Alles, was wir sind - Lara Prescott - E-Book
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Lara Prescott

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Beschreibung

Die wahre Geschichte hinter dem größten Liebesroman des 20. Jahrhunderts. Moskau, 1949: Olga Iwinskaja, Geliebte des großen Boris Pasternak, wird verhaftet. Man will verhindern, dass Pasternaks Roman „Doktor Shiwago“ vollendet wird, doch Olga hält an ihrer Liebe fest – und inspiriert Boris zu der legendären Geschichte von Lara und Juri. Zugleich will die CIA mit einer einzigartigen Waffe den Widerstand in der Sowjetunion wecken – mit Literatur, mit „Doktor Shiwago“. Für die Mission wird die junge Irina angeworben und von der erfahrenen Agentin Sally ausgebildet, doch schon bald entdeckt sie ein gefährliches Geheimnis über sich selbst. Es beginnt eine riskante Hetzjagd auf ein Buch, das den Lauf der Welt verändern soll ... „Die Geschichte hinter Doktor Schiwago, großartig recherchiert und fesselnd erzählt.“ Freundin. „Wow-Mix aus Thriller, Liebesgeschichte und historischem Roman um Boris Pasternaks Weltbestseller ‚Doktor Shiwago‘.“ ELLE. „Ein feministischer Pageturner.“ Brigitte Woman. „Ein Buch über Politik, Macht und vor allem über Liebe – genau wie es 'Doktor Schiwago' damals war.“ Westdeutsche Allgemeine Zeitung. „Prescott webt um die Liebesgeschichte einen Agententhriller, den man nicht mehr aus der Hand legen will.“ Gala. „Lara Prescott erzählt in ihrem Roman die unglaubliche Geschichte hinter ‚Doktor Schiwago‘.“ emotion.

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Seitenzahl: 536

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Über Lara Prescott

Lara Prescott, geboren 1981 in Pennsylvania, studierte als Stipendiatin am Michener Center for Writers. Ihre Geschichten erschienen in literarischen Zeitschriften und wurden mehrfach ausgezeichnet. Alles, was wir sind ist ihr Debütroman, für den sie jahrelang in Russland, Europa und den Archiven der CIA recherchierte. Sie lebt in Austin, Texas.Mehr unter www.laraprescott.com

Ulrike Seeberger, geboren 1952, Studium der Physik, lebte zehn Jahre in Schottland, arbeitete dort u.a. am Goethe-Institut. Seit 1987 freie Übersetzerin und Dolmetscherin in Nürnberg. Sie übertrug u.a. Autoren wie Lara Prescott, Philippa Gregory, Vikram Chandra, Alec Guiness, Oscar Wilde, Charles Dickens, Yaël Guiladi und Jean G. Goodhind ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Es geht um Liebe.

Es geht um uns.

Der Kalte Krieg zieht auf, und Worte werden zu Waffen. Olga Iwinskaja, Geliebte des großen Boris Pasternak, wird verhaftet. In Moskau will man verhindern, dass Pasternaks Roman Doktor Shiwago erscheint, doch Olga hält an ihrer Liebe zu Boris fest.

Zugleich will die CIA mit einer einzigartigen Waffe den Widerstand in der Sowjetunion wecken – mit Literatur, mit Doktor Shiwago. Für die Mission wird die junge Irina angeworben und von der Agentin Sally ausgebildet. Es beginnt eine gefährliche Hetzjagd auf ein Buch, das den Lauf der Welt verändern soll.

Eine große Geschichte über geheime Heldinnen, die Kraft der Literatur und – die Liebe.

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Lara Prescott

Alles, was wir sind

Roman

Aus dem Amerikanischen vonUlrike Seeberger

Inhaltsübersicht

Über Lara Prescott

Informationen zum Buch

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Prolog: Die Stenotypistinnen

Osten: 1949–1950

Kapitel 1 ◊ Die Muse

Westen: Herbst 1956

Kapitel 2 ◊ Die Bewerberin

Kapitel 3 ◊ Die Stenotypistinnen

Kapitel 4 ◊ Die Schwalbe

Osten: 1950–1955

Kapitel 5 ◊ Die Rehabilitierte

Kapitel 6 ◊ Der Wolkenbewohner

Kapitel 7 ◊ Die Sendbotin

Westen: Februar–Herbst 1957

Kapitel 8 ◊ Die Überbringerin

Kapitel 9 ◊ Die Stenotypistinnen

Osten: 1955–1956

Kapitel 10 ◊ Der Agent

Kapitel 11 ◊ Die Sendbotin

Westen: Herbst 1957–August 1958

Kapitel 12 ◊ Die Überbringerin

Kapitel 13 ◊ Die Schwalbe

Kapitel 14 ◊ Der Mann von der Firma

Kapitel 15 ◊ Die Schwalbe

Kapitel 16 ◊ Die Überbringerin

Kapitel 17 ◊ Die Stenotypistinnen

Kapitel 18 ◊ Die Überbringerin

Osten: Mai 1958

Kapitel 19 ◊ Die Mutter

Westen: Juni–September 1958

Kapitel 20 ◊ Die Stenotypistinnen

Kapitel 21 ◊ Die Nonne

Osten: September–Oktober 1958

Kapitel 22 ◊ Der Preisträger

Westen: Oktober–Dezember 1958

Kapitel 23 ◊ Die Informantin

Osten: Oktober–Dezember 1958

Kapitel 24 ◊ Die Sendbotin

Westen: Dezember 1958

Kapitel 25 ◊ Die Überläuferin

Osten: Januar 1959

Kapitel 26 ◊ Die Briefträgerin

Westen: Sommer 1959

Kapitel 27 ◊ Die Studentin

Osten: 1960–1961

Kapitel 28 ◊ Die Beinahe-Witwe

Epilog: Die Stenotypistinnen

Anmerkungen und Dank der Autorin

Anmerkung der Übersetzerin

Impressum

Für Matt

Ich will … unter den Wissenden sein oder allein.

Rainer Maria Rilke

PrologDie Stenotypistinnen

Wir tippten hundert Worte die Minute und ließen nie eine Silbe aus. Unsere Schreibtische waren identisch und jeweils mit einer Royal-Quiet-Deluxe-Schreibmaschine mit mintfarbenem Gehäuse, einem schwarzen Western-Electric-Telefon mit Wählscheibe und einem Stapel gelber Stenoblöcke ausgestattet. Unsere Finger flogen über die Tasten. Das Klappern erklang ununterbrochen. Wir legten nur eine Pause ein, um ans Telefon zu gehen oder kurz an der Zigarette zu ziehen; einige von uns schafften beides, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten.

Die Männer trudelten gewöhnlich gegen zehn ein. Einer nach dem anderen riefen sie uns in ihre Büros. Wir hockten auf kleinen Stühlen, in eine Ecke gequetscht, sie dagegen saßen hinter ihren großen Mahagonischreibtischen oder gingen auf dem Teppich auf und ab, während sie ihre Worte an die Zimmerdecke richteten. Wir hörten zu. Wir schrieben mit. Wir waren das Ein-Personen-Publikum für ihre Memos, Berichte, Aufzeichnungen, Mittagessenbestellungen. Manchmal vergaßen sie, dass wir da waren, und wir erfuhren noch viel mehr: wer gerade versuchte, wen rauszuboxen, wer Machtspielchen spielte, wer eine Affäre hatte, wer obenauf war und wer ganz unten.

Manchmal riefen sie uns nicht beim Namen, sondern benannten uns nach Haarfarbe oder Körpertyp: Blondie, Rotschopf, Titten. Auch wir hatten unsere geheimen Namen für sie: Grapscher, Kaffeerachen, Schiefzahn.

Sie nannten uns Mädels, aber das waren wir nicht.

Wir waren über Radcliffe, Vassar, Smith zur Agency gekommen. Wir waren die ersten Töchter in unseren Familien, die einen Universitätsabschluss hatten. Manche von uns sprachen Mandarin. Manche konnten Flugzeuge steuern. Einige von uns konnten besser mit einem Colt 1873 umgehen als John Wayne. Aber alles, was man uns bei den Vorstellungsgesprächen fragte, war: »Können Sie tippen?«

Man sagt, die Schreibmaschine sei für Frauen wie gemacht – man brauche, um die Tasten wirklich zum Singen zu bringen, eine weibliche Hand, erst unsere schmalen Finger passten ideal zu diesem Gerät. Dass die Männer zwar Anspruch auf Autos und Bomben und Raketen erhöben, doch die Schreibmaschine uns ganz allein gehöre.

Nun, da sind wir uns nicht ganz sicher. Aber was wir sagen können, ist, dass unsere Finger beim Tippen zur Erweiterung unseres Gehirns wurden, es gab nicht die geringste Verzögerung zwischen den Wörtern, die aus den Mündern der Männer kamen – Wörtern, von denen sie uns sagten, dass wir sie nicht in Erinnerung behalten sollten –, und dem Aufprall unserer Typen, die die Tinte aufs Papier klatschten. Und wenn man so über die Mechanik hinter all dem nachdenkt, ist die Sache beinahe poetisch. Beinahe.

Aber galt all unser Streben wirklich dem Spannungskopfschmerz und den wehen Handgelenken und der schlechten Haltung? War es das, wovon wir in der High School träumten, als wir doppelt so eifrig lernten wie die Jungs? Hatten wir Schreibarbeiten vor Augen, als wir die dicken braunen Umschläge aufrissen, in denen unsere Zusage fürs College steckte? Oder was dachten wir, wohin unser Weg uns führen würde, als wir mit Hut und Talar auf unseren weißen Holzstühlen saßen und die aufgerollten Urkunden in Empfang nahmen, die uns versprachen, wir wären für so viel mehr qualifiziert?

