Sommerküsse auf der Insel - Christine Lehmann - E-Book
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Sommerküsse auf der Insel E-Book

Christine Lehmann

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Beschreibung

Das Wispern des Sommerwinds in den Dünen … Der romantische Urlaubssammelband »Sommerküsse auf der Insel« jetzt als eBook bei dotbooks. Drei Frauen – drei schicksalshafte Sommer zwischen dem rauen Charme der Nordsee und den endlosen Traumstränden der Ostsee … Die junge Rachel führt ein Geheimauftrag nach Baltrum: Hier soll sie Götz, dem Erben einer Nordseebad-Dynastie, auf Wunsch seiner Ex eins auswischen. Aber schon bald kommen Rachel Zweifel, ob Götz wirklich der herzlose Bad Boy ist, für den sie ihn gehalten hat … Großstadtpflanze Nele muss hingegen auf ihre Heimatinsel zurückkehren, um ein lang gehütetes Familiengeheimnis zu lösen: eine alte Flaschenpost, die alles, woran sie geglaubt hat, für immer verändern könnte … Das Schicksal führt auch die Buchhändlerin Carolin ans Meer: Auf der ostfriesischen Insel Langeoog hofft sie, gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter zurück ins Leben zu finden. Doch dann trifft sie dort ausgerechnet den Mann wieder, den sie nie vergessen konnte – und doch nie lieben durfte … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der bewegende Romantik-Sammelband »Sommerküsse auf der Insel« vereint die drei Urlaubsroman-Highlights: »Der Zauber einer Inselnacht« von Christine Lehmann, »Das Haus auf der Insel« von Anke Cibach und »Sommerträume auf der Insel« von Rosita Hoppe. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1171

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Über dieses Buch:

Drei Frauen – drei schicksalshafte Sommer zwischen dem rauen Charme der Nordsee und den endlosen Traumstränden der Ostsee … Die junge Rachel führt ein Geheimauftrag nach Baltrum: Hier soll sie Götz, dem Erben einer Nordseebad-Dynastie, auf Wunsch seiner Ex eins auswischen. Aber schon bald kommen Rachel Zweifel, ob Götz wirklich der herzlose Bad Boy ist, für den sie ihn gehalten hat … Großstadtpflanze Nele muss hingegen auf ihre Heimatinsel zurückkehren, um ein lang gehütetes Familiengeheimnis zu lösen: eine alte Flaschenpost, die alles, woran sie geglaubt hat, für immer verändern könnte … Das Schicksal führt auch die Buchhändlerin Carolin ans Meer: Auf der ostfriesischen Insel Langeoog hofft sie, gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter zurück ins Leben zu finden. Doch dann trifft sie dort ausgerechnet den Mann wieder, den sie nie vergessen konnte – und doch nie lieben durfte …

Eine Übersicht über die Autorinnen finden Sie am Ende dieses eBooks.

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Sammelband-Originalausgabe Oktober 2021

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Pawel Kazmierczak / Olha Rohulya / Wilm Ihlenfeld / Anna Kraynova / Jacob_09 / OoddySmile Studio

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-878-5

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Sommerküsse auf der Insel

Drei Romane in einem eBook

dotbooks.

Christine LehmannDer Zauber einer Inselnacht

Liebe und andere Fehlgriffe … Rachel ist clever und schön – und hat diebisches Vergnügen daran, untreuen Männer im Auftrag ihrer Kundinnen ein Schnippchen zu schlagen. Ihr neuer Auftrag bietet dabei ein ganz besonderes Abenteuer: Sie muss auf die traumhaft schöne Insel Baltrum reisen, um herauszufinden, wie sie Götz, den Erben einer Nordseebad-Dynastie, auf Wunsch seiner Ex am besten für seine Untreue büßen lassen kann. Kaum auf der Insel angekommen, muss Rachel jedoch feststellen, dass Götz eine ganz besondere Herausforderung darstellt – und eine verflixt attraktive noch dazu!

in memoriam Ulla Klünder

TEIL INie ohne Ehevertrag

Kapitel 1

Offenbar hatte der Fahrer eines silberfarbenen Mercedes Cabrio mit sahnefarbenen Ledersitzen die Halteverbotsschilder an der Baustelle Ecke Kellinghusens Park als Einladung verstanden, seinen Wagen an einem Sandhaufen abzustellen. Es tat sich ja nichts an der Baustelle. Die Sonne schien, mit Regen war in absehbarer Zeit nicht zu rechnen, und so war das Verdeck offen.

Wer an diesem Vormittag von den Fenstern des Wohnblocks den Blick über den U-Bahn-Hochsteig und den Park gleiten ließ, hätte beobachten können, wie ein Betontransporter an die roten Hütchen heranfuhr, die den Sandhaufen absperrten. Die Betontrommel drehte sich mit bonbonroten Spiralstreifen, weckte das Auge und ließ Kindheitserinnerungen kreisen. Erdbeerbonbons und Baustellenzäune mit Gucklöchern oder Lattenritzen.

Eine alte graue Dame mit grauem Zwergschnauzer an der Leine blieb am Eingang zum Park stehen. Nicht lange, gerade lange genug, um beobachten zu können, wie eine Fahrerin im Blaumann aus dem Transporter stieg. Die Dame hatte vermutlich schon viele Baustellen gesehen und wandte sich in den Park. Ein Radfahrer, der dem Zwergschnauzer nur mit einem raschen Schlenker ausweichen konnte und über den Lenker geduckt in die Loehrsstraße bog, sah vielleicht aus dem Augenwinkel den Fahrer, den er nicht als Frau erkannte, am Heck des Betonmischers die Röhre aufklappen und justieren. Er war aber schon weg, als die Betonmasse wie warmer grauer Haferbrei über die sahnefarbenen Ledersitze des Cabrios quoll.

Der Pedalraum füllte sich, die Masse erreichte Sitzhöhe, kroch über die Schaltkonsole, dann hinüber zum Beifahrerteil, eroberte die Winkel hinter den Sitzen, stieg auf Fensterhöhe. Die Achsen krachten erst, als der Beton überzulaufen drohte.

Als der Laster abfuhr, blieben die ersten Passanten stehen, darunter eine Mutter mit Kinderwagen, ein Herr im Anzug und zwei Jugendliche, die in der Schule hätten sein sollen. Einige lachten. Leider konnte die Polizei bei der Zeugenbefragung nicht mehr herausbekommen, als dass der Betonmischer rote Spiralstreifen gehabt hatte. Kein Firmenname, kein Autokennzeichen, keine Personenbeschreibung des Fahrers. Nur so viel stand fest: Der Halter des Cabrios war ein in Scheidung lebender Finanzmanager Mitte vierzig.

Friederike musterte die junge Frau ihr schräg gegenüber am Tisch des Cafés und hob das Sektglas. Sie saßen unter den Alsterarkaden im milchig gelben Licht eines Hamburger Sommertages. Sekt war immer ein gutes Mittel, Verkrampfungen zu lösen. Meistens musste Friederike zunächst einmal als Psychologin tätig werden.

»Rache ist ein ganz natürliches Bedürfnis. Daran ist nichts Verwerfliches. Er hat Sie tief verletzt, Sie gedemütigt. Nun möchten Sie ihm eins auswischen.«

Die Sektgläser klangen.

»Was haben Sie sich denn so vorgestellt? Ah, noch nichts Konkretes. Nun, in unserem Katalog wird sicher auch etwas für Sie dabei sein. Aber wir überreden niemanden zu etwas. Also entspannen Sie sich.«

Wie alt mochte die junge Frau sein? Anfang, Mitte zwanzig. Kleidergröße 36, über einssiebzig groß, blond, nicht nur modisch, sondern auch teuer gekleidet, professionell geschminkt. Modebranche vielleicht, ein Model. Sie wirkte ernst, nicht einmal unintelligent. Hatte vermutlich nur den karrierefördernden Beischlaf mit Liebe verwechselt und fühlte sich nun weggeworfen.

»Lieben Sie ihn noch?«

»Nein. Ich hasse ihn!«

Friederike besaß nach drei Scheidungen mit Ende fünfzig ein gutes Gespür für die üblichen Lügen. Aber diese junge Frau log nicht, wenn sie das Wort Liebe gegen das Wort Hass eintauschte. Liebe und Hass waren im Grunde ein und dasselbe, die völlige Orientierung des Seinszustands auf einen anderen Menschen, totale Abhängigkeit von seinen Reaktionen und Unersättlichkeit.

