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Beschreibung

Dürfen wir überhaupt noch hoffen? Darüber referieren Wissenschaftler beim 26. Philosophicum Lech.

Was dürfen wir hoffen? Immanuel Kants berühmte Frage müsste heute umformuliert werden: Dürfen wir überhaupt noch hoffen? Angesichts einer krisengeschüttelten Welt, in der sich Nachrichten über Klimakatastrophen, Kriege, zusammenbrechende Versorgungssysteme und Pandemien überbieten, scheint kein Platz mehr für jene Hoffnungen, die sich in optimistischen Erwartungen, lichtvollen Utopien und Visionen vom ewigen Frieden zeigten.
Alles wird gut. Ob dieser Satz seine Berechtigung hat oder ironisch verstanden werden muss – darüber referierten beim 26. Philosophicum Lech Vortragende aus Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften und benachbarten Disziplinen.

Mit Beiträgen u.a. von Christine Abbt, Philipp Blom, Christian Dries, Karl Gaulhofer, Fred Luks, Catrin Misselhorn, Hartmut von Sass, Renée Schroeder, Peter Strasser, Francesca Vidal, Harald Welzer und Konrad Paul Liessmann.

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Das ist das Cover des Buches »Alles wird gut« von Konrad Paul Liessmann

Über das Buch

Dürfen wir überhaupt noch hoffen? Darüber referieren Wissenschaftler beim 26. Philosophicum Lech.Was dürfen wir hoffen? Immanuel Kants berühmte Frage müsste heute umformuliert werden: Dürfen wir überhaupt noch hoffen? Angesichts einer krisengeschüttelten Welt, in der sich Nachrichten über Klimakatastrophen, Kriege, zusammenbrechende Versorgungssysteme und Pandemien überbieten, scheint kein Platz mehr für jene Hoffnungen, die sich in optimistischen Erwartungen, lichtvollen Utopien und Visionen vom ewigen Frieden zeigten.Alles wird gut. Ob dieser Satz seine Berechtigung hat oder ironisch verstanden werden muss — darüber referierten beim 26. Philosophicum Lech Vortragende aus Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften und benachbarten Disziplinen.Mit Beiträgen u.a. von Christine Abbt, Philipp Blom, Christian Dries, Karl Gaulhofer, Fred Luks, Catrin Misselhorn, Hartmut von Sass, Renée Schroeder, Peter Strasser, Francesca Vidal, Harald Welzer und Konrad Paul Liessmann.

Alles wird gut

Zur Dialektik der Hoffnung

Herausgegeben von Konrad Paul Liessmann

Paul Zsolnay Verlag

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort

Konrad Paul Liessmann

: Alles wird gut

Hartmut von Sass

: Außer sich sein

Christine Abbt

: Offene Horizonte

Francesca Vidal

: Vom Tagtraum zur Utopie oder Über die Notwendigkeit, utopisch zu denken

Christian Dries

: »… in Hoffnung, dass wir hoffen dürfen«?

Peter Strasser

: Alles wird gut oder Die Rettung der Welt durch ihren Untergang

Philipp Blom

: Alles wird gut?

Fred Luks

: Die Hoffnung auf Nachhaltigkeit

Harald Welzer

: Hoffnung ist eine Falle

Catrin Misselhorn

: Künstliche Intelligenz — und alles wird gut?

Renée Schroeder

: Dürfen wir auf Unsterblichkeit hoffen?

Catherine Newmark

: Laudatio Tractatus-Preis 2023 auf Isolde Charims Die Qualen des Narzissmus. Über freiwillige Unterwerfung

Isolde Charim

: Dankesrede

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Bereits seit mehr als einem Vierteljahrhundert lädt das Philosophicum Lech alljährlich zum anregenden, den Horizont erweiternden Gedankenaustausch über brisante Fragen der Gegenwart. Auch in diesem Jahr durften wir über 600 Teilnehmende aus dem gesamten deutschsprachigen Raum in Lech am Arlberg begrüßen. Die Vielzahl an exzellenten Vorträgen, die damit gegebene Vielfalt an Perspektiven aufs Jahresthema und die zahlreichen Gelegenheiten zur spannenden, fruchtbaren Diskussion zählen zweifellos zum Erfolgsrezept unseres Symposiums. Ebenso kennzeichnen die gepflegte Gastlichkeit in meiner Heimatgemeinde und das unvergleichliche Ambiente unserer alpinen Höhenregion dessen wohl einzigartigen Charakter.

Als Obmann des Vereins Philosophicum Lech freut es mich jedes Jahr von Neuem, den Sammelband in Händen zu halten. Die wertvolle Dokumentation erweitert schließlich den Kreis jener, die an der tiefgehenden Erörterung des Jahresthemas teilhaben können. Unter dem diesjährigen Titel »Alles wird gut. Zur Dialektik der Hoffnung« finden sich all die aufschlussreichen Vorträge der namhaften Expert:innen darin wieder. Zudem wird der Tractatus-Essaypreis des Philosophicum Lech durch die Laudatio von Catherine Newmark und die Dankesrede der Preisträgerin Isolde Charim gewürdigt. Mein besonderer Dank gilt allen, die ihre höchst lesenswerten Beiträge zur Verfügung gestellt haben.

Großer Dank gebührt ebenfalls allen Unterstützern des Philosophicum Lech: angefangen bei unserem langjährigen Hauptsponsor Magna und weiteren Sponsoren, wie ZM3, Baumschlager Eberle und Hilti Foundation, bis hin zu den fördernden Stellen von Bund und Land. Ebenso gedankt sei der Gemeinde Lech mit Bürgermeister Gerhard Lucian, der Lech Zürs Tourismus GmbH um Geschäftsführer Hermann Fercher sowie dem Team des Philosophicum Lech unter Leitung von Mirjam Fritz.

Nicht zuletzt gilt unserem wissenschaftlichen Leiter Konrad Paul Liessmann größter Dank, der maßgeblich zur beeindruckenden Entwicklung unseres Symposiums beigetragen hat. Ab kommendem Jahr wird er gemeinsam mit der Schweizer Philosophin Barbara Bleisch die Intendanz des Philosophicum Lech bilden. Neu sind auch die »Lechwelten« als künftiger Veranstaltungsort. Atmosphärisch überaus ansprechend, ist das multifunktionale Gebäude für unsere Tagung wie geschaffen. Es würde mich freuen, wenn Sie beim 27. Philosophicum Lech zum Thema »Sand im Getriebe. Eine Philosophie der Störung« vom 17. bis zum 22. September 2024 in Lech am Arlberg mit dabei sind!

