Ally Hughes hat manchmal Sex - Jules Moulin - E-Book

Ally Hughes hat manchmal Sex E-Book

Jules Moulin

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Beschreibung

Das Leben ist nicht leicht für Single-Mutter Ally Hughes. Als Dozentin an der Uni bemüht sie sich, den hohen Ansprüchen ihres Chefs zu genügen, zu Hause denen ihrer Mutter. Für eine Beziehung hat sie einfach keine Zeit. Nicht mal für eine Affäre. Doch dann ist da plötzlich Jake, einer ihrer Studenten. Jung, viel zu jung, aber auch hartnäckig. Jake versucht mit allen Mitteln, Allys Herz für sich zu öffnen. Vergeblich. Zehn Jahre später ist Ally noch immer Single. Jake taucht wieder auf, diesmal allerdings als Begleiter ihrer mittlerweile erwachsenen Tochter …

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Für Isabel, in Liebe

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Brodd

ISBN 978-3-492-97477-6

© 2015 Jules Moulin

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Ally Hughes Has Sex Sometimes« bei Dutton, USA

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2016

Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Damals, am Wochenende

Ally Hughes schlich sich nach dem Seminar durch die Hintertür der Hörsäle davon, um auf keinen Fall ihrer Vorgesetzten, Dr. Priscilla Patricia Meer, in die Arme zu laufen. Trotz der beiden Seminare, die sie in jedem Semester hielt, den beliebtesten an der ganzen Uni, seit zwei Jahren immer ausverkauft sozusagen, fühlte sie sich mal wieder überhaupt nicht wie eine Wissenschaftlerin mit Doktortitel, geschweige denn wie eine Professorin.

Sie war spät dran mit ihren Noten. Letzten Dienstag hatte ihre Assistentin Yoko sie heulend angerufen und verkündet, dass sie mit den Korrekturen der Seminararbeiten nicht fertig geworden war – und sie aus Versehen mit zu ihrer Mutter nach Omaha genommen hatte.

Inständig betete Ally darum, die Unterlagen gleich in ihrem Posteingangsfach vorzufinden. Dann hätte sie am Wochenende Zeit genug, um alles zu korrigieren.

An diesem Tag hatte sie nur noch einen einzigen Termin. Mit einem ihrer Studenten: Jake Bean. Danach würde sie nach Hause fahren und sich mit Harry Goodman treffen, einem alten Bekannten, der ihr versprochen hatte, Türen und Fenster ihres Hauses gegen Einbrecher zu sichern.

Ally verschwand in dem Gebäude, in dem sich ihr Büro befand. Auf der Treppe nahm sie zwei Stufen auf einmal, balancierte den schweren Rucksack auf der linken Schulter und presste das Handy ans rechte Ohr. Sie unterhielt sich gerade mit der Telefonistin des East Providence Polizeireviers.

»Es waren also nicht die richtigen Kerle? Die Typen, die Sie festgenommen haben?« Sie kapierte es nicht. Vor zwei Wochen hatte eine Einbruchserie Allys Straße heimgesucht, nur gut drei Kilometer vom Campus entfernt. Drei Einbrüche am Morgen, drei nächtliche Raubüberfälle, drei Männer mit Skimasken, alle drei klein, alle drei bewaffnet. Die Story hatte es bis auf die Titelseite des Brown Daily Herald geschafft: Diebesbande macht unsereStraße unsicher.

Ally schloss die Bürotür hinter sich ab. Sie ließ den Rucksack fallen, trat an ihren Schreibtisch, sammelte die aus Omaha eingetroffenen Klausuren ein und telefonierte weiter.

»Sie sind also auf freiem Fuß? Sagt man das so? Sie laufen immer noch frei herum?«

Ein Blick auf die Wanduhr zeigte ihr, dass sie bereits zu spät dran war für ihre Verabredung mit Harry, aber er kam selbst immer zu spät, und zwar nicht nur wenige Minuten, sondern mindestens zwei Stunden. Wenn er aufkreuzte. Falls er überhaupt aufkreuzte.

Ally hatte Harry angeheuert, um an der Hintertür ein Sicherheitsschloss einzubauen. Seit zwei Wochen wartete sie darauf, und an diesem Wochenende sollte es endlich so weit sein. Harry würde um eins zu ihr kommen, und danach würde Ally sich einbunkern, um die Klausuren zu korrigieren.

Sie liebte das winzige Mietshaus im viktorianischen Stil, auch wenn es fast auseinanderfiel. Seit sechs Jahren bezahlte sie Harry für das Erneuern von Dachschindeln, das Säubern von Regenrinnen und das Abdichten von Fenstern. Sie war überzeugt davon, dass das Haus von innen heraus verrottete, und trotzdem tat sie ihr Bestes, um es drinnen warm zu kriegen, damit Lizzie und sie es gemütlich hatten. Es war kein Fünf-Sterne-Hotel, sagte sie, als ihre Mutter daran herummäkelte, aber es war ihr Zuhause.

Drei Männer mit Skimasken waren allerdings viel schlimmer als undichte Stellen und Schimmel.

Als gäbe es bei ihr etwas zu klauen. Die Zimmer waren mit Secondhandmöbeln eingerichtet: alten Holztischen, noch älteren Stühlen sowie Schreibtischen und Betten, die Ally bei Goodwill, Savers und der Heilsarmee in Newport und Boston gekauft hatte.

Sie beendete gerade das Telefongespräch, als es klopfte. Sie wandte sich zur Tür um und erstarrte. Könnte es ihr Boss sein? »Ja!«, rief sie. »Wer ist da?«

»Jake Bean!«

Sie hatte ihm zwanzig Minuten ihrer Sprechstunde versprochen, um seine misslungene Abschlussarbeit zu besprechen. Auch das gehörte zu ihrem Job, leider.

Sie ging zur Tür und öffnete. Als sie ihn sah, wich sie zurück. »Sie sind Jake?«

»Ich habe einen Termin.«

»Ja! Natürlich!« Sie trat einen Schritt zur Seite, damit Jake eintreten konnte. »Wir haben uns nie persönlich kennengelernt.« Sie schloss die Tür. Jake drehte sich zu ihr um und reichte ihr die Hand, die Ally schüttelte. »Tut mir leid. Bei zweihundert Studenten – mir fällt nicht immer das passende Gesicht zu einem Namen ein.« Ally hatte gehofft, dass Jake Bean der große blonde Typ war, der immerzu lächelnd in der letzten Reihe saß.

Sie konnte es nicht fassen. Das war Jake?

Jake Bean war der Junge aus der letzten Reihe?

