Die zweite Welt. Kriminalroman - Christine Lehmann - E-Book

Die zweite Welt. Kriminalroman E-Book

Christine Lehmann

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Beschreibung

8. März, im Radio laufen Beiträge zu Frauenfragen in aller Welt. Dann geht beim Stuttgarter Sender ein Drohanruf ein: Jemand will die abendliche Demo in ein Blutbad verwandeln. Ein Terroranschlag auf die Hälfte der Bevölkerung? Staatsanwaltschaft und Polizei nehmen die Sache nicht auf die leichte Schulter, doch Lisa Nerz kann nicht untätig abwarten. Sie nutzt ihre Verbindungen und das Computertalent der jungen Tuana, um auf eigene Faust nach dem Attentäter zu fahnden. Was der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen gleichkommt. Und die Zeit ist knapp. Christine Lehmanns neuer Lisa-Nerz-Krimi spielt an einem einzigen Tag – verschmitzt, nachdenklich, rasant, geschichtsbewusst und hochaktuell.

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Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Über das Buch

8. März, im Radio laufen Beiträge zu Frauenfragen in aller Welt. Dann geht beim Stuttgarter Sender ein Drohanruf ein: Jemand will die abendliche Demo in ein Blutbad verwandeln. Ein Terroranschlag auf die Hälfte der Bevölkerung? Staatsanwaltschaft und Polizei nehmen die Sache nicht auf die leichte Schulter, doch Lisa Nerz kann nicht untätig abwarten. Sie nutzt ihre Verbindungen und das Computertalent der jungen Tuana, um auf eigene Faust nach dem Attentäter zu fahnden. Was der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen gleichkommt. Und die Zeit ist knapp.

»Christine Lehmanns Romane sind weniger kriminalistische Untersuchungen als Erkundungen des gesellschaftlichen Debattenstands. Hochintelligent, unglaublich witzig und absolut spannend.« Thekla Dannenberg, Perlentaucher

»Beruhigend Widerspruchsfreies darf man von Lisa-Nerz-Krimis nicht erwarten. Diese Krimis suchen die gefährlichen Schnittstellen von Persönlichkeitsstörungen und Ideologiestarre, den Umschlag der Rechthaberei in Gewalt.« Thomas Klingenmaier, Stuttgarter Zeitung

Über die Autorin

Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR

Christine Lehmann

Die zweite Welt

Kriminalroman

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2019

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2019

Lektorat: Else Laudan

ISBN 978-3-95988-135-7

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Else Laudan
8. März, 6:23 Uhr
7:48 Uhr
8:02 Uhr
8:22 Uhr
8:27 Uhr
8:43 Uhr
9:01 Uhr
9:30 Uhr
10:12 Uhr
10:35 Uhr
10:58 Uhr
11:26 Uhr
11:59 Uhr
12:13 Uhr
12:26 Uhr
12:34 Uhr
12:42 Uhr
13:03 Uhr
13:08 Uhr
13:26 Uhr
13:39 Uhr
13:48 Uhr
14:04 Uhr
14:35 Uhr
15:00 Uhr
15:21 Uhr
15:44 Uhr
16:05 Uhr
16:23 Uhr
16:32 Uhr
16:37 Uhr
16:43 Uhr
17:05 Uhr
17:41 Uhr
18:01 Uhr
18:16 Uhr
18:24 Uhr
18:46 Uhr
19:03 Uhr
19:17 Uhr
19:42 Uhr
19:43 Uhr
22:21 Uhr

Für alle Feminist*innen dieser Welt»Denken müssen wir, wir wollen nie aufhören zu denken, was sind das für Zeremonien und warum sollten wir an ihnen teilhaben.« Virginia Woolf

Vorwort von Else Laudan

Die zweite Welt ist ein Ermittlungsrom. Lisa Nerz, bewährte Aufklärerin zahlreicher Fälle, bekommt eine neue Herausforderung: Es gilt eine angekündigte Tat zu verhindern. Rastlos geistert sie mit der technikaffinen Schülerin Tuana (großartig als Sidekick!) durch urbane und virtuelle Realitäten, Milieus und Architekturen.

Neben dem Selbstbedienungsbäcker behauptete das Schaufenster der Drogeriefiliale: »Heute ist euer ganz persönlicher Prinzessinnentag.« Sie hatten bunte Transparente ausgerollt. »Lass die Frau raus!« In der Frauentagswoche sollten wir arttypische Geschöpfe darstellen: Naschkatze, Diva, Beautyqueen, Sportskanone, Nachteule, Powerfrau, Naturschönheit, Heldin und Genießerin.

Es streifen viele Frauen durch diesen Roman, widersprüchlich, ungebügelt, parteilich, voreingenommen. Mit Lisa Nerz und Tuana, die eine junge, ganz eigene Sicht auf die Dinge hat, vollführt Christine Lehmann einen investigativen Streifzug durch unsere Geschichte/n. Wie lange ringen wir schon um einen aufrechten Gang? Wie lange kämpfen wir um Respekt, um eine würdige Position in Kultur und Gesellschaft, um Menschenrechte? Derzeit erneuert sich alte Unruhe. Hinter der lange als erreicht beteuerten Gleichstellung wird die ständig gelebte Ungleichheit wieder sichtbar. In frischen Konflikten um Sprache, die Nichtmänner unsichtbar macht, um einen Kulturbetrieb, der Frauen missbraucht oder ignoriert oder beides, um zweierlei Maß in Arbeit und Bildung sowie in der großen Erzählung unserer Welt. Und reflexhaft formiert sich wütender Gegendruck, oft in aggressiver Rhetorik, die Frauen hemmungslos beleidigt und bedroht.

In diesem Roman will nun einer ernst machen, will töten – und zwar am Frauentag. Die einmal jährlich zelebrierte Sichtbarkeit der Frauen gedenkt er als Bühne zu benutzen. Was ist das für ein Mensch, und wie können Lisa und Tuana ihn aufspüren im großen Stuttgart, an diesem kalten achten März?

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

8. März, 6:23 Uhr

Die Furien sind unter uns, die Megären und Mörderinnen. In Europa vollzieht sich gegenwärtig ein dramatischer Gender-Wandel, der das Gesicht des Menschen für immer zu verändern droht.

Das träume ich doch. Bitte aufwachen.

Lassen Sie sich nicht in die Irre jagen durch die feministischen Bezahlschreiber! Dieses Buch sollte jeder gelesen haben, der sich über die Umsexung des Volks informieren möchte, den die angelsächsischen Suffragetten schon 1883 geplant und in Auftrag gegeben haben. Die langfristige Entmannung des Menschen ist Realität und wird mit der massenhaften Gehirnwäsche und Umerziehung an Schulen und Hochschulen vorangetrieben. Natürlich wird diese Wahrheit von gewissen Leuten und Gender­wahnparteien in die Patriarchatsecke gestellt und als sexistische Propaganda abgetan.