LUDWIG MUXEL

Obmann des Vereins Philosophicum Lech

www.philosophicum.com

Konrad Paul Liessmann

Alles wird gut

Zur Dialektik der Hoffnung

Es gibt Begriffe, die lechzen geradezu danach, sich in einem Kalenderspruch oder Sprichwort wiederzufinden. Zu diesen zählt zweifellos und prominent die Hoffnung. Wer im Internet kurz nach Zitaten zur Hoffnung sucht, wird auf Anhieb mit mehreren hundert Fundstellen beglückt. Auch wir beginnen deshalb mit einer alten Weisheit. Dum spiro spero — Solange ich atme, hoffe ich. Diese Sentenz gehört wahrscheinlich zu den meistzitierten Sätzen der Antike, sie wird gemeinhin Marcus Tullius Cicero zugeschrieben. Recherchiert man ein wenig dazu im Internet, wird man darauf verwiesen, dass diese Formel unvollständig sei und im Original laute: Dum spiro spero / Dum spero amo / Dum amo vivo — Solange ich atme, hoffe ich / Solange ich hoffe, liebe ich / Solange ich liebe, lebe ich.1

Der Leser stutzt. Das klingt eher nach der christlichen Einbettung der Hoffnung in die Liebe, weniger nach einem römischen Staatsmann. Sieht man sich die als Quelle genannten Briefe an Atticus genauer an, bestätigt sich dieser Vorbehalt. Dort schreibt Cicero, bezugnehmend auf eine politisch-militärisch prekäre Lage, ziemlich lakonisch: »Wie man sagt, dass ein Kranker, solange er Atem hat, Hoffnung hat, so habe ich, solange Pompeius noch in Italien stand, nicht zu hoffen aufgehört.«2 Hier ist nicht von Liebe und Leben, sondern von Krieg und Tod die Rede. Aus dem können wir zweierlei lernen: Traue nie dem Internet, überprüfe alles. Und: Wir denken uns, ohne es uns stets bewusst zu machen, die Hoffnung gerne in einem theologisch angehauchten Kontext. Mittlerweile darf zwar der Glaube fehlen, doch die Liebe ist unverzichtbar!

Diese Assoziation verbindet die Hoffnung mit dem moralisch Guten und Erstrebenswerten. Die Frage, ob sich die Hoffnung mit negativen Gefühlen wie Gier, Neid oder Hass verbinden kann, wird ungern gestellt, obwohl sie auf der Hand liegt. Auch der Kriminelle hofft, dass sein Verbrechen gelingt und unentdeckt bleibt, auch der Terrorist hofft, dass sein Anschlag die gewünschte Wirkung, die Verbreitung von Angst und Schrecken, zeitigt. Ähnliches gilt für weniger drastische Fälle: Wer, der in einem politischen oder ökonomischen Konkurrenzkampf steht, hofft nicht auf einen Fehler des Mitbewerbers, auf Enthüllungen, Skandale, die Aufdeckung von Jugendsünden? Vorab zumindest sollten wir vom Pathos, das den Begriff der Hoffnung gerne umgibt, einmal absehen.

Was tut jemand, der hofft? Das schöne deutsche Wort »hoffen« ist etymologisch nah mit »hüpfen« verwandt. Wer hofft, ist in unruhiger Erwartung in Hinblick auf ein kommendes Ereignis. Wir hoffen, dass der Mensch, mit dem wir uns verabredet haben, auch tatsächlich kommt, und sind, je länger dieser auf sich warten lässt, dementsprechend unruhig. Die innere Bewegtheit der Hoffnung indiziert, dass diese prinzipiell zukunftsgerichtet ist. Hoffnung ist eine Form, sich emotional auf ein positiv gedachtes Zukünftiges einzustellen. Das Gegenteil ist die Furcht. Diese erwartet von der Zukunft das Schlimme. In beiden Emotionen verschränken sich Gegenwart und Zukunft: Ich hoffe oder fürchte mich jetzt, aber erst die Zukunft wird zeigen, ob sich das Hoffen erfüllt oder das Befürchtete eintritt. In den Akten des Hoffens und Fürchtens erfahren wir uns als Wesen, denen etwas bevorsteht. Lebten wir in reiner Unmittelbarkeit — wie man sie lange den Tieren zugeschrieben hat —, gäbe es für uns im strengen Sinn nichts zu hoffen — aber auch nichts zu befürchten. Aus dieser Perspektive ist die These zu verstehen, dass der Mensch das einzige Wesen ist, das hoffen kann.

Hoffen hat zudem eine soziale Komponente. Ich kann für mich etwas erhoffen; und ich kann hoffen, dass einem anderen Menschen eine gute Zeit bevorsteht, sein Unternehmen gelingt, seine Wünsche sich erfüllen. Für jemanden etwas zu erhoffen ist ein selten beachteter Aspekt von Beziehungen und Bindungen. In diesem Akt eines Ich-hoffe-für-dich-das-Beste wird der andere nicht nur in seinem Dasein, als unmittelbares Gegenüber, Adressat unserer Anteilnahme, sondern auch in seiner Zukünftigkeit, in seinen Entwicklungsmöglichkeiten anerkannt. Indem die Hoffnung immer über die Gegenwart hinausgreift, öffnen sich soziale und damit politische Horizonte. Der Kampf um die Zukunft des Planeten ist deshalb mit hoffnungsfrohen Botschaften ebenso gespickt wie mit apokalyptischen Befürchtungen. Die Eingängigkeit der Parole, nach der unsere exzessive Lebensform den jungen Menschen die Zukunft stiehlt, erklärt sich daraus: Ohne Zukunft wären sie zur Hoffnungslosigkeit verurteilt. Allerdings ist die Zukunft nichts, was jemandem gehört. Man kann sie deshalb auch niemandem entwenden.