Sie hatten sich nie unterhalten, aber der Junge aus der letzten Reihe spukte seit drei Jahren in Allys Kopf herum.

Er sah aus wie dieser Typ – ein Sänger –, den jedes Mädchen an der Brown anschmachtete: John Mayer oder Meyer oder Moyer – irgendetwas in der Richtung mit diesem Body is aWonderland-Ohrwurm. Nur war Jake irgendwie noch attraktiver. Er sah aus wie die Laufstegversion von diesem John. Die ungeschliffene, unschuldige, aber urige Hugo-Boss-Männermodel-Version.

»Professor Hughes, bitte geben Sie mir die Punkte!«, bettelte er und holte sie aus ihren Gedanken zurück ins Büro. »Ich habe kein einziges Seminar verpasst. Ich flehe Sie an.«

Ally tat so, als konzentriere sie sich auf seine Arbeit. »Am besten wär’s, wir reden noch mal über Ihren Text«, sagte sie freundlich. Doch dann klingelte ihr Telefon. Sie beugte sich vor, um die Nummer auf dem Display lesen zu können. »Warten Sie kurz, ich muss rangehen.« Sie drehte sich von ihm weg. »Was gibt’s, Harry?«

Sie hörte ihm kurz zu und wurde langsam immer wütender. »Ehrlich, Harry? Ist das dein Ernst? Dreimal, Harry. Dreimal hast du mir schon abgesagt … Kannst du wenigstens den …?« Sie hörte wieder zu. »Nein, gut. Aber nein, Harry. Ruf nicht mehr an! Auf Wiedersehen, Harry.« Sie legte auf und holte tief Luft.

»Alles in Ordnung?«

»Nein«, sagte Ally. »Ich habe eine Tochter, die in vier Tagen zehn wird, und ein Stockbett, das aufgebaut werden muss. Und der Alleskönner Harry sagt mir gerade zum vierten Mal ab.«

»Sie haben eine Tochter?«

»Ja«, erwiderte sie.

»Dumm gelaufen.«

Ally lachte. »Nein, so läuft es immer in meinem Leben.« Sie war sauer. Seit Jahren bettelte Lizzie um ein Stockbett. Ally hatte gespart und endlich zu Lizzies Geburtstag eins gekauft. In Einzelteile verpackt, stand das Bett seit Wochen versteckt im Keller und musste noch zusammengebaut werden.

Und sie brauchte ein richtiges Schloss. Für die Hintertür. Und die Fenster im Erdgeschoss mussten gesichert werden.

Sie brauchte so vieles.

Kopfschüttelnd zog sie Jakes Arbeit zu sich heran und griff nach einem Stift. »Ich finde schon … jemand anderen.«

»Was ist mit Ihrem Mann? Kann er das nicht erledigen?«

Ally blickte kurz zu Jake auf und senkte dann rasch den Kopf. Es war eine ganz natürliche Frage, aber eine persönliche. »Ich habe keinen«, erklärte sie leise. »Ich bin eine … Sie wissen schon … eine alleinerziehende … Mutter.«

»Ich mach’s.«

»Was?« Sie konzentrierte sich auf die Arbeit, auf Jakes Kurzbiografie von Anaïs Nin.

»Ihr Bett.«

»Danke.« Ally blickte auf. »Entschuldigung. Was?«

»Mein Bruder und ich, wir haben eine Firma. Bücherregale, IKEA. Puppenhäuser. Wissen Sie, welche Fähigkeiten – welches Talent besser gesagt – man braucht, um diesen Barbie-Fahrstuhl in Gang zu bringen?«

Ally lächelte. »Ja, weiß ich«, sagte sie. Verrückt, Lizzie hatte diesen Fahrstuhl in ihrem Barbie-Dreamhouse. »Aber kommen wir zurück zu diesem ersten Teil hier … Dem Teil, der so … pseudoakademisch klingt.«

Jakes starrer Blick schweifte an Ally vorbei durchs Fenster hinaus zu den Bäumen. Er genierte sich. »Ich kann nicht gut schreiben«, gab er zu. »Ich versaue alles.«

»Nein, tun Sie nicht. Die Ideen sind toll, die meisten jedenfalls. Aber der Teil ist zu lang, und Sie ändern den Tonfall. Am Anfang verwenden Sie diesen künstlichen akademischen Ton.« Sie sah ihn direkt an. »Warum?«

Jake zuckte mit den Achseln. »Um intelligent zu klingen.«

»Aber Sie sind intelligent.« Ally blätterte vor auf Seite vierzehn. »Ihr Tonfall ändert sich nach einem Viertel des Textes. Sie lassen Nin außen vor. Sie lassen Ihr Thema komplettaußen vor und faseln vierzig Seiten lang unzusammenhängendes Zeug.«

»Ich hebe einfach ab vor Begeisterung.«

»Sie schweifen ab: tantrischer Sex, Britney Spears?«

»Ja, tut mir leid.«

»Dieser Teil hier …« Sie wies auf einen Absatz und las ihn laut vor. »In der Popkultur werden alte Frauen wenig geachtet, aber ich glaube, sie haben’s voll drauf.« Sie sah ihn an. »Haben’s voll drauf?«

»Stimmt doch.«

»Aber voll draufhaben in einer Semesterarbeit?«

»Sie meinten, wir sollen unsere eigene Meinung einbringen«, sagte er. »Das ist meine Meinung.«

»Oder hier: ›Krasser Sex ist ein Fast-Food-Burger. Heiliger Sex ist ein Porterhouse-Steak.‹ Faszinierende Aussage, ganz bestimmt, aber was genau bedeutet das?«

»Es muss Liebe im Spiel sein«, erklärte Jake.

»Es muss Liebe im Spiel sein, damit das Fleisch nach was schmeckt?«

»Sex, genau wie alles andere … Professor Hughes, darf ich was sagen?«

»Bitte, schießen Sie los!« Ally lehnte sich zurück.

Jake beugte sich vor. »Alles hängt doch irgendwie mit allem zusammen. Produktive Milchkühe, unproduktive Milchkühe. Guter Sex. Schlechter Sex. Und wenn Sie mich fragen, befindet sich Anaïs Nin auf der untersten Stufe der Skala, was das Ficken betrifft. Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise.«

»Ficken ist kein Ausdruck der französischen Avantgarde.«

»Was soll also dieses Seminar zur Verherrlichung von Anaïs Nin?«

»Also gut, zugegeben, ich sehe das genauso.«

Jake war überrascht. »Wirklich?«

Ally seufzte. »Wenn ein Lehrstuhl einen SOS-Ruf für ein bei den Studenten äußerst beliebtes Seminar absetzt, weil der zuständige Professor zu einer einjährigen Forschungsreise aufbricht, um den geschlechtsspezifischenFreizeitgewohnheitenAchtzigjähriger inGriechenland und Italien nachzugehen …«

Jake grinste.