Hilfe! Die Augenlider sprangen mir auf.

Neben mir atmete einer.

Im Halbdunkel ordnete das Zimmer hastig die Senkrechten und rechten Winkel. Beinahe hätte ich es beim nächtlichen Umsturz ertappt.

7:48 Uhr

»Da schau her, der Frauenanteil ist im Deutschen Bundestag von 37 auf 30 Prozent gesunken«, las ich vor. »Und das fällt denen heute auf?«

Richard straffte seinen Teil der Zeitung. »Heute ist Internationaler Frauentag.« Kurz sah ich seine milchkaffeebraunen Augen über die Blattkante hinweg. Er las den Wirtschaftsteil, wie ich an der mir zugewandten Seite erkennen konnte, der Abteilung Wissen.

»Dann müssen wir heute mit Bollerwagen und einer Kiste Bier grölend ins Grüne ziehen und Männer belästigen, oder?«

»Das verwechselst du mit dem Vatertag, Lisa.« Richard griff nach dem Kaffeebecher. Frisch geduscht, mit feuchtem Haar, nach Zeder und Zibet duftend, noch in Hemd und Weste ohne Krawatte und Jackett, pflegte er die erste halbe Stunde seines Tages am Küchentisch seiner Wohnung in der Kauzenhecke mit ihrem Art-déco-Inventar und dem Bechsteinflügel im Musikzimmer einem Müsli, einem schwarzen Kaffee und der auf Papier gedruckten Tagespresse zu widmen.

Hinterm Küchenfenster regnete es dünn. Ich betrachtete die Textkästchen in meinem Stuttgartteil. Die Partei des gesunden Menschenverstandes sah den Untergang voraus. Landes-PGM-Chef Volker Levin behauptete: »Die deutsche Gesellschaft krankt an einer durchgegenderten multikulturalisierten Indoktrination durch das Establishment der internationalen schwulen Netzwerke, das uns vorschreibt, welche Wörter wir verwenden dürfen und welche nicht.« Jawoll: Denn an einem Regentag schuf Gott den Menschen zu seinem Bilde und schuf ihn als Mann und Frau. Woraus sich Gleichrangigkeit ableitete, aber eben auch, dass es nur zwei biologische Geschlechter gab und auf keinen Fall soziale Geschlechter. Vorausgesetzt, man hielt den mosaisch-christlich-islamischen Gott für die Autorität aller Welten.

»Wenn es nach den Gesunden Menschenverstandlern ginge«, sagte ich, »dann darf es mich nicht geben. Dich übrigens auch nicht.«

»Nach denen geht es aber nicht, Lisa.« Morgenfrieden. Der Oberstaatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen fühlte sich noch sicher in seiner Welt zwischen Kessel und Fernsehturm.

Im Deutschlandfunk erklärte die Übersetzerinnenstimme von Minna Salami, dass sich der afrikanische Feminismus nicht ausschließlich mit dem Männer-Frauen-Ungleichgewicht beschäftigt, weil auch Hierarchien aufgrund von race und soziopolitische Faktoren das Leben der Frauen beeinflussen. – Warum hatten die »race« nicht übersetzt? Selbst wenn im Englischen »race« irgendwie anders gebraucht wurde, ging es doch wohl um Weiße und Schwarze. Was natürlich keine Rassen waren. Klar. Denn die dunkle Hautfarbe hatte sich parallel in verschiedenen Weltgegenden entwickelt, genauso wie die helle. Menschen züchten Hunderassen und Pferderassen. Aber Menschenrassen gibt es nicht, außer bei Rassisten.

»Gehst du hier mit Cipión raus oder soll ich dich mit runternehmen?«, fragte Richard beim Einräumen der Spülmaschine.

Der Dackel hob den Kopf. Zu gerne hätte er im Degerlocher Wald unterhalb des Fernsehturms Cindy getroffen, die Terrierhündin, die morgens von einer Frau aus der Löwenstraße ausgeführt wurde. Aber draußen herrschte Märzwinter. Das würde ihm nicht gefallen.

8:02 Uhr

Während Richard die Limousine die Neue Weinsteige hinunterrollen ließ, sagte die Moderatorin im Deutschlandfunk: »Afrikanisches feministisches Denken wird angetrieben von der Idee, dass Liebe und Gerechtigkeit ergänzend zu Revolution und Veränderung sind.«

Mein Handy rappelte in meiner Jacke.

»Was gibt’s, Sally?«

»Wir hatten einen Drohanruf.«

»Ui!«

»Immer bin ich dran, wenn die Gestörten anrufen.« Sally arbeitete als Assistentin in einer aktuellen Redaktion des SWR. »Ich hab heute Studiodienst, wegen der Höreraktionen zum Frauentag. Zum Glück konnte ich den nicht gleich ins Studio durchstellen. Die Werbung lief schon.«

»Und was wollte er?«

»Ich nehme also ab.« Sally klang durchaus zufrieden. »›Hallo, bin ich im Radio?‹, sagt er. Er lässt mich gar nicht zu Wort kommen. ›Ja, hallo, ihr Fotzen! Ich hab eine Erklärung abzugeben. Folgendes: Ich will heute keine von euch Schlampen auf der Straße sehen. Sonst passiert was. Es gibt ein Blutbad.‹«

»Nett.«

Richard nahm kurz den Blick von der Straße und schaute zu mir. Ich registrierte es im Augenwinkel, während auf der anderen Seite die Hänge mit den noch kahlen Weinstöcken unter grauem Himmel vorbeiglitten.

»Ich dachte erst, das ist auch nur so ein Spinner. Das kannst du dir nicht vorstellen, was die Leute auf Stichwort schimpfen können. Unterirdisch die Mails ins Studio. Wie die drauf sind, schon vorm Frühstück!«

Ich gab ein Sozialgeräusch von mir.

»Also ich sage: ›Sie sind noch nicht dran.‹ Darauf er: ›Du hast uns nichts zu sagen, du Fi-Fa-Fotze.‹ Das hat er wirklich so gesagt. Und dann: ›Der Toleranz sind erhebliche Grenzen gesetzt, diese habt ihr nun überschritten. Der Ehrenmann handelt. Wir wollen heute keine von euch Schlampen auf der Straße sehen. Andernfalls wird das Geschrei und Wehklagen groß sein. Die Straße wird übersät mit Leichen sein und rot von Blut sein.‹ Da check ich, dass der das ernst meint. Auf einer Fortbildung über Drohanrufe, wo ich kürzlich war, haben sie gesagt, man soll mitschreiben, weil man sich hinterher nicht mehr erinnert vor lauter Aufregung. Den Rest habe ich mitgeschrieben und den Anfang aus dem Gedächtnis dazunotiert.«