In welches Verhältnis zur Zukunft setzen wir uns durch den Modus des Hoffens? Und lassen sich dabei verschiedene Formen und Intensitäten unterscheiden? Solange ich atme, hoffe ich. Dieses Sprichwort trifft einen entscheidenden Punkt: Wir können uns die Hoffnung und das aktive Hoffen aus unserem Leben kaum wegdenken, und selbst alltägliche und wenig dramatische Verrichtungen werden davon begleitet. Wir hoffen, dass ein Ansuchen korrekt ausgefüllt wurde, eine Urlaubsreise erholsam sein möge, ein Kind seine Prüfung besteht, die Partei, der wir unsere Stimme gegeben haben, auch die Wahl gewinnt. Dieses ubiquitäre Hoffen bezeichne ich als »kleinere Hoffnung«. Sie geht uns leicht über die Lippen, ist oft nicht mehr als eine Höflichkeitsformel, eine Floskel, und enthält doch eine entscheidende Einsicht: dass wir nie vollständig über die Zukunft verfügen können. Wer die Erwartung des Zukünftigen im Modus der Hoffnung beschreibt, signalisiert anderes als derjenige, der vorgibt, über die Zukunft uneingeschränkt verfügen zu können. Angesichts einer politisch schwierigen Situation zu sagen »Wir schaffen das« ist etwas anderes als ein »Ich kann nur hoffen, dass wir das schaffen«. Einem auftrumpfenden Allmachtsgefühl steht eine Haltung gegenüber, die weiß, dass wohl manches, beileibe aber nicht alles in unserer Macht steht — wie schon der spätantike Stoiker Epiktet lehrte. Doch stoizistische Selbsterkenntnis gehört nicht zu den Tugenden aktueller Politik.

Darauf zu hoffen, dass es Auswege aus persönlichen und gesellschaftlichen Krisen geben möge, darf nicht mit dem Ausstrahlen routinierter Zuversicht verwechselt werden. Es geht um einen Umgang mit Zukunft, der uns existentiell betrifft und den ich in Anlehnung an den Titel eines einstmals berühmten Romans von Ilse Aichinger die »größere Hoffnung« nennen möchte. Diese ist von dem Wissen grundiert, dass wir der Zukunft gegenüber bestenfalls mit Wahrscheinlichkeiten rechnen können. Da die Zukunft offen ist, beschreiben alle Prognosen und Modellrechnungen nur Möglichkeiten, aber keine Notwendigkeiten, nur mehr oder weniger gut argumentierbare Plausibilitäten, aber keine Gewissheiten. Erführen wir unser Leben als vollständig determiniert, ohne Freiheit und ohne Zufall, erübrigte sich ebenfalls jedes Hoffen. Hoffen bedeutet, daran zu glauben, dass das Unwahrscheinliche gegen alle empirischen und vernünftigen Gründe dennoch eintreten könnte. Oder umgekehrt: Wie oft hoffen wir, dass Ereignisse, die allen Beobachtungen und Berechnungen nach wahrscheinlich eintreten werden, dann doch ausbleiben. Diese Hoffnungen speisen sich aus jenen Erzählungen, die davon berichten, dass es das Unvorhersehbare gibt: den schwarzen Schwan, die Spontanheilung einer unheilbaren Krankheit, das Wunder des Überlebens in einem verschütteten Stollen.

In einer prekären oder ausweglosen Situation zu hoffen kommt dem Eingeständnis gleich, dass die Abwendung des Unabwendbaren außerhalb des Horizonts unserer berechtigten Erwartungen und möglichen Handlungen liegt. Das heißt nicht, dass Hoffen — wie oft behauptet — zur Passivität verleitet, das heißt nur, dass es für unsere Anstrengungen und Versuche keinerlei Erfolgsgarantie gibt. Wer die kleinste Chance erkennt, wird nicht hoffen, sondern diese ergreifen. Zu hoffen bedeutet hingegen, dass wir nicht wissen, wie es weitergehen soll. Wir hoffen auf einen Ausweg, obwohl sich keiner zeigt. Wir hoffen auf die Tatkraft anderer Menschen, auf den Zufall, auf einen Gott, der uns retten möge. Das kann bedeuten: Wir leisten Widerstand. Lassen uns nicht einschüchtern. Kämpfen weiter. Harren aus. Warten. Und dennoch: Konfrontiert mit einer katastrophalen Entwicklung, kann diese Hoffnung als falsches Einverständnis mit den Weltläuften interpretiert werden: Wer in Bezug auf den Klimawandel seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, dass z.B. dank des Erfindungsreichtums und der Anpassungsfähigkeit des Menschen sich alles zum Guten wenden werde, sieht sich rascher ins Lager der Klimaleugner verstoßen, als ihm lieb sein kann.

Die Dialektik der Hoffnung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Hoffnung auch, ja vor allem dort ansetzen kann, wo bei Abwägung der Umstände alles verloren scheint. Kalkulierbare Erfolgsaussichten gehören nicht zur Logik der Hoffnung. Im Roman Wilderer des österreichischen Autors Reinhard Kaiser-Mühlecker heißt es einmal über die Einstellung der Hauptfigur zum Leben: »Entsprach nicht genau das seiner Vorstellung von Hoffnung? Nicht etwas zu tun, weil man gewiss war, es werde gut ausgehen, sondern weil es Sinn ergab?«3 Der Protagonist dieser Erzählung paraphrasiert damit einen berühmten Satz des tschechischen Dichters und Politikers Václav Havel: »Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.«4 Wer hofft, glaubt nicht, dass alles gut wird; wer hofft, hält es für sinnvoll, an das Gute zu glauben, auch wenn alles böse enden könnte. Das macht die Hoffnung nicht nur stark, das macht sie auch gefährlich — wenn der Sinn zur Ideologie wird, dem die Wirklichkeit geopfert wird.

Wir können nicht nur uns, wir können auch anderen Menschen Hoffnungen machen. Diese reichen von vagen Andeutungen bis hin zu Versprechungen, deren Einlösung immer wieder hinausgezögert wird. Womöglich wird unterschätzt, welche konstitutive, mitunter auch fatale Rolle das Erwecken von Hoffnungen für die Beziehungen und das Zusammenleben von Menschen spielt. Solange jemand auf einen anderen hoffen kann oder hoffen muss, bleibt er in dessen Bann und wird in den Modus des Wartens versetzt. Hoffenden wird Geduld abverlangt. Das gilt in Partnerschaften ebenso wie zum Beispiel für das Verhältnis zwischen einem Patienten und seinem Arzt. Das Aufrechterhalten von Hoffnungen kann deshalb auch zu einer politischen Strategie werden, auch und gerade dann, wenn vollmundig etwas für die Zukunft garantiert wird. Garantien, die niemand garantieren kann, sind die politische Erscheinungsform der Hoffnung. Erfüllen sich solche Hoffnungen nicht, sind wir mit dem höchst interessanten und paradoxen Phänomen der enttäuschten Hoffnung konfrontiert. Wie kann man, so müsste man sich fragen, von einer Hoffnung enttäuscht sein, wenn das Wesen der Hoffnung im Wissen besteht, dass es weder moralische noch rechtliche, weder sachlich gerechtfertigte noch vernünftig argumentierte Ansprüche auf etwas Erhofftes gibt? Egomanisch, wie wir nun einmal sind, behandeln wir die Hoffnung als eine Erwartung, von der wir glauben, dass ihre Erfüllung uns einfach zusteht. Menschen Hoffnungen zu machen ist deshalb ein höchst riskantes Spiel: Wir können dafür zur Rechenschaft gezogen werden, wenn wir diese Hoffnungen nicht erfüllen. Das ist die prekäre Situation all jener Hoffnungsträger in der Politik, auf denen die Hoffnungen der Menschen ruhen, weil sie es verstehen, ihnen Hoffnungen zu machen.

