Als die Karpfen fliegen lernten - Xifan Yang - E-Book

Als die Karpfen fliegen lernten E-Book

Xifan Yang

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Beschreibung

Herr Peng besaß schon immer seinen eigenen Kopf. Als junger Mann wurde er wegen eines unvorsichtigen Tagebucheintrags zur Zwangsarbeit auf einen Berg verbannt. Viele Jahrzehnte später wäre er fast in Chinas größter Castingshow gelandet – mit stolzen 80 Jahren. Für Xifan Yang, seine in Deutschland aufgewachsene Enkelin, ist die Geschichte ihres Großvaters eine Zeitreise in Chinas wechselvolle Vergangenheit – ebenso wie die Geschichten ihrer Eltern, Onkel und Tanten. Eindrücklich erzählt sie, wie eine normale Familie in China über drei Generationen den Zeitenwandel erlebt hat, von Maos Herrschaft über die Öffnung unter Deng Xiaoping bis hinein in die turbulente Gegenwart.

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Hanser Berlin E-Book

XIFAN YANG

Als die Karpfen

fliegen lernten

China am Beispiel

meiner Familie

Hanser Berlin

Für meine Familie

Sämtliche Abbildungen stammen aus dem

Archiv der Autorin.

ISBN 978-3-446-24871-7

© 2015 Xifan Yang

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2015

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München © Xifan Yang

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALT

Prolog

  1 Herr Sommerbambus

  2 Chinas kleines Moskau

  3 Vorwärts

  4 Lügen wie gedruckt

  5 Auf dem Berg der zehntausend Drachen

  6 Ihr sagt 1-2-3-4-5, ich sage Do-Re-Mi-Fa-So

  7 Kinder in Rot

  8 Eine von 197

  9 Teeeier statt Atombomben

10 Tiananmen

11 Ein Land aus Gold

12 Außen gelb, innen weiß

13 Zurück in die Zukunft

14 Mao ist tot, hoch lebe Xi

Danksagung

Literaturhinweise

PROLOG

Wenn es nach meinem Großvater gegangen wäre, hätte er dieses Buch geschrieben, nicht ich. Als ich ihm von meiner Idee erzählte, die Geschichte unserer Familie aufzuschreiben, winkte er erst ab. »Von diesen Dingen hast du doch keine Ahnung«, meinte er. Mit »diesen Dingen« meinte er: die Fülle an Leben, die in achtzig Jahre China passt. Großvater kam 1934 als Kind von Reisbauern auf die Welt. Im Jahr seiner Geburt versteckte sich seine Familie vor japanischen Soldaten und aß Baumrinde. Heute lebt meine Familie über die halbe Welt verstreut: meine Mutter in Deutschland, mein Vater in Singapur, meine jüngere Cousine ist nach ihrem Studium in England nach Australien ausgewandert, meine ältere Cousine lebt auf einer Tropeninsel in Südchina. Jeder aus meiner Familie ist gefühlt mindestens fünfmal umgezogen. Es ist viel passiert in den acht Jahrzehnten: ein Bürger- und ein Weltkrieg, eine kommunistische Revolution, Hungersnöte und politische Kampagnen, die große proletarische Kulturrevolution, Aufbruch und Tiananmen-Massaker, schließlich die Erfindung des Roten Kapitalismus, den heute die eine Hälfte der Welt fürchtet und der die andere in den Bann zieht.

Mein Großvater trat als junger Mann voller Eifer der Kommunistischen Partei bei, fiel in Ungnade, wurde zum Gestraften und nach Jahrzehnten rehabilitiert. Meine Großmutter zog alleine vier Kinder groß und auch die Kinder ihrer Kinder. Meine Mutter wanderte nach Deutschland aus und kehrte ihrem Heimatland den Rücken, mein Onkel träumte davon, das große Los zu ziehen, und scheiterte, meine Tante träumte von Freiheit und verteidigt heute das System.

Und ich? Verließ China schon als Vierjährige und wollte, während ich im beschaulichen Südbaden aufwuchs, nichts mehr mit diesem Land zu tun haben, das mir als Kind armselig und hinterwäldlerisch vorkam, für das ich mich in gewisser Weise auch schämte, wenn mich jemand fragte, wo ich eigentlich herkam. Lange Zeit verfluchte ich meinen Namen, ich wollte lieber Deutsche sein als Chinesin. Inzwischen weiß ich, dass ich nicht das eine und nicht das andere bin. Vielmehr bin ich beides.

Im Jahr 2011 zog ich zurück in mein eigentliches Heimatland und lebe seither in Shanghai.

China ist heute grell, schnell, modern, chaotisch, rücksichtslos, dreckig, schrecklich und schön. China ist faszinierend. Nach wie vor fällt es mir schwer, die Widersprüchlichkeit zu begreifen.

»Warum willst du über diese alten Geschichten reden?«, fragte Großvater, als ich ihm von meinen Buchplänen erzählte. »Lass uns doch lieber nach vorne schauen.« Tatsächlich ließ ihn die Vergangenheit nie los. Die Grauen der Kulturrevolution verfolgen ihn in seinen Träumen, jede Nacht. Mir davon zu erzählen, kostete ihn Kraft. Doch am Ende gefiel ihm der Gedanke, dass sein Leben auf Papier verewigt und er eine Hauptrolle in unserer Familiengeschichte spielen würde.