»Nun erzählen Sie erst einmal ein bisschen. Wann hat er sich denn von Ihnen getrennt?«

»Vor einem halben Jahr. Aber jetzt habe ich erfahren, dass er sofort danach wieder eine hatte. Und von ihr hat er sich auch wieder getrennt.«

»Das ist gut«, bemerkte Friederike. »Dann wird er nie so genau wissen, wer von Ihnen ihm schaden will. Darf ich fragen, wie Sie auf unser Unternehmen gekommen sind?«

»Eine Freundin … Sie hat mir erzählt, dass Sie eine spezielle … äh Trennungsberatung machen, und mich auf Ihre Homepage hingewiesen. Sie hat Sie seinerzeit allerdings nicht in Anspruch genommen.«

»Sie brauchen keine Namen zu nennen, selbstverständlich nicht.« Friederike lächelte gewinnend. Ihre kastanienrote Lockenmähne machte sie deutlich jünger. »Und wie können wir nun den fraglichen Herrn am besten ärgern?«

»Wenn ich das wüsste, hätte ich wahrscheinlich schon selbst …«

»Gut, dass Sie das nicht getan haben. Private Racheakte sind meist wenig durchdacht und viel zu spontan. Lassen Sie uns gemeinsam nachdenken. Hat er ein Haus, eine Firma, einen teuren Wagen, eine wertvolle Sammlung? Züchtet er Rosen oder Orchideen?«

»Nein, Rosen züchtet er nicht. Aber er hat Häuser und Autos.«

»Dann könnte ich Ihnen unser Basispaket vorschlagen. Sekundenkleber in den Auto- und Haustürschlössern. Das verursacht viel Ärger und ist nicht teuer. Auch für den Geschädigten nicht. Das ist wichtig, solange die Aussicht besteht, dass Sie sich versöhnen.«

Die Frau schüttelte heftig den Kopf. »Niemals! Er hat mich eiskalt abgehakt. Er ist unfähig zu menschlichen Gefühlen.«

»Nun, dann sollten wir vielleicht daran denken, ihm einen erheblichen materiellen Schaden zuzufügen. An was hängt sein Herz denn besonders? Besitzt er einen Oldtimer, einen seltenen Sportwagen? Oder, wenn er ein Haus in einem französischen Naturschutzgebiet hätte, das dürfte er nach einem Brand nicht wieder aufbauen.«

Die junge Frau schüttelte erneut den Kopf. Dabei starrte sie blicklos in die Sektperlen. »Ich glaube, er hängt an nichts.«

»Hm. Was hat er denn für Hobbys?«

»Keine. Außer Sport vielleicht. Er joggt unentwegt, spielt Tennis und Hockey, segelt …«

Friederikes Hoffnung stieg wieder. »Ein Segelboot!«

»Mehrere, darunter eine Yacht auf Mallorca. Aber das hat keinen Sinn, fürchte ich. Nein, ich denke, sein Body ist ihm das Wichtigste. Ja.«

Friederike runzelte die Stirn. »Das ist heikel. Da sind wir schnell beim Straftatbestand der Körperverletzung. Was für Laster hat er denn?«

Die junge Frau blickte sie fast entgeistert an. »Laster?« »Ich meine, spielt er, wettet er auf Pferde, zockt er an der Börse?«

»Nicht, dass ich wüsste. Aber …«

»Ja?«

»Er sammelt Frauen. Ja, das ist es. Er sammelt Frauen.«

»Ah so. Hm.« Auf Friederikes Stirn erschienen fünf Querfalten. »Das klingt gar nicht gut. Ich fürchte, da werden wir mit unserem Standardpaket nicht hinkommen. Wir müssen ihn wohl erst einmal abchecken. Wie viel wollten Sie denn so anlegen?«

»Nun, er hat mich großzügig abgefunden. Wenigstens das. Obgleich das ja auch eher … aber lassen wir das. Eine fünfstellige Summe könnte ich auf jeden Fall ausgeben. Doch ja, das wäre es mir wert.«

Friederikes Gesicht hellte sich wieder etwas auf. »Gut. Dann sage ich Ihnen jetzt, wie es weitergeht. Wir werden zunächst ein bisschen recherchieren. Danach wird Ihnen ein schriftlicher Vorschlag zugehen, ohne Absender und Briefkopf natürlich. Diesen unterschreiben Sie mit Ihrem vollen Namen und Adresse. Ein Bote wird ihn drei Tage später bei Ihnen zu Hause abholen. Sollten Sie Ihre Meinung danach noch ändern, haben Sie ein vierzehntägiges Widerrufsrecht. Der Bote wird Ihnen die Adresse nennen, an die Sie den Widerruf schicken können. Unnötig zu sagen, dass Ihnen diese Adresse natürlich für weitere Kontakte nicht mehr zur Verfügung steht. Sie sehen doch sicher ein, dass wir ein paar Vorsichtsmaßnahmen für den Fall treffen müssen, dass Sie sich – aus welchen Gründen auch immer – Dritten oder der Polizei anvertrauen möchten. Das Honorar wird je nachdem, ob Sie ein einstufiges oder mehrstufiges Paket wählen, auf einmal oder in Raten fällig, sobald wir unseren Auftrag ausgeführt haben. Ist alles bezahlt, werden sämtliche Unterlagen vernichtet, die wir zu Ihrem Fall haben. Das ist natürlich Vertrauenssache. Aber ohne dies geht es nicht. Auch wir vertrauen darauf, dass Sie für unsere Arbeit bezahlen. Nach meiner Erfahrung bezahlen übrigens die meisten. Ich schätze, sie machen sich klar, dass unsere Organisation ausreichend Mittel und Erfahrung besitzt, auch ihnen einen erheblichen Schaden zuzufügen.«

Die junge Frau lächelte gequält. »Ich verstehe.«

»Gut. Dann bleiben uns noch ein paar Formalitäten.« Friederike schlug zwischen Sektgläsern, Aschenbecher und Servietten einen kleinen Schreibblock auf. »Zunächst einmal: Wer ist denn der Glückliche?«

Sie stutzte, als sie den Namen hörte.

Götz Auer betrat mit der Sporttasche über der Schulter den Kunstrasenplatz des HC Aurich und überflog das Grüppchen, das an der Tribüne beisammenstand. Ein neues Gesicht. Typ Bibliothekarin, Brille, Kurzhaarschnitt, der nach Friseur schrie, etliche Kilos zu viel, Weiblichkeit vor der Mauser aus pubertärer Trägheit und Verklemmtheit. Ihr Händedruck war zu fest.

»Götz«, sagte er. »Hallo.«

»Rachel, hi!«, erwiderte sie mit zu viel Lächeln. »Ich bin neu.«

Er schüttelte reihum die Hände, wie es üblich war. »Hallo, Arne, Moin, Moin, Franz. Wolfram, wie geht's?«

»Hast du das Spiel gesehen?«, ereiferte sich Wolfram. Er meinte das Spiel in Kuala Lumpur, bei dem die deutschen Feldhockey-Herren gegen Australien erstmals mit 2:1 Weltmeister geworden waren. Götz hatte es nicht gesehen. Keine Zeit. Es war schon viel, wenn er es beinahe jeden Donnerstag schaffte, auf dem Kunstrasenplatz des HC Aurich zum Seniorenhockey anzutreten. Er war der größte Sponsor des Clubs. Man hatte versucht ihm seinen Jahresbeitrag als aktives Mitglied zu erlassen, aber die Summe war so lächerlich gering, dass ihm die politische Klugheit leicht fiel, keine Sonderrechte für sich in Anspruch zu nehmen. Hier war er einer unter vielen. Hier zählten weder Geld noch Macht, sondern nur der gezielte Pass auf Wolfram, der zum Torschuss führte.

Götz stellte die Sporttasche auf einer Tribünenstufe ab und zog den Schläger aus dem Futteral. Mit der rechten Hand fuhr er über den mit einem Plastikband umwickelten Griff und das mit Fiberglas beschichtete lackierte Holz bis zum Schlaghaken vor. Es war eine Bewegung, über die er nie nachdachte. Aber heute stockte seine Hand, verhakte sich Holz in seiner Haut. Der Schläger war knapp unter dem Griff gebrochen, dort, wo das Runde ins Flache überging.

»Ei, ei!«, bemerkte Franz. »Hat sich da ein Elefant draufgesetzt, oder was?«

Götz drehte das angesplitterte Gerät in den Händen. Vermutlich hätte nicht einmal er trotz seiner beachtlichen Körperkraft es geschafft, einen Hockeyschläger in der Mitte durchzuknacksen. Da musste wohl in der Tat ein Elefant her oder zumindest ein Auto darüber fahren.

»Kann mir jemand einen Schläger leihen?«

Trainer Achim gab ihm einen aus der Sammlung zerkratzter Schläger des Clubs, der deutlich leichter in der Hand lag als Götz' eigener. Dann trieb Achim seinen gemischten Trupp zum Warmlaufen auf den Platz. Die Mädels setzten sich wie üblich langsam in Bewegung. Götz gesellte sich zu Franz und Arne, die sich Zoten erzählten. Arne war ein wieselflinker Läufer, der im Zickzack die gegnerische Verteidigung auszocken konnte. Fast immer gelang es Götz, in seine Mannschaft zu kommen, wenn abgezählt wurde. Es waren an diesem lauen Juniabend genügend gute Leute auf dem Platz, um mit jeweils fünf oder sechs in jeder Elfermannschaft ein gutes Spiel auf die Beine zu stellen. Die Mädels gehörten nicht zu den Mitspielerinnen, in die Götz seine Hoffnungen setzte. Sie waren ihm zu lauffaul und unkämpferisch. Irgendwie hatte sich in seinem Kopf die Überzeugung festgesetzt, dass seine Pässe zu scharf waren, um von Heike oder Renate gestoppt zu werden. Er dachte gar nicht darüber nach, aber hätte irgendwer sich die Mühe gemacht, eine Statistik zu führen, so wäre er in Götz' Fall auf kaum ein Dutzend Mal gekommen, die er im Lauf eines Jahres Christa, Renate, Heike oder die beiden Ulrikes angespielt hatte, auch wenn Trainer Achim schrie: »Abspielen. Die Uli steht frei.«

Uli war die Hübsche der beiden Ulrikes, langbeinig wie ein Fohlen, langes naturrotes Haar, zu einem Zopf geflochten, der ihr bis zum Po reichte. Überhaupt die Einzige unter den meist verheirateten Mädels des Seniorenhockeys, die sich mit einiger Aussicht auf Erfolg später bei Bier, Radler und Spezi auf der Terrasse von Achmeds Vereinskneipe einem kleinen Flirt mit Götz widmen konnte. Die meisten Frauen, vor allem, wenn sie hübsch oder gar schön waren, interessierten sich für Götz. Er war mittelgroß, athletisch gebaut, gut trainiert und unnahbar, verteilte sein Lächeln sparsam und redete wenig. Da er der Sohn des Bäderkönigs Auer war, durfte man davon ausgehen, dass sein Auskommen mehr als gesichert war. Und es war allgemein bekannt, dass er unverheiratet war, wenn man ihn auch in Aurich zuweilen im offenen Wagen mit einer Blondine sichtete. Selbst die chancenlosen Frauen konnten meist die Augen nicht von ihm lassen, vielleicht mehr als andere auf der Suche nach einem warmen Zug in seinem Gesicht mit dem kräftigen Kinn, dem kalten Blick aus blauen Augen, dem sehr kurzen, fast schwarzen Haar und dem wortkargen Mund. Ein Mann, der sich nie die Mühe machen musste, auf andere zuzugehen.