Auch wenn Hoffnungen mit dem Unwahrscheinlichen konfrontiert sind, finden sich in der Regel Gründe, Hinweise, wenigstens zarte Andeutungen, die unserem Hoffen eine gewisse Berechtigung geben. Wir sind deshalb offen für alle Anzeichen in unserem Leben und in der Welt, die uns zuversichtlich stimmen. Vom Licht am Ende des Tunnels bis zum Silberstreif am Horizont reicht das Arsenal der Metaphern, mit denen wir uns an die Zukunft anschmiegen. Was aber, wenn wir hoffen, und alles bleibt im Dunkeln, im Reich der Schatten? Es gibt eine dritte Form der Hoffnung, die an die »radikale Hoffnung« Jonathan Lears erinnert: »Diese Hoffnung ist genau deswegen radikal, weil sie sich auf eine Güte richtet, die das gegenwärtige Vermögen übersteigt, einzusehen, worin sie besteht.«5 Es ist die Hoffnung, die sich nicht nur auf das Reich des Möglichen und Unwahrscheinlichen bezieht, sondern auf eine absolute Ungewissheit, auf eine Situation, in der wir von uns, von dieser Welt und ihren Bewohnern nichts mehr zu erhoffen haben. Es ist jene Hoffnung, von der Walter Benjamin mit einer kryptischen Formulierung am Ende seines Essays über Goethes Wahlverwandtschaften sagte, sie sei uns nur um der Hoffnungslosen willen gegeben.6 Und es ist jene Hoffnung, auf die sich Immanuel Kant in seinen berühmte Fragen, die das weite Feld unseres Denkens und Handelns abgrenzen, bezieht: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?«7 Die Beantwortung der dritten Frage überantwortete Kant der Religion, und das gibt dieser Frage ihren radikalen Sinn: Was dürfen wir angesichts unserer Endlichkeit, unserer Sterblichkeit, unseres Leidens, was dürfen wir über den Tod hinaus hoffen? Etwas nüchterner heißt es an einer anderen Stelle bei Kant sinngemäß: Gesetzt den Fall, ich tue, was ich tun soll, ich lebe also nach den Prinzipien des Sittengesetzes, »was darf ich alsdenn hoffen?«8 Im Klartext: Dürfen gute Menschen auf eine Glückseligkeit hoffen, die in letzter Konsequenz nicht durch Bedingtheiten des irdischen Daseins beschränkt ist, dürfen sie also auf ein ewiges Leben, eine göttliche Gerechtigkeit hoffen?

Diese radikale Hoffnung wird absolut, wenn sie sich dem Absoluten aussetzt, ohne jede Gewähr. Wir hoffen gegen alle Vernunft, gegen alle Erfahrung, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Es gibt selbst für gläubige Menschen keine Mechanik, die eine Seele, die sich redlich um das Gute bemüht hat, mit Notwendigkeit ins Paradies katapultiert — der Ablasshandel hat nur in seinen irdischen Dimensionen einigermaßen funktioniert. Die Pointe bei Kant: Wenn wir uns der Glückseligkeit durch unsere moralische Integrität würdig erweisen, dürfen wir auf sie hoffen. Der Akzent liegt auf dem Dürfen. Dass uns das Hoffen erlaubt ist, garantiert keinen Erlösungsanspruch. Böse Menschen haben hingegen nicht einmal das Recht zu hoffen. Deshalb steht über Dantes Inferno, in das alle Übeltäter verbannt werden, der Satz: »Die ihr hereinkommt: Lasst alle Hoffnung fahren.«9

An eine göttliche Gerechtigkeit und die Unsterblichkeit der Seele glauben wir nicht mehr. Aber die absolute Hoffnung ist geblieben. Nur wurde sie aus der Transzendenz in die Immanenz, aus dem Jenseits in das Diesseits geholt. Wenn wir heute in diesem absoluten Sinn hoffen, dann hoffen wir auf eine staatlich garantierte Glückseligkeit, eine planetarische Gerechtigkeit und eine medizinisch-technisch indizierte Unsterblichkeit. Die Hoffnungsdiskurse unserer Tage können zumindest zum Teil als säkularisierte Variante jener absoluten Hoffnung, die von Christen als göttliche Tugend aufgefasst wurde, gedeutet werden.

Lasst alle Hoffnung fahren! Gilt dies nur für die Hölle? Oder wäre es ob ihres theologischen Hintergrundes nicht vernünftiger, zumindest der radikalen Hoffnung im irdischen Leben eine Absage zu erteilen? Kommt in der Hoffnung nicht eine Blindheit zum Ausdruck, die einen nüchternen Blick auf sich selbst, auf den Menschen und die Welt nicht mehr zulässt? Kann Hoffnung nicht auch eine Trotzreaktion sein, die sich allen unangenehmen Einsichten verweigert? Erwarten wir uns von jeder Hoffnung nicht zu viel? Und gibt sie uns nicht immer zu wenig? Läuft nicht jede Hoffnung Gefahr, in einem Warten zu erstarren, das uns der Zukunft gegenüber nicht zuversichtlich, sondern unsicher und verzagt erscheinen lässt? Baruch Spinoza beschrieb die Hoffnung wie auch ihre Schwester, die Furcht, als Affekte, die man nach Möglichkeit vermeiden sollte, denn »sie können nicht an und für sich gut sein«.10 Je mehr wir danach streben, nach der Leitung der Vernunft zu leben, umso unabhängiger müssen wir uns von der Hoffnung machen. Hoffnung trägt ein Moment des Irrationalen in sich. Dieses ist übrigens auch in der antiken Mythologie aufbewahrt. Elpis, die Personifikation der Hoffnung, war vermutlich ein Kind von Nyx, der Göttin der Nacht, und Mutter von Pheme, der Göttin des Gerüchts. Die Hoffnung ist dunkel, und sie raunt. Die Vernunft hält sich zumindest bei Spinoza von ihr fern. Nicht so bei Ernst Bloch, um dessen Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung es umso stiller geworden ist, je mehr wieder von Hoffnungen aller Art die Rede ist. Immerhin: Bloch beschwor geradezu die dunkle, die nächtliche Seite der Hoffnung, sie ist für ihn eine »Dämmerung nach Vorwärts ins Neue«.11 Diese träumende und tagträumende Hoffnung wird zur konkreten Utopie, wenn sie sich von der Vernunft belehren lässt und zu einer »docta spes«, einer »begriffenen Hoffnung«, wird.12 Das Scheitern aller großen Utopien, die diese Versöhnung von rationaler Weltdurchdringung und vorrationaler Hoffnung versuchten, wirft jedoch ein schräges Licht auf diese docta spes.