Über eineinhalb Jahre habe ich mit ihm, mit meiner Mutter, ihren Geschwistern, meinem Vater und anderen Verwandten gesprochen.

Um zu erfahren, wie meine Familie die jüngere chinesische Geschichte erlebt hat, habe ich außerdem die Parteiakten meiner Großeltern aufgespürt. Der Ordner meines Großvaters war dick wie ein Lexikon: Hunderte Seiten Behördenschreiben, Verhörprotokolle und Selbstbezichtigungen, das meiste handgeschrieben, auf hauchdünnem Reispapier, das beim Anfassen auseinanderzufallen droht. Ich fand die Unterlagen im Archiv unseres Heimatortes Pingxiang. Großvater selbst hatte sie nie einsehen dürfen. Eine Mitarbeiterin dort war so nett, lange genug Mittagsschlaf zu halten, dass ich die geheimen Papiere abfotografieren konnte.

Das älteste Dokument datiert auf1949, das Jahr der Gründung der Volksrepublik. Damals war Großvater fünfzehn Jahre alt, er hatte sich gerade der Roten Armee angeschlossen. Die letzten Vermerke über ihn wurden 2010 verfasst, fünfzehn Jahre nach seiner Pensionierung. Dass die Partei derart umfangreich Material über ihn gesammelt hatte, wusste er nicht. Als ich ihm die Parteiakte zu lesen gab, fluchte er immer wieder laut auf. Schließlich genehmigte er mir, sie für das Buch zu verwenden. Um es selbst zu schreiben, hatte er aber doch keine Zeit. Zu sehr war er damit beschäftigt, seine Gesangskarriere voranzutreiben. Unter einer Bedingung dürfe ich seine Lebensgeschichte veröffentlichen: Er wolle vorab das Manuskript lesen, und ich solle ihm das Recht garantieren, es nach seinem Wunsch redigieren zu dürfen. Sogar Titel- und Covervorschläge machte er.

Das ging mir dann zu weit. Tut mir leid, Großvater. Ich hoffe, Du wirst mir verzeihen.

1 HERR SOMMERBAMBUS

Mein Großvater heißt Peng Fangcong. Peng ist der Familienname, wie das Schussgeräusch. Fast alle Bewohner unseres südchinesischen Heimatdorfs tragen ihn. Das Zeichen für fang bedeutet »wohlriechend« und cong so viel wie »hellhörig« oder »gescheit«. Ich bin mir nicht sicher, was meine Urgroßeltern sich 1934 bei der Geburt ihres zweitältesten Sohnes dachten, aber der Name passt, finde ich, ganz gut: Auf sein Äußeres achtet mein Großvater von jeher. Und dass er überdurchschnittlich klug und begabt ist, kann man ihm nie oft genug sagen.

In diesen Tagen legt mein Großvater seinen Geburtsnamen gerne ab. Immer öfter nennt er sich »Herr Xia«. Herr Xia ist sein Künstlername, voll ausgeschrieben Xia Sunzhu, das Wort für »Sommerbambus«.

Während Herr Peng ein wortkarger Kauz mit Tendenz zum Sozialeremiten ist, sprudelt Herr Xia über vor Mitteilungsbedürfnis. Herr Peng fläzt sich schon vormittags im Fernsehsessel und zappt sich durch Historiendramen. Herr Xia widmet seine Zeit ausschließlich den schönen Künsten und bleibt überall, wo seine Schritte ihn hintragen, staunend vor Jadeschnitzereien, Wandtapeten und Steinskulpturen stehen. Herr Peng schrickt gelegentlich erst um 20 Uhr aus seinem Mittagsnickerchen auf und ruft im Schlafanzug in die Küche hinein: »Ist denn schon Morgen?« Herr Xia dagegen wird bis tief in die Nacht von Musen verfolgt.

Von der Existenz Herrn Xias erfuhren wir anderen Familienmitglieder das erste Mal wenige Monate nach dem Tod meiner Großmutter. Großvater war damals bereits 77 Jahre alt. Meine Cousine und ich begleiteten ihn auf das Festbankett einer entfernten Urgroßtante, die ihren 100. Geburtstag in einem angemieteten Hotelsaal mit roten Samtvorhängen und Tischen für fünfhundert Gäste feierte. Nachdem Glitzerkostüm tragende Tänzerinnen mit ondulierten Locken ihre Beine geschwungen hatten, wurde das betagte Geburtstagskind im Rollstuhl auf die Bühne gefahren, wo man die Jubilarin hochleben ließ. Außerdem sollte ein Foto von der Großtante im Kreis ihrer Kinder, Enkel, Urenkel und Ururenkel gemacht werden. Der Nachwuchs summierte sich auf 47 Personen (zwei ihrer fünf Söhne waren bereits vor Jahren verstorben, aber das hatte man der alten Dame verschwiegen, um sie nicht zu bedrücken). In diesem Moment erstürmte Großvater die Bühne. Er drängte sich ins Bild und griff sich das Mikrofon. Dann stimmte er ungefragt ein Geburtstagsständchen an, gefolgt von einer neukomponierten Eigenkreation. Alle Blicke im Raum waren auf ihn gerichtet. Großvater trug eine Mandarin-Jacke aus purpurroter Seide mit goldenen Stickereien. Niemand strahlte an diesem Tag mehr Festtagsstimmung aus als er.