»Wenn dann eine unbedeutende Nummer wie ich gebeten wird, dieses Seminar zu unterrichten, nun ja, dann sagt sie möglicherweise zu. Vor allem, weil sie demnächst auf dem Prüfstand stehen wird.« Ally brach unvermittelt ab. »Tut mir leid«, sagte sie. »Zu viel Koffein. Ich sollte besser den Mund halten.«

»Sie war eine richtig, richtig üble Lügnerin.«

»Wer?«

»Nin. Ist das nicht …?«

Wie aufs Stichwort klopfte es viermal schnell hintereinander an Allys Tür. Meers Erkennungszeichen. Wumm-rums-wumm-wumm. Ally erstarrte. Noch mal vier.

»Ich komme!«, rief Ally und wappnete sich, während sie sich vom Stuhl erhob, das Büro durchquerte und die Tür öffnete. »Hallo! Priscilla! Hallo!«

»Ich habe dir eine Nachricht hinterlassen«, sagte Meer sichtlich verärgert. »Wo bleiben deine Noten?«

»Die kommen«, erwiderte Ally. »Gleich Montagfrüh. Eine meiner Assistenten musste nach Hause fahren.«

»Wer?«, fragte Meer mit verschränkten Armen, in denen sie einen hohen Stapel Arbeiten fest umschlungen hielt.

»Sie war krank.«

»Wer?«

»Das möchte ich nicht sagen«, erwiderte Ally ausweichend.

»Du musst aufhören, sie zu bemuttern …«

»Ich habe gerade einen Studenten da. Montagfrüh, okay?«

Meer äugte um die Tür herum. »Wo?«

»Hier … er ist …« Sie öffnete die Tür, um Jake zu offenbaren. Jake winkte.

»Oh«, sagte Meer.

»Tut mir leid, dass ich nicht zurückgerufen habe. Die Arbeiten der Studenten des Abschlussjahrgangs sind fertig. Ich habe bereits mit dem Sekretariat gesprochen.«

»Gut«, erwiderte Meer, drehte sich um und marschierte davon. Ihre hohen Absätze drohten den Holzboden zu zertrümmern.

Einen Moment lang blieb Ally reglos stehen. Dann blickte sie zu Jake hinüber und schloss die Tür. Sie nahm wieder Platz und sah ihn an. »Entschuldigung. Wo waren wir gerade stehen geblieben?«

»Bei der Lügnerin. Nin. Mit zwei Typen gleichzeitig verheiratet. Beide betrogen.«

Ally nickte.

»Sex aus Rache mit ihrem Dad? Weil er sie verlassen hat? Wer macht so was? Sie war pervers und eine hochnäsige Soziopathin.«

Ally lächelte. »Aber erfolgreich mit ihrem Schreiben. Im Gegensatz zu Ihnen.«

Jake zuckte mit den Achseln und sah weg. Er war rot geworden. »Kann sein.«

»Sie brauchen sich nicht zu genieren. Ich werde Ihnen die Punkte geben, aber …«

»Was? Ehrlich?«

»Ja, aber …«

»Ich liebe Sie!«

»Was?«

»Ich liebe Sie! Danke!«

Ally lachte. »Zurück zu Ihrer Arbeit, Jake! Sie können nicht zweiundfünfzig Seiten abgeben, wenn ich zwölf verlangt habe.« Sie griff nach den Aktenmappen auf ihrem Schreibtisch. »Hier, Ihre gesammelten Werke aus drei Jahren.« Sie legte die Mappen auf den Schoß und öffnete eine. Die Akte enthielt eine Seminararbeit zur Semestermitte und eine zum Semesterende, fünfzig und achtzig Seiten lang. »Erinnern Sie sich daran?« Sie reichte ihm die oberste.

Er sah sie sich kurz an. »Die … die habe ich im ersten Semester geschrieben.«

»Und ich habe sie alle gelesen. Ich bewahre sie alle auf.«

»Warum?«

»Keiner meiner Assistenten weiß, was er damit anfangen soll. Geschweige denn, wie man sie benoten soll.« Ally lachte. »Diese hier, über das Feuer in der Triangle Shirtwaist Factory 1911, für das Seminar Frauenund Arbeit. AchtzigSeiten lang.«

»Das war mein Lieblingsseminar. Es hat mich so inspiriert. Was soll ich sagen?«

Ally stand auf und zog ein Taschenbuch aus dem Regal. »The Elements of Style – hier steht alles drin, was Sie lernen müssen, um sich kurz zu fassen.« Sie reichte es ihm, aber Jake wollte es nicht annehmen. »Bitte«, sagte sie.

»Ich kann es mir selbst kaufen.«

»Ich habe noch eins.«

»Ihre Sex-und-Gender-Seminare …«

»Jake, beim Schreiben …«

»Ich komme nicht wieder.«

Überrascht sah Ally ihn an.

»Ich brauche die Punkte, falls ich die Uni wechsle. Irgendwann. Eines Tages vielleicht. Studieren an der Brown ist sündhaft teuer, und ich will keine Schulden machen. Ich komme nicht wieder.«

Ally blinzelte, aber sie wusste, wovon er redete. Für ihren Master und die Doktorarbeit an der Brown hatte sie Glück gehabt: Zuschüsse und Stipendien. Aber jetzt, da sie ihren Doktor hatte, ertrank sie in den Schulden ihres Bachelorstudiums. Sie legte das Buch auf den Schreibtisch und setzte sich wieder.

»Deshalb will ich Ihr Bett zusammenbauen. Ich brauche das Geld.«

»Verstehe«, sagte sie und dachte darüber nach. Sie wollte, dass ihr jemand half. Darum ging’s nicht. Sie brauchte die Hilfe. »Können Sie ein Bolzenschloss einbauen?«

»Haben Sie’s schon gekauft?«

»Ja.«

»Ich hoffe, Sie waren bereit, Geld dafür auszugeben. Mir gefallen die von Schlage. Das Gehäuse muss stoß- und schlagfest sein.«

Ally nickte. »In meiner Straße wurde eingebrochen. In den letzten zwei Wochen. Die Fenster müssen …«

»Nägel in die Fensterrahmen. Kästen der Klimaanlage mit Stoppern sichern. Haben Sie solche Kästen?«

Ally beobachtete ihn beim Reden. »Ja, aber können Sie diese Stopper einsetzen?«

Jake nickte. »Werkzeug liegt im Kofferraum. Auto steht auf der Thayer Street.«

Ally dachte nach. Da quietschte auch noch die Tür zu Lizzies Zimmer. Ally wollte hinein- und hinausgehen, während Lizzie schlief, ohne sie aufzuwecken. Sie wusste, dass die Türangeln dieses Fett brauchten, wie auch immer das hieß, aber sie war nicht ganz sicher, ob nicht doch die ganze Aufhängung irgendwie kaputt war.

