Eindruck auf dich gemacht?«, fragt Lili.

»Ich habe ihn seit Omas Beerdigung nicht gesehen.«

»Ah …«

»Manchmal sind die Abstände zwischen unseren Treffen noch viel größer«, sage ich eine Spur zu heftig. »Wir sehen uns am ehesten, wenn du kommst.«

»Ich weiß … ich hatte gehofft, dass sich nach Mutters Tod daran vielleicht etwas geändert hätte.«

»An mir hat es nicht gelegen, glaub mir. Ich habe ihn alle ein bis zwei Wochen angerufen und ihm irgendetwas vorgeschlagen: ein Bier zu trinken, ins Kino zu gehen, einen Spaziergang an der Elbe zu machen. Vater interessiert sich nur für sich. Oder zumindest interessiert er sich nicht für seine Tochter.«

»Paula …« Lili legt mir eine Hand auf den Arm. »Es war keine Kritik an dir.«

Zwischen den Klinikgebäuden finde ich keinen Parkplatz. Ich fahre in die Tiefgarage, dort entdecke ich endlich eine Lücke. Ich stelle den Motor ab und lehne mich zurück.

»Du bist wütend, stimmt’s?«

»Ja … aber auch traurig und hilflos … Und natürlich habe ich Schuldgefühle …«

»Du bist nicht verantwortlich für das, was er getan hat.«

»Das sagst du so leicht. Es ist schlimm, wenn sich der eigene Vater aus dem Leben davonmachen will, ohne sich darum zu scheren, dass er ein Kind hat.«

Tränen laufen mir über die Wangen. Ich wische sie weg, will jetzt nicht weinen, will das alles hier schnell hinter mich bringen.

»Für mich ist es auch schlimm«, murmelt Lili. »Mein großer Bruder … Ich habe bereits als Kind gemerkt, dass er anders war als die großen Brüder meiner Freundinnen … Er konnte mich nicht beschützen, obwohl er sechs Jahre älter ist … eher habe ich ihn beschützt …«

»Ich habe immer gedacht, er sei mindestens zehn oder zwölf Jahre älter als du.«

»Danke …«

»Vater sah schon mit vierzig aus, als sei er Ende fünfzig.«

»Ja«, seufzt Lili. »Georg war nie jung.«

Wir steigen aus und verlassen schweigend die Tiefgarage. Anhand eines Plans aus dem Internet versuche ich, mich zu orientieren. Es ist nicht weit bis zum Haus W 37. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie.

Am Empfang ist es Lili, die sagt, wer wir sind und wohin wir wollen. Ich bin erleichtert, dass ich ihr das Reden überlassen kann. Man schickt uns in den dritten Stock des Neubaus. Depression. Station und Tagesklinik.

Eine ältere Frau geht an uns vorbei, ihre Miene ist starr. Ein junger Mann sitzt unruhig auf einem Stuhl und schaut auf seine Hände. Vater kann ich nirgendwo entdecken.

Lili hat inzwischen mit einer Schwester gesprochen, sie wird dem Stationsarzt Bescheid sagen.

»Hoffentlich können wir Georg sehen.«

Ich bin nicht sehr optimistisch. Warum sollte Vater uns heute sehen wollen, wenn er es gestern nicht wollte?

Wir warten. Ab und zu drückt Lili meine Hand.

Nach einer halben Stunde tritt ein freundlich aussehender Arzt auf uns zu.

»Guten Tag. Ich bin Dr. Eggers.«

Wir folgen ihm in sein Sprechzimmer, einem hellen Raum mit Bildern von Miró und Kandinsky. Vielleicht wirkt sich abstrakte Kunst beruhigend auf die Patienten aus. Setzt der Arzt sie zu therapeutischen Zwecken ein? Lässt sich von einer Bildinterpretation auf eine psychische Verfassung schließen?

Lili hat begonnen, uns vorzustellen. Dr. Eggers hört ihr zu, nickt ein paarmal, sieht mich, dann wieder Lili an. Er ist kaum älter als ich, schießt es mir durch den Kopf.

»Nachdem die Stationsschwester mir Bescheid gesagt hat, dass Sie hier sind, habe ich noch einmal mit Georg Brandt gesprochen. Es ist leider nach wie vor so, dass er niemanden sehen möchte.«

Ich spüre einen Stich, dabei war ich doch darauf vorbereitet.

»Wie geht es ihm denn?«, fragt Lili.

»Physisch ist er relativ stabil«, antwortet Dr. Eggers. »Nach der Einlieferung am Montagabend wurde ihm der Magen ausgepumpt. Seit der Einnahme der Schlaftabletten war zum Glück noch nicht viel Zeit vergangen.«

»Er wollte also lebend gefunden werden.«

»Ja. Was aber nicht bedeutet, dass er nicht mehr suizidgefährdet ist. Im Gegenteil …«

»Und was passiert jetzt mit ihm?«, frage ich leise.

»Wir werden ihn vorerst weiter stationär behandeln. Er hat ausdrücklich den Wunsch geäußert, hierbleiben zu wollen.«

»Wie … erklären Sie sich das?«

»Er fühlt sich auf diese Weise geschützt, vor sich selbst.«

Wir schweigen. Mein Blick fällt auf das Miró-Bild. Unterschiedlich große, schwarze Punkte auf blauem Grund. Links ein leuchtend roter Stab. Ich denke an Kiesel, die auf eine Wand zurollen. Bis hierhin und nicht weiter. Oder sind sie von der Wand abgeprallt? Auf einmal sehe ich in dem Stab ein glühendes Stück Eisen und in den Punkten kleine Tiere, Mäuse oder Igel. Haben sie sich an dem Eisen verbrannt? Was würde Vater zu diesem Bild sagen?