»Sehr schlau. Und weiter?«

»Ich hab ihn gefragt: ›Was hast du denn vor?‹ Man soll sie fragen. Darauf er: ›Das werdet ihr schon sehen!‹ Ich frage: ›Willst du dich bei der Frauentagsdemo in die Luft sprengen oder was?‹ Und er: ›Ich werde euch töten, ti-ta-töten, ihr Fa-Fotzentags­fotzen, ihr seid Kackdreck!‹ Hat er wirklich so gesagt.«

»Schräg.«

»Vielleicht stottert er. Oder er hat das Tourette-Syndrom. Da kann man nicht beherrschen, was man sagt.«

»Und dann?«

»Dann hat er aufgelegt. Aber er will sich nicht in die Luft sprengen. Bei der Fortbildung haben sie gesagt, man soll sie fragen, wie sie es tun wollen. Wenn sie es anders tun wollen, als man ihnen unterstellt, dann gehen sie nicht darauf ein. Dann reden sie weiter. Und das hat er getan. Der hat was vor, Lisa!«

»Das müsst ihr der Polizei melden.«

»Schon geschehen. Ricki hat es auch gepostet. Der Chef hat ein furchtbares Theater abgezogen, er hat direkt aus der Straßenbahn angerufen, ob wir den Arsch offen hätten oder was.«

Auch nett.

»Ricki hat es gleich gelöscht, aber es ist schon geteilt worden. Jetzt haben wir hier Hühnerstall, kann ich dir sagen. Ich hab’s auch abgekriegt, weil ich den Anruf nicht mitgeschnitten habe. Woher hätte ich wissen sollen, wie das geht? Ich weiß nicht, wo der Knopf ist. Und zwischendurch mit der Studiotechnik reden … die haben immer so Vorstellungen, wenn sie es nicht selber machen müssen.«

»Mach dir keine Gedanken, Sally. Du warst geistesgegenwärtig genug. Ich komme nachher mit Cipión am Sender vorbei. Was ist mit der Telefonnummer?«

»Natürlich unterdrückt, das haben wir gleich überprüft. Du, ich muss«, sagte Sally mit plötzlich geduckter Stimme. »Sie kommen.« Dann war sie weg.

Kleine Tropfen punktelten die Windschutzscheibe. Der Scheibenwischer fing sie weg.

»Liebe ist eine unterschätzte Emotion in der Weltanschauung«, sagte das Autoradio. »Die Kunst ist für viele afrikanische Feministinnen ein radikaler transformatorischer Akt, um Theorie mit Emotionen zu füllen. Sie schaffen neue intellektuelle Traditionen jenseits der weißen männlichen und akademischen Wissensproduktion. Es geht darum, die Gedanken zu dekolonialisieren und depatriarchalisieren.«

»Was wollte Sally?«, fragte Richard.

»Im Sender hat es einen Drohanruf gegeben. Sie hat ihn entgegengenommen.«

»Drohungen gegen wen?«

»Gegen die Hälfte der Menschheit.«

Richard grunzte ungeduldig. Sonst war er es, der die brisanten Informationen besaß, und ich musste betteln.

»So wie Sally es berichtet, klang es, als hätte der Anrufer nicht übel Lust, heute unter uns Frauen ein Blutbad anzurichten.«

Richards Kinn wurde kantig.

»Oder vielmehr unter uns Fotzen. Den Fi-Fa-Fotzen. Die will er ti-ta-töten.«

Richard schüttelte sich unwillkürlich.

»Wenn heute erster April wäre, würde ich sagen, das hat sich ein Thriller-Autor ausgedacht. Wenn’s doof läuft, werdet ihr die Frauentagsdemo noch absagen müssen oder vielmehr die Fotzentagsdemo.«

Was das bedeutete, wog er in seinem Schädel bereits ab, verbal wehrte er sich aber noch. »Immer langsam mit den jungen Pferden, Lisa.« Sein Mercedes drängelte dem Auto vor uns ins Heck. »Über den Verbindungsnachweis wird man ihn schnell haben. Die müssen umgehend die Polizei …«

»Ist schon im Sender.«

Richard versuchte so zu tun, als entspanne er sich etwas. Das war im morgendlichen Autogeschiebe an sich schon eine heldenhafte Übung. Jeden Arbeitstag fielen über die Weinsteige von der Münchner Autobahn, von Tübingen und Reutlingen und aus den Fildervororten zehntausende Pendler in den Kessel ein.

»Sexuelle Befreiung war und ist ein feministischer Kampf«, dozierte das Radio. »Als Frauen davon sprachen, dass sie auch ohne Ehe Sex haben wollten und die gleichen moralischen Standards für Frauen und Männer, verstanden Männer darunter grundsätzlichen sexuellen Zugang zu Frauen ohne jegliche Verpflichtungen. Das ist nur eine der Fallen, in die uns das Patriar­chat tappen lässt.«

Ich rief Facebook auf. »Ich hoffe, du wirst von einem Asylanten vergewaltigt«, wischte an meinem Auge vorbei. Ich klickte meine gemeinsamen Freunde mit Ricki ab. Wann hat Facebook eigentlich die FreundInnen abgeschafft?, fragte ich mich im Hinterkopf. Eine Freundin hatte Rickis Post geteilt. »Heute Drohanruf gegen Frauentagsdemo. Leute, mäßigt euch! Leben und leben lassen!«

Über die Freisprechanlage meldete sich Richards Handy. Das Gelaber im Deutschlandfunk verstummte und auf dem Display seines Bordcomputers erschien der Name Dr. Elvira Ernst.

»Ah«, stellte ich fest, »da ruft sie schon an, die neue Polizeipräsidentin.«

Richard tippte auf den grünen Punkt. »Weber, guten Morgen, Frau Ernst.«

Eine resolute Stimme mit oberschwäbischem Akzent füllte die Kabine. »Guten Morgen, Herr Weber, entschuldigen Sie die frühe Störung …«

»Bevor Sie weiterreden, Frau Ernst, ich sitze nicht allein im Wagen.«

»Huhu, Frau Ernst!«, rief ich Richtung Freisprechanlage. »Ich bin’s, Lisa Nerz.«

»Guten Morgen, Frau Nerz.« Der Chefinnensound kam etwas ins Trudeln.

»Falls es um den Drohanruf im SWR geht«, rief ich, »das wissen wir schon.«

»Wir hatten aufseiten der Zeugen eigentlich um Stillschweigen gebeten.«

»Geht schon viral auf Facebook. Es arbeiten viele Leute an so einer Frühsendung.«

Die Polizeipräsidentin schluckte hörbar. »Nur ganz kurz, Herr Weber, wir haben für acht Uhr dreißig eine Besprechung im FLZ angesetzt …«

Es war zehn vor halb neun.

»… und hätten Sie gern dabei.«

»Mich auch?«, fragte ich.