Kam sie da in einen Interessenskonflikt? Mit Jake? Wenn sie ihn anheuerte? Immerhin hatte er ihre Kurse besucht.

»Professor Hughes«, fuhr Jake fort, »meine Mutter hat uns allein großgezogen. Vier Jungs. Ich weiß, wie das ist. Sie kümmern sich um alles, aber niemand kümmert sich um Sie. Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen helfe. Damit helfen Sie auch mir.«

»Jake«, sagte sie, »ich bin handwerklich unbegabt. Harry sollte … einiges reparieren. Das ganze Wochenende. Samstag, Sonntag …«

»Sieben Dollar die Stunde. Ich erledige alles«, bettelte Jake.

Ally musterte ihn.

In jedem Seminar war Jake vor ihr da, und er ging als Letzter. Er lungerte noch draußen in der Halle herum oder vor der Tür, als ob er noch Fragen hätte, aber er sprach sie nie an, ergriff nie das Wort oder meldete sich.

Sehr oft blieb Allys Blick während ihres Seminars an ihm hängen, und dann lächelte er auf eine Art und Weise, die ihr den Atem verschlug und ihre Gedanken benebelte.

Er hielt ihrem Blick stand, als würde er irgendetwas bewerten, Ally oder ihr Seminar. Sie wusste nicht, was genau, aber er schien sich zu amüsieren.

Irgendwann hatte sie beschlossen, ihn zu ignorieren. Der Junge ganz hinten, so redete sie sich ein, kam nicht, um etwas zu lernen. Jungs in der letzten Reihe kamen nur, um ein Statement abzugeben. Ihr Interesse war gleich null. Sie saßen aus Protest ganz hinten.

Sie wusste nicht, dass der Junge in der letzten Reihe Jake Bean war. Jener Bean mit den Liebesbriefen, wie ihre Assistenten seine Arbeiten nannten – leidenschaftlich, das mit Sicherheit, aber endlos.

»In Ordnung«, sagte sie schließlich und nickte. »Dann machen wir das so.«

»Ich fahre Ihnen hinterher?«

»Ja«, stimmte sie zu, hob das Buch auf und reichte es ihm.

»Also gut.« Jake nahm es an.

»Danke«, sagte sie und meinte es auch so.

»Nein, ich danke Ihnen.«

Zehn Jahre später

»Muss ich es fürs Studium verwenden?«, fragte Lizzie aus heiterem Himmel.

Ally kämpfte mit der Fernbedienung. »Wovon redest du?«

Es war acht Uhr abends, und Mutter und Tochter hatten es sich voller Vorfreude auf Allys Bett gemütlich gemacht. Sie würden sich Die Reifeprüfung ansehen und dabeiihr Frühstück als Abendessen von zwei Tabletts essen: Omelette und Crêpes. Das war der Plan.

Ally trug Boxershorts und Jakes altes T-Shirt mit dem Red-Sox-Aufdruck, das sie behalten hatte. Lizzie war im Pyjama.

»Das Geld, das sie mir vererbt hat«, redete Lizzie weiter. Allys Mutter, Lizzies Großmutter – Claire Anne Hughes –, war im März verstorben, vor vier Monaten. Sie hatte Lizzie Geld hinterlassen, fürs Studium.

»Warte. Verflixt. HD eins oder HD zwei?«

»Ich weiß nicht, ob die Juilliard School das Richtige ist.«

»Warte. Mist.« Ally drückte wie wild auf den Knöpfen der Fernbedienung herum und rutschte auf die Bettkante am Fußende.

»Erstens werde ich nicht angenommen. Das wissen wir beide. Und selbst wenn, warum soll ich vier Jahre lang Tschechow auswendig lernen, wenn ich gleich als Schauspielerin zum Fernsehen gehen kann? Alle sagen, jetzt herrschen gerade goldene Zeiten …«

»Meine Güte, wir haben ein ferngesteuertes Auto auf dem Mars, aber wir können keine einfachere Fernbedienung bauen!« Ally war genervt.

»Mom?«

»Ja?«

»Ich nehme Claires Geld, aber nicht zum Studieren. Wäre das okay?«

Ally drehte sich zu Lizzie um und begutachtete ihr eigenes Tablett. Das Essen wurde kalt. »Bitte leg eine Serviette über meinen Teller!«

Lizzie breitete die Serviette ihrer Mutter und ihre eigene über den Teller, um den Dampf einzufangen und das Essen warm zu halten.

»Endlich!«, rief Ally. Der Film fing an. Sie kletterte wieder aufs Bett und zog das Tablett mit dem Abendessen auf den Schoß. »Na schön, von mir aus. Alle behaupten immer, in dem Film ginge es um eine Ära, aber ich finde, es geht um Liebe und Begierde. Und wie es ist, als Frau alt zu werden …«

»Mom, hast du mir zugehört? Wegen des Geldes?«

Auf dem Bildschirm saß ein junger Dustin Hoffman nach seinem Collegeabschluss reglos und deprimiert auf dem Weg nach Hause in einem Flugzeug.

»Was ist damit?«

»Bekomme ich das Geld?«

»Wofür?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

Ally reckte sich nach der Fernbedienung und drehte die Lautstärke auf. »Klar, für dich ist er Captain Hook. Für mich ist er Tootsie. Wenn du Schauspielerin werden willst, Liebes, nimm dir Dustin Hoffman als Vorbild! Wir sollten uns besser Tootsie ansehen, da geht es um Schauspielerei und um Frauen …«

»Mutter, bitte! Vergiss den Film mal für zwei Sekunden. Bitte!«

»Was ist denn los? Warum?« Ally stellte den Fernseher noch lauter.