Manche Zungen behaupten, Herrn Xia habe es schon immer gegeben – was vermutlich der Wahrheit entspricht. Doch die meiste Zeit seines Lebens hielt Großvater ihn gut unter Verschluss. »Peng Fangcong, hör auf mit dem Blödsinn!«, schimpfte Großmutter ihn, sobald sich der Sommerbambus in ihm regte. In solchen Momenten verzog er sich murmelnd vor die Haustür und zündete eine seiner geliebten Zigaretten mit dem goldenen Kranich-Logo an, danach brachte er brav den Müll zur Tonne. Großmutter war, wenn man so will, die mächtige Gegenspielerin von Herrn Xia. Sie sorgte dafür, dass er Großvater keine Flausen in den Kopf setzte. Sie duldete Herrn Xia zwar, aber er war ihr suspekt.

Seit Großmutter nicht mehr da ist, lebt Großvater bei meiner Tante. Seitdem hat Herr Xia freie Bahn. Dass Großvaters Zweitcharakter zugange ist, weiß man in der Regel, wenn ein leises Summen aus seinem Schlafzimmer dringt. Dort findet man ihn dann hinter geschlossener Tür am runden Schreibtisch, wo er über einem Stapel zerfledderter Notenhefte brütet. Jeden Zentimeter dieser Hefte füllt er mit mikroskopisch kleinen Liedzeilen. In diversen Farben und unterschiedlichem Verschnörkelungsgrad wandern die Schriftzeichen vom linken Blattrand an den rechten, sie mäandern von oben nach unten, tanzen quer über ganze Doppelseiten und enden abrupt im Nichts. Hat Herr Xia einen guten Lauf, schreibt Großvater bis zu fünf Strophen am Tag. Die Inspiration nimmt ihn überall und zu jeder Uhrzeit in Beschlag: beim Spazierengehen, beim Rauchen, um vier Uhr früh auf der Toilette.

»In solchen Augenblicken kann ich nichts dagegen tun«, vertraute er mir einmal an, »ich bin wie von einem Fieber erfasst.« Herr Xia müsse sich hinsetzen, müsse singen und schreiben, an Melodien und Versen feilen. Wenn Großvater über Herrn Xia spricht, wirkt er energiegeladen wie ein kleiner Junge.

»Die Musik lässt mir keine Ruhe, Fanfan«, sagte er mir, nachdem er tief Luft geholt hatte. Fanfan – so nennt er mich von klein auf.

»Warum überhaupt ›Sommerbambus‹?«, fragte ich ihn.

»Die meisten Bambussetzlinge gehen bei Trockenheit und Hitze ein«, antwortete er. »Aber es gibt eine besondere Sorte Sommerbambus. Diese sprießt selbst dann, wenn andere Pflanzen vertrocknen.«

In seiner Erinnerung hat er Anfang der sechziger Jahre zum ersten Mal einen solchen Bambusspross entdeckt. Großvater sah damals kaum noch Hoffnung für sein Leben: Wegen kritischer Äußerungen gegen Mao hatte man ihn als »Rechtsabweichler« zu Zwangsarbeit in einem armen, entlegenen Bergdorf verurteilt. Eines Tages im Hochsommer marschierte er durch den Wald. China steckte mitten in der schlimmsten Hungersnot seiner Geschichte. Die Sonne brannte Großvater ins Gesicht, vor Hunger und Erschöpfung konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Auf einer Lichtung neben dem Feldweg hielt er an. Alle Sträucher und Blumen waren ausgedorrt. Nur aus einer Felsspalte ragte ein winziges Knöpfchen Grün. Der Sommerbambus. Großvater sagt: Ein Wunder.

Zur selben Zeit fing er an, sich in Gedanken in die Welt der Melodien und der Lyrik zu flüchten. Heute bereiten ihm nicht nur die Musen unruhige Nächte, sondern auch die Geister von früher, Erinnerungen an Gewalt und Schrecken. Seit mehr als vierzig Jahren jagen ihn dieselben Albträume aus dem Schlaf: eine Bühne, davor eine wütende, johlende Menge. Großvater kniet auf Glasscherben, auf dem Kopf trägt er einen spitzen Papierhut mit der Aufschrift »Nieder mit dem Konterrevolutionär Peng Fangcong!«. Vor ihm brüllen Männer mit Schlagstöcken: »Gestehe! Gestehe!«

Als Großmutter noch lebte, musste sie ihn im Bett festhalten, damit er nachts nicht um sich schlug. Aus Angst, sie versehentlich zu verletzen, schlief er mehrere Jahre auf dem Boden neben dem Ehebett. Auch heute noch schlafwandelt er regelmäßig; jede zweite Nacht hört meine Tante wilde Schreie und Gemurmel aus seinem Zimmer. Neulich brach er sich die Rippen, als er im Schlaf die Treppen hinunterlaufen wollte. Nach dem Aufwachen sagte er, er sei auf der Flucht vor Rotgardisten gewesen.