Die meisten von uns sahen den Job im Schreibpool als Übergangslösung. Wir hätten es niemals laut zugegeben – nicht einmal untereinander –, aber viele von uns glaubten tatsächlich, dies wäre die erste Sprosse auf der Leiter, auf der wir das erreichen würden, was die Männer sofort nach dem College bekamen: Anstellungen als Staatsbeamte; unser eigenes Büro mit Lampen, die schmeichelhaftes Licht verbreiteten, mit weichen Teppichen und Holzschreibtischen; unsere eigenen Stenotypistinnen, die unser Diktat aufnahmen. Wir betrachteten es als Anfang, nicht als Endstation, trotz all dem, was man uns unser Leben lang eingebläut hatte.

Andere Frauen kamen nicht zur Agency, um ihre Laufbahn zu beginnen, sondern um sie zu beenden. Frauen, die vom Militärgeheimdienst OSS übrig geblieben waren, wo sie während des Krieges wahre Legenden gewesen waren, jetzt jedoch kaum mehr als überflüssige Relikte, die man in den Schreibpool oder ins Archiv oder an irgendeinen Schreibtisch in einer Ecke verbannte, wo sie nichts zu tun hatten.

Da war Betty. Während des Krieges hatte sie verdeckte Operationen durchgeführt, hatte es geschafft, der Moral der Gegenseite den einen oder anderen schweren Schlag zu versetzen, indem sie Artikel in Zeitungen einschleuste oder Propagandazettel aus Flugzeugen abwarf. Wir hatten gehört, dass sie einem Mann das Dynamit verschafft hatte, mit dem er einen Versorgungszug in die Luft sprengte, als dieser irgendwo in Burma über eine Brücke fuhr. Wir konnten nie sicher sein, was stimmte und was nicht; alte Unterlagen des OSS verschwanden nur zu gern. Aber ganz sicher wussten wir, dass Betty bei uns anderen in der Agency an einem Schreibtisch saß und dass die Ivy-League-Typen, während des Krieges noch ihresgleichen, nun ihre Chefs waren.

Wir denken an Virginia an einem anderen Schreibtisch, die dicke gelbe Strickjacke zu jeder Jahreszeit fest um die Schultern geschlungen, einen Bleistift im Dutt auf ihrem Kopf. Wir denken an ihren kuscheligen blauen Hausschuh unter der Tischplatte – nur ein einzelner. Der andere war nicht nötig, weil man ihr nach einem Jagdunfall in der Kindheit das linke Bein amputiert hatte. Sie hatte ihrem künstlichen Bein den Namen Cuthbert gegeben, und wenn sie zu viel getrunken hatte, schnallte sie es ab und reichte es einem. Virginia redete nie über ihre Zeit beim OSS, und wenn man nicht hintenherum die Geschichten über ihre Tage als Spionin gehört hatte, so hätte man sie nur für eines der vielen alternden Mädels im Dienst der Regierung gehalten. Doch wir hatten diese Geschichten gehört. Zum Beispiel, wie sie als Sennerin getarnt eine Kuhherde und zwei französische Widerstandskämpfer zur Grenze geführt hatte. Dass die Gestapo sie als eine der gefährlichsten Spioninnen der Alliierten bezeichnet hatte – und das trotz Cuthbert. Manchmal begegnete uns Virginia auf dem Korridor, oder wir fuhren zusammen mit ihr im Lift, oder wir sahen sie an der Ecke von E Street und Twenty-First auf den Bus der Linie 16 warten. Wir hätten sie gern angesprochen und nach ihren Erlebnissen gefragt, als sie gegen die Nazis gekämpft hatte – ob sie immer noch an diese Zeit dachte, während sie an ihrem Schreibtisch saß und auf den nächsten Krieg wartete oder darauf, dass jemand ihr sagte, sie solle nach Hause gehen.

Schon seit Jahren versuchten sie, die OSS-Mädels rauszudrängen – in ihrem neuen Kalten Krieg hatten sie keine Verwendung mehr für sie. Dieselben Finger, die früher einmal den Abzug betätigt hatten, schienen nun besser für die Schreibmaschine geeignet.

Aber eigentlich konnten wir nicht klagen: Es war eine gute Arbeit, und wir konnten von Glück sagen, dass wir sie hatten. Und sie war sicherlich spannender als die meisten anderen Regierungsjobs. Landwirtschaftsministerium? Innere Angelegenheiten? Nicht auszudenken.

Die Abteilung für Sowjetrussland, SR genannt, wurde unser zweites Zuhause. Und während die Agency als Jungsclub bekannt war, bildeten wir dort unsere eigene Gruppe. Wir betrachteten uns als »den Pool«, und das machte uns stärker.

Und der Weg zur Arbeit war ziemlich günstig. Bei schlechtem Wetter kamen wir mit Bussen oder der Straßenbahn, an schönen Tagen zu Fuß. Die meisten von uns wohnten in Vierteln, die an die Innenstadt grenzten: Georgetown, Dupont, Cleveland Park, Cathedral Heights. Wir lebten allein in Einzimmerwohnungen, die so winzig waren, dass man sich hinlegen und praktisch die eine Wand mit dem Kopf, die andere mit den Zehen berühren konnte, und immer in Häusern ohne Aufzug. Wir wohnten in den letzten noch verbliebenen Wohnheimen auf der Massachusetts Avenue, mit Reihen von Stockbetten und Sperrstunde um halb elf. Oft hatten wir Mitbewohnerinnen – andere Regierungsmädels mit Namen wie Agnes oder Peg –, die ihre rosa Schaumstofflockenwickler im Waschbecken liegen ließen oder die Erdnussbutterreste nicht vom Buttermesser abwischten oder unzulänglich eingewickelte Binden in den kleinen Abfalleimer neben dem Waschbecken warfen.

Nur Linda Murphy war damals verheiratet, und das erst seit kurzem. Die Verheirateten blieben nie lange. Manche hielten durch, bis sie schwanger wurden, aber gewöhnlich begannen sie ihren Abflug zu planen, sobald ihnen jemand einen Verlobungsring an den Finger gesteckt hatte. Wir aßen dann im Pausenraum Blechkuchen von Safeway, um sie zu verabschieden. Auch die Männer gesellten sich für ein Stück Kuchen dazu und sagten, wie sehr sie es bedauerten, sie gehen zu sehen; aber wir bekamen sehr wohl mit, wie ihre Augen bei dem bloßen Gedanken daran funkelten, welches neue, jüngere weibliche Wesen ihren Platz einnehmen würde. Wir versprachen ihnen, in Kontakt zu bleiben, nach der Hochzeit und dem Baby ließen sie sich jedoch meist in den entferntesten Ecken unserer Region, des District of Columbia, nieder – in Vierteln, die man nur mit dem Taxi oder zwei verschiedenen Buslinien erreichen konnte, Vierteln wie Bethesda oder Fairfax oder Alexandria. Vielleicht unternahmen wir zum ersten Geburtstag des Babys die Reise dorthinaus, aber alles Weitere stand in den Sternen.

Die meisten von uns waren alleinstehend, hatten ihrer Karriere Priorität gegeben, eine Entscheidung, die keiner politischen Aussage gleichkam, wie wir unseren Eltern immer wieder versichern mussten. Gewiss, sie waren stolz gewesen, als wir unseren College-Abschluss geschafft hatten, aber mit jedem Jahr, in dem wir Karriere und keine Babys machten, wurden sie verwirrter über unseren Zustand der Ehegattenlosigkeit und unsere merkwürdige Entscheidung, in einer Stadt zu leben, die auf einem Sumpf erbaut war.

Und sicher, im Sommer lag die feuchte Luft Washingtons so schwer auf uns wie eine nasse Decke, die Moskitos waren gestreift wie Tiger und genauso wild. Sobald wir am Morgen einen Fuß vor die Tür setzten, fielen unsere am Vorabend gelegten Locken in sich zusammen. Die Straßenbahnen und Busse fühlten sich an wie eine Sauna, rochen allerdings wie vergammelte Schwämme. Immer fühlte man sich verschwitzt und zerzaust, außer man stand unter einer kalten Dusche.

Auch die Wintermonate boten keine große Erleichterung. Da packten wir uns warm ein und eilten mit gesenktem Kopf von der Bushaltestelle zur Arbeit, um dem Wind auszuweichen, der vom eisigen Potomac heraufwehte.

Im Herbst jedoch erwachte die Stadt zum Leben. Die Bäume entlang der Connecticut Avenue wurden zu einem orange-roten Feuerwerk. Und die Temperaturen waren wunderbar, wir mussten uns keine Sorgen machen, dass die Bluse unter den Achseln durchnässt war. Die Hotdog-Verkäufer boten geröstete Kastanien in kleinen Papiertüten an, gerade die richtige Menge für einen abendlichen Spaziergang nach Hause.

Das Frühjahr brachte dann die Kirschblüte und Busse voller Touristen, die alle Monumente abklapperten, sich nicht um die vielen Verbotsschilder scherten und die rosa-weißen Blüten pflückten und sich hinter das Ohr oder in die Anzugtasche steckten.