Noch schärfer ging der dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard mit der Hoffnung ins Gericht. Schon diese innere Unruhe sei doch höchst unangenehm, und der hoffende Zugriff auf die Zukunft passt nicht, und dies im Wortsinn. Die Hoffnung ist für Kierkegaard wie »ein neues Kleid, steif und stramm und glänzend, man hat es jedoch niemals angehabt, und weiß darum nicht, wie es einen kleiden wird oder wie es sitzt«. Im Gegensatz zu konkreten Plänen, präzisen Vorstellungen, erfahrungsgesättigten Handlungen bleibt die Hoffnung ihrem Wesen nach vage. Man hofft, weiß aber im Grunde nicht, auf was. Aber gut soll es werden. Die Hoffnung, so Kierkegaard, »ist eine lockende Frucht, die nicht satt macht«. Der Hoffende lebt im Ungefähren, entbindet sich von der Verantwortung des Tuns. Deshalb kann Kierkegaard ein vernichtendes Urteil über die Hoffnung fällen: »Wer nichts als hoffen will, ist feige.«13

Wiederum anders setzt Friedrich Nietzsche seine Kritik an der Hoffnung an. Natürlich, es gibt bei Nietzsche alles, so auch gerne zitierte Verklärungen der Hoffnung. In einem Fragment findet sich die poetische Formulierung: »Die Hoffnung ist der Regenbogen über den herabstürzenden jähen Bach des Lebens, hundertmal vom Gischt verschlungen und sich immer von neuem zusammensetzend, und mit zarter schöner Kühnheit ihn überspringend, dort wo er am wildesten und gefährlichsten braust.«14 Das Bild des Regenbogens verweist aber schon auf den illusionären Charakter der Hoffnung, den Nietzsche später scharf konturierte. Als Altphilologe kennt er den Mythos von der Büchse der Pandora und deutet diesen folgendermaßen: »Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Übel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von Neuem quälen zu lassen. Dazu gibt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.«

Nietzsche wusste um die Fallstricke der Hoffnung, vor allem, wenn wir in großem Stil auf ein besseres Leben, eine menschenfreundlichere Zukunft, einen geretteten Planeten hoffen. In Menschliches, Allzumenschliches findet sich ein hellsichtiger Aphorismus, der eines der verborgenen Motive unserer politischen Hoffnungen freilegt: »Unsere gesellschaftliche Ordnung wird langsam wegschmelzen, wie es alle früheren Ordnungen getan haben, sobald die Sonnen neuer Meinungen mit neuer Gluth über die Menschen hinleuchteten. Wünschen kann man dies Wegschmelzen nur, indem man hofft: und hoffen darf man vernünftigerweise nur, wenn man sich und seinesgleichen mehr Kraft in Herz und Kopf zutraut, als den Vertretern des Bestehenden. Gewöhnlich also wird diese Hoffnung eine Anmaassung, eine Ueberschätzung sein.«15 Wir können nur hoffen, bei all unseren Hoffnungen dieser Anmaßung, dieser Überschätzung zu entgehen. Aber auch diese Hoffnung hofft auf das Unwahrscheinliche.

Anmerkungen

1

https://www.prüfung-ratgeber.de/2019/01/was-bedeutet-dum-spiro-spero-erklaerung/ (abgerufen am 9.11.2023)

2

Zit. nach: Klaus Bartels (Hg.): Veni, vidi, vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen, Darmstadt 1992, S. 68

3

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer. Roman, Frankfurt a. M. 2022, S. 70 (E-Book-Ausgabe)

4

Zit. nach Hubert Gehring: Menschenrechtler, Dramaturg, Politiker — Václav Havel wird Tschechien fehlen (https://www.kas.de/de/web/tschechien/laenderberichte/detail/-/content/menschenrechtler-dramaturg-politiker-vaclav-havel-wird-tschechien-fehlen; abgerufen am 9.22.2023)

5

Jonathan Lear: Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung. Berlin 2020, S. 155 (E-Book-Ausgabe)

6

Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften. W. B.: Gesammelte Schriften I—1, Frankfurt a. M. 1980, S. 201

7

Immanuel Kant: Schriften zur Metaphysik und Logik 2, Werkausgabe Bd. VI, Frankfurt a. M. 1981, S. 448

8

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft 2, Werkausgabe Bd. 7. S. 677 (B833,834/A 806, 806)

9

Dante: Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch. Frankfurt a. M. 2011, S. 17

10

Benedictus de Spinoza: Die Ethik. Stuttgart 1977, S. 541 (IV, Lehrsatz 47)

11

Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe Bd.5/1, S. 86

12

Bloch, Prinzip Hoffnung, Bd.5/1, S. 5

13

Sören Kierkegaard: Die Wiederholung. Gütersloh 1980, S. 4

14

Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente (Sommer 1877), Kritische Studienausgabe (KSA), München 1980, Bd. 8, S. 445

15

Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, § 443; KSA Bd. 2, S. 288f.

Hartmut von Sass

Außer sich sein

Über Hoffnung und Ekstase

Hinführung

»Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Hoffnung ist die Kleinste unter ihnen.« Selbst diejenigen unter uns, die das Neue Testament kaum mehr in die Hand nehmen — was ein großer Fehler ist —, werden bemerken, dass hier etwas nicht stimmt. Hatte der viel gescholtene Apostel Paulus nicht davon gesprochen, dass die Liebe die größte der drei Tugenden sei? Ganz genau so ist es — aber das bestätigt ja gerade die winzige Umformulierung jenes berühmten Satzes aus dem Ersten Brief an die Gemeinde in Korinth. Von Glauben und vor allem Liebe (im Sinne der charitativen agape, nicht des leidenschaftlichen eros) ist allerorten und ausführlich die Rede; nicht nur bei Paulus, der einmal der Saulus gewesen war, sondern auch in der philosophischen Literatur. Die Hoffnung scheint jedoch eher ein marginalisierter Klassiker zu sein. Oder vielleicht eher eine klassische Marginalie?