»Ich habe mit Cybil gesprochen. Du weißt schon, mit meiner Agentin. Sie meint, ich solle etwas mit meiner Nase machen lassen.«

»Wie bitte?« Ally sah Lizzie zum ersten Mal seit zehn Minuten richtig an. »Was denn?«

»Sie findet, wenn man sich als Schauspielerin die Nase richten lassen muss, dann sollte man das machen, wenn man jung ist, so wie Marilyn Monroe. Wenn man älter ist …«

»Moment mal. Worüberreden wir gerade?«

Lizzie schwieg einen Augenblick lang und holte tief Luft. »Claires Geld.«

»Du willst eine Nasen-OP?«

»Bitte, flipp nicht aus! Das Ganze kostet achtzehntausend, was zweitausend weniger ist als …«

»Elizabeth, warte kurz! Ich bin … warte nur ganz kurz!« Ally schob ihr Tablett beiseite, schnappte sich die Fernbedienung und hielt den Film an. Dann drehte sie sich wieder um und setzte sich mit angezogenen Beinen Lizzie gegenüber, fassungslos.

Angesichts der drohenden Niederlage wurde Lizzie blass. »Es fällt mir wirklich schwer. Überhaupt mit dir darüber zu reden.«

»Ich bin … gib mir … okay … gib mir nur einen Moment, um mich von dem Schock zu erholen, damit wir …«

»Was?« Lizzie starrte auf ihren Teller. »Darüber reden? Mein Entschluss steht fest.«

»Ja, Liebes. Ja, wir sollten darüber reden wie zwei vernünftige, erwachsene Menschen. Weil du wissen musst, dass ich dir auf gar keinen Falljemals … irgendwann einmal … niemals Geld dafür geben werde. Niemals.«

Lizzie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht eitel, Mom. Es geht um Physik.«

»Physik?«

»Wir haben zwei Augen. Die Kamera hat nur eine Linse. Ohne Tiefenwahrnehmung. Also … also verflacht sie alles. Was eben gerade im Vordergrund ist. Eine Linse macht alles breiter und größer.«

»Und?«

»Und sie macht jeden Menschen fünf Kilo schwerer. Deshalb müssen Schauspieler so dünn sein, um normal auszusehen, und deshalb sieht meine Nase auf dem Bildschirm größer aus als im wirklichen Leben.«

Ally wurde weicher und rückte dichter an Lizzie heran, um die Sache auszudiskutieren und um ihrer Tochter den Kopf zurechtzurücken. Sie nahm Lizzies Hand. »Schätzchen, erstens: Dein Körper ist heilig. Zweitens: Du bist wunderschön.«

»Es geht nicht um Schönheit, sondern um deren Abbild. Und wie sich Dreidimensionalität in zweidimensionale Bilder umsetzen lässt.«

»Sagt Cybil?«

»Ja, aber …«

Ally ließ Lizzies Hand los und rieb sich die Stirn. Sie kratzte sich am Hinterkopf, bekam Panik und stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Diese Cybil? Ist das diese Frau, die … die dir geraten hat … die dir rät, deine Haare zu färben?«

»Ich sag’s noch einmal: Strähnchen.«

»Und fünfzehn Kilo abzunehmen?«

»Mutter. Ja. Ich habe dir gerade erklärt …«

»Die dir geraten hat, du solltest … die meiner Tochter geraten hat … bei einer Größe von einem Meter achtundsiebzig geraten hat, um die fünfundvierzig Kilo zu wiegen?«

»Beruhige dich. Siebenundvierzig Kilo.«

Ally bemühte sich durchaus, ruhig zu bleiben. Eine Methode, die sie bereits anwendete, seit Lizzie drei Jahre alt war: Statt vor Wut immer lauter zu werden, flüsterte sie nur noch. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte sie ganz leise. »Mit dem großen Ganzen oder … oder mit der Tatsache, dass es hier nicht um ein Tattoo geht. Du kannst es nicht wieder rückgängig machen. Oder damit, dass du zulässt, wie irgendein Arzt dich aufschlitzt, nur um dich anzupassen und …«

»Ich passe mich nicht an!«, unterbrach Lizzie ihre Mutter. »Ich will in einem Film mitspielen. Ich habe keine Bühnenerfahrung. Und ich will, dass meine Nase weniger groß aussieht. Wenn ich eine große Nase brauche, kann ich sie mir modellieren lassen. Wie Nicole Kidman. Für die Rolle als Virginia Woolf hat sie sich eine Nase modellieren lassen. Ich möchte diesen Spielraum für mich schaffen.«

»Das kaufe ich dir nicht ab. So groß ist deine Nase nun auch wieder nicht.«

»Ich will es so machen. Ich werde es so machen. Mit Claires Geld oder mit meinem Ersparten.«

»Nein. Weil … bis du so viel Geld zusammengespart hast, habe ich dich wieder zur Vernunft gebracht. Ich will mit Cybil sprechen.«

»Was?«

»Ja!«

»Nein! Das ist … nein! Ich bin zwanzig und keine fünf mehr. Sie ist nicht meine Lehrerin.«

»Sie sagt dir fälschlicherweise, dass deine Nase dich davon abhält, Erfolg zu haben. Sie schafft es, dass dudich für dich selbst schämst und dich verändern willst, obwohl du vollkommen bist. Als müsse man dich zusammenflicken …«

»Sag das nicht!« Lizzie starrte verzweifelt auf ihren Teller. Sie wollte einen lustigen Abend mit ihrem Lieblingsessen vor dem Fernseher verbringen, aber inzwischen waren das Omelette und die Crêpes längst kalt. »Du glaubst natürlich, dass du recht hast«, sagte sie kühl. »Hören wir auf damit. Nimm dir Zeit und denk darüber nach!«

»Aber du versprichst mir, nichts zu unternehmen, ohne vorher mit mir darüber zu reden, ja? Bitte!«

»Warum? Damit du mich rechtzeitig wegsperren kannst?«

»Na ja, das wäre eine Möglichkeit … Aber wenn du es wirklich machst, Schatz, muss auch ich mich seelisch darauf einstellen. Es wird mir …« Ally drehte sich weg und brach in Tränen aus.