Lili räuspert sich. »Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass unsere Mutter vor zwei Monaten ganz plötzlich gestorben ist. Hat mein Bruder mit Ihnen darüber gesprochen?«

»Nein.«

»Die Beziehung zwischen den beiden war zerrüttet. Ich weiß nicht, ob es da einen Zusammenhang gibt.«

Dr. Eggers macht sich eine Notiz und bittet darum, dass wir unsere Kontaktdaten bei der Stationsschwester hinterlassen.

»Grüßen Sie ihn von uns«, sagt Lili.

Er lächelt. »Gern. Es kann sein, dass er in ein paar Tagen damit einverstanden ist, Besuch zu bekommen.«

Wir bedanken uns. Fünf Minuten später stehen wir im Fahrstuhl. Ich habe Kopfschmerzen.

Auf der Fahrt nach Hause sprechen wir über Dr. Eggers. Lili hat, wie ich, das Gefühl, dass Vater bei ihm in guten Händen ist.

»Wir haben vergessen, ihn zu fragen, ob wir mit Georg telefonieren oder ihm wenigstens eine SMS schicken dürfen.«

»Besser nicht«, antworte ich. »Wenn er uns nicht sehen will, will er auch sonst keinen Kontakt.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Ich würde mich an seiner Stelle freuen, von meiner Familie zu hören.«

»Lili, du bist ganz anders als er.«

»Ich weiß …«

 

Ich habe Glück und finde einen Parkplatz fast direkt vor unserem Haus. Wir holen Lilis Koffer aus dem Auto. Erst jetzt nehme ich wahr, wie groß er ist.

»Keine Angst, ich werde nicht wochenlang bleiben«, sagt Lili und legt mir den Arm um die Schultern. »Aber ich reise nun mal gern mit viel Gepäck.«

»Du bist herzlich eingeladen, so lange zu bleiben, wie du willst.«

»Danke.«

Sie schaut sich neugierig um. »Es ist wirklich ein Zufall, dass ihr in die Geschwister-Scholl-Straße gezogen seid. Eine Schulfreundin von mir wohnte ein paar Häuser weiter.«

»Ach …«

»Manchmal habe ich bei ihr übernachtet. Dann sind wir abends durch die Kneipen gezogen …«

»Ich mag die Gegend sehr gern. Das Ausgehen ist für mich nicht so wichtig, für Jakob aber schon. Für mich hat das ausgebaute Dachgeschoss den Ausschlag gegeben. Von so einem hellen Atelier habe ich immer geträumt.«

»Ich bin sehr gespannt auf deine neuesten Werke.«

Sie wird enttäuscht sein, dass ich nach all den Jahren immer noch die gleichen Bilder male, denke ich und schließe die Haustür auf.

Gemeinsam tragen wir ihren Koffer in den fünften Stock. Lili läuft begeistert durch die Wohnung, bewundert die Holzdielen, die alten Türen, den Stuck an der Decke.

Auf der Wendeltreppe haben wir etwas Mühe mit dem Koffer. Lili rutscht beinahe aus.

Durch die Dachfenster scheint die Sonne ins Atelier.

»Oh, ist das schön! Und hier schlafe ich?«

»Ja.«

»Habt ihr selbst renoviert?«

Ich nicke. »Jakob hat die Fußböden abgeschliffen und die Türen abgebeizt. Und dann haben wir alles gestrichen.«

»Seit wann seid ihr genau in dieser Wohnung?«

»Seit Januar.«

»Und? Wie ist es, nicht mehr alleine zu leben?«

»… Okay …«

»Nur ›okay‹?«

»Wir sind dabei, uns aneinander zu gewöhnen. Jakob ist am liebsten immerzu unterwegs. Er genießt es, nach einem langen Arbeitstag Freunde zu treffen und bis tief in die Nacht auf Achse zu sein.«

Lili schmunzelt. »Und da kannst du nicht mithalten.«

»Nein, ich brauche viel Ruhe. Das war mir natürlich vorher schon bewusst, aber alles ist noch mal ganz anders, wenn man zusammenwohnt.«

»Interessiert er sich für deine Arbeit?«

»… Ja.«

»Du zögerst.«

»Bevor wir uns kennengelernt haben, ist Jakob nie in irgendeine Ausstellung gegangen … Was meine Bilder angeht, interessieren ihn vor allem die fertigen Produkte und die Tatsache, dass mein Galerist sie verkauft. Die Entstehungsprozesse langweilen ihn eher.«

»Kränkt dich das?«

»Nein, nicht wirklich. Man kann nicht alles haben. Jakob ist der erste Mann, mit dem ich mir überhaupt ein Zusammenleben vorstellen konnte. Keine Beziehung ist perfekt.«

»Ich habe jahrelang geglaubt, dass es die perfekte Beziehung geben müsste, und bin nie mit jemandem zusammengezogen.«

»Wirklich? Das wusste ich gar nicht. Bedauerst du es manchmal?«

»Ja … aber immer seltener.«

»Und was ist mit …«

»Meinst du Andrew?«

»Ja. Seid ihr noch zusammen?«

»Hm.«

»Lebt er in Dublin?«

»Nein, in London.«

»Und was macht er?«

»Er ist Anglist. Wir sehen uns alle paar Wochen und reisen viel. Das reicht. Nicht dass du denkst, es sei eine feste Bindung … zu so etwas war ich nie in der Lage.«

Lilis Gesicht ist plötzlich ernst. Sie wendet sich ab und öffnet ihren Koffer.

»Hast du Hunger?«

»Ja.«

»Es gibt einen griechischen Salat. Und zum Nachtisch Erdbeeren mit Quark.«

»Wunderbar.« Lili lächelt wieder.

»Handtücher findest du unten im Badezimmer.«