In jedem Fall haben wir es hier mit einem überaus erstaunlichen Missverhältnis zu tun: Einerseits ist doch die Hoffnung eines der wesentlichen Kapitel unserer Existenz; andererseits hat dieses Thema kaum ein intellektuelles Interesse geweckt, das jener Prominenz und Relevanz auch nur von Ferne entsprechen würde.

Das ist einmal ganz anders gewesen. Man denke an den Boom der Hoffnungsliteratur vor allem der Nachkriegszeit. Die Titel jener Jahre mögen manchen immer noch geläufig sein: etwa Ernst Blochs monumentales, aber auch ornamentales Prinzip Hoffnung; oder die davon stark beeinflusste Theologie der Hoffnung von Jürgen Moltmann — das vielleicht weltweit bestverkaufte Buch des gesamten Faches im 20. Jahrhundert; oder das all dem vorangehende Plädoyer für eine »absolute« Hoffnung im Hauptwerk des französischen Existentialisten Gabriel Marcel, Homo Viator. Die Liste ließe sich leicht fortsetzen.

Doch schnell nahm jenes wohl überaus zeitbedingte Interesse ab — ein Interesse, das ja gerade der katastrophischen Phase unserer Geschichte folgte. Die Gründe dafür sind vielfältig; historische: Es mag in den 1960er Jahren vielleicht eher ums Machen, nicht mehr ums Hoffen gegangen sein; politische: Die Konsolidierung der Verhältnisse ist nun einmal kein gutes Pflaster für die Hoffnung und ihr kritisches Engagement; sozial-gesellschaftliche: Das Versprechen des kollektiven Aufstiegs dominierte und eben nicht die Hoffnungen, die stets mit der drohenden Nicht-Erfüllung konfrontieren; aber auch intellektuelle, mithin philosophische: Die Spanne der Aufmerksamkeit ist bemessen, und schnell gelangten andere Themen — vor allem sprachphilosophische — auf die Tagesordnung, um die alte Agenda abzulösen: linguistic turn statt Vermessung der zukünftigen Welt.

Hatte noch im 19. Jahrhundert der Historismus die mitteleuropäische Szene dominiert — keine Zukunft ohne Vergewisserung der eigenen Vergangenheit und Tradition —, wird es für kurze Zeit die Zukunftsfrage, die die Gemüter erhitzte; nicht nur politisch, sondern auch technisch: von der Futurologie bis zur Einsicht, dass die Menschheit an einen Punkt gelangt ist, an dem erstmals die atomare Selbstvernichtung die Frage nach der Zukunft und der Hoffnung auf sie obsolet werden lässt. Der für einen Blockbuster erstaunlich subtile Film Oppenheimer von Christopher Nolan erinnerte diesen Kino-Sommer (2023) nochmals an das Dilemmatische jener neuen Potenzen absoluter Zerstörung.

Die Hoffnung hatte also nicht mehr an die alte Prominenz anknüpfen können. Nach der Vergangenheitsbewältigung des Historismus und der Zukunftsorientierung zwischen Chance und Farce rückten abgeklärtere, weitaus nüchternere Haltungen an ihre Stelle. Paradigmatisch dafür ist der politische Pragmatismus der letzten Jahrzehnte, für den die zahllosen Kabinette unter der Kanzlerin Angela Merkel (wenn hier ein deutsches Beispiel gestattet ist) Pate oder Patin stehen. Programmatisch visionslos wurde hier vorgegangen, dabei die Erfüllung der einst sozialdemokratischen Devise stets im Blick, nach der gilt: Wer Visionen habe, gehöre in die Therapie! So hielt es der lange ungeliebte Kanzler Helmut Schmidt fest, der in seinen letzten Jahren ein fast skurriles Comeback feierte. Doch auf diesem Hintergrund lassen sich keine Hoffnungen — verstanden als »Sinn für die Möglichkeit des Guten« — formulieren.1 Die Gegebenheiten, der angebliche Realismus, das Klein-Klein, oder — nochmal Merkel — das »Fahren auf Sicht«, wahlweise auch die »Politik der kleinen Schritte« (und Leute) sind dann die Standards, an denen alles Weitere ausgerichtet wurde und noch wird.

Erst in letzter Zeit ist ein vermehrtes Interesse an der Frage der Zukunft — und der Zukunft als Frage — zu verzeichnen. Und dafür gibt es offensichtlich einschlägige Gründe. Die Themen sind so unbeliebt wie bekannt: der Abstieg der Mittelschicht und ihre Polarisierung nach oben und meist unten; die damit verbundene Dekadenz gerade als Resultat des ungeahnten Aufstiegs, der nun bedroht und längst erlahmt ist; die Heraufkunft eines neuen Prekariats, das sich nicht selten den neoliberalen Experimenten der 1990er Jahre verdankte: von der Deregulierung bis zur Privatisierung ganzer Branchen, die schon immer dem Marktversagen unterlagen; zudem die nicht mehr heimliche, sondern ganz unheimliche Klimakrise, die als bloßer »Wandel« des Klimas nur verharmlost würde; der Aufstieg von neuen Mächten, die den alten Zusammenhang von Demokratie und Wachstum einfach dadurch dementieren, dass sie undemokratisch, ja gerade diktatorisch wachsen; und im Ergebnis die Heerscharen von Unzufriedenen, die den meist rechten Populisten aufsitzen, von denen sie wissen müssten, dass genau sie es sein werden, die den Besitzstand, um den sie selbst so sehr fürchten, in noch größere Gefahr bringen.2 Sicher, die postdemokratische Simulation der Volksherrschaft ist ein Problem, aber ein womöglich größeres ist die Simulation, ein umsichtiger Wähler zu sein.

Ließe sich angesichts dieser nicht ganz unpolemischen Skizze noch hoffen und das Hoffen überhaupt rechtfertigen? Zukunftsfragen verpflichten offenbar nicht sogleich auf die Hoffnung als diejenige Haltung, die in Bezug auf die zunehmend bedrohliche Zukunft einzunehmen wäre. Im Gegenteil, die Hoffnung mag ihrerseits ganz fragwürdig geworden sein, zumal die Einwände gegen sie nicht einfach von der Hand zu weisen sind: Die Hoffnung könnte kontraproduktiv wirken, indem sie die Aktivität abgibt und auf externe Kräfte hoffen lässt. Das mag verantwortungslos sein, wenn es bessere Alternativen gibt, die mit Umsicht und Engagement an die Probleme herangehen lassen. Dementsprechend müsste man den stets drohenden Realitätsverlust aufgeben, indem man der Hoffnung entsagt, um endlich klar sehen zu können. Da haben wir ihn wieder: den vermeintlichen Realismus.