Richard warf mir einen tadelnden Blick zu und sagte Richtung Display: »Ich bin auf dem Weg. Bis gleich.«

Das Radio übernahm wieder die akustische Füllung der Kabine: »Wie fordern wir einen Staat heraus«, fragte eine Frauen­stimme, »der uns eine rachsüchtige heterosexistische Idee als Norm aufdrückt?«

Es war ein zähes Vorrücken in der Häuserschlucht der Stichstraße nach unten von Ampel zu Ampel.

Wozu brauchen die Richard?, fragte ich mich. Er würde es mir nicht erklären. Seine Rolle im Machtgefüge der staatlichen Rechtspflege durchschaute ich immer noch nicht, obgleich ich ihn schon lange kannte. Eigentlich war er Staatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen, aber er leitete auch, wenn nötig, interne Ermittlungen. Eine Bedrohungslage durch einen frauenfeindlichen Gefährder gehörte allerdings nun gar nicht zu Richards Standardaufgaben.

8:22 Uhr

Er musste sein Ziel ändern: nicht mehr Staatsanwaltschaft in der Neckarstraße, sondern Polizeipräsidium in der Hahnemannstraße auf dem Pragsattel. Viel Zeit hatte er nicht.

»Schmeiß mich irgendwo raus«, sagte ich.

»Der Begriff gender role«, sagte das Radio, »wird benutzt, um all jene Dinge zu beschreiben, die eine Person sagt oder tut, um sich selbst auszuweisen als jemand, der oder die den Status als Mann oder Junge, als Frau oder Mädchen hat, lesen wir bei John Money schon 1955.«

Noch einmal Rot.

»Wahrscheinlich ist es nur einer, der sich über das Frauentagsgedöns im Radio ärgert«, bemerkte ich. »Wer droht, schießt nicht. Amokläufer drohen vorher nicht.«

Grün. Richard gab Gas und bog auf die Stadtautobahn ab. »Woher weißt du das so genau?«

»Aus Funk und Fernsehen. Entweder es gibt eine Amokdrohung und Schulen werden geräumt, oder ein Einzelgänger richtet ein Massaker an, und niemand hat vorher was gewusst.«

Ich startete Twitter auf meinem Handy und durchsuchte den #frauenkampftag. Das Radio redete: »Sexualität bedeutet für den Feminismus, was Arbeit für den Marxismus ist: nämlich das, was am meisten Anteil an der eigenen Identität hat und einem doch am häufigsten genommen wird. Die Form, wie sich Sexua­lität äußert, strukturiert die Gesellschaft in zwei Geschlechter, Frauen und Männer. Eine Teilung, die der Gesamtheit gesellschaftlicher Beziehungen zugrunde liegt. Wie die organisierte Ausbeutung der Arbeit einiger zum Wohl anderer die Arbeiterklasse definiert, so definiert die organisierte Ausbeutung der Sexualität der einen zum Nutzen der anderen das Geschlecht der Frau.«

»Ich setze dich am Stöckach ab«, sagte Richard.

»Und ich werde mich mal umhören.«

Sein Blick zeigte Alarmstufe Rot. »Je weniger darüber geredet wird, desto besser. Panik können wir gar nicht brauchen.«

»Zu spät!«

Zwischen »Solidarität mit den emanzipativen Protesten im Iran« und »Antifeminismus ist keine Alternative« flackerte der Tweet auf: »Anschlagsdrohung auf Frauentagsdemo in Stuttgart. Unbekannter droht gegenüber unserem Sender.«

»Es gibt einen weiteren Drohanruf, Richard. Der Ehrenmann hat nicht nur Sally angerufen.«

»So ’n Hurenseich!«, fluchte er in einem seltenen Anfall von Inbrunst. »Und den nennst du Ehrenmann?«

»Er hat sich Sally gegenüber selbst so genannt«, fiel mir ein. »Scheiße! Wenn das so einer ist …«

Die Kommentare, die der Tweet bereits nach wenigen Minuten angezogen hatte, reichten von »die Fricken gehören alle mal ordentlich durchgefickt« bis zu »so sieht die Rache des frustrierten Patriarchats aus«.

»Was für einer?«, fragte Richard.

»Ein Unfren. Die nennen sich Ehrenmänner und schießen auf Frauen.«

8:27 Uhr

Mit Cipión an der Leine marschierte ich die Neckarstraße entlang zu meiner Wohnung. Die Stadt nahm gerade ihren Betrieb auf. Autos, volle Stadtbahnen, Leute. Morgenvolk klaubte sich hinter den beschlagenen Schaufensterscheiben beim Selbstbedienungsbäcker die Brötchen zusammen. Die Läden noch geschlossen. Ein paar späte Schülerinnen unterwegs in Slimfitjeans, alle mit den gleichen weißen Sneakern, die man neuerdings Vans nannte. Worte wehten mich an: »Voll der Problematiker. Ich so: Den kannst du blablabla, sie so …« Wenn ich es recht bedachte, hatte ich vor langer Zeit aufgehört, die Menschen zu sehen, die jeden Tag an den alten Backsteinhäusern entlangzogen. Sie waren verschwommen zu einem Gehusche und Geraune in der Kulisse meiner Existenz. Aber heute sah ich sie, nahm sie wahr, schaute sie an, den Funktionsjackenträger mit dem dreibeinigen Hund, der zum Bioladen einbog, die Alte unterm Regenschirm mit dem Einkaufstrolley, die elegante Kostümfrau mit den prallen Waden auf dem Weg zum Hinterhofabstellplatz ihres Wagens, die Frau im Regencape, die ihr altes Fahrrad vor dem Eckmetzger abstellte, denn einer, irgendeiner, wollte sich heute in dieser Stadt hervortun, um zu töten.

Neben dem Selbstbedienungsbäcker behauptete das Schaufenster der Drogeriefiliale: »Heute ist euer ganz persönlicher Prinzessinnentag.« Sie hatten bunte Transparente ausgerollt. »Lass die Frau raus!« In der Frauentagswoche sollten wir arttypische Geschöpfe darstellen: Naschkatze, Diva, Beautyqueen, Sportskanone, Nachteule, Powerfrau, Naturschönheit, Heldin und Genießerin. Cipión hob das Rüdenbein an der Hauswand.

Oma Scheible fehlte, als ich mein Haus betrat. Immer seltener traf ich sie im Treppenhaus, und wenn, seufzte sie übers Alter. »’s wird au’ immer minder.« Rauf zu mir in den dritten Stock schaffte sie es kaum noch. Ich überlegte seit Wochen, ob ich mir einen Schlüssel für ihre Wohnung geben lassen und sie mit Kässpätzle versorgen musste.