Um sich vor seinen Träumen zu schützen, schläft Großvater seit dem Unfall daher mit einer selbstgebastelten Sicherheitsvorrichtung: Von der linken zur rechten Bettseite hat er hinter dem Kopfkissen ein Seil gespannt, an dem ein zur Schlaufe gebundener Ledergürtel hängt. Beim Zubettgehen steckt Großvater seinen linken Arm in die Schlaufe. So kann er nachts nicht herausfallen. Ein zweites Kopfkissen lehnt aufrecht an der Wand und verhindert, dass er seinen Kopf anstößt.

Trotz der Albträume zündet Großvater sich jeden Morgen mit einem Lächeln seine erste Zigarette an. Denn tagsüber verfolgt er einen anderen Traum: Herrn Xia stehe der große Durchbruch als Musiker bevor, erzählt er mir seit Jahren. Hundert selbstkomponierte Lieder werde Herr Xia in einem Sammelband veröffentlichen. Bald, kündigt er an, werde man seine Lieder auf Bühnen in ganz China singen.

Großvaters Notenheft mit selbstkomponierten Melodien

(Stand Juni 2014)

*

An einem kalten Novembertag ruft Großvater mich aus dem Zug nach Peking an. Seine Stimme klingt beschwingt: Er spiele im Schlafabteil mit einem Getränkehändler Karten. Heute Morgen sei er losgefahren – und Herr Xia sei jetzt bereit, sich samt seinen Werken der Welt zu stellen.

Ich mache mir Sorgen, denn die Reise nach Peking ist nicht gerade eine Spazierfahrt: 28 Stunden und drei Minuten dauert sie, Großvater durchquert drei Klimazonen, legt 2500 Kilometer zurück, reist alleine. Meine Tante erfuhr von seinen Plänen erst kurz vor seiner Abfahrt: Er wolle seinen dementen Bruder besuchen, meldete Großvater ihr. Schon Wochen zuvor war meiner Tante aufgefallen, dass er noch selbstversunkener wirkte als sonst. Wenn sie ihn auf einen Familienausflug mitnehmen wollte, habe er abgewinkt: keine Zeit. Am Telefon verrät er mir nun, was ihn wirklich nach Peking treibt: Er wolle sich bei einer Castingshow bewerben. Ich will in die Frühlingsgala heißt sie und zählt zu den beliebtesten Sendungen im chinesischen Staatsfernsehen. Wer gewinnt, darf am Vorabend des chinesischen Neujahrsfestes zusammen mit den größten Popstars des Landes auftreten. Die Frühlingsgala auf CCTV1 gilt mit bis zu 800 Millionen Zuschauern als die meistgesehene Unterhaltungsshow der Welt.

»Ich bin achtzig Jahre alt und habe keine Zeit mehr zu verlieren«, ruft Großvater, im Hintergrund höre ich das Quietschen der Zugräder auf den Schienen. »Wünsch mir Glück!«

Fünf Tage später lande ich in Peking. Wie so oft verschwindet die Hauptstadt unter einer gigantischen Smogglocke. Die Luft schmeckt nach Metall, die Umrisse der Hochhäuser sind nur zu erahnen.

Ich treffe Großvater in Apartment 502 in Haus 14 der Wohnanlage »Blumendorf«, einer Ansammlung von kastenförmigen Backsteinhäusern im Westen Pekings. Die Wohnung ist seine provisorische Unterkunft, bei seinem schwerkranken Bruder war kein Bett mehr frei. Hinter der rostigen Eisentür im fünften Stock stapelt sich Gerümpel, im Bad fehlt die Klobrille, die Küche sieht aus, als habe sie seit Monaten keiner betreten. Im zweiten Zimmer wohnt ein junger Wanderarbeiter zur Miete. Es ist, als würde ich Großvater in seiner neuen Studenten-WG besuchen. Seit Tagen lebt Großvater hier wie ein Einsiedler: Sein Zimmer besteht aus einem Bett, einem Sofa und einem Schreibtisch. Morgens, mittags und abends steigt er die Treppen hinab und geht ein paar Hundert Schritte zum Imbiss auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die restlichen Stunden verbringt er in der Wohnung.

»Ich habe viel zu tun«, sagt er und deutet auf fein säuberlich beschriebene weiße DIN-A4-Blätter. Er hat seine Liedtexte in leserliche Form gebracht. »Nur die Faulen hassen lange Tage. Für fleißige Menschen kann ein Tag nicht lang genug sein.« Es spricht wieder Herr Xia. Hundert Lieder sind es dann zwar doch nicht geworden, aber immerhin fünfzig. Die Blätter hat er gestern im Druckshop nebenan kopieren und heften lassen.

Auf dem Sofa liegt ein kleiner blauer Rucksack, darin sind Unterwäsche, Pulli und Hose, ein Handy und seine Notenhefte verstaut. Das ist sein ganzes Gepäck.

Großvater ist nicht nur bei guter Gesundheit; er ist in Hochstimmung. Er trägt seine Lieblingsjacke aus braunem Leder und eine karierte Schiebermütze, dazu eine neue Brille mit schwarzem Horngestell, die aussieht wie aus dem Designerladen. Er lacht, wie er lacht, seitdem er alle Zähne verloren hat: Sein Mund kräuselt sich zu einem weichen Halbmond, bei jedem Atemzug flattern die Lippen. Wenn er spricht, sind alle harten Laute abgeschliffen, seine Worte hören sich an, als kämen sie durch einen Wattefilter.