Herbst und Frühjahr waren in Washington Zeiten, in denen wir verweilten, innehielten und uns auf eine Bank setzten oder einen Umweg um den Reflecting Pool am Lincoln Memorial einschlugen. Natürlich, im Inneren des Gebäudekomplexes der Agency an der E Street tauchten die Neonstrahler alles in ihr schroffes Licht, verstärkten das Glänzen auf unserer Stirn und die Tiefe der Poren auf unserer Nase. Aber wenn wir nach getaner Arbeit aufbrachen und die kühle Luft über unsere nackten Arme strich, wenn wir uns entschieden, den langen Nachhauseweg durch die Mall zu gehen, verwandelte sich diese auf einem Sumpf erbaute Stadt in eine Postkartenidylle.

Doch wir erinnern uns auch an die wehen Finger und schmerzenden Handgelenke und die ewigen Memos und Berichte und Diktate. Wir tippten so viel, dass manche von uns sogar vom Tippen träumten. Selbst Jahre später bemerkten die Männer, mit denen wir das Bett teilten, dass unsere Finger manchmal im Schlaf zuckten. Wir erinnern uns daran, wie wir am Freitagnachmittag alle fünf Minuten auf die Uhr schauten. Wir erinnern uns an die feinen Schnittwunden vom Papier und das kratzige Toilettenpapier, daran, dass die Hartholzböden in der Eingangshalle am Montagmorgen immer nach Murphy Oil Soap rochen, und daran, wie wir mit unseren Absätzen noch tagelang darauf ausglitten, nachdem sie gebohnert worden waren.

Wir erinnern uns an die einzigen Fenster, die am hinteren Ende der SR lagen – und so weit oben, dass wir nicht richtig hinausschauen und nur das graue Außenministerium auf der anderen Straßenseite sehen konnten, das haargenau aussah wie unser eigenes graues Gebäude. Wir stellten Spekulationen über den Schreibpool jenseits dieser Mauern an. Wie sahen die Frauen da drüben wohl aus? Wie war ihr Leben? Blickten sie je aus ihren Fenstern auf unser graues Gebäude und fragten sich dasselbe über uns?

Damals erschienen uns diese Tage so lang und jeder besonders; in der Erinnerung aber verschwimmen sie miteinander. Wir können nicht sagen, ob es bei der Weihnachtsfeier von 1951 oder 1955 war, als Walter Anderson sich Rotwein über die volle Länge seiner Hemdbrust schüttete und dann am Empfang umkippte, einen Zettel ans Revers geheftet, auf dem stand Nicht wiederbeleben. Wir erinnern uns auch nicht mehr daran, ob Holly Flacon rausflog, weil sie einem Beamten gestattete, von ihr im Konferenzraum im zweiten Stock Nacktfotos zu machen, oder ob sie wegen genau dieser Fotos befördert wurde und dann kurze Zeit später wegen einer ganz anderen Sache rausflog.

An andere Dinge jedoch erinnern wir uns.

Wenn man in die Zentrale kam und dort eine Frau in einem schicken grünen Tweedkostüm sah, die einem Mann in sein Büro folgte, oder am Empfang eine Frau mit roten Stöckelschuhen und einem farblich passenden Angorapullover erblickte, dann hätte man davon ausgehen können, dass diese Frauen Stenotypistinnen oder Sekretärinnen waren; und man hätte damit recht gehabt. Aber eben auch nicht. Sekretär/Sekretärin: eine Person, der man ein Geheimnis anvertraut. Vom Lateinischen secretus, secreta, secretum. Wir alle tippten, aber einige von uns taten mehr. Und wir verloren kein Sterbenswörtchen über die Dinge, die wir taten, nachdem wir jeden Tag unsere Schreibmaschinen abgedeckt hatten. Denn anders als manche Männer wussten wir unsere Geheimnisse zu hüten.

Osten1949–1950

Kapitel 1Die Muse

Als die Männer in den schwarzen Anzügen kamen, bot meine Tochter ihnen Tee an. Die Männer nahmen an, höflich wie geladene Gäste. Doch als sie anfingen, meine Schreibtischschubladen auf den Boden zu leeren, ganze Arme voller Bücher von den Regalen zu reißen, Matratzen umzudrehen und Schränke zu durchwühlen, nahm Ira den pfeifenden Kessel vom Herd und stellte die Teetassen und Untertassen in den Schrank zurück.

Als ein Mann, der eine große Kiste trug, den anderen Männern befahl, alles Brauchbare dort hineinzupacken, ging Mitja, mein Jüngster, auf den Balkon, wo sein Igel untergebracht war. Er packte ihn fest unter seinen Pullover, als wollten die Männer auch sein Haustier in die Kiste stecken. Einer der Männer – derjenige, dessen Hand mir später über den Rücken gleiten würde, während er mich in das schwarze Auto schob – legte Mitja leicht die Hand auf den Kopf und nannte ihn einen braven Jungen. Mitja, der sanfte Mitja, schüttelte mit einer ungestümen Bewegung die Hand des Mannes ab und zog sich in das Schlafzimmer zurück, das er mit seiner Schwester teilte.

Meine Mutter, die im Badezimmer gewesen war, als die Männer kamen, tauchte im Bademantel auf – das Haar noch nass, das Gesicht gerötet. »Ich habe dir gesagt, dass das passieren würde. Ich habe dir gesagt, dass sie kommen würden.« Die Männer durchwühlten meine Briefe von Boris, meine Notizen, Einkaufslisten, Zeitungsausschnitte, Zeitschriften, Bücher. »Ich habe dir gesagt, dass er uns nichts als Kummer bringen würde, Olga.«

Ehe ich reagieren konnte, nahm mich einer der Männer beim Arm – eher wie ein Liebhaber als wie jemand, den man geschickt hatte, um mich zu verhaften –, und sein Atem war heiß an meinem Nacken, als er sagte, es sei Zeit zu gehen. Ich erstarrte. Erst das Heulen meiner Kinder riss mich in die Gegenwart zurück. Die Tür schloss sich hinter uns, aber ihr Heulen wurde nur lauter.

Das Auto bog zweimal links ab, dann rechts. Dann noch einmal rechts. Ich brauchte nicht aus dem Fenster zu schauen, um zu wissen, wohin mich die Männer in den schwarzen Anzügen brachten. Mir war übel, und ich sagte das dem Mann neben mir, der nach gebratenen Zwiebeln und Kohl stank. Er öffnete das Fenster – eine kleine freundliche Geste. Aber die Übelkeit blieb, und als das große gelbe Ziegelgebäude in Sicht kam, musste ich würgen.

Als ich ein Kind war, brachte man mir bei, die Luft anzuhalten und an nichts zu denken, wenn ich an der Lubjanka vorüberging – man sagte, das Ministerium für Staatssicherheit könne feststellen, ob man antisowjetische Gedanken hegte. Damals hatte ich keine Ahnung, was antisowjetische Gedanken sein könnten.

Das Auto fuhr über einen Kreisverkehr und passierte das Tor zum Innenhof der Lubjanka. Mein Mund füllte sich mit Galle, die ich rasch herunterschluckte. Die Männer, die neben mir saßen, rückten so weit von mir weg, wie sie konnten.

Das Auto hielt an. »Was ist das höchste Gebäude in Moskau?«, fragte der Mann, der nach gebratenen Zwiebeln und Kohl stank, während er die Tür aufmachte. Mich überkam eine neue Welle der Übelkeit, und ich beugte mich vor und spie mein Frühstück, Spiegeleier, auf die Pflastersteine, verfehlte dabei knapp die mattschwarzen Schuhe des Mannes. »Natürlich die Lubjanka. Man sagt, dass man vom Keller aus bis nach Sibirien sehen kann.«

Der zweite Mann lachte und drückte seine Zigarette am Absatz seines Schuhs aus.

Ich spuckte zweimal aus und wischte mir mit dem Handrücken den Mund ab.

***

Sobald wir in ihrem großen gelben Ziegelgebäude waren, übergaben mich die Männer an zwei weibliche Wachen, nicht ohne mir vorher noch einen Blick zuzuwerfen, aus dem ich schloss, ich solle dankbar sein, dass es nicht sie waren, die mich bis zu meiner Zelle brachten. Die massigere Frau, die einen leichten Oberlippenbart hatte, saß in der Ecke auf einem blauen Plastikstuhl, während die kleinere mich bat, meine Kleider abzulegen. Ihre Stimme war so sanft, als überredete sie ein Kleinkind, sich auf die Toilette zu setzen. Ich zog meine Jacke, mein Kleid und meine Schuhe aus und stand in meiner fleischfarbenen Unterwäsche da, während sie mir meine Armbanduhr und meine Ringe abnahm. Sie ließ sie mit einem Klappern in einen Metallbehälter fallen, das von den Betonwänden widerhallte, und forderte mich mit einer Handbewegung auf, meinen Büstenhalter abzulegen. Ich sträubte mich, verschränkte die Arme.

»Das muss sein«, sagte die Frau auf dem blauen Stuhl – die ersten Worte, die sie an mich richtete. »Sie könnten sich erhängen.« Ich hakte meinen BH auf und zog ihn aus, und die kalte Luft traf auf meine Brust. Ich spürte, wie sie meinen Körper musterten. Selbst unter solchen Umständen schauen Frauen einander abschätzend an.

»Sind Sie schwanger?«, fragte die massigere Frau.

»Ja«, antwortete ich. Es war das erste Mal, dass ich es laut zugab.

Eine Woche nachdem Boris sich zum dritten Mal von mir getrennt hatte, hatten er und ich uns das letzte Mal geliebt. »Es ist vorbei«, hatte er gesagt. »Es muss aufhören.« Ich zerstöre seine Familie. Ich sei die Ursache all seines Schmerzes. Das sagte er mir, während wir durch eine Gasse beim Arbat spazierten, und ich sackte im Eingang einer Bäckerei zusammen. Er wollte mir aufhelfen, und ich kreischte, er solle mich in Ruhe lassen. Leute blieben stehen und starrten uns an.