Im Briefkasten steckte buntes Papier mit Sonderangeboten und eine Postkarte der PGM. Kommunal- und Europawahlen standen an. Noch durfte nicht plakatiert werden, aber das Logo, ein stilisiertes violettes Gehirn, das sich zu einer Daumen-hoch-Faust verformte, überschwemmte schon die sozialen Netzwerke und rutschte einem aus Briefkästen in die Hand. »Wir sind die Partei des gesunden Menschenverstandes. Wir machen, was die Menschen wirklich wollen. Sie wollen ein schlankes Europa und ein starkes Deutschland. Sie wollen Arbeit und ein Zuhause. Sie wollen mit ihren Familien in Frieden leben.« Rechts oben das Konterfei von Volker Levin, einem pensionierten Fernsehmoderator und Spielshowmaster mit grauen Schläfen. Rückseitig stand unter der Überschrift Sprache in Geiselhaft: »Sprachwissenschaftler warnen vor einer Verkrüppelung unserer Muttersprache.«

Die hatten doch alle einen Knall!

Im Treppenhaus kam mir Tuana mit Schultasche entgegen, den Blick aufs Telefon gesenkt, die Brauen zusammengezogen. Mantel, Hidschab, Abaya, Schuhe und Lippenstift waren perfekt aufeinander abgestimmt, eine Hymne von Flieder, Pink, Rosé, Violett und Brombeer. Im ovalen Rahmen des Hidschabs steckte ein weißes Gesicht mit Pfirsichhaut und großen Mandelaugen, schattiert von einem kunstvollen Make-up aus Braun, Holz und Schwarz.

»Ups!« Fast wäre sie über Cipión gestolpert. Sie hob die Augen vom Handy und deutete auf die Karte mit dem violetten Gehirn in meiner Hand. »Allah befreie uns von der Versuchung des gesunden Menschenverstands!«

Mir stellten sich die Härchen zwischen den Schulterblättern auf. Tuana war noch keine achtzehn Jahre und schon gedankensicher.

»Heute erst zweite Stunde?«, fragte ich des Sozialgeräuschs wegen.

»Dritte. Französisch ist krank.« Sie war schon an mir vorbeigeweht, da drehte sie sich um. »Darf ich Sie mal was fragen?«

»Jederzeit und alles.« Es war mir noch nicht gelungen, sie zum schwesterlichen Du zu überreden. In ihren Augen war ich eine Respektsperson. Oder zu alt, eine Teyze. »Was gibt es denn?«

Tuana senkte die Stimme. »Nicht hier.« Sie schaute die Treppe empor, die ich gerade in Angriff genommen hatte. Cipión wartete mit den Vorderpfoten auf der dritten Stufe.

»Wenn du … Verzeihung, wenn Sie mit hochkommen wollen …«

Mit einem Wehen des brombeerfarbenen Mantels war sie neben mir auf der Treppe. Cipión hüpfte sein Hinterteil auf dieselbe Stufe wie sein Vorderteil.

»Musst … Müssen Sie nicht in die Schule?«,

Tuana zuckte mit den Schultern. »Bei mir sagen die nichts, mehr als fünfzehn Punkte geht ja nicht.« Sie huschte an der Wohnungstür im zweiten Stock vorbei, hinter der ihre Eltern und ihre kleine Schwester wohnten. Cipións Krallen auf der Holztreppe und mein Stiefelgetrampel übertönten Tuanas Schwebeschritte. Vielleicht war es so gedacht, vielleicht auch nicht. Ihr Profil verriet nichts. Zierliches Kinn, volle Lippen, ordentlich Nase, lange Wimpern, der Blick geradeaus.

Meiner Wohnung fehlte der Flur. Man trat unmittelbar ins Wohnzimmer. Cipión stürzte in die Küche, wie immer in der Hoffnung, es könnte sich in unserer Abwesenheit der Napf gefüllt haben. Er wusste es besser, konnte es aber nicht lassen. Tuana zog die Schuhe aus, ehe ich sagen konnte, dass sie das nicht musste. In violetten Socken stand sie auf meinen Dielen, die nach dem Brand- und Löschwasserschaden vor was weiß ich wie vielen oder wenigen Jahren hatten neu versiegelt werden müssen. Ihr Juwelenblick wanderte über meinen alten Kneipentisch mit den Kneipenstühlen, das neue Sofa, den Fernseher und die überladene Garderobe neben der Tür mit dem Akubra-Hut auf der Ablage.

»Ich muss mir schnell was anderes anziehen«, erklärte ich. Ich hatte noch die schwarze Lederhose an, von unserem Besuch einer Vernissage gestern Abend: »Das weibliche Antlitz Stuttgarts«. Mit »Ah!« und »So!« hatten wir uns unter hundert mir mehrheitlich unbekannten Frauen umgeschaut: Käte Hamburger, Marcia Haydée, Clara Zetkin oder Therese Huber, Ende des 18. Jahrhunderts schon Zeitungsredakteurin, da schau her. »Es geht nicht darum, dass Frauen noch mehr Leistungen erbringen«, hatte die Rednerin gesagt, »sondern dass die Leistungen der Frauen endlich sichtbar gemacht werden.« Alles sehr ordentlich und erhebend.

Tuana folgte mir ins Schlafzimmer. »Sie können ruhig Du zu mir sagen.«

»Igitt, ich würde mich wie Ihre Handarbeitslehrerin fühlen.«

Sie lachte höflich. »Wir haben kein Handarbeiten mehr. Kinder, die siezen, sind besser in der Schule. Sie benutzen eine komplexere Grammatik und müssen ihre Sätze besser planen.«

»Sie sind doch kein Kind mehr.« Wann hatte ich je einen Satz geplant? Ich riss die Schranktüren auf und ertappte mich dabei, dass in meinem Hinterkopf die Suche nach einer textilen Ausstattung ablief, die der Öffentlichkeit – etwa einem Mann mit Gewehr am Fenster eines Hotels mit Blick auf irgendeinen Platz – nicht verriet, dass ich eine Frau war. Feigling, ich! So viel zum Terrorpotenzial von Drohungen.

»Stört es Sie, wenn ich …?« Ich hakte die Daumen in den Bund der knirschenden Lederhose. Tuana schüttelte den Kopf und lächelte. Bei so viel bekennender Weiblichkeit vergaß ich gern, dass ich kein Mann war und mein Körper die Ausstülpungen oben, nicht zwischen den Beinen hatte. Also Hosen runter. Frau und Frau war nicht ayıp. »Was wollten Sie denn mit mir besprechen, Tuana?«

Sie blickte auf ihr Handy, das nicht muckste. »Ich habe Angst, dass die Eltern meiner Freundin sie in der Türkei zwangsverheiraten.«

»Ach herrje, immer diese Brutalitäten. Geht’s bei euch nicht auch mal anders?«

Tuana schwieg.

Die neue Sweatpant im Camouflage-Look fiel mir in die Hände, hässlich, schlabbrig. Dazu die schwere Lederjacke und Joggingschuhe für den Straßenkampf. »Sie geht mit dir in eine Klasse?«

»Sie ist in den G9-Zug gewechselt, ich bin G8plus.« Das war für Hochbegabte.