Lizzie schloss die Augen. »Es wird dir was?«

»Das Herz brechen«, stammelte Ally schluchzend. Aus Angst redete sie nun lauter. »Du bist witzig und siehst umwerfend aus. Auf der Straße drehen sich alle nach dir um.«

»Weather durfte es machen lassen! Mit zwölf!«

»Weather brauchte dringend eine neue Nase. Du erinnerst dich nicht daran. Ihre Nase war abartig breit. Ich bin auch nicht gegen Kieferspalten-OPs. Ich habe nichts gegen …«

»Mom!«, flehte Lizzie. »Nicht weinen, bitte!« Sie griff nach einer Serviette und reichte sie ihrer Mutter. »Bitte nicht! Vielleicht kann ich es dir ein andermal besser erklären.«

Verzweifelt versuchte Ally, sich wieder in den Griff zu kriegen. Seit Monaten reagierte sie so, auf alles. Seit Claires Lungenkrebsdiagnose war sie weinerlich, oberlehrerinnenhaft und dann wieder weinerlich. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hielt sie ungefragt und ohne Rücksicht auf Verluste irgendwelche Vorträge. Und sie heulte die ganze Zeit. »Was ist, wenn du dabei stirbst?«

»Wie genau sollte das passieren?«

»Wegen der Narkose.«

»Worst-Case-Szenario. Die Chancen liegen bei null Komma null eins Prozent.«

»Ach ja? Dann kommt es also zum Worst-Case-Szenario.«

»Okay, vergiss es!« Lizzie schob ihr Tablett beiseite und kletterte vom Bett. »Ende der Diskussion, ich bin fix und fertig.« Sie rannte zur Kommode und drückte auf den Startknopf des DVD-Spielers. »Genau wie du.« Sie kletterte wieder zurück aufs Bett und machte es sich gemütlich. Ihre Mutter trauerte und drehte durch und trauerte.

Ally warf ihr einen wütenden Blick zu, dann biss sie von ihrem Crêpe ab.

Beide beruhigten sich.

Früher am Abend hatte sie das Mehl – glutenfrei für Lizzie – extra fein gesiebt, um den Teig noch sämiger und die Ränder noch knuspriger zu machen, so wie Lizzie es am liebsten mochte. »Der Sirup ist noch heiß. Nimm dir!«, sagte sie und hielt ihr den Krug hin.

Lizzie griff danach und goss Sirup über ihre Crêpes. Sie trank den Orangensaft mit einem Strohhalm und konzentrierte sich einen Moment lang auf den Film.

Ally gelang das nicht. Ihr Blick schoss zwischen ihren Crêpes und Lizzie, Lizzies Nase und dem Fernseher hin und her, in dem Dustin Hoffman als Benjamin Braddock gerade sein Gepäck auf dem Flughafen in Los Angeles abholte. »Dustin Hoffman hat eine große Nase.«

Lizzie schwieg.

Allys Blick schweifte durch das Zimmer.

Sie war vor vier Jahren wieder hergezogen, zurück in das Stadthaus, in dieses Zimmer, ihr Kinderzimmer, und hatte die Relikte weggeräumt: Stofftiere, eingerahmte Auszeichnungen, gerahmte Fotos von Amelia Earhart und Nellie Bly. Die Wände waren jetzt absichtlich leer geblieben, abgesehen von einer Landkarte, und der Fernseher stand so, dass sie vom Bett aus Nachrichten sehen konnte, was sie aber selten tat. »Und vergiss nicht, dass du Israelin bist!«, nuschelte sie vor sich hin.

»Im Ernst? Ich habe total vergessen, dass ich halbe Israelin bin!«

»Wenn du wie diese typisch amerikanischen Christie Brinkleys aussehen willst, durchschnittlich und spießig …«

Lizzie legte eine Hand auf Allys Arm und tätschelte ihn. »Kein Wort mehr! Nicht heute Abend. Tut mir leid, dass ich davon angefangen habe.«

Ally sah ihre wunderschöne Tochter an. »Mir auch.«

Jake schlang die Arme um den Kasten der Klimaanlage und hob ihn hoch, als wöge er nichts. Keinerlei Zögern. Keinerlei Anstrengung.

Ally beobachtete ihn. »Wow«, sagte sie. Sie konnte das Ding kaum mit dem Fuß verschieben, als sie es für Harry entstauben wollte.

Jake ist fit, dachte sie von ihrem Beobachtungsposten aus, aber nicht auf so künstliche Art, als hätte er seine Muskeln im Fitnessstudio aufgepumpt. Er war fit, als würde er richtig arbeiten, auf einer Baustelle oder irgendwas anderes im Freien. Als würde er gegen Feuer kämpfen. Als würde er Leben retten.

»Wohin damit?«

»Hier entlang«, sagte sie. Er folgte ihr durch die Garage ins Haus.

Als sie das Haus betraten, war Ally erleichtert. Die Küche, das Haus – das ganze Haus war aufgeräumt. Muriel hatte morgens geputzt, und zwar gründlich. Alles befand sich an seinem Platz, mustergültig, von der Fußleiste bis zur Decke, und Ally war dankbar dafür. Muriel hatte jeden Filzstift, jedes Puzzleteil, jeden Sticker, Pinsel und jede Puppe weggepackt.

»Können Sie so ein Ding gebrauchen?« Sie taumelte durch die Küche, und ihr wurde fast schwindelig, als sie ihn hinaus in den Flur zur Treppe geleitete. Das Haus hatte sich im Verlauf des Tages aufgeheizt.

»Welches Ding?«

»Das darunter gehört. Mein Vermieter meinte, man soll so ein Ding benutzen.«

»Die Universal-Auflagekonsole?«

»Genau.« Langsam ging sie die Treppe in den ersten Stock hinauf.

»Haben Sie denn eine?« Er folgte ihr.

»Ja, sogar zwei.«

Ally geleitete ihn in Lizzies Zimmer. »Hier«, sagte sie und deutete auf das Fenster, das am weitesten vom Bett entfernt war. »Ich will nicht, dass sie im Schlaf davon angepustet wird.«

»Alles klar.« Er ging in die Hocke, um die Klimaanlage abzustellen. »Darf ich die Bücher wegschieben?«

»Nein, auf keinen Fall! Benutzen Sie den Schreibtisch.« Lizzie hatte ihre Nancy-Drew-Sammlung, sechsundfünfzig Bücher, auf dem Fußboden angeordnet, angefangen mit Das Geheimnis der alten Uhr.

»Ihre Tochter liest gern.«

»Eine echte Kriminalistin. Spione. Geheimnisse. Sie ist besessen davon.«

Jake lächelte und bestaunte die Bücher.

»Am besten zeige ich Ihnen, wo die zweite hinsoll.« Ally verließ das Zimmer und ging den Flur entlang zu ihrem Schlafzimmer. Jake folgte ihr, behielt aber sein eigenes Tempo bei, gemächlicher und entspannter als Ally.

Die Tatsache, dass sie sich allein mit einem Fremden – und dazu noch einem Mann – in ihrem Haus aufhielt, war ihr bis zu dem Augenblick nicht bewusst gewesen, als sie den Raum betrat, in dem sie schlief und sich auszog, und Jake dicht hinter ihr ebenfalls in dieses Zimmer kam.

Muriel hatte einen Stapel frisch gewaschener Unterwäsche auf dem Bett liegen gelassen. Ally stürzte sich darauf, sammelte alles ein und deutete in eine Ecke. »Dieses Fenster hier, bitte. Da hinten.«

Sie ging zu ihrer Kommode, öffnete eine Schublade und stopfte die Unterwäsche hinein.