In der Woche darauf stand er vor meiner Wohnungstür. Er hatte ein Geschenk mitgebracht: einen luxuriösen japanischen Morgenmantel, den seine Schwestern ihm in London besorgt hatten. »Probier ihn für mich an«, flehte er. Ich duckte mich hinter meinen Paravent und zog ihn über. Der Stoff war steif, wenig schmeichelhaft, bauschte sich vor meinem Bauch. Der Morgenmantel war zu groß – vielleicht hatte er seinen Schwestern weisgemacht, das Geschenk wäre für seine Frau. Ich fand ihn scheußlich und sagte Boris das auch. Er lachte. »Dann zieh ihn aus«, bat er. Und das tat ich.

Einen Monat später begann meine Haut zu kribbeln, als sei ich aus der Kälte gekommen und tauche in ein heißes Bad. Dieses Kribbeln hatte ich schon bei Ira und Mitja gespürt, und ich wusste, dass ich sein Kind unter dem Herzen trug.

»Dann kommt bald ein Arzt zu Ihnen«, sagte die kleinere Wärterin.

Sie durchsuchten mich, nahmen alles mit, gaben mir einen unförmigen grauen Kittel und Schlappen, die zwei Nummern zu groß waren, und brachten mich in eine kahle Betonzelle, die nur eine Matte und einen Eimer enthielt.

In dieser Betonzelle hielten sie mich drei Tage lang fest, und ich bekam zweimal am Tag Kascha, die ewig gleiche Buchweizengrütze, und Sauermilch. Eine Ärztin kam und untersuchte mich, nur um zu bestätigen, was ich schon wusste. Ich verdankte es dem Baby, das in mir heranwuchs, dass mir die schrecklicheren Dinge erspart blieben, von denen ich gehört hatte, dass sie Frauen in dieser Zelle zustießen.

Nach den drei Tagen verlegten sie mich in einen größeren Raum, ebenfalls aus Beton, mit vierzehn anderen weiblichen Gefangenen. Man wies mir ein Bett zu, dessen Metallgestell am Boden festgeschraubt war. Sobald die Wärterinnen die Tür geschlossen hatten, legte ich mich hin.

»Du kannst jetzt nicht schlafen«, sagte eine junge Frau, die auf dem Bett nebenan saß. Sie hatte wunde Stellen an den Ellbogen. »Die kommen und wecken dich.« Sie deutete auf die grellen Neonlichter oben. »Schlafen am Tag ist nicht erlaubt.«

»Und du kannst von Glück sagen, wenn du nachts eine Stunde Schlaf kriegst«, meinte eine zweite Frau. Sie ähnelte der ersten, schien jedoch alt genug, um ihre Mutter zu sein. Ich überlegte, ob sie verwandt sein mochten – oder ob an diesem Ort, unter diesen grellen Lampen, in der gleichen Kleidung irgendwann alle einander ähnelten. »Dann kommen sie nämlich und holen dich für ihre kleinen Unterhaltungen.«

Die jüngere Frau warf der älteren einen Blick zu.

»Was tun wir denn, anstatt zu schlafen?«, fragte ich.

»Wir warten.«

»Und spielen Schach.«

»Schach?«

»Ja«, sagte eine dritte, die auf der anderen Seite des Raumes an einem Tisch saß. Sie hielt einen Springer hoch, der aus einem Fingerhut gemacht war. »Spielst du Schach?« Ich spielte nicht Schach, aber ich würde es im Lauf des nächsten Wartemonats lernen.

***

Die Wärter kamen tatsächlich. Jede Nacht holten sie eine Frau nach der anderen heraus und brachten sie Stunden später in Zelle Nummer sieben zurück, schweigend und mit roten Augen. Ich wappnete mich jede Nacht für den Augenblick, in dem man mich holen würde, war trotzdem überrascht, als sie schließlich kamen.

Ich wurde davon wach, dass jemand mit einem hölzernen Knüppel gegen meine nackte Schulter klopfte. »Anfangsbuchstaben!«, fauchte der Wärter, der neben meinem Bett stand. Die Männer, die nachts kamen, verlangten stets die Initialen unserer Namen zu hören, ehe sie uns fortführten. Ich murmelte eine Antwort. Der Wärter wies mich an, ich solle mich anziehen, und wandte die Augen nicht ab, während ich es tat.

Wir gingen einen dunklen Korridor entlang und mehrere Treppen hinunter. Ich fragte mich, ob die Gerüchte stimmten: dass die Lubjanka zwanzig Stockwerke unter der Erde hatte und mit dem Kreml durch Tunnel verbunden war, dass einer der Tunnel zu einem mit allem Luxus ausgestatteten Bunker führte, den man im Krieg für Stalin gebaut hatte.

Am Ende eines weiteren dunklen Flurs befand sich eine Tür mit der Aufschrift 271. Der Wärter öffnete die Tür einen Spaltbreit, schaute hinein und riss sie dann mit einem Lachen auf. Es war keine Zelle, sondern ein Vorratsraum, in dem Türme von Fleischkonserven, ordentlich gestapelte Kisten mit Tee und Säcke voller Roggenmehl lagerten. Der Wärter grunzte und deutete ans andere Ende des Raumes, auf eine weitere Tür, auf der keine Zahl stand. Ich öffnete sie. Drinnen konnten sich meine Augen nur mit Mühe an das grelle Licht gewöhnen. Es war ein hellerleuchtetes Büro mit schicken Möbeln, die auch in einer Hotelhalle nicht fehl am Platze gewesen wären. Regale voller Bücher in Ledereinbänden nahmen eine ganze Wand ein; an der gegenüberliegenden standen drei Wärter aufgereiht. Ein Mann im Uniformrock saß an einem großen Schreibtisch mitten im Raum. Auf seinem Schreibtisch lagen Stapel von Büchern und Briefen: meine Bücher, meine Briefe.

»Setzen Sie sich, Olga Wsewolodowna«, sagte er. Der Mann hatte die runden Schultern eines Menschen, der sein Leben lang am Schreibtisch gesessen oder den schwere Arbeit gebeugt hat; die perfekt manikürten Hände, die er um die Teetasse gelegt hatte, ließen mich jedoch Ersteres vermuten. Ich setzte mich auf den kleinen Stuhl vor ihn hin.

»Tut mir leid, dass wir Sie haben warten lassen«, sagte er.

Ich hob sofort mit der Rede an, für deren Vorbereitung ich wochenlang Zeit gehabt hatte: »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Sie müssen mich freilassen. Ich habe Familie. Es besteht kein …«

Er erhob einen Finger. »Nichts zuschulden kommen lassen? Das entscheiden wir … zu gegebener Zeit.« Er seufzte und pulte mit seinem dicken gelben Daumennagel zwischen den Zähnen. »Und es wird seine Zeit dauern.«

Ich hatte gedacht, dass sie mich jetzt jeden Tag freilassen würden, dass sich alles aufklären würde, dass ich Silvester an Boris' Seite am warmen Ofen sitzen und mit einem schönen Glas Wein auf das neue Jahr anstoßen würde.

»Also, was haben Sie getan?« Er schob einige Blätter hin und her und hob dann etwas hoch, das wie ein Haftbefehl aussah: »Antisowjetische Ansichten terroristischer Art zum Ausdruck gebracht«, las er, als zitierte er eine Zutatenliste aus einem Rezept für Honigkuchen.

Man sollte meinen, dass einem bei Todesangst eiskalt wird – dass sie den Körper betäubt, um ihn auf kommendes Unheil vorzubereiten. Bei mir war es eine Hitze, die mir wie ein Feuer durch den Leib fuhr. »Bitte«, sagte ich. »Ich muss mit meiner Familie sprechen.«

»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle.« Er lächelte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, so dass das Leder knirschte. »Ich bin Ihr bescheidener Vernehmungsoffizier. Darf ich Ihnen Tee anbieten?«

»Ja.«

Er machte keine Anstalten, mir Tee zu holen. »Ich heiße Anatoli Sergejewitsch Semjonow.«

»Anatoli Sergejewitsch –«

»Sie können mich mit Anatoli ansprechen. Wir werden einander recht gut kennenlernen, Olga.«

»Sie können mich mit Olga Wsewolodowna ansprechen.«

»Gut.«

»Und ich möchte, dass Sie offen mit mir reden, Anatoli Sergejewitsch.«

»Und ich möchte, dass Sie ehrlich zu mir sind, Olga Wsewolodowna.« Er zog ein benutztes Taschentuch hervor und schnäuzte sich. »Erzählen Sie mir von diesem Roman, an dem er schreibt. Ich habe da einiges gehört.«

»Was zum Beispiel?«

»Sagen Sie es mir«, erwiderte er. »Worum geht es in diesem Doktor Shiwago?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es nicht?«

»Er schreibt noch daran.«

»Angenommen, ich ließe Sie hier eine Weile allein mit einem Blatt Papier und einem Füllhalter – vielleicht könnten Sie dann darüber nachdenken, was Sie alles über das Buch wissen und nicht wissen, und das alles aufschreiben. Ist das ein guter Plan?«

Ich antwortete nicht.

Er stand auf und reichte mir einen Stapel weißer Blätter. Er zog einen vergoldeten Füllhalter aus der Tasche. »Hier, benutzen Sie meinen Federhalter.«

Er ließ mich allein mit seinem Füllhalter und seinem Papier und seinen drei Wärtern.