»Hast du dein Gebiss etwa nicht mitgenommen?« Die Frage kann ich mir nicht verkneifen.

Herr Xia entgegnet: »Warte nur ab, du wirst den ersten zahnlosen Auftritt in der Geschichte der Frühlingsgala sehen!« Er lacht jetzt noch lauter.

Heute will er die erste Hürde zur Castingshow nehmen: Großvater hat einen Termin bei seinem Idol Xu Peidong. Und ich werde ihn dorthin begleiten. Auf Baidu Baike, dem chinesischen Wikipedia, habe ich mich vorab schlaugemacht: Xu, sechzig Jahre alt, ist einer der prominentesten Musikproduzenten des Landes und Verfasser von bekannten Volksliedern wie »Ich liebe mein China«, »Der Duft der roten Erde« und »Das Fischermädchen auf dem Gelben Fluss«, außerdem Vorsitzender Parteisekretär des Nationalen Musikerverbandes sowie Mitglied der 12. Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes. Eine »große Nummer« also, wie Großvater es ausdrückt. Das Wichtigste aber: Xu Peidong sitzt in der Jury von Ich will in die Frühlingsgala.

Es ist nicht das erste Mal, dass Großvater bei seinem Idol vorspricht. Als Herr Xia nach den vielen Jahrzehnten, die er sich im Hintergrund gehalten hatte, 2010 erstmals Aufwind spürte, schaffte es Großvater mit Hilfe eines Bekannten bis ins Vorzimmer von Parteisekretär Xu. Im Beisein der Sekretärin harrte er dort einen ganzen Nachmittag aus, bis sich endlich die Tür öffnete. Großvater erzählte von seinem Plan mit dem Sammelband, Xu hörte geduldig zu. Anschließend lobte er den Tatendrang des Tausende Kilometer weit gereisten Revolutionsveteranen. Am Ende des Treffens bot der Parteisekretär an, die 200 Lieder zu sichten, sobald sie fertig seien. Und er versprach, ein Vorwort zu schreiben.

Der Bekannte von damals hat uns ausrichten lassen, dass Parteisekretär Xu uns heute vor seiner Mittagspause erwartet. Der Sitz des Nationalen Musikerverbandes befindet sich am nördlichen Ende der Stadt. Wir stecken die gesammelten Lieder in eine Plastiktüte und machen uns auf den Weg.

Die Straße vor der Wohnanlage ist breit wie eine Flugzeuglandebahn. Großvater geht in kleinen, vorsichtigen Schritten, ohne nach links und rechts zu schauen. Um uns tobt der Pekinger Morgenverkehr: Berufspendler, Lkws, Rikschafahrer und motorisierte Altmetallsammler ignorieren gleichzeitig die rote Ampel. Weil er sich nicht weiter als bis zum Nudelimbiss traute, habe er in den vergangenen Tagen dreimal am Tag dasselbe gegessen, erzählt Großvater und verzieht das Gesicht.

In das Taxi steigt er auf der Beifahrerseite ein, ich sitze hinten. Inzwischen ist die ganze Familie per Handy zugeschaltet. Meine Mutter hat vor einiger Zeit auf WeChat, dem chinesischen WhatsApp, eine Chatgruppe für die Verwandtschaft eingerichtet. »Habt ihr eine von Großvaters Kalligraphierollen als Geschenk mitgenommen?«, fragt sie nun aus Freiburg. Sie hat noch nicht geschlafen, in Deutschland ist es zwei Uhr nachts. »Hahaha! Ich drücke die Daumen!!«, textet meine Cousine Lulu, sie studiert gerade in Edinburgh. Und meine Tante schreibt aus dem 28 Zugstunden entfernten Süden: »Möge der schöne Traum wahr werden :-):-):-)«

Wir sind spät dran. Als ich den Fahrer frage, ob wir in 23 Minuten am Ziel sein werden, wie Baidu Maps es bei normalem Verkehr anzeigt, lacht er mich schallend aus. Als wir in die Hauptstraße einbiegen, wird mir klar, warum: Die Fußgänger kommen schneller voran als wir auf der sechsspurigen Allee, dabei drängen sich die Autos sogar schon auf die Fahrradspur.

»Das ist normaler Verkehr!«, der Fahrer gluckst und grinst mich aus dem Rückspiegel an. »Wo kommen Sie denn her?«, fragt der Mann.

»Aus der Provinz Jiangxi«, sagt Großvater.

»Wo ist das noch mal?«

»Südwestlich von Anhui und nordöstlich von Hunan.«

»Schon mal gehört. Ich bin in Peking geboren. Fünfzig Jahre Dreck und Smog. Und jeden Tag wird’s schlimmer. Bei euch da unten ist’s doch sicher schön.«

»Und wie! Grüne Berge, Hunderte Kilometer weit. Und die klaren Seen. Haben Sie noch nie von den Seen in Jiangxi gehört?«

Meine Großeltern stammen aus demselben Dorf in Jiangxi, dem Dorf, wo auch ich meine ersten Lebensjahre verbracht habe. An Bergwälder und klares Seewasser kann ich mich allerdings nicht erinnern. Das Wasser des Baches, über den Großmutter mich jeden Tag huckepack in den Kindergarten trug, war grün und stank nach Abfall. Sobald die Brücke in Sicht war, hielt ich mir die Nase zu. Der Himmel war meist grau.