Trainer Achim erklärte der Neuen, wie sie den Schläger halten musste. Linke Hand fest am oberen Ende, die rechte in der Mitte. Der harte Plastikball durfte nur mit einer Seite des Hakens am unteren Ende geschlagen werden. Feldhockey war ein eher versnobtes Spiel voll seltsamer Regeln und erschwerender Bedingungen.

Deshalb hatte es Götz auch gereizt, es zu lernen. Ihn reizte beinahe jede Sportart, bei der es um den ganzen Körpereinsatz unter erschwerten Bedingungen ging. Vor allem, wenn es Regeln zu nutzen galt, unter denen andere litten, fühlte er sich gefordert. Was ihm das Golfen an punktgenauer Konzentration und Körperbeherrschung abverlangte, tobte er seit einem Jahr bevorzugt beim Hockey aus, einem Mannschaftsspiel, das technisch anspruchsvoll war und seinem Kopf vielfältigere strategische Finessen bot als beispielsweise Tennis.

Der Reihe nach führten sie nun auf Anweisung von Trainer Achim den Ball im Slalom durch eine Reihe von Hütchen, liefen auf den Schusskreis zu und zogen aufs Tor ab. Torhüter Hinrich war schon an die siebzig, aber verteufelt reaktionsschnell. Das Gesicht hinter einem vergitterten Visier, wehrte er mit Styroporplatten an Leib, Armen, Beinen, Füßen und Händen und dem kurzen Schläger der Torhüter beinahe jeden Ball ab.

Götz pflegte wie ein Golfer aufs Tor zu hauen, mit voller Wucht aus perfekter Körperdrehung heraus, auch wenn Trainer Achim ihn jedes Mal zurechtwies, den Schläger nicht über Schulterhöhe zu ziehen, denn das gefährdete Gesichter und Gebiss der Mitspieler. Aber nur so bekamen Götz' Bälle die geschossähnliche Durchschlagskraft, vor der sogar Torwart Hinrich kapitulierte. Götz war ein Siegertyp ohne Rücksicht auf Verluste. Er spielte, um zu gewinnen. Allein schon deshalb gingen ihm die Frauen auf dem Platz eher aus dem Weg, wenn er kam.

Am Rande bemerkte Götz, dass die Neue, Rachel, sich ziemlich dämlich anstellte.

Nachdem die beiden Mannschaften ausgezählt waren und Trainer Achim Götz auf den Platz des linken Stürmers stellte, hatte er ausgerechnet sie als Verteidigerin vor sich. Also keinen Gegner zwischen sich und dem Tor.

Achim schob an der Mittellinie an. Das Spiel begann. Das Wiesel Arne eroberte den Ball und zockte sich durch die Verteidigungslinien. Aber beim Pass verlor er den Ball an Achim, der diagonal an Götz abspielte. Götz stoppte den Ball. Aus dem Augenwinkel sah er die Neue heranwuseln und den Schläger sausen. Vermutlich hatte sie auf den Ball gezielt, aber sie traf mit voller Wucht sein Schienbein. Holz auf Plastik. Götz trug Schienbeinschützer unter den Stulpen. Aber er stolperte über ihren Schläger.

»Tschuldigung«, sagte sie und lächelte verlegen.

»Weiter!«, rief Achim.

Uli schoss das erste Tor für Götz' Mannschaft. Das Wiesel Arne rannte im Zickzack durch die Verteidigung und schoss das Gegentor. Allmählich gewann das Spiel an Struktur. So sehr Trainer Achim auch sonst darauf bestand, dass seine Schützlinge den Ball wieder abspielten, so sehr liebte er es, gelegentlich sein Können als ehemaliger Bundesligaspieler in Alleingängen und Durchmärschen unter Beweis zu stellen. Bald stand es drei zu eins für die Mannschaft von Götz.

Die anderen hatten Abschlag vom Schusskreis. Die linke Verteidigerin spielte der Neuen zu. Rachel versuchte den unteren Haken des Schlägers so auf dem Kunstrasen aufzusetzen, dass der heranrollende Ball dagegen prallte. Aber er rollte knapp vor dem Schläger vorbei. Sie setzte nach und fing den Ball ein. Das ganze Spielfeld stand und schaute zu.

»Gut!«, schrie Trainer Achim aufmunternd.

Im Stress des Ballbesitzes wollte sie offensichtlich den Ball so schnell wie möglich wieder loswerden, holte aus und donnerte mit voller Kraft und der ungewollten Zielsicherheit der Anfänger den steinharten Plastikball voll Stoff in Götz hinein. Er prallte ihm auf den großen Zeh im Turnschuh, sprang senkrecht in die Höhe und knallte gegen die Knöchel der Faust, die er fest um den Schlägergriff geschlossen hatte. Götz hörte die Engel singen.

»Nicht auf den Mann spielen!«, ermahnte Achim.

Rachel machte eine unglückliche Geste und musste gleich noch einmal ran, denn nach den unergründlichen Regeln des Hockeys bekam die Mannschaft den Ball zurück, wenn ein Gegner ihn – ob aus Versehen oder absichtlich – mit dem Fuß oder Körper berührt hatte.

Sie rückte die Brille zurecht.

Götz ging beiseite. Erst jetzt fühlte er in seinem großen Zeh und seinen Fingerknöcheln den Schmerz biestig pochen. Er fasste mit schmerzlahmer Hand den Schläger fester. Nun gab es kein Erbarmen mehr. Den Ball, den die Neue ins Mittelfeld schickte, fing er ab und passierte ihn an Achim, der nach vorne rannte. Götz zog mit.

»Rachel, Götz decken!«, brüllte Torwart Hinrich.

Sie nahm den Wettlauf mit ihm auf. Keine Chance. Aus dem Augenwinkel sah Götz sie zurückfallen. Achim zockte das Wiesel Arne aus und passierte den Ball so, dass er gleichzeitig mit Götz am Schusskreis eintreffen würde. Götz streckte den Schläger aus. Ein Schritt noch. Doch da hatte er plötzlich einen Stock zwischen den Beinen – Rachels Schläger. Er knallte der Länge nach hin und schlitterte bäuchlings über den nassen Kunstrasen.

Später unter der Dusche brannte das Wasser in einer Schürfwunde am Ellbogen. Sein großer Zeh würde blau werden und der Nagel vermutlich abfallen. Die Knöchel seiner linken Hand schimmerten auch schon bläulich. Anfänger, vor allem Anfängerinnen, waren überall gefährlich, aber besonders im Sport. Götz biss die Zähne zusammen. Er hatte schon viele Sportverletzungen ignoriert.

»Na? Da hatte wohl eine was gegen dich«, spottete Arne im Umkleideraum und maß wie immer ein bisschen neidvoll Götz' schlanken, muskulösen Körper.

Draußen hatten sich die meisten schon am Tisch auf der Terrasse bei Bier, Radler und Spezi versammelt. Zigaretten qualmten. Götz vermied es, den Blick der Neuen zu erwidern, die neben Trainer Achim saß. Die Sportbrille hatte sie durch ein dunkles, schmales Gestell ersetzt, das mit seinem schwarzbraunen Schimmer den Ton ihrer kurzen, jetzt verschwitzten Locken aufnahm. Götz revidierte nebenbei sein wenig enthusiastisches Urteil »Bibliothekarin« in »Studentin«, was ihn nicht mehr interessierte. Hätte sie ihm heute nicht so viele Stöcke zwischen die Beine geworfen, hätte er sie überhaupt nicht wahrgenommen. Ihr Lächeln lauerte nur darauf, sich bei ihm redselig für die Blessuren zu entschuldigen, die sie ihm beigebracht hatte. Sie würde ihr Ungeschick wie eine Standarte vor sich hertragen, ganz Unsportlichkeit und Frau der Schwächen, Versagerin, Verlierertyp.

»Komm, setz dich her!«, rief Franz.

»Aber nur kurz. Ich muss heute Abend noch nach Hamburg.« Er nahm einen Stuhl an der Ecke und bestellte bei Achmed seinen üblichen Spezi. Sich der Geselligkeit von Sportkollegen arrogant entziehen war sein Ding nicht, auch wenn er meistens zu den Themen nichts beizusteuern hatte. Aktienfonds für Sparbuchanleger, der Ausflug ins Spaßbad nach Emden – »Das gehört euch doch. Sag mal, könnten wir da nicht ein bisschen billiger reinkommen?« – Autokaufpläne und Rabatte, Billigflüge nach möglichst weit weg und so weiter.

Es war dann doch schon dunkel, etwa halb elf, als er die Hecke umrundete und auf den Parkplatz trat. Er schätzte das wohlige Gefühl leichter Müdigkeit in den Gliedern, wenn er anderthalb Stunden auf dem Platz herumgerannt war. Er warf die Sporttasche und das Etui mit dem zerbrochenen Schläger in den Kofferraum seiner dunkelblauen Limousine und setzte sich hinters Steuer. Doch als er den Zündschlüssel umdrehte, leuchteten sämtliche Warnlampen auf. Bremsen kaputt.