Lieber Anatoli Sergejewitsch Semjonow,

schreibe ich das wie einen Brief? Wie ist die korrekte Anrede bei einem Geständnis?

Denn ich habe etwas zu gestehen, aber es ist nicht das, was Sie hören wollen. Und wo beginnt man bei einem solchen Geständnis? Am Anfang vielleicht?

Ich legte den Füllhalter weg.

Das erste Mal habe ich Boris bei einer Lesung gesehen. Er stand hinter einem schlichten hölzernen Pult, ein Scheinwerfer brachte sein silbernes Haar zum Schimmern, Glanz lag auf seiner hohen Stirn. Während er seine Gedichte las, waren seine Augen weit aufgerissen wie die eines Kindes, und das, was er zum Ausdruck brachte, strahlte über das Publikum hinaus bis zu meinem Platz auf der Galerie. Seine Hände bewegten sich schnell, als dirigierte er ein Orchester. Und irgendwie tat er das auch. Manchmal konnte sich das Publikum nicht mehr beherrschen und vollendete laut seine Zeilen, ehe er es machen konnte. Mit einem Mal hielt Boris inne und schaute zu den Scheinwerfern hoch, und ich schwöre, dass er mich sehen konnte, wie ich ihn von der Galerie beobachtete – dass mein Blick durch das weiße Licht der Scheinwerfer drang und den seinen traf. Als er fertig war, sprang ich auf, die Hände ineinanderverschlungen, und vergaß zu klatschen. Ich schaute zu, wie die Leute auf die Bühne stürmten und ihn umringten, und ich blieb stehen, während sich meine Reihe, dann die Galerie, dann der gesamte Zuschauerraum leerte.

Ich nahm den Füllhalter wieder zur Hand.

Oder sollte ich damit anfangen, wie alles begann?

Weniger als eine Woche nach dieser Dichterlesung stand Boris auf dem dicken roten Teppich im Eingangsbereich von Nowy Mir und plauderte mit Konstantin Michailowitsch Simonow, dem neuen Chefredakteur der Literaturzeitschrift, einem Mann mit einem ganzen Schrank voller Vorkriegsanzüge und zwei großen Rubinsiegelringen an den Fingern, die stets aneinanderklirrten, wenn er seine Pfeife rauchte. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Schriftsteller zu Besuch in unsere Redaktion kamen. Sonst hatte oft ich die Aufgabe, sie herumzuführen, ihnen Tee anzubieten, sie zum Mittagessen auszuführen – die üblichen Höflichkeiten. Aber Boris Leonidowitsch Pasternak war der berühmteste Dichter Russlands, also hatte Konstantin selbst den Gastgeber gespielt und ihn an den langen Reihen von Schreibtischen vorbeigeführt, ihn den Textern, Gestaltern, Übersetzern und anderen wichtigen Mitarbeitern vorgestellt. Aus der Nähe war Boris noch attraktiver, als er auf der Bühne gewesen war. Er war sechsundfünfzig, hätte aber als vierzig durchgehen können. Seine Augen huschten zwischen den Leuten hin und her, wenn er charmant plauderte, und seine hohen Wangenknochen wurden durch sein breites Lächeln betont.

Als sie sich meinem Schreibtisch näherten, schnappte ich mir die Übersetzung eines Gedichts, an der ich gearbeitet hatte, und fing an, völlig willkürliche Korrekturen daran vorzunehmen. Unter dem Schreibtisch schlüpfte ich mit meinen bestrumpften Füßen mühsam zurück in meine Stöckelschuhe.

»Ich möchte Sie einer Ihrer glühendsten Bewunderinnen vorstellen«, sagte Konstantin zu Boris. »Olga Wsewolodowna Iwinskaja.«

Ich streckte die Hand aus.

Boris drehte mein Handgelenk, um mir einen Handkuss zu geben. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.«

»Ich liebe Ihre Gedichte, schon seit ich ein kleines Mädchen war«, sagte ich töricht, als er meine Hand losließ.

Er lächelte, wobei er seine Zahnlücke zeigte. »Im Augenblick arbeite ich allerdings an einem Roman.«

»Worum geht es darin?«, fragte ich und verfluchte mich, dass ich einen Schriftsteller bat, mir sein Projekt zu erklären, ehe er damit fertig war.

»Es geht um das alte Moskau. Aber Sie sind viel zu jung, um sich daran zu erinnern.«

»Wie spannend«, sagte Konstantin. »Genau darüber sollten wir uns in meinem Büro unterhalten.«

»Ich hoffe, Sie wiederzusehen, Olga Wsewolodowna«, sagte Boris. »Wie schön, dass ich noch immer Bewunderer habe.«

Und da nahm es seinen Anfang.

Als ich das erste Mal einer Verabredung mit ihm zugestimmt hatte, kam ich zu spät, und er war zu früh da gewesen. Er sagte, es mache ihm nichts aus, er sei eine Stunde zu früh am Puschkin-Platz angekommen und habe es genossen, zu beobachten, wie die Tauben sich eine nach der anderen oben auf Puschkins Bronzestatue niedergelassen hatten, gleich atmenden, federgeschmückten Hüten. Als ich mich neben ihn auf die Bank setzte, nahm er meine Hand und sagte, er habe, seit er mich kennengelernt hatte, an nichts anderes mehr gedacht – er könne nicht aufhören, daran zu denken, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er mich näher kommen sehen, wenn ich mich neben ihn setzen würde, wie es sich anfühlen würde, meine Hand zu nehmen.

Danach wartete er jeden Morgen vor meiner Wohnung. Vor der Arbeit spazierten wir über die breiten Boulevards, über die Plätze und durch die Parks, hin und her über sämtliche Brücken, die über die Moskwa führten, nie mit einem bestimmten Ziel vor Augen. Die Linden hatten in diesem Sommer üppig geblüht, und die gesamte Stadt roch honigsüß und leicht faulig.

Ich erzählte ihm alles: von meinem ersten Ehemann, den ich erhängt in unserer Wohnung aufgefunden hatte; von meinem zweiten Ehemann, der in meinen Armen gestorben war; von den Männern, mit denen ich davor zusammen gewesen war, und von den Männern, mit denen ich danach zusammen gewesen war. Ich offenbarte ihm meine Augenblicke der Scham, der Demütigung. Ich sprach von meinen verborgenen Freuden: wenn ich die erste Person war, die aus dem Zug ausstieg; wenn meine Gesichtscremes und Parfüms so angeordnet waren, dass die Schildchen nach vorn zeigten; vom Geschmack von Sauerkirschkuchen zum Frühstück. In diesen ersten Monaten redete und redete ich, und Boris hörte zu.

Am Ende dieses Sommers fing ich an, ihn Borja zu nennen, und er fing an, mich Olja zu nennen. Und die Leute fingen an, über uns zu reden – meine Mutter am allermeisten. »Es ist einfach untragbar«, sagte sie so oft, dass ich es nicht mehr zählte. »Er ist verheiratet, Olga.«

Aber ich wusste, dass Anatoli Sergejewitsch nichts daran lag, dieses Geständnis zu hören. Ich wusste, welches Geständnis er von mir geschrieben haben wollte. Ich erinnerte mich an seine Worte: »Pasternaks Schicksal wird davon abhängen, wie wahrhaftig Sie sind.« Ich nahm den Füllhalter zur Hand und fing noch einmal an.

Lieber Anatoli Sergejewitsch Semjonow,

in Doktor Shiwago geht es um einen Arzt.

Es ist ein Bericht über die Jahre zwischen den beiden Kriegen.

Es geht um Juri und Lara.

Es geht um das alte Moskau.

Es geht um das alte Russland.

Es geht um Liebe.

Es geht um uns.

Doktor Shiwago ist nicht antisowjetisch.

Als Semjonow eine Stunde später zurückkam, reichte ich ihm meinen Brief. Er überflog ihn, drehte das Blatt um. »Sie können es morgen Nacht noch einmal versuchen.« Er zerknüllte das Papier zu einer Kugel, warf es weg und winkte den Wärtern, dass sie mich wegführen sollten.

***

Nacht für Nacht kam mich ein Wärter holen, und Semjonow und ich hatten unsere kleinen Unterhaltungen. Und Nacht für Nacht stellte mein bescheidener Vernehmungsoffizier dieselben Fragen: Worum geht es in dem Roman? Warum schreibt er ihn? Warum beschützen Sie ihn?

Ich sagte ihm nicht, was er hören wollte: dass in dem Roman Kritik an der Oktoberrevolution geäußert wurde. Dass Boris den sozialistischen Realismus verworfen hatte und stattdessen über Menschen schrieb, die sich im Leben und im Lieben nach ihrem Herzen richteten, unabhängig vom Einfluss des Staates.

Ich erzählte ihm nicht, dass Boris mit dem Roman bereits begonnen hatte, ehe wir uns kennenlernten. Dass Lara in seinen Gedanken bereits existierte – und dass die Heldin auf den frühen Seiten noch seiner Frau Sinaida ähnelte. Ich erzählte ihm nicht, dass sich Lara mit der Zeit in mich verwandelte. Oder vielleicht verwandelte ich mich in sie.