Doch die Hoffnung — ich komme jetzt langsam zu meinem Thema — muss nicht das Problem sein, sondern könnte zum Teil der Lösung werden. Eine Kritik der Hoffnung lässt sich in beide Richtungen lesen: einmal als Gegenstand der Kritik, mit der die Hoffnung beurteilt wird; ein anderes Mal als Ausgangspunkt der Kritik unserer Zeit, die sich der Hoffnung auf ein mögliches Gut verdankt. Könnte es nicht sein, dass das Problem der Verlust einer Hoffnung ist, die die Imagination einer guten und wünschenswerten, zugleich nicht unwirklichen, sondern unbedingt möglichen Zukunft enthält? Benötigten wir nicht gerade ein derartig leitendes Bild, eine konkrete Vorstellung davon, wo wir überhaupt hinwollen, um sagen zu können, wie es heute um uns steht? Nehmen wir uns selbst nicht erst eigentlich und wirklich ernst, wenn wir Hoffnungen ausbilden und versuchen, nach ihnen und mit ihnen gemeinsam zu leben?

Alle drei Fragen würde ich mit JA! beantworten. Den Konjunktiv benutze ich, weil im Folgenden kein philosophisches Plädoyer der guten Stimmung abgegeben werden wird, zumal Hoffnung etwas völlig anderes ist als ein schaler Optimismus. Das Vorgehen fällt weit vorsichtiger, ja tentativer aus; denn an die Stelle des stark normativen Problems, ob wir noch hoffen dürfen oder gar sollen, tritt die Frage, was wir bereits tun, wenn wir hoffen. Dahinter steckt die kostspielige Vermutung, dass wir schon immer irgendwie hoffen und ein Leben, in dem Hoffnungen keinen Platz haben, kaputt gemacht werden, erodiert sind, auch ein gelingendes Leben im Ganzen fragwürdig werden lassen.

Bevor es nun endlich richtig losgeht, sei ein knapper Überblick zum Gang der fünfteiligen Argumentation vorgeschaltet. Ich werde dafür eintreten, zwei unterschiedliche Konzeptionen der Hoffnung zu unterscheiden — eine delikate Differenz, die die Beweislasten also damit beträchtlich erhöht. Im ersten Abschnitt werde ich etwas zum ersten Begriff sagen, im zweiten Abschnitt, kaum überraschend, aber mit einigen Überraschungen, zum anderen Begriff. Nach der Analyse kommt die Synthese, sodass das Zusammenspiel beider Begriffe zu bedenken ist. Es folgen Überlegungen zum Verhältnis von Hoffnung und Wirklichkeit, was Auswirkungen auf die Wahrheit der Hoffnung mit sich führt. Daraus ergeben sich Motive für eine Hoffnung, die gerade nicht passiv werden lässt, sondern zu einem Engagement zugunsten des Erhofften führt. Das gibt endlich die Gelegenheit, den gewollt doppeldeutigen Titel — »Außer sich sein« — zu umspielen. Los geht’s!

1.  Auf etwas hoffen

Es gibt in der Philosophie Problemstellungen, die eigentlich keine sind, weil das Problem längst gelöst zu sein scheint. Und plötzlich taucht jemand auf und bricht mit einem kleinen Text den eigentlich schon erzielten Konsens auf. Das bekannteste Beispiel dafür ist die seit Platon bestehende Definition des Wissens (als gerechtfertigter wahrer Meinung), die nach 2500 Jahren Geltung durch einen dreiseitigen Text einer Revision unterzogen worden war. Ganz so spektakulär ging es im Diskurs über die Hoffnung zwar nicht zu. Aber der Form nach liefen die Dinge doch recht ähnlich ab.

Die langlebige Übereinkunft, wie sie bereits bei Thomas von Aquin oder auch den Hauptvertretern der frühneuzeitlichen Philosophie zu finden ist, besagt, dass das Hoffen aus zwei wesentlichen Bestandteilen zusammengesetzt sei.3 Demnach gelte, dass das Hoffen auf X (oder dass X der Fall sei) einen entsprechenden Wunsch nach X enthalte, sowie die Annahme, dass dieses X möglich sei. Dabei lässt sich für X ganz Unterschiedliches einsetzen: von Trivialitäten wie dem Wetter bis hin zu existentiellen Inhalten wie der Partner- und Berufswahl. Worauf es hingegen ankommt, ist einerseits, dass jedes Hoffen einen Wunsch impliziere; ohne dieses Begehren folglich kein Hoffen. Damit ist also nicht behauptet, dass Hoffen und Wünschen identisch seien, zumal sich Wünsche auch auf Unmögliches beziehen können. So kann ich mir wünschen, doch Architekt geworden zu sein oder Profi-Fußballer; doch für beides ist es in meinem Fall zu spät. Dennoch spricht nichts dagegen — außer vielleicht eine gewisse Melancholie —, diesen Wunsch zu hegen. Dies wird das konative Element der Hoffnung genannt.

Hinzu tritt nun die zweite Eigenschaft. Sie betrifft modale Annahmen, die der hoffende Mensch im Blick auf das Erhoffte X unterhält. Das ist deshalb etwas umständlich formuliert, weil es nicht unbedingt darum geht, dass dieses X diese Eigenschaft tatsächlich hat, sondern darum, dass die hoffende Person annimmt, dass es so sei. Worum geht’s genau? Es geht um den sehr einfachen Umstand, dass X für möglich gehalten wird. Damit ist negativ gesagt, dass etwas, das unmöglich ist, kein Gegenstand der Hoffnung sein kann. So kann ich mir wünschen, nicht aber hoffen, genau jetzt ganz woanders zu sein. Zudem ist damit ebenso ausgesagt, dass das Erhoffte nicht feststehen darf, sondern wesentlich unsicher bleibt. Ich kann also nicht darauf hoffen, jetzt beim Philosophicum Lech zu sein oder dass Dreiecke keine vier Ecken haben oder dass Berlin wieder die Hauptstadt des nördlichen Nachbarlands Österreichs wird; denn all das ist längst der Fall (obgleich es Unterschiede zwischen diesen drei Beispielen gibt). Also: weder unmöglich noch notwendig oder schon feststehend. Damit bleibt als Spektrum der Hoffnung das, was man Kontingenz nennt: Das Erhoffte ist notwendig kontingent; und diese Annahme kann man die kognitive nennen.