Heute ist aber wirklich der Wurm drin!, dachte er und stieg wieder aus. Bevor er die Tür zuschlug, hatte er im Kopf seine Pläne neu organisiert. Er musste nicht jetzt noch nach Hamburg fahren, er konnte auch morgen in aller Frühe fliegen. Er nahm die Tasche mit den feuchten Sportklamotten aus dem Kofferraum, rief Kalle an, um ihm zu sagen, dass er ihn morgen als Pilot für die Cessna brauche, bestellte ein Taxi und begab sich zurück ins Vereinslokal. Lächelnd ließ er den Spott derer über sich ergehen, die noch da saßen, und gab Achmed seinen Autoschlüssel mit der Bemerkung, morgen werde jemand von der Werkstatt kommen und seinen Wagen holen.

Grundsätzlich ließ sich alles organisieren, wenn man Ideen hatte und die Mittel zu bezahlen.

Kapitel 2

Eliane verzog das Gesicht. »Wozu brauche ich überhaupt das Abitur?«

»Also gut«, sagte Bettina Auer, »dann wirst du eben Verkäuferin bei Karstadt.«

»Aber ich erbe doch sowieso mal alles.«

»Und was machst du bis dahin? Deinem Vater auf der Tasche liegen? Außerdem sind wir noch nicht tot.«

»Aber Mama, die ganzen Sommerferien lernen! Und auch noch hier auf der Insel. Das überleb ich nicht.«

»Du wirst es überleben, mein Kind.«

»Und solange«, sagte Götz, der eben unbemerkt von der Terrasse hereingekommen war, »kannst du schon mal üben, wie das ist, wenn man sich kein Auto leisten kann. Denn auf dein Auto wirst du leider verzichten müssen, bis du das Abitur hast.«

Bettina Auer sah blasses Entsetzen auf dem Gesicht ihrer Tochter. Hätte sie letztes Jahr nur so eifrig aufs Abitur gelernt, wie sie auf den Führerschein gebüffelt hatte. Vermutlich waren sie und Friedhelm einfach viel zu nachsichtig gewesen. Aber wenn ein Kind auf dem Festland ins Gymnasium ging und bei anderen Leuten wohnte, war es schwer zu kontrollieren. Bislang hatte es dazu allerdings auch keine Veranlassung gegeben. Aber nun war Eliane nach Ostern völlig überraschend durchs Abitur gerasselt.

Götz kam aus dem Schatten der Terrasse in den sonnendurchfluteten Salon mit seinen Südfenstern herein und streckte die offene Hand aus. Bettina musterte den Sohn aus erster Ehe ihres Mannes. Eigentlich hatte sie keinen Grund, anzunehmen, dass er seiner fast fünfzehn Jahre jüngeren Halbschwester nicht wie einer Schwester zugetan war. Er selbst hatte ihr im vergangenen Herbst den Mazda Sportwagen zum achtzehnten Geburtstag geschenkt. Aber seine kaltsinnige Entschlossenheit, ihn ihr jetzt wieder wegzunehmen, befremdete sie einmal mehr an Götz. Er würde nicht mit sich reden lassen.

»Den Autoschlüssel, bitte.«

»Das kannst du nicht machen!«, kreischte Eliane auf. »Dazu hast du überhaupt kein Recht. Geschenkt ist geschenkt!«

»Du weißt sehr wohl, dass wir eine Abmachung hatten. Du hast den Wagen schon zu deinem Geburtstag bekommen, aber als Vorschuss auf dein Abitur. Deinen Teil der Abmachung hast du nicht eingehalten. Also kann ich ihn zurückfordern. Nächstes Jahr zum Abitur bekommst du ihn wieder. Also bitte, den Schlüssel.«

»Glaubst du, den trage ich immer bei mir?«

»Dann geh und hol ihn.«

»Und wenn ich das nicht tue?«

»Es ist eigentlich völlig gleichgültig, ob du mir deinen Autoschlüssel gibst oder nicht, zumal du noch einen zweiten haben wirst.«

Eliane sah so aus, als hätte er sie bei einem Hintergedanken erwischt.

»Ich werde also in jedem Fall den Wagen mit einer Parkkralle stilllegen«, fuhr er fort.

Sie sprang vom Sofa hoch. »Soll ich denn sechs Wochen hier auf dieser Scheißinsel festsitzen und mich zu Tode langweilen?«

»Du wirst dich nicht langweilen. Du wirst lernen.«

»Ja, du«, schnaubte das Mädchen verächtlich, »du hast ja immer gelernt, du Streber! Kein Wunder, du hattest ja auch keine Freunde, mit denen du hättest weggehen können.«

»Aber Eliane!«, mahnte Bettina.

»Und im Übrigen«, triumphierte Eliane, »wird Papa das gar nicht zulassen!«

Bettina sah ein unwilliges Zucken in Götz' Mundwinkeln, und sie war sich sicher, dass auch Friedhelm an der Entschlossenheit seines Sohnes scheitern würde. Eliane war zwar Vaters Liebling, und er war der Meinung, dass ein hübsches Mädchen mit Vermögen wie seine Tochter ohnehin bald heiratete und nicht unbedingt Abitur brauchte, geschweige denn ein Studium, aber Götz würde bei der Diskussion rasch die besseren Argumente ziehen, vernünftige Argumente, gegen die nichts einzuwenden war und denen Friedhelm nicht gewachsen sein würde. Ob Götz wirklich glaubte, seine Schwester müsse das Gymnasium abschließen, wusste Bettina nicht so genau. Sie hatte fast den Verdacht, dass es ihm im Grunde nicht um Eliane ging. An den Beratungen der besorgten Eltern über Elianes Zukunft hatte er sich bislang nicht beteiligt. Etwas anderes schien ihn an der Sache zu interessieren. Was genau, konnte Bettina nicht so recht in Worte fassen. Es hatte etwas damit zu tun, dass Götz gern klare Bedingungen schuf, solche, an die er sich selber hielt und andere sich zu halten hatten. Vielleicht aus einem grundsätzlichen Bedürfnis heraus, die Kontrolle zu behalten. Vielleicht sogar im Sinne einer Machtprobe, aber von der kalten, berechnenden Art und im Grunde unangreifbar, weil einem vernünftigen Zweck unterworfen. Auch Bettina wusste, womit Eliane am schmerzhaftesten zu treffen war, aber sie wäre nie so weit gegangen, ihr genau das zu nehmen, damit sie sich hinsetzte und etwas für die Schule tat. Sie hatten Eliane nicht gerade in großem Luxus aufgezogen, aber ihr auch nicht aus Prinzip die Annehmlichkeiten versagt, die reiche Eltern einer Jugendlichen verschaffen konnten. Natürlich sollte sie ihr Auto haben. Natürlich bekam sie reichlich Taschengeld. Allerdings auch wieder nicht so viel, dass sie sich ohne weiteres ein anderes Auto kaufen konnte. Außerdem würde sie sich auch keinen gebrauchten Corsa zulegen wollen. Es musste schon dieser Mazda sein. Und nun jaulte sie vor Zorn, dass Götz ihr den einfach wieder wegnahm und sie auch noch zwang, ihn sich zu erarbeiten.

»Das ist eine ganz fiese gemeine Erpressung!«

Und Götz hielt es nicht einmal für nötig, den Sinn seiner Maßnahme zu verteidigen. Schon als Bettina den Sohn ihres Mannes vor zwanzig Jahren kennen lernte, war sie befremdet vom emotionslosen und unnahbaren Wesen des zwölfjährigen Jungen. Schon damals hatte er klare Bedingungen gestellt.

»Ich werde Mama zu dir sagen, aber du darfst mir nicht übers Haar streichen und mich nicht küssen«, hatte der kleine Junge mit dem dunklen Schopf verkündet und sie mit seinen übergroßen hellblauen Augen ernst angeblickt. Er war nicht feindselig gewesen, auch nicht demonstrativ abweisend. Sogar leicht lenkbar, wenn man seine Bedingungen erfüllte. Er terrorisierte die Familie auch nicht, er zog nur Grenzen um sich herum. Aber Bettina war er immer ein bisschen unheimlich geblieben. Nie teilte er mit, was seine stets offenen Augen sahen und sein rascher Verstand sich einverleibte. Mit dreizehn überraschte er eines Tages seinen Vater mit der Behauptung, die Stahlaktien würden nach den nächsten Tarifverhandlungen fallen. Es war ihnen bis dahin nicht bewusst gewesen, dass dem Jungen erstens bekannt war, welche Aktien Friedhelm hielt, und dass er zweitens die Börsenkurse in der Zeitung studierte. Und er hatte Recht behalten. Wenn auch Friedhelm ihm nicht geglaubt und viel Geld verloren hatte. Recht behalten zu haben war für Götz wiederum kein Anlass zum Triumph gewesen. Als er mit fünfzehn die Landesmeisterschaften der Junioren im Tennis gewonnen hatte, hatten sie es erst von einer befreundeten Familie erfahren. Er selbst war vom siegreichen Finale nach Hause gekommen wie immer, hatte sein Fahrrad in die Garage geschoben und war in sein Zimmer hinaufgegangen, um sich in Mathebücher zu vertiefen oder an seiner Sammlung kaputter Uhren herumzubasteln.

»Aber das muss man doch feiern«, hatte Friedhelm den Jungen am Sonntag drauf zur Rede gestellt.

»Man triumphiert nicht über den Verlierer, wenn man gewonnen hat«, hatte Götz ernsthaft erwidert. Nicht das kleinste bisschen Stolz strahlte ihm aus den Augen.

Gefühlsregungen zeigte er eigentlich nur, wenn Eliane ihn ankeifte und überdies versuchte ihn gegen ihren Vater auszuspielen. Dann meinte Bettina ein gekränktes Flimmern in seinen Augenwinkeln erkennen zu können. Aber seine Stimme blieb ruhig. Sie hatte noch nie erlebt, dass er die Stimme erhob oder dass sein Ton gemein wurde. Auch wenn seine Worte dabei so manches Mal unangenehm deutlich wurden.