Ich erzählte ihm nicht, dass Borja mich seine Muse genannt hatte, dass er sagte, in unserem ersten gemeinsamen Jahr sei er mit dem Roman besser vorangekommen als in den vergangenen drei Jahren zusammen. Dass ich mich zunächst zu ihm hingezogen fühlte, weil er Pasternak war – der Name, den jedermann kannte –, mich jedoch in ihn verliebte, obwohl er es war. Dass er für mich mehr als der berühmte Dichter oben auf der Bühne war, mehr als das Foto in der Zeitung, mehr als die Person im Rampenlicht. Wie sehr mich selbst seine kleinen Makel entzückten: seine Zahnlücke; der zwanzig Jahre alte Kamm, den er partout nicht ersetzen wollte; wie er sich beim Nachdenken mit dem Füllhalter an der Wange kratzte und dabei einen Streifen schwarze Tinte quer übers Gesicht schmierte; wie er sich antrieb, sein großes Werk zu schreiben, koste es, was es wolle.

Und er trieb sich wirklich an. Am Tag schrieb er in rasantem Tempo, ließ die vollen Seiten in einen Weidenkorb unter seinem Schreibtisch fallen. Und abends las er mir vor, was er geschrieben hatte.

Manchmal las er auch bei kleinen Zusammenkünften in Wohnungen überall in Moskau. Freunde saßen im Halbkreis auf Stühlen rings um einen kleinen Tisch, an dem Borja Platz genommen hatte. Ich war neben ihm, von Stolz erfüllt, weil ich die Gastgeberin spielte, die Frau an seiner Seite, die Beinahe-Ehefrau. Er las in seiner erregten Art, die Wörter überschlugen sich, wobei er starr über die Köpfe der vor ihm Sitzenden hinwegblickte.

An diesen Lesungen in der Stadt nahm ich teil, nicht jedoch, wenn er in Peredelkino las. Die kleine Datscha in der Schriftstellerkolonie, nur eine kurze Zugfahrt von Moskau entfernt, war die Domäne seiner Ehefrau. Das rotbraune Holzhaus mit den großen Erkerfenstern stand auf einem Hügel; dahinter wuchs eine Reihe von Birken und Fichten. Am Haus vorbei führte ein Lehmpfad in einen großen Garten. Als Borja mich dort zum ersten Mal hinbrachte, nahm er sich alle Zeit, mir zu erklären, welches Gemüse im Laufe der Jahre gediehen war und welches nicht und warum.

Die Datscha war größer als die Häuser der meisten anderen Bürger, sie war ihm von der Regierung zur Verfügung gestellt worden. Tatsächlich war die gesamte Kolonie Peredelkino ein Geschenk von Stalin höchstpersönlich; hier sollten die handverlesenen Schriftsteller des Mutterlandes blühen und gedeihen können. »Die Produktion von Seelen ist wichtiger«, sagte er, »als die von Panzern.«

Wie Borja meinte, war dieses Geschenk auch eine hervorragende Methode, um sie alle im Blick zu behalten. Konstantin Alexandrowitsch Fedin wohnte nebenan. Kornej Iwanowitsch Tschukowski lebte in der Nähe und schrieb in diesem Haus seine Kinderbücher. Das Haus, in dem Isaak Emmanuilowitsch Babel lebte, wo er verhaftet wurde und zu dem er nie mehr zurückkehren würde, lag ein Stück den Hang hinunter.

Und ich sagte zu Semjonow kein Wort davon, dass Borja mir gestanden hatte, was er schrieb, könne sein Tod sein, er fürchte, Stalin würde ihm ein Ende machen, wie er es während der Säuberungen mit so vielen seiner Freunde getan hatte.

Die vagen Antworten, die ich gab, stellten meinen Vernehmer nie zufrieden. Er gab mir frisches Papier und seinen Füllhalter und sagte mir, ich solle es noch einmal probieren.

Semjonow versuchte alles, um ein Geständnis von mir zu bekommen. Manchmal war er freundlich, brachte mir Tee, erkundigte sich nach meinen Ansichten über Lyrik, sagte, er habe Borjas frühe Arbeiten immer bewundert. Er sorgte dafür, dass mich einmal in der Woche ein Arzt besuchte. Er wies die Wärter an, mir eine zusätzliche Wolldecke zu geben.

Dann wieder versuchte er, mich zu ködern, indem er mir sagte, Borja hätte sich im Austausch für mich angeboten. Einmal rollte ein Metallkarren über den Flur, donnerte krachend gegen die Wand, und Semjonow scherzte, das sei wohl Boris, der an die Mauern der Lubjanka hämmerte, um eingelassen zu werden.

Oder er behauptete, man hätte Boris bei einer Veranstaltung gesichtet und er hätte mit seiner Frau am Arm wohlauf gewirkt. »Unbelastet« war das Wort, das er benutzte. Manchmal war es nicht seine Ehefrau, sondern eine hübsche junge Frau. »Französin, glaube ich«, fügte Semjonow hinzu. Ich zwang mich dann zu einem Lächeln und sagte, es freue mich, dass Boris glücklich und gesund sei.

Kein einziges Mal legte Semjonow Hand an mich, drohte mir auch nicht damit. Aber unterschwellig war die Gewalt immer da, sein sanftes Benehmen stets kalkuliert. Mein Leben lang hatte ich Männer wie ihn gekannt; ich wusste, wozu sie fähig waren.

***

Nachts banden meine Zellengenossinnen und ich uns muffige Leinenstreifen vor die Augen – ein vergeblicher Versuch, das Licht auszublenden, das niemals ausgeschaltet wurde. Die Wärter kamen und gingen. Der Schlaf kam und ging.

In jenen Nächten, in denen der Schlaf gar nicht kommen wollte, atmete ich ein und aus, um meine Gedanken zu beruhigen und einen Weg zu dem Baby zu finden, das in mir heranwuchs. Ich legte mir die Hand auf den Bauch und versuchte, etwas zu spüren. Einmal meinte ich, ich hätte etwas Winziges gefühlt – klein wie ein platzendes Bläschen. Ich klammerte mich an dieses Gefühl, solange ich konnte.

Als mein Bauch größer wurde, durfte ich eine Stunde länger liegen bleiben als die anderen Frauen. Man gab mir eine zusätzliche Portion Kascha und gelegentlich gedünsteten Kohl. Auch meine Zellengenossinnen zweigten mir etwas von ihrem Essen ab.

Schließlich händigte man mir einen größeren Kittel aus. Meine Zellengenossinnen baten mich, meinen Bauch berühren und die Tritte des Babys fühlen zu dürfen. Seine Tritte schienen uns das Versprechen eines Lebens außerhalb der Zelle Nummer sieben zu sein. Unser kleinster Gefangener, gurrten sie.

***

Diese Nacht begann wie alle anderen. Ich wurde durch den Stoß mit dem Knüppel geweckt und ins Verhörzimmer begleitet. Ich nahm gegenüber von Semjonow Platz und erhielt ein frisches Blatt Papier.

Dann klopfte es an der Tür. Ein Mann mit so weißem Haar, dass es schon beinahe bläulich wirkte, trat ein und sagte Semjonow, das Treffen könne stattfinden. Der Mann wandte sich mir zu: »Sie haben um eines gebeten, und jetzt bekommen Sie es.«

»Wirklich?«, fragte ich. »Mit wem?«

»Pasternak«, antwortete Semjonow, und seine Stimme war in Gegenwart des anderen Mannes lauter und brüsker. »Er wartet auf Sie.«

Ich glaubte es nicht. Erst als man mich hinten in einen Wagen mit geschwärzten Fenstern schob, gestattete ich mir, es zu glauben. Oder vielmehr konnte ich den Hoffnungsschimmer nicht länger unterdrücken. Sogar unter diesen Umständen war der Gedanke, ihn zu sehen, die größte Freude, die ich seit dem ersten Tritt unseres Babys verspürt hatte.

***

Wir gelangten zu einem anderen Regierungsgebäude, und man führte mich durch eine Reihe von Fluren, dann mehrere Treppen hinunter. Als wir endlich einen schlechtbeleuchteten Kellerraum erreichten, war ich erschöpft und verschwitzt und musste unwillkürlich denken, in welch hässlichem Zustand Boris mich sehen würde.

Ich drehte mich um und schaute mich in dem kahlen Raum um. Es gab keine Stühle, keinen Tisch. Eine Glühbirne baumelte von der Decke. Der Boden neigte sich zur Mitte des Raumes und mündete in einen verrosteten Abfluss.

»Wo ist er?«, fragte ich und begriff sofort, wie dumm ich gewesen war.

Statt einer Antwort schob mich mein Begleiter plötzlich durch eine Metalltür, die hinter mir verschlossen wurde. Der Geruch überfiel mich als Erstes. Er war süß und unverwechselbar. Tische, auf denen lange Gestalten unter Tüchern lagen, kamen in mein Blickfeld. Die Knie gaben unter mir nach, und ich fiel auf den kalten, nassen Boden. War Boris unter einem dieser Tücher? Hatten sie mich deswegen hierhin gebracht?

Nach einiger Zeit, Minuten oder Stunden, öffnete sich die Tür wieder, und zwei Arme zogen mich auf die Beine. Man zerrte mich die Treppen hinauf, weitere scheinbar endlose Flure entlang.

Am Ende eines Korridors stiegen wir in einen Lastenaufzug. Der Wärter schloss den Käfig und zog an einem Hebel. Motoren erwachten zum Leben, und der Aufzug bebte gewaltig, bewegte sich aber nicht. Der Wärter zog erneut an dem Hebel und schwang die Käfigtür auf. »Ich vergesse das immer«, sagte er grinsend, während er mich aus dem Aufzug schob. »Der ist schon seit Ewigkeiten außer Betrieb.«

Er wandte sich zur ersten Tür links und öffnete sie. Drinnen war Semjonow. »Wir warten schon«, sagte er.