Ein genauso weichgezeichnetes Bild hat Großvater von Peking. Die Stadt war immer schon ein Sehnsuchtsort für ihn. Seit Jahrhunderten reisen einfache Bürger in China bei erlittenem Unrecht in die Hauptstadt, um vom allmächtigen Kaiser Gerechtigkeit zu fordern. Auch Großvater glaubt, in Peking werde man ihn erhören. Das erste Mal brach er Ende der sechziger Jahre in die Hauptstadt auf, mitten während der Kulturrevolution. Schon damals hoffte er, die Musik werde ihn von seinem Schicksal befreien. Diesmal führt ihn wieder die Musik hierher.

Im Schritttempo zwängen wir uns durch den Stau. Auf der Gegenspur versucht gerade ein Omnibus links in die Kreuzung abzubiegen, wo er von einem von rechts heranrasenden Porsche Cayenne zum Stehen gebracht wird. Unbeeindruckt davon steuert unterdessen ein hupender Autoschwarm weiter auf die Mitte der Kreuzung zu, nach dem Motto: Wer nicht bremst, wird schon irgendwann ankommen.

Großvater seufzt. »Überall sind Autos. Und wo keine sind, sind noch mehr Autos«, kommentiert er etwas kryptisch.

Der Taxifahrer denkt laut über Krieg nach. »Es muss doch einen Weg geben, um unsere Bevölkerung zu reduzieren.«

»Darf ich rauchen?« Großvater holt seine Zigaretten aus der Tüte.

»Wie kann ich Ihnen etwas abschlagen, großer Bruder.«

Das goldene Kranich-Logo blitzt auf.

»Die habe ich mal als Dank für eine Kalligraphie bekommen.«

»Dann sind Sie Kalligraphiemeister?«

»So würde ich das nicht ausdrücken. Aber manchmal verkaufe ich die eine oder andere Schriftrolle.«

»Es scheint ja für die besten Zigaretten zu reichen. Darf ich auch eine?«

»Nur zu.«

»Wenn wir erwischt werden, werde ich die Schuld auf Sie schieben, großer Bruder. Ihnen kann kein Polizist böse sein.«

Graue Schwaden steigen im Auto auf.

»Ich schreibe auch Lieder und singe, darum bin ich nach Peking gekommen.«

»Wirklich?«

»1959 haben sie mich auf einen Berg verbannt.«

»Einer von denen waren Sie?«

»Einer von denen war ich.«

»Wow.«

»Zwanzig Jahre lang war ich Zwangsarbeiter.«

»Das tut mir leid, großer Bruder.«

»Ich hatte ein Gedicht geschrieben. Sechsunddreißig Zeichen. Mochten sie nicht.«

Höfliches Schweigen.

»Sechsunddreißig Zeichen. Kannst du dir das vorstellen? Andere Zeiten waren das. Nichts durfte man sagen. Nicht so wie heute.«

»Ach, so viel besser ist es heute auch nicht, großer Bruder.«

Beim Aussteigen winkt der Taxifahrer uns freundlich hinterher.

Der Plan ist einfach: Vorsingen bei Parteisekretär Xu. Gibt dieser seinen Segen, will Großvater auf Xus Einladung hin das Vorcasting besuchen. Der offizielle TV-Wettbewerb läuft schließlich über mehrere Wochen bis in den Januar. Das große Finale steigt 31. Januar, wenn der Sieger in der Frühlingsgala auftreten darf. Einmal in der K.-o.-Runde, stünden die Chancen gar nicht schlecht für ihn, sage ich zu Großvater. Im Internet habe ich mir die Sieger der vergangenen Jahre angeschaut. Gewonnen haben unter anderem ein sechsjähriger Opernsänger mit Ming-Dynastie-Frisur (kahler Kopf mit einzelnem Haarstreifen an der Stirn), eine neunköpfige Truppe breakdancender Fabrikarbeiter aus Shenzhen und eine schüchtern wirkende Singer-Songwriterin aus der Pekinger U-Bahn. Ich bin überzeugt: Ein 80-jähriges Multitalent könnte die Entdeckung des Jahres sein.

Großvater bereitet sich in Gedanken schon auf einen längeren Aufenthalt in der Hauptstadt vor. »Natürlich«, räumt er ein, »muss ich mir noch Winterkleidung kaufen.« Seine Stimme ist voller Vorfreude.

Das Gebäude des Nationalen Musikerverbandes ist ein fünfzehnstöckiges Hochhaus mit großen roten Lettern auf der Fassade. Weiße Atemwolken schnaubend suchen wir den Weg zum Eingang. Am Wachhäuschen müssen wir uns mit Ausweis registrieren. Die Empfangsfrau trägt ein pinkfarbenes Sweatshirt mit »Hirmès«-Logo und kaut Kaugummi.

»Wir haben einen Termin beim Vorsitzenden Xu Peidong, die Sekretärin weiß Bescheid«, beeilt sich Großvater.

»Gleich ist aber Mittagessen«, sagt die Frau mit Blick auf die Wanduhr. Dann sieht sie sich den alten Mann mit der Plastiktüte und dem erwartungsfrohen Gesicht genau an. Schließlich wählt sie eine Nummer. Es klingelt. Sie legt auf. Wählt eine andere Nummer. Und noch eine. Und noch eine.