»Hübsches Zimmer.« Jake sah sich um und schob eine Hand in die Hosentasche. »Großes Bett.«

Ally drehte sich um und betrachtete das Bett. Es war riesig. »Meine Tochter schläft meistens bei mir. Sie ist in New York. Waren Sie schon mal dort?«

»Nein.« Nein, war er nicht.

Ally nickte, verließ das Zimmer und eilte mit großen Schritten den Flur entlang. Sie hastete die Treppe nach unten, und Jake folgte ihr. »Dürfte ich ein Bier haben?«, fragte er höflich. »Falls Sie eins dahaben.«

Ally drehte sich zu ihm um. Einerseits: Ja, klar, was sonst wollte ein Collegekid an einem Freitagabend während der Arbeit trinken? Andererseits: ein Bier? »Sind Sie einundzwanzig?«

»Ja, bin ich, aber das Gesetz gilt für den Erwerb, nicht für den Verzehr.« Er neigte den Kopf zur Seite, als würde er diese Regelung einem Kind erklären.

»Oh«, sagte Ally. Das hatte sie nicht gewusst. »Also dann, na klar.« Sie betrat die Küche und trat an den Kühlschrank. »Ich habe nur Stella.«

»Logisch«, meinte Jake und ging an ihr vorbei in die Garage.

Gegen neun Uhr abends hatte Jake beide Kästen der Klimaanlagen installiert. Er baute ein Bolzenschloss ein und sicherte sechs der Fenster im Erdgeschoss. Er reinigte eine Wand im Keller mit Bleiche, stellte Lizzies Fahrradsattel höher, baute ihr Stockbett zusammen und hievte das untere Bett auf höhere Füße, damit ein Ausziehbett daruntergeschoben werden konnte.

Das alles erledigte er mit einem Transistorradio an der Seite. Die Red Sox spielten, und – Pech für Jake – die Mariners siegten.

Ally fand noch Pizzateig in der Tiefkühltruhe. Eigentlich hätte sie korrigieren und nicht in der Küche herumwerkeln, Snacks zusammenstellen und eine Pizza für Jake backen sollen. Aber sie war nervös, verunsichert durch seine Anwesenheit, verwirrt von den vielen Geräuschen, die er verursachte. Das Radiogeplapper und das Sirren seiner schwarzen Bohrmaschine in nächster Nähe. Seine Schritte auf ihrem Holzboden.

Wenn Ally sich beruhigen musste, kochte sie. Sie kochte oder buk oder kochte und buk gleichzeitig. Eine Angewohnheit, die angefangen hatte, als sie erst sechs war, kurz vor ihrem siebten Geburtstag.

»Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Er war in die Küche gekommen und hatte sie erschreckt. Sie zog gerade die Pizza aus dem Ofen. Sie stellte sie auf dem Küchentresen ab, als Jake wieder loszog, und diesmal war es Ally, die ihm hinterherlief.

»Ich möchte Ihnen zeigen, wie das geht.«

Im ersten Stock war es dunkel. Ally schaltete am Ende der Treppe eine Lampe an. »Probieren Sie’s aus, für das nächste Mal«, wies er sie an. Beim Herunterbeugen ergriff er Allys Hand und legte sie um eine Dose Öl.

Ally sah ihn an. Was sollte das?

»Schmieröl. Eine Spraydose. Aber sprühen Sie es nicht in Ihre hübschen Augen.«

Ally zog eine Grimasse. Bitte. Mal ehrlich. Ihre hübschen Augen?

Jake war jedoch konzentriert bei der Sache. »Das geht so.« Er machte einen Schritt, sodass er hinter Allys Rücken stand, hielt ihre Hand, die die Spraydose umklammerte, aber weiterhin fest.

»Jake, bitte.« Ally fuhr herum, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Ich weiß, wie man eine Spraydose …« Sie lachte, erstarrte aber, als Jake seine linke Hand auf ihre Hüfte legte und sie umdrehte, damit sie tat, was er wollte. Mit seiner rechten hielt er ihre Hand mit der Dose über die Türangel.

»Sie müssen nach unten sprühen«, wies er sie freundlich an. »Sie müssen höher stehen. Damit das Öl nach unten läuft, in die Rillen hinein. Wenn die Metallteile übereinandergleiten, vibrieren sie, und die Tür funktioniert wie ein Resonanzboden.«

Ally reckte sich auf die Zehenspitzen, und um ihr behilflich zu sein, rückte Jake noch näher an sie heran. Ziemlich schnell merkte sie, dass sie zu klein war. »Okay«, sagte sie, »mir ist klar … mir ist klar, was Sie machen wollen. Aber ich brauche einen Stuhl oder einen Hocker … oder so was.«

»Nein, brauchen Sie nicht, diesmal erledige ich das ja.« Er drehte sie mit der linken Hand wieder zu sich herum, nahm ihr die Spraydose ab und schmierte die Angeln.

Ally trat zur Seite und blickte die Treppe hinunter. »Nach unten sprühen. Verstanden. Danke.« Sie spürte den Abdruck seiner Hand auf ihrer Hüfte.

»Gern geschehen«, sagte er und schwang die Tür vor und zurück. Sie gab keinen Mucks mehr von sich.

»Okay«, sagte Ally und klang dabei so geschäftsmäßig wie möglich. »Wow. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich habe Ihnen eine Pizza gemacht. Essen Sie sie hier, oder nehmen Sie sie mit ins Wohnheim.«

»Ich gehe nicht zurück«, sagte er und betrachtete sie wieder unverwandt. »Schon vergessen? Ich habe aufgehört. Das Semester ist zu Ende.«

Ally zögerte kurz und schüttelte den Kopf. »Und Bargeld ist Ihnen lieber, oder? Also, acht Stunden …«

Jake schüttelte den Kopf. Er drehte sich weg und stellte die Spraydose ab. Dann wandte er sich wieder zu ihr um und hielt sie an den Ellbogen fest, als hätte er das schon hundertmal getan. »Hören wir auf damit.« Er zog sie sanft zu sich heran. Er ließ ihre Ellbogen los, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie fest auf einen Mundwinkel.

Er suchte nicht nach ihren Lippen. Er suchte nicht ihre Wangen. Aber mit Nachdruck und vollkommen kontrolliert drückte er seine Lippen auf ihren Mundwinkel, als wolle er sie zuerst um Erlaubnis fragen.

Überrascht schnappte Ally nach Luft. Die Bewegung, das Timing und die Unverfrorenheit erstaunten sie.