»Wer ist wir?«

Er klopfte zweimal an die Wand. Die Tür ging erneut auf, und ein alter Mann schlurfte herein. Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass es Sergei Nikolajewitsch Nikiforow war, Iras ehemaliger Englischlehrer – oder vielmehr ein Schatten seiner selbst. Sonst war sein Äußeres stets überkorrekt gewesen, nun war sein Bart zerzaust, die Hose rutschte ihm von der schmalen Gestalt, in den Schuhen fehlten die Schnürsenkel. Er stank nach Urin.

»Sergei«, sagte ich tonlos. Aber er weigerte sich, mich anzuschauen.

»Fangen wir an?«, fragte Semjonow. »Gut«, sagte er, ohne eine Antwort abzuwarten. »Gehen wir das noch einmal durch. Sergei Nikolajewitsch Nikiforow, bestätigen Sie die Aussage, die Sie gestern vor uns gemacht haben: dass Sie bei antisowjetischen Gesprächen zwischen Pasternak und Iwinskaja anwesend waren?«

Ich schrie auf, wurde aber durch eine Ohrfeige des Wärters, der bei der Tür stand, schnell zum Schweigen gebracht. Die Wucht schleuderte mich gegen die gekachelte Wand, doch ich spürte nichts.

»Ja«, erwiderte Nikiforow, immer noch mit gesenktem Kopf.

»Und dass Iwinskaja Sie von ihren Plänen in Kenntnis gesetzt hat, mit Pasternak ins Ausland zu fliehen?«

»Ja«, sagte Nikiforow.

»Das ist nicht wahr!«, schrie ich. Der Wärter stürzte auf mich zu.

»Und dass Sie in der Wohnung der Iwinskaja antisowjetische Radiosendungen angehört haben?«

»Das ist nicht … eigentlich nicht … glaube ich.«

»Sie haben uns also belogen?«

»Nein.« Der alte Mann hob die zittrigen Hände zum Gesicht und stieß ein Winseln aus, das nicht von dieser Welt zu stammen schien.

Ich befahl mir wegzuschauen, tat es aber nicht.

***

Nach Nikiforows Geständnis führten sie ihn ab und brachten mich in Zelle Nummer sieben zurück. Ich bin nicht sicher, wann die Schmerzen einsetzten – ich war stundenlang wie betäubt gewesen –, aber irgendwann alarmierten meine Zellengenossinnen den Wärter, weil meine Matratze mit Blut getränkt war.

Man brachte mich ins Lubjanka-Krankenhaus, und als mir der Arzt sagte, was ich längst wusste, konnte ich nur an eines denken: dass meine Kleider noch immer nach Leichenhaus rochen, nach Tod.

***

»Durch die Zeugenaussagen war es uns möglich, Ihre Aktivitäten aufzudecken: Sie haben fortgesetzt unsere Regierung und die Sowjetunion verunglimpft. Sie haben Voice of America gehört. Sie haben sowjetische Schriftsteller mit patriotischen Ansichten beschimpft und das Werk Pasternaks, eines Schriftstellers mit staatsfeindlicher Gesinnung, in den Himmel gelobt.«

Ich hörte mir das Urteil des Richters an. Ich hörte seine Worte und die Zahl, die er verkündete. Aber ich brachte beides nicht in Verbindung miteinander, bis man mich in meine Zelle zurückbrachte. Jemand fragte, und ich antwortete: »Fünf Jahre.« Erst dann traf es mich wie ein Blitzschlag: fünf Jahre in einem Umerziehungslager in Potma. Fünf Jahre, sechshundert Kilometer von Moskau entfernt. Meine Tochter und mein Sohn wären keine Kinder mehr, wenn ich sie wiedersähe. Meine Mutter wäre beinahe siebzig. Wäre sie noch am Leben? Boris wäre weitergezogen – hätte vielleicht eine neue Muse, eine neue Lara gefunden. Vielleicht hatte er das schon längst.

***

Am Tag nach meiner Verurteilung händigte man mir einen mottenzerfressenen Wintermantel aus und lud mich hinten auf einen Lastwagen, der voller Frauen war. Durch eine Öffnung in der hinteren Plane schauten wir zu, wie Moskau an uns vorüberzog.

Irgendwann überquerte eine Gruppe von Schulkindern in Zweierreihen hinter dem Lastwagen die Straße. Ihr Lehrer rief ihnen zu, sie sollten die Augen geradeaus halten, aber ein kleiner Junge drehte sich um, und unsere Blicke trafen sich. Einen Augenblick lang stellte ich mir vor, es wäre mein eigener Sohn, mein Mitja, oder vielleicht das Baby, das ich nie kennenlernen würde.

Als der Lastwagen anhielt, brüllten die Wärter uns zu, wir sollten aussteigen und uns schnell zu dem Zug bewegen, der uns in den Gulag bringen würde. Ich dachte an die ersten Seiten von Borjas Roman, an Juri Shiwago, der mit seiner jungen Familie in einen Zug stieg und im Ural Zuflucht suchte.

Die Wärter ließen uns in einem fensterlosen Waggon auf Bänken Platz nehmen, und als der Zug losrollte, schloss ich die Augen.

Moskau breitet sich in Kreisen aus, als hätte man einen Kiesel in ein stilles Wasser geworfen. Die Stadt dehnt sich von ihrem roten Zentrum zu ihren Boulevards und Denkmälern und weiter zu den Wohnhäusern aus – jeder Kreis größer und breiter als der vorhergehende. Dann kommen die Bäume, dann die freie Landschaft, dann Schnee, immer mehr Schnee.

WestenHerbst 1956

Kapitel 2Die Bewerberin

Es war einer jener feuchtwarmen Tage im District, an denen die Luft schwer über dem Potomac hing. Sogar im September hatte man noch das Gefühl, durch einen nassen Lappen zu atmen. Sobald ich einen Fuß vor die Kellerwohnung gesetzt hatte, in der ich mit meiner Mutter wohnte, bereute ich, dass ich meinen grauen Rock trug. Bei jedem Schritt konnte ich nur eines denken: Wolle, Wolle, Wolle. Als ich in den Bus der Linie 8 stieg und mich auf einen der hinteren Plätze setzte, spürte ich, wie der Schweiß unter meinen Achseln meine weiße Bluse durchweichte. Schlimmer noch, ich hatte das Gefühl, dass auf meinem Hinterteil zwei große Schweißflecke prangen mussten, einer pro Pobacke. Da unser Vermieter angedroht hatte, die Miete zu erhöhen, brauchte ich diesen Job dringend. Warum hatte ich bloß kein Leinen angezogen?

Nach dem Umsteigen in einen anderen Bus und weiteren vier Häuserblocks mit Scheuern bei jedem Schritt erreichte ich das Viertel, das mein Ziel war, Foggy Bottom. Während ich die E Street hinunterging, versuchte ich, unauffällig im Schaufenster eines Peoples' Drugstore mein Hinterteil zu überprüfen. Aber ich konnte nichts erkennen, das Sonnenlicht war zu gleißend, zudem hatte ich meine Brille nicht aufgesetzt.

Erst mit einundzwanzig war ich das erste Mal bei einem Optiker gewesen, aber zu der Zeit hatte ich mich schon so an die unscharfen Kanten der Welt gewöhnt, dass mir alles zu grell schien, als ich die Welt endlich sah, wie sie war. Auf einmal konnte ich jedes Blatt an einem Baum und jede Pore auf meiner Nase sehen. Ich konnte auf jedem Kleidungsstück jedes noch so winzige weiße Haar sehen, das Miska, die Katze meiner Nachbarin von oben, hinterlassen hatte. Das alles bereitete mir Kopfschmerzen. Ich stellte fest, dass ich die Dinge lieber als verschwommenes Ganzes wahrnahm, nicht in einzelne, klar abgegrenzte Teile zerlegt, und daher trug ich meine Brille nur selten. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass ich eine feste Vorstellung davon hatte, wie die Welt war, und alles, was dem widersprach, mir Unbehagen verursachte.

Als ich an einem Mann auf einer Bank vorüberging, spürte ich, wie seine Augen auf mir verweilten. Sah er, wie ich die Schultern hängen ließ und beim Gehen zu Boden blickte? Ich hatte in meinem Schlafzimmer stundenlang mit Büchern auf dem Kopf geübt, um meine Haltung zu verbessern, aber alles Üben hatte nichts bewirkt. Wann immer ich den Blick eines Mannes auf mir spürte, nahm ich an, dass er meinen ungelenken Gang beobachtete. Die Möglichkeit, dass er mich vielleicht attraktiv fand, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Es ging darum, wie ich lief, oder um die selbstgeschneiderten Kleider, die ich trug, oder darum, dass ich versehentlich jemanden zu lange angestarrt hatte, wie ich es zu tun pflegte. Es ging nie darum, dass ich hübsch war. Nein, darum nie.

Ich beschleunigte meine Schritte, tauchte in einem Diner unter und ging schnurstracks zur Toilette.

Keine Schweißflecke, Gott sei Dank. Der Rest war eine andere Geschichte: Die Strähnen meines Ponys klebten mir an der Stirn, die Wimperntusche, die mich laut meiner Mutter aussehen ließ wie eine Braut aus dem Katalog, war verlaufen, und der Puder, den ich zart auf die Stellen getupft hatte, die die Verkäuferin bei Woolworth meine »Problemzonen« genannt hatte, wirkte auf einmal wie eine dicke Mehlschicht. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht und wollte es gerade abtrocknen, als jemand an die Tür klopfte.

»Augenblick.«

Das Klopfen hörte nicht auf.