»Na«, bemerkte er jetzt, »offenbar hast du es nötig.«

»Ich habe es nicht nötig, mich erpressen zu lassen«, schrie Eliane außer sich. »Glaub nicht, dass du damit erreichst, was du willst. Und wenn ich als Verkäuferin gehen muss. Ich lasse mich nicht erpressen. Du bist so mies und kleinlich und widerlich und abscheulich und … und kindisch! Das wird Papa dir auch sagen.«

Götz hob eine Braue. »Das werden wir ja sehen.«

Bettina fröstelte und zog die Strickjacke fester um sich.

»Ich hasse dich!«, schrie Eliane und rannte aus dem Zimmer.

»Findest du das nicht ein bisschen hart?«, sagte Bettina und erhob sich vom Sofa. »Hättest du ihr nicht erst einmal eine Chance geben können zu beweisen, dass sie die Schule ernst nimmt?»

Götz schob die Hände in die Taschen seiner hellen Leinenhose. »Aber sie hat keine zweite Chance, das Abitur zu machen. Und wenn sie erst wieder kurz vor Ostern anfängt, was zu lernen, dann geht es erneut schief. Ihr habt doch ihre Noten gesehen. Sie ist von Halbjahr zu Halbjahr schlechter geworden. Ihr fehlen die Grundlagen.«

Bettina seufzte.

»Habt ihr denn nun endlich eine Nachhilfelehrerin für den Sommer gefunden?«, erkundigte sich Götz.

Bettina zog erneut die Strickjacke zusammen. Sie war eine kleine, etwas füllige, aber agile und schöne Frau Ende dreißig, nicht einmal zehn Jahre älter als der Sohn ihres Mannes, der in dunkelgrünem Polohemd und cremefarbenen Leinenhosen vor ihr stand und vermutlich in diesem Dress soeben im Garten den Swimmingpool gereinigt hatte. Seit dem Frühjahr zeigte er eine bis dahin ungewöhnliche Anhänglichkeit an seine Familie, hatte seinen Lebensmittelpunkt auf die Insel verlegt und war mehr Tage in der Woche hier als in Hamburg. Und nun interessierte er sich auf einmal für Elianes Geschicke. Dass jemand streng mit ihr war, tat zwar Not, aber … Arme Eliane! Vielleicht hing Götz' neues Interesse für die Seinen ja damit zusammen, dass er sich wieder einmal von einer Frau getrennt hatte. Dabei war Cornelia eigentlich eine ganz Vernünftige gewesen, ernsthaft und an ihrem eigenen Fortkommen interessiert. Aber Götz kam anscheinend mit keiner zurecht.

»Die Nachhilfelehrerin kommt am Samstag«, teilte sie ihm mit. »Eine Studentin aus Hamburg. Übrigens die Einzige, die sich auf unsere Anzeige gemeldet hat. Aber zumindest am Telefon machte sie einen recht klugen Eindruck.«

»Hm.« Götz wandte sich erneut der Terrasse zu.

»Übrigens …«

Er drehte sich wieder um, ganz aufmerksamer Sohn. An Respekt, sogar Geduld hatte er es eigentlich in der Tat nie fehlen lassen. Auch seinem über sechzigjährigen Vater gegenüber reagierte er nie mit diesem Anflug genervter Ungeduld und Besserwisserei, die so manche Kinder gern an den Tag legten. Bettina vermutete sogar, dass er still und leise das Bäderunternehmen seines Vaters saniert hatte, ohne Friedhelm die Illusion zu nehmen, er sei der Chef des Ganzen.

»Ja?«

»Was ist denn nun eigentlich mit deinem Boot?«

»Heino Lütte kann es reparieren. Aber die Polizei hat immer noch keine Idee, wer es versenkt hat, falls du darauf abzielst. Sie meinen jedoch, es sehe nach einem vorsätzlichen Racheakt aus. Nun ja, jemand wie ich hat immer Feinde.«

»Vielleicht war es eine deiner Exfreundinnen.«

Götz schmunzelte. »Aber beweisen müsste man es halt.«

»Wie viele sind es denn mittlerweile?« Bettina konnte nicht verhindern, dass sie etwas sarkastisch klang. Eigentlich ging es sie ja nichts an. Aber man machte sich nun mal so seine Gedanken. Als Götz einst erstmals eine Freundin im Sommer auf die Insel gebracht hatte, um sie seinen Eltern vorzustellen, hatte sie ihn sogar beiseite genommen und ihm von Mutter zu Sohn erklärt, dass er, attraktiv und vermögend, wie er war, aufpassen müsse, dass er nicht auf ein Mädchen hereinfalle, das nur an seinem Geld interessiert sei. Und ob das Model, das er da angeschleppt habe, ihn auf Dauer glücklich machen werde, solle er sich gut überlegen. Bettina schämte sich, wenn sie daran dachte. Denn nach dem dritten oder vierten Sommerbesuch in Begleitung immer hübscherer Mädchen war ihr klar geworden, dass Götz keine Frau fürs Leben suchte.

Jetzt fing er an wie ein Vorschüler an den Fingern seiner Hand abzuzählen. »Fünf, sechs … ein Dutzend vielleicht? Was meinst du?« Er lachte sein leises, eigenartig emotionsloses Lachen.

Rachel legte die Windjacke auf den Koffer, in dem schon drei warme Pullover steckten. Nordseeinseln konnten auch im Sommer garstig werden. Sie vergewisserte sich, dass der Fährenfahrplan in ihrer Handtasche steckte. Noch ein letzter Gang durch die Zweizimmerwohnung. Küchentür zum Garten geschlossen, alle Wasserhähne zugedreht, überall das Licht aus? Sie nahm Koffer, Laptop und Windjacke, stellte sie vor der Haustür ab, schob ihr Fahrrad in den Flur hinein und schloss die Tür ab.

Den Schacht der Wohnblöcke deckelte ein gelblicher Sommerhimmel. Nur wenige Sonnenspuren fanden den Weg ins von Hunden voll gekackte Gebüsch. Die Mistralstraße kam ihr wieder einmal vor wie die feuchteste Ecke des ganzen Schanzenviertels. Das wellige Kopfsteinpflaster wurde nie trocken, blieb immer schwärzlich. Zwischen den eingesunkenen Steinen sammelte sich grau und klebrig der sandige Staub Hamburgs. Es roch nach Kellerschimmel. Vor dem Aldi standen die ihr bekannten Alkoholiker. Rachel trug ihren Koffer um die Ecke. Auf der Stresemannstraße herrschte rasender Autoverkehr auf hellem Asphalt. Hier, wo sie niemand brauchte, breitete sich die Sonne aus. Aber irgendein Wind fegte die Wärme zusammen mit Staub und Papierchen gleich wieder raus aus dem Schanzenviertel, vielleicht hinüber zur Außenalster nach Eppendorf, wo die reichen Leute wohnten.

Rachel ließ sich von der S-Bahn zum Dammtor bringen und erklomm den Hochbahnsteig. Mittlerweile waren die Bauarbeiten so weit gediehen, dass man sich auch wieder hinsetzen konnte. Der ICE war offenbar noch nicht durch. Geschäftsleute warteten. Zwei ältere Damen hüteten drei Koffer. Sie waren die Einzigen, die nach weiter Reise aussahen, nach Sommerfrische. Die eine füllig und in lauten Farben gekleidet, das Gesicht studiogebräunt, roter Lippenstift, sandfarben getönte Haare, viel Gold an Handgelenken und Fingern. Die andere etwas mager und grau. Zwei ungleiche Freundinnen, die sich vielleicht nach dem Tod ihrer Männer in einer Reisegruppe, einem Kurbad beim Gespräch über Arthrose zur Notgemeinschaft zusammengeschlossen hatten.

Rachel war erst siebenundzwanzig, versuchte aber zu entscheiden, ob sie einst zum Typ der jugendlichen bunten Alten oder zum grauen Typ gehören würde. Sie ließ den Blick an sich hinabgleiten, hellblaues T-Shirt, Jeans, rote Sneakers, weder modisch noch sonderlich ausgesucht. Irgendetwas machte sie verkehrt, immer schon. Sie war ein Bentheimer Mittelstandskind, der Vater Bankangestellter, die Mutter Halbtagsstelle beim Notar. Dass sie Abitur machte, war nicht selbstverständlich gewesen. Ab ihrem vierzehnten Lebensjahr waren die Eltern nicht mehr mitgekommen. Das Kind befasste sich mit Dingen, die sie für unnötig hielten. Immer bekam sie den Vorwurf zu hören, sie halte sich für etwas Besseres. Mit siebzehn hatte Rachel erkannt, dass sie die Bildungsbürgerkinder nie einholen würde, aus einem ganz einfachen Grund: Ihre Eltern besaßen außer Vaters Kladden übers Dritte Reich kaum ein Buch. Sie musste für jedes lange Wege machen, per Fahrrad oder Bus in die Stadtbibliothek oder in den Buchladen, die Formalitäten der Ausleihe absolvieren oder Geld auf einen Ladentisch legen. Jedes Buch, das sie aufschlug, musste sie wieder hergeben, oder es war das Ergebnis eines stundenlangen Abwägens und Kopfrechnens im Buchladen, in jedem Fall eine Kostbarkeit. Ihre Eroberungszüge durch die Weltliteratur waren einsam. In ihrer Familie gab es keine Gespräche über Bücher, sie hörte keine Urteile, nicht einmal Allgemeinplätze. Ihr standen die Sätze nicht zur Verfügung, mit denen ihre Kommilitonen in Seminaren über Bücher um sich warfen, die sie nie gelesen hatten, aber beurteilen konnten. Es traf sie tief, wenn Ulrich mit amüsiertem Unterton ihre verschwiegene und beunruhigende Freundschaft mit Arno Schmidt abqualifizierte: »Ah, der Analytiker der sublimierten Impotenz.« Zum Glück hatte sie nicht vorschnell zugegeben, dass sie Schmidts Bücher verschlungen hatte. Es kam überhaupt nicht darauf an, sich mit einem Buch anzufreunden. Es kam darauf an, es genüsslich zu verurteilen.