Na gut, sie war ein bisschen erstaunt, aber nicht völlig oder ganz und gar überrascht.

Der Nachmittag war aufgeladen gewesen, so viel stand fest. Sie fühlte sich, logischerweise, zu Jake hingezogen. Wer denn nicht? Jede lebendige, atmende Frau, ob fünfzehn oder fünfhundert … Doch Ally hatte ein Pokerface aufgesetzt, glaubte sie zumindest. Nichts würde passieren. Bestimmt fühlte er sich nicht zu ihr hingezogen. Und selbst wenn ganz vielleicht doch, dann musste Jake sich so sicher sein, so zuversichtlich und selbstbewusst, dass er sich traute, seine Professorin anzubaggern.

Welcher Student wäre denn dazu fähig?

Aber hier standen sie, und er hielt sich in Allys Haus auf. Sie hatte ihn schließlich doch eingeladen … oder hatte er das selbst getan?

»Oh«, sagte sie und starrte ihn an. Sie fühlte sich atemlos. Sie konnte nicht mehr klar denken.

»Geht das in Ordnung?«, fragte Jake.

Sie wusste es nicht. Lizzie war weg. Das stimmte. Ihre Tochter befand sich drei Stunden südlich in New York und in Sicherheit bei Claire.

Sie war bei Claire, Allys Mom.

Am Sonntag würden sie an der Penn Station in den Amtrak steigen. Ally würde sie um eins in Providence im Bahnhof an der Gaspee Street abholen. Aber eigentlich sollte sie Seminararbeiten korrigieren. Yokos Seminararbeiten. Heute Nacht. Und nicht einen ihrer Studenten küssen.

»Lassen Sie mich bleiben«, sagte Jake. »Bitte.« Er sah ihr in die Augen und drückte ihren Ellbogen. Er hatte ihre Ellbogen wieder im Griff. Dann trat er einen Schritt zurück, um ihr ein bisschen Raum zu geben, Raum, um nachzudenken, ihn anzusehen, zu atmen, durchzuatmen.

Er schob die Hände in die Hosentaschen, dann zog er sie wieder heraus, und nur einen Augenblick später küsste er sie noch einmal, diesmal mitten auf den Mund.

»Entschuldigung«, sagte er und ließ sie wieder vollständig los. »Ich kann nicht anders. Seit drei Jahren will ich das schon tun.«

Wie bitte?, dachte Ally. Tatsächlich? Seit Jahren? Seit drei Jahren?

Sie starrten sich an, und keiner von beiden sagte ein Wort.

Beim zweiten Mal war sie kein bisschen mehr erstaunt, und sie leistete auch keinen Widerstand. Sie war darauf vorbereitet. Sie wollte, dass er sie noch einmal küsste. Er schmeckte nach Stella, malzig und süß. »Du lieber Himmel«, sagte sie und senkte den Blick.

Er schmeckte nach College und küsste sie so, wie sie damals geküsst worden war, im ersten Stock von Healy Hall oder in einer nasskalten dunklen Ecke der Champions Bar. Plötzlich erwachte die Vergangenheit in ihr, dieses Gefühl von vor zehn Jahren, diese lärmende, arglose Freude von damals, und irgendwas in ihr gab nach, ihre Nerven vielleicht, und sie musste lachen.

»Sie lachen?« Jake wirkte verlegen.

»Nein, nein, ich lache nicht«, verneinte sie freundlich, lachte aber trotzdem weiter. »Ich bin Ihre Professorin, Jake. Mal ehrlich, ich bin einunddreißig.«

»Ich bin einundzwanzig. Na und?«

»Also bitte. Das ist total eklig und … unpassend, und garantiert verstößt es gegen irgendeine Regel.«

»Warum?«, fragte er. »Welche Regel denn? Ich fühle mich zu Ihnen hingezogen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es Ihnen mit mir nicht anders geht.«

»Das stimmt, Jake. Es stimmt. Aber wer ist das nicht? Sehen Sie sich an. Bitte. Jeder fühlt sich zu Ihnen hingezogen.«

Jake lächelte.

Sie sah erst ihn an und dann die Treppe hinunter. In ihrer Vorstellung standen Claire und Lizzie dort unten, Lizzie mit ihrem Rucksack, und beide blickten vom Erdgeschoss aus zu ihr herauf. Man darf nur einen Fehler im Leben begehen, hatte Claire gesagt, als Ally im College schwanger geworden war. Einen Fehler. Sie hatte ihren bereits gemacht.

Claire hat recht, dachte Ally. Erwachsene Professorinnen taten so etwas nicht. Sie küssten keine Studenten. Die männlichen Kollegen vielleicht, aber doch nicht die Frauen. Was tat sie da? Was dachte sie sich dabei?

Sie sah ihn an. »Denk mal ganz kurz nach.« Sie duzte ihn jetzt einfach. »Wenn ich dein Professor wäre und ein Mann, und wenn du eine Frau wärst …«

»Was dann?«

»Was, wenn … wenn du eine Empfehlung bräuchtest. Punkte für ein Seminar … was ja der Fall ist. Es sähe so aus, als ob …«

»Das passt aber nicht genau zu dem, was hier gerade abgeht.«

Ally lächelte. »Ich habe eine Pizza gebacken.« Sie wandte sich ab. »Du musst am Verhungern sein.«

»Stimmt.«

»Gut.« Sie stieg die Treppe nach unten. Es ist richtig so, dachte sie, als sie ihn stehen ließ. Einfach weggehen.

Jake kam ihr hinterher.

Im Erdgeschoss nahmen sie die Abkürzung durchs Esszimmer in die Küche. »Übernimmst du immer die Führung?«, fragte Jake.

»Nein, meine kleine Tochter Lizzie gibt den Ton an. Sie ist der Boss. Sie kommt am Sonntag zurück.«

»Das hast du schon gesagt.«

»Ach ja? Stimmt. Sie muss ein Referat halten. Am Dienstag. An ihrem Geburtstag. Über Nathan Hale. Und Benedict Arnold. Es geht um Spione.« Sie betrat die Küche, warf einen Blick auf die Pizza und tat so, als nähme sie ihn gar nicht wahr, als hätte sie schon vergessen, was Augenblicke vorher passiert war, und schwafelte weiter über Loyalisten und Patrioten und Lizzies Spionagefimmel.

Dann hörte sie auf und wurde still. Außer dem Schneidebrett war die Küche blitzsauber und aufgeräumt. Wie der Rest des Hauses. Danke, Muriel, sagte sie im Geist, als sie sich umsah. Danke. Danke.