Gegen diese Begriffsbestimmung gibt es mindestens zwei Einwände. Der eine besagt, dass damit nur ein Begriff der Hoffnung analysiert ist; beließe man es dabei, überginge man ein zweites Konzept, das vom ersten ganz unabhängig funktioniert. Zu diesem Einwand und jenem zweiten Begriff kommen wir im folgenden Abschnitt. Zuvor geht es um den anderen Einwand, der besagt, dass die bisher gelieferte Bestimmung unvollständig ist. Der Wunsch, dass X der Fall sei, und die Annahme, dass X möglich sei, genügten demnach nicht, die Hoffnung hinreichend klar einzugrenzen.

Das können wir uns an einem Beispiel klarmachen, das in der Debatte um die Hoffnung und ihren Begriff einen schon fast legendären Status genießt. Vielleicht kennen einige von Ihnen den Film Shawshank Redemption, der im deutschsprachigen Raum unter dem Titel Die Verurteilten 1994 in die Kinos kam. Zunächst floppte der mit Tim Robbins und Morgan Freeman realisierte Film, um dann doch nach und nach zu einem gefeierten Klassiker zu avancieren. Wer den Film noch nicht gesehen hat, möge das schnell ändern, sodass ich jetzt zu vermeiden versuche, zu viel zu verraten. Für unser Thema ist die Geschichte deshalb interessant (und in der analytischen Philosophie der Hoffnung das Beispiel), weil es um zwei Gefängnisinsassen — den weißen Ex-Banker Andy und den schwarzen Ex-Ganoven Red — geht, die beide den Wunsch haben, aus dem Gefängnis zu fliehen, es auch für möglich halten — und doch hofft Andy, während Red zunächst der Resignation nahe ist.

Die Standardauffassung, nach der der Wunsch nach X (also hier: dem Ausbruch aus dem Gefängnis) sowie die Annahme, X sei möglich (also: der Ausbruch sei nicht gänzlich unmöglich und weise damit eine gewisse Wahrscheinlichkeit auf), vorliegen müssten, reicht also nicht aus. Denn was unterscheidet den hoffenden Andy und den resignierenden Red? Um diese Frage zu beantworten, ist eine überaus verzweigte Debatte um das dritte Element neben dem konativen und dem kognitiven Bestandteil entbrannt. Mit den Details möchte ich hier niemanden langweilen, sondern nur andeuten, dass alle bislang unterbreiteten Vorschläge darauf hinauslaufen, dass der Hoffende sich auf eine bestimmte Weise — imaginativ, emotional, praktisch — auf das Erhoffte einstellen müsse. Andy also sei auf den Ausbruch aus dem Gefängnis positiv fokussiert, während Red dieser Fokus abgehe. Man kann also bilanzieren, dass das Hoffen auf X aus drei Elementen besteht: einem Wunsch, einer Möglichkeitsannahme und einem Fokus — oder: aus einem konativen, kognitiven und attentativen Element.4

Der gegenwärtige, lebhaft geführte Diskurs zum Begriff der Hoffnung wird von der begrifflichen Analyse der Hoffnung bestimmt, wie er typisch für die analytische Philosophie ist. Das hat seine Vorzüge, aber auch seine blinden Flecken. So kommt es gar nicht mehr wirklich zur Geltung, wie es eigentlich um die konkreten Lebensumstände der beiden Protagonisten bestellt ist. Ich hatte ganz bewusst betont, dass der eine weiß, der andere schwarz ist; zahlreiche Details kommen hinzu. Shawshank Redemption spielt in den 1950er Jahren und kann als fundamentale Kritik der damaligen (und heutigen?) Gefängnispraxis gesehen werden, die nun ihrerseits einen rassistischen Vektor mit sich führt. Überdies ist in beiden Fällen zunächst nicht klar, wie es eigentlich um ihre Schuld steht, ob sie beide also zu Recht oder zu Unrecht in ihrer Zelle sitzen.

Doch auch in Bezug auf die Hoffnung selbst besteht keine Einigkeit zwischen Andy and Red. In einer Szene, in der Kantine sitzend, sagt Andy, umgeben von all den anderen Mithäftlingen, an seinen Freund gerichtet, dass man die Musik und ihre Wirkung und Macht den Menschen nicht nehmen könne. Sie vermittle Freude und Sinn. Red aber entgegnet, Musik sei im Gefängnis ganz sinnlos geworden, worauf Andy antwortet, dass sie gerade hier die größte Bedeutung gewinne, weil sie daran erinnere, »that there’s something inside, they can’t get to; they can’t touch; it’s yours.« Red schaut ihn an: »What you’re talking about?«:

Andy: »Hope!«

Red: »Hope? — Let me tell you something, my friend. Hope is a dangerous thing. Hope can drive a man insane. […] You’d better get used to that idea.«

Warum nach der sehr präzisen, eher technisch gehaltenen Begriffsanalyse nun diese ganzen narrativen Details? Warum die biographischen Einsprengsel, die ablenken vom größeren Bild und den allgemeineren Ansprüchen der Erklärung? Vielleicht sind es gerade diese Einzelheiten, die uns überhaupt verstehen lassen, was es mit Andys Hoffnung und Reds Zögern, ja seiner ambivalent bleibenden Kritik der Hoffnung auf sich hat. Es gab nicht nur einen Konsens in der Definition der Hoffnung, sondern auch im Blick auf die Methode, wie dieser Konsens zu erzielen sei. Das eine hat sich als falsch erwiesen, während man im Methodischen kaum etwas änderte. Meine Skizze ist als Einladung zu verstehen, es dabei nicht zu belassen — und also über alternative, auch sensiblere Wege nachzudenken, die zu klären helfen, wie die Hoffnung und die Praxis des Hoffens »im Leben liegen«.

2.  Hoffnungsvoll leben

Bislang haben wir nur den einen Begriff der Hoffnung betrachtet. Dieser ist in dem Sinn ganz traditionell, als mit ihm versucht wird, unser Alltagsverständnis der Hoffnung begrifflich zu ordnen und einzufangen. Wer hofft, dass X der Fall sei, wünscht sich, dass X, hält X für möglich und fokussiert sich in bestimmter Weise auf X