Aber diese Art, sich von guten Freunden zu distanzieren und sie dem Gelächter preiszugeben, war ihr fremd. Vermutlich spöttelte Ulrich auch über sie, wenn sie den Diskussionskreis verließ. Unser liebes Bankangestelltentöchterchen, immer so ernst, so fleißig, so gewissenhaft. »Ach, ich liebe es, wenn Frauen praktisch denken«, hatte er einmal zu ihr gesagt. Sie wusste gar nicht mehr, warum. Aber sie wünschte sich, dass er an ihr mehr geliebt hätte als ihren geistigen Pragmatismus und ihre intellektuelle Naivität. Doch dann ließ sie den Blick an sich abwärts gleiten und verstand, dass er an ihr nichts lieben konnte. Zu dick, zu groß, zu schwer. Gewicht war zwar eine sehr relative Größe, und objektiv gesehen war sie nicht fett, aber keinesfalls hielt sie dem Vergleich mit diesen kantigen studierten Mädels stand, die Ulrichs Bonmots so kühl kontern konnten. Aus diesen taillierten Kurzblusen mit Dreiviertelarm platzte ihr Körper förmlich heraus, und wenn sie über einer Hüfthose Nabel zeigte, dann kamen Ulrich Assoziationen an orientalische Bauchtänzerinnen. Sie besaß Oberschenkel, über denen Jeans spannten, Oberarme, für die manche Ärmel zu eng waren, Busen und Hintern, die Shirts und Jeans ihre Form aufzwangen. Dazu die Brille, die ihr immer dann als Handikap vorkam, wenn sie ohnehin mit sich haderte. Dabei trug auch Ulrich eine Brille. Aber bei Frauen forderte er Kontaktlinsen. »Mit zwei Brillen küsst es sich so schlecht.« Und außerdem sollten Frauen lange Haare haben. Doch wie hätte sie sich die Haare wieder wachsen lassen können und damit zugeben, dass ihr an Ulrichs Gefallen etwas lag? Sie hatte ohnehin keine Chance. Da musste sie sich nicht auch noch anbiedern. Sie hatte sowieso nichts als ihren Stolz und ihren Kurzhaarschnitt, der – wie sie in besonders selbstkritischen Momenten fand – eigentlich das Beste aus ihrem länglichen Gesicht mit den dichten schwarzen Brauen, dunklen Augen und vollen Lippen machte. Im Verein mit der Brille übrigens, ohne die sie gar zu sehr nach drallem Bentheimer Dorfkind ausgesehen hätte.

Rachels Blick fiel auf ihren Koffer und die Laptoptasche. Auf der Festplatte lagerte ihre Magisterarbeit, die sie endlich fertig stellen musste. Ulrich hatte behauptet, er werde seine wohl in den Semesterferien zusammenschreiben. Sie hingegen bastelte seit einem Dreivierteljahr an den Sätzen. Sie hatte vor dem Projekt nicht nur gehörigen Respekt – hundert Seiten, fast ein Buch –, sie wusste auch eigentlich gar nicht so genau, wozu sie ihr Studium mit einem Magister abschloss. Prof. Vogt würde sie nicht zur Promotion auffordern, und eine Assistentenstelle bekam sie nie im Leben. Ulrich vielleicht, aber sie doch nicht.

Einmal hatte sie beim Norddeutschen Rundfunk hospitiert und festgestellt, dass dieser Kampf um Beiträge nichts für sie war. Außerdem hatte sie drei Tage für eine Theaterkritik gebraucht, die in den Augen des verantwortlichen Redakteurs unsendbar gewesen war. »Zu naiv!« Und ihr hatten wieder einmal die Argumente gefehlt, das zu verteidigen, was sie sich dabei gedacht hatte.

Nein, es änderte sich nichts. Sie würde weiterhin bei der Autovermietung Schlüssel ausgeben und Formulare ausfüllen. »Bitte unterschreiben Sie hier!«, vielleicht nicht mehr nur halbtags, sondern ganztags. Und vielleicht ergatterte sie mal eine Sekretärinnenstelle in einem Dekanat. Dann konnte sie Friederike mitteilen, dass sie keine Aufträge mehr übernehmen würde. »Nimm mir's nicht übel, aber was ich verdiene, reicht mir, und ich habe echt keine Zeit mehr dafür.«

Mittlerweile war der ICE Richtung Hannover durch – ziemlich verspätet –, ohne dass Rachel es bewusst bemerkt hatte. Der Bahnsteig war bis auf zwei Geschäftsleute und die beiden Damen mit ihren drei Koffern leer. Rachel ertappte sich dabei, dass sie ihnen schon länger zuhörte.

»Ich habe kein Einziges weggegeben, es sind bestimmt viertausend Bücher. In meiner Familie wurde immer viel gelesen«, sagte die Bunte.

»Lesen ist ja so wichtig«, pflichtete die Graue bei.

»Aber die jungen Leute heutzutage lesen ja gar nicht mehr. Wissen Sie, was meine Enkelin kürzlich zu mir sagte: Es regt sie zu sehr auf. Sie kann nicht mehr aufhören, wenn sie ein Buch angefangen hat, und das koste sie zu viel Zeit. Aber wenn Sie sich mal anschauen, was sie für Rechtschreibfehler macht!«

Rachel registrierte, wie sich in ihr das Bedürfnis regte, von dieser Dame wahrgenommen und ins Gespräch gezogen zu werden – zeigen, was sie draufhatte. Sie schmunzelte. Immer ihre Suche nach Müttern. So hatte sie auch Friederike kennen gelernt. In einem Café bei der Uni neben dem Copyshop. Sie kippte einen Doppelkorn, eine Frau Ende fünfzig mit kastanienroten Haaren im hellgrünen Kostüm. Sie hatte Rachels Blick erwidert und gelächelt.

»Ich habe mich gerade scheiden lassen. Zum dritten Mal. Prost. Und Sie? Sie sehen auch aus, als hätten Sie Liebeskummer.«

Es war Rachel unmöglich gewesen, irgendetwas zu bestreiten. Ungewöhnlich vertrauensselig hatte sie von ihrer Bentheimer Landliebe zu Ulrich erzählt. »Sein Vater ist Geschichtsprofessor.«

»Na«, hatte Friederike schließlich resümiert, »der scheint mir ja ein echter intellektueller Abstauber zu sein. Jubeln Sie diesem jungen Herrn doch mal ein paar richtige Falschinformationen unter. Wenn er die in einem Seminar dann wieder von sich gibt, blamiert er sich wenigstens mal ordentlich.«

Eine erfrischende Idee, die Rachel kurzfristig das Gefühl verschaffte, sich aus ihrer ewigen Unterlegenheit befreien zu können. Und sie hatte es getan. Sie hatte behauptet, Lessing sei erfreut gewesen zu lesen, dass Goethe in den Leiden des jungen Werthers sein aufgeschlagenes Drama Emilia Galotti aufs Pult des Selbstmörders gelegt habe.

Als Ulrich diese Behauptung in einem Nebensatz im Seminar wiedergab – »Auch ein Freigeist wie Lessing war offenbar nicht frei von Sentimentalität« –, holte er sich einen höchst indignierten Rüffel von Prof. Vogt: »Nichts haben Sie von Lessing begriffen, wenn Sie glauben, er habe im Werther etwas anderes gesehen als einen empfindsamen Narren und sich nicht fürchterlich über Goethe aufgeregt.«

Rachel sah Ulrich rot anlaufen. Fast tat er ihr Leid.

Ein paarmal hatte Rachel sich mit Friederike verabredet und getroffen, zunächst im Alsterpavillon am Jungfernstieg, dann in ihrer Jugendstilwohnung im Woldsenweg in Eppendorf. Friederike war der erste Mensch, der sich für Rachels Denken und Fühlen interessierte. Vielleicht war sie einfach nur ein vereinnahmender Mensch, der gern Ratschläge erteilte, aber Rachel hatte es schlicht gut getan, im Mittelpunkt eines Interesses zu stehen und sich mit dem Selbstbewusstsein einer lebenserprobten Frau füttern zu lassen.

Eines Tages hatte Friederike ihr erzählt, wie sie sich an ihrem zweiten Mann gerächt hatte.