Großvater beginnt, vor dem Schalter auf und ab zu wandern. Eine Gruppe platzt ins Wachhäuschen und drängt sich vor uns. Großvater geht vor die Tür und marschiert auf die Parkschranke zu. Ohne Besucherausweis dürfe er uns leider nicht reinlassen, sagt ein junger Wächter in grüner Uniform. Nur eines könne er verraten: Der Wagen des Vorsitzenden Xu habe zuletzt gestern die Schranke passiert. Auch vorgestern und vorvorgestern sei der Chef da gewesen.

Zurück im Wachhäuschen, fragen wir die Frau im »Hirmès«-Sweatshirt, ob sie es noch mal probieren könne. Die Uhr zeigt inzwischen 11.27 Uhr. Die Mittagspause beginnt um 11.30 Uhr. Die Frau zeigt auf den tutenden Hörer: »Geht keiner ran.« Wir sollen am Nachmittag wiederkommen.

Wer der Bekannte sei, der den Termin vereinbart habe, frage ich Großvater, als wir wieder auf der Straße stehen. Könne man den anrufen? Großvater greift in seine Jackentasche. Er hat das Handy in der Wohnung gelassen. Ich gehe zum freundlichen Parkwärter und stecke ihm meine Nummer zu. Sollte er etwas hören oder sehen, möge er sich bitte melden. Wir beschließen, die Mittagspause gut zu nutzen, und fahren in die Innenstadt, um Pekingente essen zu gehen.

Am Nachmittag klingelt mein Handy. Es ist tatsächlich der Wärter von vorhin.

»Parteisekretär Xu hat gestern Abend die Stadt verlassen«, höre ich ihn am anderen Ende der Leitung sagen. Seine Stimme klingt, als habe er Mitleid mit uns. »Schicken Sie ihm doch ein Video oder eine CD mit Aufnahmen von Ihren Liedern. Er wird sich bei Ihnen melden.«

*

Großvater hat nie ein Video geschickt. Nicht einmal die sorgfältig beschriebenen und abgehefteten Blätter mit seinen Liedtexten. Als wir nach unserer gescheiterten Casting-Mission zurück in die Wohnung fuhren, versuchte ich den Bekannten zu erreichen, der den Termin mit dem Parteisekretär vereinbart hatte. Weder fand ich seine Nummer in Großvaters Handy noch ein Zeichen dafür, dass es jemals eine Verabredung gegeben hatte. Großvater hatte seinen Bekannten nie angerufen. Er war felsenfest davon überzeugt, dass sich die Türen des Musikerverbandes schon irgendwie öffnen würden.

An jenem Nachmittag wirkte Großvater ehrlich niedergeschlagen, seine Augenlider hingen noch tiefer als sonst. Doch die Enttäuschung währte nicht lange.

»Sommerbambussprösslinge kämpfen sich unter widrigen Umständen ans Licht«, sagte Herr Xia trotzig. »Ein kleiner Rückschlag, Fanfan, ist das Normalste der Welt.«

Nicht zuletzt wirkte Großvater auch erleichtert. Wenn Träume nicht wahr wurden, bedeutete das immerhin auch, dass sie nicht platzen konnten. Schließlich lautet einer seiner Lieblingssprüche: »Nur weil ich noch träume, bin ich so alt geworden.«

Als ich ihn Monate später in Nanning besuche, ist Großvater wieder in Hochform. Nanning ist eine Provinzhauptstadt im Süden Chinas, unweit von Vietnam. Hier lebt Großvater seit sechs Jahren bei meiner Tante. Es ist inzwischen Frühjahr, und die Kirschbäume blühen. Die Castingshow erwähnt er mit keinem Wort mehr. Aber Großvater ist hoffnungsvoller denn je. Er hat einen neuen Plan: Der Volkszeitung will er einen Brief schicken. Die Volkszeitung ist Chinas größte Zeitung und zentrales Propagandaorgan der Partei. Vierzehn verschiedene Entwürfe hat er skizziert. »Sehr geehrte Redaktion«, schreibt er in der aktuellsten Version, »mein Name ist Sommerbambus aus der Provinz Jiangxi, Stadt Pingxiang … Vor fünfzig Jahren wurde ich als Konterrevolutionär gebrandmarkt … Damals habe ich angefangen, Lieder zu komponieren … Heute wünsche ich mir mehr als alles andere …«

»Die ›Volkszeitung‹ ist die renommierteste Zeitung des Landes«, ruft mir Großvater freudestrahlend zu. »Drucken sie meine Liedtexte, ha, nicht auszumalen, was dann los wäre! Alle Türen in diesem Land würden aufgehen.« Wenn es endlich so weit sei, werde er einen Empfang für uns alle ausrichten, kündigt er an. Er werde den besten Hummer auftischen lassen, den besten Maotai-Schnaps und die besten Zigaretten.