»Zwangsehen mit Minderjährigen sind bei uns verboten. Auch dann, wenn man die junge Frau dazu ins Ausland bringt.«

»Ich weiß.«

»Darauf steht Gefängnis. Sie können die Eltern anzeigen. Oder vielmehr, Ihre Eltern könnten das tun.«

»Ich habe mit ihnen mal darüber gesprochen. Was sie tun würden, wenn sie von so was erfahren würden. Sie sind voll dagegen, also gegen Zwangsheirat.« Ihr Vater war Gefäßchirurg am Katharinenhospital, ihre Mutter führte einen internationalen Handel mit Nüssen. »Aber sie sagen, sie können sich da nicht einmischen. Die Leute vom Dorf haben doch nichts anderes als ihre Ehre.«

»Ist das so?«

Tuana zuckte mit den Achseln. Das wollte sie offensichtlich jetzt nicht vertiefen. »Sosan …«

»Das ist Ihre Freundin?«

»Ja. Sosan hat mir vorhin eine Whatsapp geschickt, dass sie dringend mit mir sprechen muss. Worum es geht, wollte sie nicht sagen, falls es jemand sieht. Ich habe sie angerufen, aber ihr Telefon war nicht mehr am Netz. Vielleicht haben sie es ihr weggenommen. Wahrscheinlich hätte sie aber sowieso nicht mit mir reden können.«

»Und wie kommen Sie darauf, dass sie akut zwangsverheiratet werden soll?« Ich entschied mich für die Cargohose wegen der vielen Taschen.

»Seit Neujahr redet sie davon, dass sie Angst hat, dass ihre Eltern schon Hochzeitsverhandlungen führen. Sie waren letzten Herbst alle bei den Großeltern zu Besuch. Ein Nachbarsohn hat sich für sie interessiert. Und seit gestern ist Sosan krankgeschrieben. Vielleicht fliegen sie heute Abend.«

»Kruzitürk… äh, kahretsin!«

Tuana lächelte unwillkürlich.

»Verdammt, wieso musstet ihr warten, bis alles zu spät ist? Es gibt doch Internetseiten für solche Fälle, Hilfsangebote, Not­telefone … Papatya in Berlin nimmt junge Frauen auf, die ihrer Zwangsheirat entkommen wollen.«

»Aber Sosan müsste mit ihren Eltern brechen, mit der ganzen Familie. Sie können das wahrscheinlich nicht verstehen …«

Konnte ich, wollte ich aber nicht. Eigentlich hatte ich für das Teenagerinnendrama heute keine Zeit. Ich zog Hemd und Weste aus und einen Sweater an. »Sie könnten zum Rektor Ihrer Schule gehen und ihm Ihren Verdacht mitteilen. Er benachrichtigt das Jugendamt, und die kümmern sich drum.«

»Und wenn es doch nicht so ist? Wenn ich mich irre? Das würde Sosan mir nie verzeihen.«

»So was nennt man ein Dilemma.«

Tuana zeigte einen Anflug von Verlegenheit. »Sosan hat einen Freund.«

»Aha.« Jetzt noch die Bikerstiefel.

»Sie sagt, ihr Bruder tötet sie, wenn er es erfährt. Und lieber bringt sie sich selber um, bevor er es tut.«

»Nett von ihr. Damit erspart sie ihrem Bruder auch noch die Gefängnisstrafe wegen Mordes.«

Tuana schwieg.

»Und was kann ich jetzt tun? Wollen Sie wissen, wie man sich am besten umbringt?«

Sie schaute mich skeptisch an. Ich pegelte meinen Lisa-Nerz-Ton runter.

»Okay. Dann schlage ich vor, wir entführen Ihre Freundin mal kurz zur Klärung des Sachverhalts. Wo wohnt sie?«

»In der Böblinger Straße beim Marienplatz.«

Das lag im Süden, während wir uns hier im Osten befanden. Normalerweise gingen Kinder auf Schulen ihres Stadtteils. »Und in welche Schule gehen Sie?«

»Ins Karls-Gymnasium wegen des G8plus.«

»Ich nehme an, Sosan verfügt über einen Computer. Schicken Sie Ihr eine klassische E-Mail oder eine Messenger-Nachricht oder was auch immer Sie so benutzen, dass Sie sich mit ihr treffen wollen.«

»Aber ihr Bruder begleitet sie überallhin.«

»Ich setze ihren Bruder außer Gefecht und Sie flüchten mit Sosan.«

Tuana musterte mich in meiner Rowdy-Montur. »Aber er hat ein Messer.«

»Und ich habe einen schwarzen Gürtel. Außerdem ist Cipión nicht zu unterschätzen.«

Sie lächelte sachte. Ich versuchte zu erkennen, ob skeptisch, nachsichtig oder ablehnend. »Vielleicht bin ich feige … Aber meine Eltern haben viele Freunde unter den Türken.« Sie blickte mich gerade und mutig an. »Mir wäre es egal, wenn sie uns schneiden, aber ich habe eine kleine Schwester. Sie würde nicht mehr zu Geburtstagen eingeladen und so.«

»Das heißt, Sie möchten selbst physisch nicht in Erscheinung treten.«

»Sie verstehen das nicht. In den Familien meiner Freundinnen ohne Mihigru kommen solche Sachen nie vor. Die sagen immer so: Lauf doch einfach weg! Aber es ist unser Herz das Schlachtfeld. Das kann nicht weglaufen.«

War mir zu kompliziert. Vor allem jetzt. Außerdem meldete sich Sally mit einer Nachricht auf meinem Telefon und fragte, wann sie mit mir rechnen konnte. Ich textete: »In einer Viertelstunde. Gehe jetzt los.«

Ein kurzer Blick aus dem Küchenfenster, das über die Halte­stelle Stöckach hinweg den Blick auf die Staatsanwaltschaft erlaubte, wo Richard gerade nicht im dritten Stock saß, ergab, dass sich in Sachen Wetter nichts gebessert hatte. Also Jacke an.

Nur dass in meinem Salon noch die junge Frau in ihrer harmonischen Farbenpracht herumstand und nicht wusste, wohin.

»Vorschlag«, sagte ich. »Melden Sie sich bei mir, wenn Sie wieder Kontakt zu Sosan haben. Ich muss jetzt leider los. Und Sie sollten wohl in die Schule.«

»Ich kann mich sowieso nicht konzentrieren.«

8:43 Uhr

»Dann kommen Sie halt mit«, sagte ich und schnappte mir den Akubra-Hut von der Garderobe, den ich bei einer Ermittlung in Australien gekauft hatte. Mit unseren exotischen Kopf­bedeckungen wanderten wir den menschenleeren Industrie­fassadenschacht der Stöckachstraße entlang Richtung Funkhaus. Tuana schwebte an meiner Seite hinter Cipión her, der im Halsband röchelnd zog. In diesem Punkt wurden auch alte Dackel niemals weise. Märzenschnee rieselte.