»Die meisten Frauen lassen sich viel zu viel gefallen. Sie meinen immer, einer von beiden müsse noch einen Rest von Anstand wahren. Und da er es nicht tut, tun sie es halt. Er kämpft mit harten Bandagen, und sie wollen sich nicht um materielle Dinge streiten. Ihnen geht es um die Liebe. Und am Ende sind sie die Gelackmeierten. Mit mir nicht, habe ich mir gesagt. Ich bin nicht edel und gut. Also habe ich seinen Aktienfond verkauft, als die Aktien in den Keller gingen.«

Rachel war an sich weit davon entfernt, sich mit dem gemeinen Ende einer Beziehung zu befassen, denn sie hatte es noch nicht einmal zu einem glücklichen Beginn geschafft, aber Friederikes handfester Hass brachte eine Saite in ihr zum Klingen, die ihr bislang verborgen gewesen war: Bitterkeit und Zorn. Eigentlich grundlos, aber vielleicht doch nicht ganz so grundlos. In ihrem Kopf fügten sich auf einmal tausenderlei kleine Begebenheiten und Beobachtungen zu einem System zusammen, in dem sie groß geworden war. Das Desinteresse ihres Vaters für sie, die Tochter, obgleich sie das einzige Kind ihrer Eltern war. Die Skepsis ihrer Mutter, wenn Rachel Berufe nannte, die über den Job der Sekretärin hinausgingen. »Mach dir doch keine Illusionen!« Ihr vergeblicher Versuch, im Deutschunterricht mit ihren Ansichten zu Romeo und Julia gegen das Gejohle der Jungs anzukommen. Die Mutation ihrer Mitschülerinnen zu Modepuppen und Diätspezialistinnen. Und dann diese Altherrenglückseligkeit von Prof. Vogt, wenn Ulrich seine früh angelesenen und aufgeschnappten Klugheiten von sich gab. Vatergefühle und Mentorengesten, die er nur dann auch einmal einer jungen Studentin zuteil werden ließ, wenn sie blond und dünn war und die Fachtermini beherrschte. Schließlich die Selbstverständlichkeit, mit der der Chef der Autovermietung sie, Rachel, zum Kaffeekochen schickte. »Ich weiß, als Sekretärin sind Sie dazu nicht verpflichtet, aber Sie täten mir einen großen Gefallen.« Immer sie, nie Kollegin Karin – Größe 36, zwar brünett, zeigte aber lange Beine –, die sich als Vollzeitkraft für die Bürochefin hielt und ihre Fehlbuchungen mit Stress entschuldigte. Und der Büroleiter nahm sie auch noch in Schutz.

In der ganzen Welt, in der sich Rachel seit ihrer Kindheit ohne Protest zurechtfand, stellten Männer die Bedingungen, das wurde ihr auf einmal klar, auch wenn Friederike gar nicht so weit ging, das zu behaupten. Die Männer schufen die Blondinen der Größe 38, deckelten weibliche Intelligenz und machten aus dem Abfall dann noch solche wie Rachel, die ständigen Sekretärinnen ohne rechtes Selbstbewusstsein, die tunlichst nicht darüber sprachen, dass sie ein abgeschlossenes Hochschulstudium hatten. Ihr ganzes Leben – so kam es Rachel mit ihren damals dreiundzwanzig Jahren vor – hatte sie sich versteckt. Sie war eine Meisterin darin, innerlich jemand anders zu sein als äußerlich. Ihr Ich hatte sich falsch verkleidet. Oder so ähnlich. Rachel kam nicht darauf, worauf es eigentlich bei ihr angekommen wäre, damit junge Männer wie Ulrich sich für sie interessierten. Darauf, dass sie in Größe 38 passte, oder auf andere Eltern, oder wenigstens Geld, oder auf irgendeine Art von Selbstwertgefühl, dass es ihr hätte egal sein können, ob dieser intellektuelle Abstauber Ulrich sich für sie interessiere?

Aber sie eignete sich bestens für das verdeckte Tun, das Friederike zu ihrem Geschäft gemacht hatte, das Geschäft mit der Rache. Friederike hatte es ihr nach und nach eröffnet. Zuerst hatte sie nur so getan, als wollte sie einer Freundin, die von ihrem Kerl verlassen worden war, einen kleinen Gefallen tun und brauche Rachels Hilfe. Sie hatte am Paulsenplatz gleich bei ihr um die Ecke einen Haufen Hundekot in einen Umschlag geschaufelt und den Umschlag dann in den Briefkasten eines Büros in der Rothenbaumchaussee gestopft.

»Das Entscheidende ist«, hatte Friederike erklärt, »dass die Herrschaften zwar genau wissen, wem sie die Stinkbombe zu verdanken haben, es aber nicht beweisen können. Unsere Klientin hat nämlich stets ein astreines Alibi.«

Die kriminellen Dimensionen des Geschäfts waren Rachel erst ein Jahr später klar geworden, als sie Feuer an einer Gartenlaube legte. Aber von der Summe, die Friederike ihr dafür überreichte, hatte sie sich ihren Laptop kaufen können. Und vom nächsten Auftrag ein anständiges Fahrrad. Und im Herbst konnte sie es wahrscheinlich sogar ins Auge fassen, sich ein Auto zuzulegen. Und zwar ohne Zuschuss der Eltern, die stets über die Maßen erschraken, wenn sie auch nur um einen kleinen Überbrückungskredit bat, weil sie vorübergehend ohne Job war. Vor allem ihre Mutter hatte stets Panik zu verarmen, weil das Kind seinen Weg in ein eigenständiges Leben nicht fand.

Den Katalog ausgeklügelter Vergeltungen, den Friederike ihren Klientinnen mittlerweile präsentieren konnte, hatte Rachel konzipiert, ermuntert von Friederike, dem ersten Menschen, der ihr eine Begabung zusprach.

»Du hast wirklich einen erlesenen Sinn für die kleinen Gemeinheiten des Lebens. Jemanden wie dich habe ich immer gesucht.«

Der Intercity nach Bremen fuhr ein. Rachel sprang auf. Ein schneller Blick auf die Anzeigetafel – ja, es war der IC 707, 10.41 Uhr, und pünktlich. Auch die beiden Damen stiegen ein. Rachel half ihnen mit den drei Koffern und zog sich dann in ein Großraumabteil zurück.

Während der Zug sich aus der Stadt befreite und grünes Land gewann, studierte sie ihre Unterlagen. Obenauf waren die handschriftlichen Notizen ihres Telefongesprächs mit Frau Auer. Achtzehnjährige Tochter namens Eliane, durchs Abitur gefallen, Schwächen in Deutsch, Englisch, Geschichte und Sozialkunde. In Mathematik nicht. Interessant, hatte Rachel schon vor zwei Wochen gedacht, als sie sich auf Frau Auers Anzeige hin meldete. Die Frau musste sehr verzweifelt sein, wenn sie Rachel sofort unter Vertrag nahm, ohne zu überprüfen, ob sie für die Aufgabe überhaupt geeignet war. Verzweifelte Eltern waren anscheinend relativ leichtgläubig oder darauf aus, keinen Strohhalm auszulassen, an den man sich klammern konnte.

»Wunderbar«, hatte Friederike gesagt. »Besser kannst du unseren Götz gar nicht ausspionieren. An irgendetwas muss sein Herz doch hängen.«

Der Zug beschrieb eine leichte Kurve. Rachels Augen waren auf die Moorflächen gerichtet, die von Zäunen und Bächen durchzogen waren. Ein Storch. Die Sonne wanderte langsam über ihre Papiere, huschte über ihr Knie und setzte sich im Polster gegenüber fest.

In der Tür des Großraumabteils entstand Unruhe.

»Hier ist ja alles frei!«, rief die bunte Dame aus. Die Graue folgte ihr auf dem Fuß. Der Blick der beiden in die Gepäckablagen über ihren Köpfen zeigte Ratlosigkeit. Eigentlich rätselhaft, dachte Rachel, dass sich ein Konzept so lange halten konnte, das so ungeeignet war für allein reisende Damen. Rachel hatte ihre Koffer vorhin schon einmal in den Zug gewuchtet. Auch ein durchschnittlich starker Mann hätte sie kaum ohne Ächzen über Kopf in die Kofferablage stemmen können. Die Welt war nicht für Frauen gemacht.

»Wir lassen sie im Gang stehen«, meinte die Bunte. »Bis Bremen wird das schon gehen. Es ist ja ganz leer.« Sie streifte, sich umsehend, Rachel nur kurz mit ihrem Blick.

In Bremen stieg Rachel am anderen Ende des Wagens aus und eilte zu Gleis 7. Als der Regionalexpress einfuhr, waren auch die beiden Damen wieder da, völlig außer Atem. Und erneut kämpften sie sich mit ihren Koffern in das Großraumabteil, in dem Rachel sich niedergelassen hatte.

Sie konnte nicht verhindern, dass sie alles mitbekam, was die beiden redeten. Es ging um Kaffee. »Da kommt sicher gleich so ein Wägelchen.« Die graue Dame frühstückte gar nicht, niemals, die Bunte dagegen ausführlich. Sie siezten sich, und an den Mengen von Informationen über gegensätzliche Lebensweisheiten, die sie austauschten, schloss Rachel, dass sie zum ersten Mal miteinander verreisten. Die Bunte hatte Sorgen wegen Osteoporose und musste ihren Kaffeekonsum reduzieren, was ihr schwer fiel. »Eine Tasse Kaffee, ein Stück Kuchen und ein Buch, das ist mein Leben.« Die Graue schien sich solche lebenswichtigen Rituale nicht leisten zu können. Oder sie war nicht so schnell bereit, eine Aussage über sich zu machen. Vielleicht eine, die vom Temperament ihrer Begleiterin zehrte, altersdepressiv und auf niedrigem Rentenniveau verarmt.

Rachel zwang Augen, Gehör und Aufmerksamkeit auf ihre Papiere zurück. Wenn der Zug pünktlich gegen halb drei in Norden ankam, würde sie den Bus nach Neßmersiel zur Fähre locker kriegen. Der Fährenfahrplan war von der Tide abhängig, jeden Tag anders. Sie studierte den Prospekt der Insel. Allergikerkurbad, Inhalationsanlage mit Meerwasser, das tief aus der Nordsee hoch gepumpt wurde, ein Wellenbad, das vom Bäderkönig Friedhelm Auer betrieben wurde, der in Ostfriesland von Emden bis Wilhelmshaven noch einige Dutzend weiterer Spaß- und Heilbäder besaß.