»Besetzt!«

Die Person auf der anderen Seite rüttelte an der Klinke.

Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit und streckte mein triefendes Gesicht hindurch. »Ich bin gleich so weit«, erklärte ich dem Mann, der eine Zeitung unter dem Arm trug, und schlug die Tür zu. Ich zog den Rock hoch, klemmte ein zusammengefaltetes Papierhandtuch zwischen meine Unterwäsche und meinen Strumpfgürtel und schaute auf die Uhr: noch fünfundzwanzig Minuten bis zu meinem Vorstellungsgespräch.

Sydney, mein Exfreund, wenn man ihn überhaupt so nennen konnte, hatte mir eines Abends bei Pizza und Bier im Bayou von diesem Job erzählt. Er war einer von den D.C.-Jungs, die sich was darauf einbilden, immer bestens informiert zu sein, und er wusste, dass ich seit meinem Collegeabschluss vor zwei Jahren versuchte, einen Job bei der Regierung an Land zu ziehen. Aber die Positionen für Berufseinsteiger waren rar geworden, und gewöhnlich musste man jemanden kennen, um einen Fuß in die Tür zu bekommen. Für mich war dieser Jemand Sydney. Er arbeitete im Außenministerium und hatte vom Freund eines Freundes etwas über eine offene Stelle für eine Stenotypistin gehört. Ich wusste, dass meine Aussichten nicht gerade glänzend waren, denn meine Schreibmaschinenfertigkeiten waren höchstens annehmbar, und sonst hatte ich an Berufserfahrung nicht mehr zu bieten, als dass ich bei einem Prozessanwalt, der schlecht sitzende Anzüge trug und kurz vor der Pensionierung stand, Telefondienst gemacht hatte. Aber Sydney meinte, ich wäre eine sichere Kandidatin, weil er bei jemandem, den er in der Agency kannte, ein gutes Wort für mich eingelegt habe. Ich hegte den Verdacht, dass er nicht wirklich jemanden bei der Agency kannte, bei dem er ein gutes Wort einlegen konnte, dankte ihm aber trotzdem. Als Sydney sich dann zu einem Kuss zu mir herüberlehnte, streckte ich ihm rasch die Hand entgegen und dankte ihm erneut.

Ich verließ die Toilette, erleichtert, dass der Mann mit der Zeitung gegangen war. Ich bestellte mir eine große Coca-Cola, und der kleine Grieche hinter der Theke reichte sie mir mit einem Augenzwinkern. »Holprigen Start in den Tag gehabt?«, fragte er. Ich nickte und trank in gierigen Schlucken. »Danke«, sagte ich und schob ein Fünf-Cent-Stück über den Tresen. Er schob es mit einem Finger zurück. »Geht auf mich«, sagte er und zwinkerte noch einmal.

***

Ich kam fünfzehn Minuten zu früh bei den schwarzen Eisentoren an, die am Navy Hill in den Komplex großer grau-roter Backsteingebäude führen. Fünf Minuten zu früh anzukommen, das wäre noch akzeptabel gewesen, aber fünfzehn Minuten bedeuteten, dass ich dreimal um den Häuserblock gehen musste, ehe ich eintrat. Und bis dahin war ich wieder völlig verschwitzt und zerzaust. Als ich gegen die schwere Tür drückte, erwartete ich, dass mir ein Schwall köstlich klimatisierter Luft entgegenwehen würde, doch mich empfing nur noch mehr heiße Luft.

Nachdem ich in der Schlange an der Einlasskontrolle gewartet hatte, war ich an der Reihe, meine Ausweisdokumente mit der Liste der angekündigten und genehmigten Besucher abgleichen zu lassen. Doch als ich gerade vortreten wollte, drängte sich ein weißhaariger Mann mit runder Nickelbrille an mir vorbei, stieß so heftig gegen mich, dass ich die Handtasche fallen ließ. Das Blatt Papier mit meinem jämmerlichen Lebenslauf landete auf dem Boden. Der Mann, der schon an den Sicherheitsleuten vorbeigestürmt war, machte kehrt und kam zurück. Er hob meinen Lebenslauf auf und reichte mir die nun befleckte, leicht geschönte und dennoch erbärmlich kurze Liste meiner Errungenschaften und Qualifikationen mit einem »Bitte sehr, Miss«. Dann war er fort, ehe ich reagieren konnte.

***

Im Lift leckte ich an einem Finger und kratzte damit an dem Dreckfleck auf meinem Lebenslauf herum. Es wurde nur schlimmer, und ich verfluchte mich, dass ich kein zusätzliches Exemplar mitgenommen hatte. Ich hatte den Lebenslauf mit Hilfe eines Buchs mit dem Titel Wie man todsicher einen Job an Land zieht! geschrieben, das ich mir in der Bücherei ausgeliehen hatte. Ich hatte ihn nach den Anweisungen darin formatiert, hatte sogar mehr für das festere elfenbeinfarbene Papier ausgegeben. Das nun verdreckte Blatt Papier war genau das, vor dem in dem Buch im Kapitel »Die Stunde des Amateurs« gewarnt wurde.

Um alles noch schlimmer zu machen, hatte sich, als ich das Blatt aufhob, das zusammengefaltete Papierhandtuch, das ich mir auf der Toilette in den Rockbund geschoben hatte, an meinem Strumpfgürtel hochgearbeitet, und ich spürte, wie es mir ins Kreuz drückte. Ich verbot mir, daran zu denken, was mich natürlich erst recht daran denken ließ.

»Wohin wollen Sie?«, fragte die Frau neben mir, deren Finger über den Knöpfen des Aufzugs schwebte.

»Oh«, antwortete ich. »Drei, nein, vier.«

»Vorstellungsgespräch?«

Ich hielt den fleckigen Lebenslauf hoch.

»Stenotypistin?«

»Woher wussten Sie das?«

»Ich habe einen guten Blick für Menschen.« Die Frau streckte mir ihre Hand entgegen. Sie hatte weit auseinanderstehende Augen und einen vollen Mund mit einem wachsartigen roten Lippenstift, der ihre Lippen wie rotes Weingummi wirken ließ. »Lonnie Reynolds«, sagte sie. »Ich war schon bei der Agency, als sie noch gar nicht die Agency war.« Darauf schien sie ebenso stolz zu sein, wie sie es satthatte. Als sie mir die Hand schüttelte, bemerkte ich eine helle Linie an ihrem Ringfinger. Sie bemerkte, dass ich bemerkt hatte, dass hier ein Ring fehlte, und hielt meinem Blick einen unbehaglichen Augenblick lang stand. Der Aufzug klingelte im dritten Stock.

»Irgendwelche Ratschläge?«, fragte ich, als sie hinaustrat.

»Tippen Sie schnell. Stellen Sie keine Fragen. Und lassen Sie sich keinen Scheiß gefallen.« Als zwei Männer in den Aufzug stiegen, hörte ich noch, wie sie mir hinter den beiden zurief: »Und das war übrigens eben Dulles, der Sie umgerannt hat.«

Ehe ich fragen konnte, wer das war, schlossen sich die Türen.

***

Im vierten Stock begrüßte mich die Empfangsdame, indem sie auf eine Reihe von Plastikstühlen an der Wand deutete, auf denen bereits zwei Frauen warteten. Als ich Platz nahm, spürte ich, wie sich das Papierhandtuch weiter hochschob. Ich verfluchte mich, nicht früher hierhergekommen zu sein.

Rechts von mir saß eine ältere Frau mit einer schätzungsweise zwei Jahrzehnte alten, dicken grünen Strickjacke und einem langen braunen Cordrock. Sie ähnelte eher einer Lehrerin als einer Stenotypistin oder meiner Vorstellung von einer Stenotypistin. Ich tadelte mich für meine Vorurteile. Die Frau hielt ihren Lebenslauf auf dem Schoß fest zwischen Zeigefingern und Daumen. War sie so nervös wie ich? Wollte sie in die Arbeitswelt zurückkehren, nachdem ihre Kinder aus dem Haus waren? Hatte sie eine andere berufliche Laufbahn eingeschlagen, Abendkurse besucht, weil sie etwas Neues anfangen wollte? Die Frau schaute mich an und flüsterte: »Viel Glück.« Ich lächelte und ermahnte mich, mit meinen Spekulationen aufzuhören.

Ich schaute auf die Wanduhr, um einen Vorwand zu haben, die kleine Brünette zu mustern, die links von mir saß. Sie schien frisch aus der Sekretärinnenschule zu kommen – vielleicht zwanzig Jahre alt, obwohl sie keinen Tag älter als sechzehn aussah. Deutlich hübscher als ich, hatte sie schimmernden rosa Nagellack in der Farbe von Ballettschuhen aufgetragen. Ihre Haare waren zu einer jener Frisuren aufgesteckt, bei deren Anblick man sich immer fragte, wie viel Zeit und Haarklammern dazu wohl nötig gewesen waren. Und ihre Kleidung wirkte nagelneu: ein langärmliges Kleid mit einem weißen Kragen, dazu Kitten-Heel-Pumps. Es war genau die Art von Kleid, das ich liebend gern gekauft hätte, wenn ich es in einem Kaufhausfenster gesehen hätte – anstatt nach Hause zu gehen, um es dort aus der Erinnerung zu zeichnen, damit mir meine Mutter eine Kopie nähen konnte. Der elende Wollrock war daraus entstanden, dass ich vor einem Jahr bei Garfinckel's im Schaufenster an einer Schaufensterpuppe ohne Hüften einen wunderschönen grauen Rock gesehen hatte.