Wir mussten was reden. Ich hatte aber nichts zu reden. Zum tantenhaften Smalltalk – »Was macht die Schule? Was ist dein Lieblingsfach? Was willst du denn mal werden?«, alles per Sie – konnte ich mich nicht überwinden. Ohnehin fehlte mir der Sinn für dem Alter und Geschlecht angemessene soziale Rollen.

Ich erzählte Tuana von dem Drohanruf. Ging ja ohnehin schon viral. »Und jetzt sollten wir unter einer Viertelmillion Männer in Stuttgart den einen finden, der heute unter Frauen ein Blutbad anrichten will. Am besten, bevor er es tut.«

»Woher wissen Sie, dass er in Stuttgart wohnt?«, fragte Tuana. »Er könnte auch aus Böblingen oder Ludwigsburg kommen oder aus Kirchheim unter Teck. Ich würde sogar sagen, dass er aus einer Kleinstadt kommt. Bei uns gibt es so viele Möglichkeiten, Leute zu treffen, da muss man nicht Amok laufen.«

»Ach so?«

Ich suchte nebenher auf meinem Telefon nach der Frauentagsdrohung. »Italien will Roma in einem Register erfassen«, meldete ein Nachrichtensender. So geht das los. Zigeunertricks, Zigeunerkönige und Zigeunerschnitzel feierten in den Kommentarfeldern fröhliche Urstände. Die Attentatsdrohung, die der Privatsender Radio Victoria eingestellt hatte, war ungefähr dreißig Mal retweetet worden und hatte reichlich Kommentare erzeugt wie »Einmal im Monat müssen Fozzen Bluten« oder »Nur Tote Pussi ist gute Pussi« und »Die Emanzipation der Frau ist ausgeblieben, weil Frauen lieber Frauenquoten und Frauen­förderung wollen.« Eine fragte: »Warum gibt es für Männer keine gleichwertige Schmähung wie Schlampe für uns?« Darunter: »Hurenbock, Wichser.«

»Dörfer sind das Schlimmste«, fuhr Tuana fort. »Wenn Sosan wenigstens in eine Stadt käme, nach Ankara oder nach Kayseri …«

»Wieso Kayseri?«, fragte ich, abgelenkt von der Frage, wo Radio Victoria sein Sendestudio hatte. Aha: heute war der Tag der Böblinger Straße.

»Weil das Dorf ihrer Großeltern sechzig Kilometer von Kayseri entfernt ist. In einer Stadt, da könnte sie ausgehen, sich mit Freundinnen treffen, aber in so einem Dorf … sie darf nicht arbeiten, kein eigenes Geld verdienen.«

»Was dir fehlt«, las ich in einem Kommentar unter dem Post von Radio Victoria, »ist eine richtig schöne Vergewaltigung, dann wird dir dieser Feministenscheiß schon vergehen.«

»Tja, wie gut würde doch alles flutschen«, bemerkte ich, »wenn die Frauen keinen eigenen Willen hätten!«

»Der Islam ist eigentlich nicht so«, sagte Tuana.

»Ach, nein? Der Katholizismus und der Protestantismus, die sind so.« Ich brauchte nur aus den Kommentaren zu zitieren: »Das Weib schweige in der Gemeinde. Nichts Schändlicheres gibt es als das Weib, durch nichts richtet der Teufel mehr Menschen zugrunde als durch das Weib. Die Frau ist ein misslungener Mann. Der wesentliche Wert der Frau liegt in der Gebärfähigkeit und in ihrem hauswirtschaftlichen Nutzen.«

»Mohammed hat nie eine Frau geschlagen«, erklärte mir Tuana eifrig. Oder eifernd? »Chadidscha, seine erste Ehefrau, war eine vermögende Kauffrau aus Mekka. Mohammed hat für sie als Angestellter gearbeitet, bevor er sie heiratete.«

Ich musste lachen. »Guter Schachzug.«

»Sie hat ihm die Ehe angetragen. Und Aischa, seine dritte Ehefrau, führte Schlachten an und war nach seinem Tod eine geachtete und gefragte Gelehrte.«

»Aber ihr habt doch auch eure Sure.«

Tuana war koranfest. »Sie meinen wahrscheinlich: ›Die Männer stehen über den Frauen …‹ und ›… wenn ihr fürchtet, dass Frauen sich auflehnen, dann ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie! Wenn sie euch gehorchen, dann unternehmt nichts gegen sie.«

»Allahu Akbar!«

»Man muss das richtig verstehen.«

»Religion ist immer ein Fanatismus des Patriarchats.«

»Der Islam hat Frauen von Anfang an das Recht auf Scheidung gegeben. Gab’s das im Christentum im siebten Jahrhundert?«

Richard hätte das gewusst. Ich dachte nur an »Bis dass der Tod euch scheidet«, hielt es aber für möglich, dass es im Mittelalter ganz anders zugegangen war. »Keine Ahnung.«

»Und der Mann …«, Tuanas Augen blitzten stolz, »der muss nach der Scheidung für den Unterhalt der Kinder zahlen. Frauen durften auch erben. In seinem Wesen zielt der Islam auf Gleichberechtigung und Befreiung.«

»Außer Ihnen scheint das aber niemand zu wissen.«

»Das wissen viele. Jedenfalls viele Frauen. Der Kur’an …« Sie sprach Koran arabisch aus. »… ist in einem alten Arabisch geschrieben. Wortbedeutungen haben sich geändert. So kommt es zu einem falschen Verständnis. In der Sure geht es darum, wie ein Mann sich verhalten soll, wenn seine Frau ihn nicht erträgt und gegen ihn rebelliert. Dann soll er sie in Ruhe lassen, er soll sie nicht zwingen, mit ihm zu schlafen, und wenn es nicht anders geht, soll er sich von ihr trennen.«

»Aha.« Noch ein Wort weiter, und wir wären bei der Frage, warum sie aller Welt zeigte, dass sie islamischen Glaubens war. Und das war momentan nicht die entscheidende Frage. Zum x-ten Mal zog sie ihr Telefon, sah nach, ob von ihrer Freundin Sosan eine Nachricht gekommen war, und steckte es wieder in die Manteltasche.

PGM-Chef Volker Levin hatte auf seiner Facebook-Seite bereits seine Einschätzung der Lage verkündet. »Die Drohung ist die logische Konsequenz einer Entwicklung zur Unterdrückung des Mannes, hinter der lesbische Akademikerinnen und Frauenbeauftragte stecken, die bis in die Spitzen der Regierungen in der EU hinein das Gender-Prinzip staatlich verankern und an der Zerstörung der traditionellen Geschlechterrollen und der Schaffung eines neuen Menschen arbeiten. Gewalt geht überwiegend von Frauen aus, die mit feministischer Muttermacht unsere Söhne instrumentalisieren zur Abschaffung der Männlichkeit. Es war eine Frage der Zeit, dass sich bewaffneter Widerstand regt.«

Na, wenn das kein Aufruf zur Gewalt war!