Dörfer aus rotem Klinker huschten draußen am Zug vorbei, Eigenheimidyllen an der Bahnlinie mit Korkenzieherweiden und Blautannen. In so einem Häuschen war sie aufgewachsen. Die Hecke hatte die lange Reihe der Züge, die in den Bahnhof hineinfuhren, kaum kaschiert. Im Sommer war sie täglich weggeradelt, zur Freilichtbühne oder Richtung Norden über die Kurbadanlagen hinaus. Das Thermalsolbad, in dem Kinder und Erwachsene mit Schuppenflechte Heilung fanden, gehörte ebenfalls Friedhelm Auer.

Vor zehn Jahren hatten die Auers dann Emden verlassen und sich auf der Insel eine alte Kurpension zum Alterssitz umgebaut. Eine Segelyacht im Wert eines Einfamilienhauses lag auf Mallorca. Götz Auer besaß eine Unternehmensberatung in Hamburg, eine Wohnung in Blankenese, dazu den entsprechenden Fuhrpark. Aber er schien sich nicht sonderlich aufzuregen, wenn einem seiner Autos etwas passierte. Rachel hatte gesehen, mit welcher Gelassenheit er sich umorganisierte, als sein Wagen auf dem Parkplatz des HC Aurich mit durchschnittenen Bremsflüssigkeitsleitungen stehen blieb. Er regte sich überhaupt nicht schnell auf, nicht einmal, wenn weibliches Ungeschick ihm beim Hockey schmerzhafte Wunden bescherte. Ein schwieriger Fall.

Womöglich brachte er das Pech, das ihn seit einigen Wochen verfolgte, nicht einmal in Zusammenhang mit seinen zahlreichen abgelegten Frauen, obgleich solche Dinge wie Nägel in Autoreifen oder ein mit der Axt im Hafen von Neßmersiel versenktes Sportboot oder das gute alte Niespulver in der Post für seine Unternehmensberatung kaum auf etwas anderes schließen ließ, als dass ihm jemand übel wollte. Aber konnte ein Mensch wirklich so selbstgerecht sein?

»Bei den Herren der Schöpfung gibt es nichts, was es nicht gibt«, pflegte Friederike zu erklären. »Doch irgendeinen Schwachpunkt findet man immer.« Und an Rachel war der Auftrag ergangen, Götz Auers Schmerzpunkt herauszufinden. »Und wenn du Reißnägel auslegst, damit er reintritt und nicht mehr joggen kann.«

Der Zug hielt zum x-ten Mal. Diesmal in Emden. Die beiden Damen auf den Sitzen schräg vor Rachel hatten zwar immer noch keinen Kaffee bekommen, waren aber inzwischen bei den Metastasen einer gemeinsamen Bekannten angelangt. Durch Marschland ging es weiter. Rot-schwarze Kühe standen auf den Wiesen, verstreute Gehöfte in Baumgruppen.

Rachel versuchte sich auf die Geschäftsverbindungen Götz Auers zu konzentrieren. Sämtliche großen Konzerne hatten sich von seiner Firma schon beraten lassen. Die entscheidenden Kontakte knüpfte er wohl auf dem Golfplatz. Die meisten Amateurwettbewerbe gewann er.

Sie schloss die Augen.

Als sie sie wieder aufmachte, waren die beiden Damen dabei, ihre Jacken anzuziehen. Die Schilder des Bahnhofs Norden flutschten an den Scheiben vorbei. Rachel sprang auf und wuchtete ihren Koffer aus der Ablage.

Was sie von der Stadt Norden erblickte, bestand aus einer langen, breiten Straße von Nirgendwo nach Nirgendwo. Die beiden Damen eierten suchend auf ein Bushaltestellenschild zu, während Rachel blinzelnd einen Imbiss und eine Teestube auf der anderen Straßenseite ins Auge fasste. Bis der Bus fuhr, hatte sie noch zwanzig Minuten. Für einen Kaffee und einen Gang zum Klo würde das reichen.

In der Teestube saß eine junge Frau und rauchte, vor ihr ein leeres Teeglas mit ausgedrücktem Zitronenschnitz im Schälchen daneben. Boutiquen-Grad drei auf der nach oben offenen Skala, befand Rachel. Jeansjacke von Orwell, Joopjeans, Yves Saint-Laurent-Top, Gucci-Sonnenbrille in einem Haar, über dessen Farbe Rachel etwas länger nachdenken musste. Nicht blond, aber auch nicht braun, malvenfarben vielleicht, eine Mischung aus gelb, rosa, violett und tabakfarben, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine Frau auf dem Weg in eine eigene Karriere. Sie passte weder in diese Teestube noch auf diese dörfliche Drehscheibe für Kurgäste auf dem Weg zu den Inseln.

Aber auch sie erschien an der Haltestelle, als der Bus nach Neßmersiel hielt und der Fahrer Rachels Koffer und das Gepäck der beiden älteren Damen in den Container hievte, der als Anhänger an das Gefährt gekoppelt war. Im Bus verbreiteten Kinder mit Großeltern oder Eltern kunterbunte Urlaubserregung. Nun ging es ans Weltende. Nur noch Marschen, Deiche, Windmühlen, Ferienhäuser. Das Meer aber sahen sie erst, als der Bus die Stichstraße zum Anleger vorfuhr. Auf den Parklätzen rechts und links flimmerten hunderte von Autodächern.

Der Bus hielt längs zur Fähre. Sein bunter Inhalt quoll auf den grauen Platz unter Himmel, Wind und Möwengekreisch. Ein Kran hob den Gepäckcontainer aufs Schiff. Von einem Kiosk zog Fischbratgeruch gen Land. Auf dem eingezäunten Dauerparkplatz gleich hinter der Hafenmeisterei entdeckte Rachel einen kleinen roten Mazda Sportwagen mit einer gelben Parkkralle am Hinterrad. Verrückt, dachte sie, so viel Angst um ein Auto, aber es dennoch an der Salzluft rosten lassen.

Als Rachel die Fähre bestieg, hatte sie endlich die beiden Damen aus den Augen verloren. Dafür fand sie auf dem Vorderdeck die junge Frau mit den malvenfarbenen Haaren wieder, die weder ein Lächeln für die Kinder, die schreiend das Schiff erkundeten, noch Augen für die Möwen, die in der Luft baumelten, zu haben schien. Liebeskummeraugen, dachte Rachel. Ein Gesicht für einsame Spaziergänge gegen den Wind, der die Tränen in die Augen trieb. Auch solche Frauen wurden verlassen, vielleicht sogar noch öfter als solche wie sie selbst, überlegte Rache, denn solche wie sie selbst wurden weniger begehrt und darum auch seltener fallen gelassen. Immerhin ein Vorteil.

Die Motoren grummelten. Als das Schiff ablegte, stürzten sich die Möwen in den Schlick am Ufersaum, an den das aufgewühlte Wasser schwappte. Die Fähre gewann langsam Fahrt entlang von Pricken, die wie Hexenbesen die Fahrrinne markierten.

Aus dem Sommerdunst löste sich die Insel und bekam Konturen – der Westkopf, beschwert von roten Häusern und braunen Dächern, nach rechts in graugrüne Wellen auslaufend, die zwischen Meer und Himmel verdunsteten. Rachel atmete tief ein.

Kapitel 3

Götz lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück und faltete die Hände im Nacken. Das Fenster mit Blick auf den Garten stand offen und ließ sommerwarmen Nordseewind herein. Hinter dem zweiten Fenster wellte sich der Ostteil der Insel. Nach drei Wochen Sonne waren die Dünenlinie im Norden und die Aussichtsdüne silbrig und strohig geworden. Er wusste, dass die Insel bis in den letzten Winkel ausgebucht war. Aber auf dem Weg zur Aussichtsdüne inmitten des Dünenmeers war kein Mensch, kein Fahrrad, keiner der Bollerwagen zu sehen, in denen die Eltern die Kleinkinder über die Insel zogen. Sie waren alle am Strand. Seit drei Wochen war auch im Wellenbad kein Geschäft zu machen.

Er blickte auf den Tidenkalender, der an der Schreibtischlampe klemmte. Er war erst gestern aus Hamburg gekommen und hatte Ebbe und Flut noch nicht verinnerlicht. Niedrigwasser war erst am Abend. Er musste noch einige Stunden warten, bevor er sich die Joggingschuhe und ‑hosen anziehen und sich auf seine Lieblingstour um die Ostspitze der Insel und übers Watt machen konnte.

Warum sich sein Vater vor knapp zehn Jahren nach seinem Herzinfarkt ausgerechnet auf diese Insel zurückgezogen hatte, die kleinste unter den ostfriesischen Inseln, hatte er nicht recht verstanden. Früher hatten sie hier zwar immer Urlaub gemacht, aber sein Vater war eigentlich nicht der Mann gewesen, auf sein Auto zu verzichten und zu Fuß zu gehen oder Fahrrad zu fahren. Im Lauf seiner Sommerbesuche hatte Götz dann gespürt, wie gut es tat, dass hier alles langsamer ging. Um von Fähren und Wassertaxis unabhängig zu sein, hatte er sich ein Boot zugelegt und einen Exklusivvertrag mit dem Cessna-Piloten Kalle geschlossen. Erstaunlich lieb waren ihm inzwischen die Dünenhügel mit dem Silbergras, das Sanddorngebüsch in den Kuhlen, das Gehoppel der Kaninchen allerorts und der tiefe Horizont geworden.

Für seine Eltern mochte es so aussehen, als wäre er ein anhänglicher Sohn. Aber er hätte nicht sagen können, ob er an seinem Vater hing. Oder umgekehrt, ob er ihn hasste. Wenn er sich nach seinen Gefühlen für seinen Vater, seine Stiefmutter und seine Halbschwester befragte, fand er keine Antwort. Da war nichts. Er hatte keine Gefühle.