9:01 Uhr

Sally stand mit halb gerauchter Zigarette in der Aschenbecher­ecke unterm Vordach des Kupfersaals. Cipión begrüßte sie gebührend. Ich stellte Tuana vor. Sally schüttelte ausführlich ihre blonde Mähne. In ihren Augen blitzte schon die Frage aller Fragen.

»Und?«, lenkte ich sie ab. »Wie war es mit der Polizei?«

»Fitte junge Burschen. Das hat die total beeindruckt, dass ich den ganzen Anruf aufgeschrieben habe. Aber ich muss nachher noch aufs Präsidium zur Vernehmung mit Protokoll und allem Drum und Dran.«

»Hat er wirklich Ehrenmann gesagt?«

»Hat er. Seltsam, wo du es erwähnst. Und immer dieses Tatütata …« Sie schüttelte sich. »Ein Perverser, wenn du mich fragst.«

»Ein Unfren.«

»Ein was?«

»Das ist eine Zusammenziehung von ›unfreiwillig enthaltsam‹. So nennen sich die Männer, die gerne würden, aber keine Frau finden, die mit ihnen will.«

»Oh, da kenne ich mindestens einen.« Sally verdrehte grinsend die Augen zum Funkhaus hinter und über ihr.

Tuana zog ihr Telefon und begann zu recherchieren.

»Das ist mehr, Sally. Die Unfreiwilligen machen einen Riesenskandal daraus. Und wer ist schuld? Die Frauen. Unfrens treffen sich in ihren Filterblasen und befeuern sich gegenseitig in ihrem Hass auf Frauen.«

»Sie nennen das die Cyan-Pille nehmen«, sagte Tuana mit Blick auf ihr Telefon.

»Hä?«, machte Sally. »Zyankali-Pillen?«

»Cyan ist eine Farbe, ungefähr wie Türkis. Sie steht für Klarheit. Die Cyan-Pille kommt in einem älteren Computerspiel vor. Da soll einer sich entscheiden zwischen einer cyanfarbenen und einer rosa Pille.«

»Rosa Pille, alles easy?«

»Genau«, sagte Tuana. »Damit kehrt er zurück in die Traumwelt, die das System für ihn konstruiert hat. Nimmt er aber die Cyan-Pille, dann öffnet sie ihm die Augen für die Welt, wie sie wirklich ist. Im Spiel ist das der einzige Weg, damit sich was zum Besseren ändert.«

Dem hätte ich gern zugestimmt, ahnte aber, dass es eine Falle war. »Und bei den Unfrens?«

»Bei denen«, navigierte Tuana weiter, »führt das dazu, dass einer ›sich der Wahrheit stellt‹. So nennen die das. Er erkennt, dass Frauen nur auf erfolgreiche Männer stehen, so mit Muskeln und Geld. Er selber hat das nicht und wird nie mit einer Sex haben.«

»Er könnte ja mal was für seine Figur tun, nicht nur vor dem Computer rumhängen und Cola trinken«, bemerkte Sally. »Und sich ein bisschen anstrengen, flirten, zuhören, eine Frau als Mensch ernst nehmen, nicht nur als Sexspenderin. Dann klappt das auch mit der Nachbarin.«

»Vielleicht sind die nur schüchtern«, sagte Tuana. »Wir hatten mal so einen an der Schule. Wenn der mit Mädchen reden sollte, wurde er knallrot und hat Schluckauf gekriegt.«

»Arme Sau«, lenkte Sally ein. »Ja, so was gibt’s. Kann man sicher auch behandeln.«

»Manche sind so wütend und so verzweifelt«, las Tuana sich weiter durch das Wiki, »dass sie schließlich die schwarze Pille nehmen.«

Sally zog die Brauen hoch. »Und das heißt, sie …«

»… töten Frauen und bringen sich selbst um.«

»So wie kürzlich der, wo in den USA rumgeballert hat. Neun tote Frauen, er selber Kopfschuss. Dann war das so einer?«

»Womöglich sind alle Amokläufer frustrierte Frauenhasser«, behauptete ich. »Über den von Montreal, 89 war das, habe ich geschrieben damals, als ich bei der Amazone anfing, mein erster eigener Artikel. Vierzehn Tote, die meisten Frauen. Auch bei dem in Winnenden waren elf von zwölf Todesopfern an der Schule weiblich.«

Sally schüttelte den Kopf. »Ich versteh’s nicht. Wenn es denen nur um Sex geht, könnten sie doch zu Huren gehen. Sex, den kannst du doch an jeder Ecke kaufen.«

»Zu geizig«, sagte ich. »Oder sie wollen eine Frau für sich allein.«

»Vielleicht möchten sie eine richtige Beziehung«, schlug Tuana vor. »Jedenfalls wollen sie Sex nur in der Ehe.«

»Ach was, ich denke, sie haben überhaupt Schiss vor Sex und dem ganzen Drumherum.« Sally stocherte die Kippe in den Aschenbecher. »Vor dem, dass sie sich auf Frauen einlassen müssen, reden, verstehen, das ganze Beziehungsprogramm.«

»Verklemmt hat man das früher genannt«, stellte ich fest. »Das törnt keine Frau wirklich an.«

»Sie geben nicht nur den Frauen die Schuld«, fuhr Tuana fort, »sondern auch den Männern, die Frauen haben. Sie nennen sie die Genormten. Die Unfrens sagen, die Genormten schnappen sich alle Frauen, deshalb bleibt für sie keine mehr übrig. Deshalb sollen Gesetze gemacht werden, die dafür sorgen, dass ein Genormter nur eine Frau haben darf und sie selbst auch eine zugeteilt bekommen.«

»Brrr!« Sally schüttelte sich. »Ich lass mich doch nicht so einem Stinker zuteilen!«

»Und wenn ein Mann versucht«, legte Tuana noch drauf, »die Ehefrau eines andern zu verführen, soll er sofort getötet werden.«

Sallys Blick hängte sich in Tuanas Hidschab. »Kommt mir irgendwie bekannt vor.«

Tuana überhörte das. »Sich selbst sehen sie als Ehrenmänner.«

»Hörste, Sally?« Ich hob den Zeigefinger. »Ehrenmann.«

»Sie meinen, sie könnten Frauen eine gute Ehe bieten, sie seien höflicher und respektvoller als die Genormten. Aber das wollten die Frauen nicht. Frauen seien herzlos, grausam, egoistisch und nur auf ihren Vorteil bedacht, weshalb sie den Alpha-Männern hinterherlaufen und nach oben heiraten.«

»So ein Quark«, blaffte Sally Tuana an. »Habe ich etwa nach oben geheiratet?«

Wieder ließ Tuana sich nicht beirren. Eine bemerkenswert schwer zu beeindruckende Frau. »Sie selbst fühlen sich wie Abschaum, ausgesondert und ausgestoßen.«