Meine Tante versucht, ihn mit konstruktiven Vorschlägen zu unterstützen. »Fang doch erst mal klein an«, ermuntert sie ihn. »Wer einen Nobelpreis erhalten will, muss erst einmal ein paar Arbeiten einreichen.« Sie kenne einen Musikprofessor an der Universität in Nanning, der sich seine Werke ansehen könnte. Sie könnte einen Studenten engagieren, der seinen Wust an handgeschriebenen Liedzeilen abtippt und digitalisiert. Vielleicht könnte Großvater einen kleinen Band im Selbstverlag veröffentlichen. Dazu einen Festraum mieten und ein Konzert vor Verwandten und Freunden geben …

»Nein, nein«, lautet die immer gleiche Antwort von Großvater. »Ich weiß genau, was ich will«, behauptet er, so auch an diesem Frühlingstag in Nanning. Großvater zieht eine weitere Runde im Wohnzimmer, dann schleicht er zurück an seinen Schreibtisch. Bevor er die Tür hinter sich zuzieht, dreht er sich um und sagt: »Glaubt mir, niemand hat es eiliger als ich.«

2 CHINAS KLEINES MOSKAU

Pingxiang, unsere Heimatstadt, ist ein Allerweltsort: anonym, grau, voll von rauchenden Schornsteinen und dreckigen Kohleminen. Pingxiang liegt auf halber Strecke zwischen Shanghai und Hongkong versteckt im Landesinneren. Mit einer Million Einwohnern gilt Pingxiang in China als Kleinstadt. 160 Kilometer westlich wurde Mao geboren. Mehr gibt es über unseren Heimatort nicht zu erzählen. Dachte ich.

Bevor meine Mutter mich 1992 im Alter von vier Jahren nach Deutschland nachholte, lebte ich hier zweieinhalb Jahre bei meinen Großeltern. Meine Erinnerungen sind verschwommen: Großmutter unterrichtete am Stadtrand Chinesisch. Wir wohnten im fünften Stock auf dem Campus ihrer Mittelschule. Großvater saß seine Tage in einer Behörde namens »Abteilung Einheitsfront beim Zentralkomitee« ab und freute sich auf die Rente. Zwischen Juli und September war es derart heiß, dass wir auf Strohmatten schliefen, die Großmutter auf dem Boden auslegte, und sich jeden Morgen bereits kurz nach dem Aufstehen ein klebriger Schweißfilm auf meiner Haut bildete. Zwischen Dezember und Februar dagegen lief ich zu Hause eingepackt wie ein Michelinmännchen herum. Mehrmals in der Woche fiel der Strom aus.

Mitte der neunziger Jahre zogen meine Großeltern in einen Neubau im Stadtzentrum, in die damals modernste Wohnung Pingxiangs: Onkel Xungui, der älteste Bruder meiner Mutter, hatte die Außenwände des Wohnzimmers durch eine Glasfront ersetzt. So etwas hatte sonst niemand in der ganzen Stadt. Neubau ist in China ein relativer Begriff: Nur wenige Monate nach dem Einzug färbte der Smog die Fassade schwarz. Bei Regen tropfte gelbes Wasser in den Treppenflur. In der Straße unter dem Balkon breiteten Gemüsefrauen und Metzger ihre Ware auf dem Boden aus; abends, nach Marktschluss, war der Asphalt übersät mit Gemüseresten, Fischschuppen und abgehackten Froschköpfen, dazwischen wuselten fröhlich die Ratten umher. Wenn ich meine Großeltern besuchte, ekelte ich mich: Inzwischen war ich eine »Banane«, wie man in China verwestlichte Auslandschinesen nennt: außen gelb, innen weiß. In Deutschland war ich saubere Bürgersteige und frisch gemähte Wiesen gewohnt. Gern kehrte ich in den Sommerferien jedenfalls nicht nach China zurück.

Das Einzige, wonach ich mich sehnte, war das Essen meiner Großmutter: ihr eingelegter Kohl, ihr geräucherter Schinken, ihre frittierten Süßkartoffelklöße, vor allem aber die Unmengen Chili, ohne die so gut wie kein Gericht in unserer Heimat auskommt. Als Kind habe ich Großvater gelegentlich dabei bewundert, wie er sich einen ganzen Teelöffel mit rotem Chilipulver in den Mund schob, »zur Darmreinigung«, wie er erklärte. »Ohne Chili macht das Leben keinen Spaß«, lautete einer seiner Lieblingssprüche. Wie in so vielen Dingen hatte Großvater auch in diesem Punkt recht.

*

Als ich 2013 nach Pingxiang fahre, um seine Parteiakten aufzuspüren, wirken die Straßenzüge meiner Kindheit, als wäre ich nie weg gewesen: In den Gassen liegen scharfe Schoten zum Trocknen aus, Teppiche aus rotem und grünem Chili. Vor den Fenstern hängen Eisengitter gegen Einbrecher. Im Hof unserer alten Wohnung spielen dieselben Männer Mahjong wie vor fünfzehn Jahren, vermutlich tragen sie immer noch dieselben gerippten Unterhemden. Ich spaziere durch die Marktstraße vor unserem Haus und muss daran denken, wie ich als Kind hier mit meiner Cousine Lulu durchgelaufen bin, um die beste getrocknete Tofuhaut der Nachbarschaft zu suchen. Auch heute noch spielen die Kioske und Kleidergeschäfte die Frühwerke von Celine Dion und Mariah Carey. Ein Open-Air-Metzger wirbt mit dem Angebot »Sofort schlachten, sofort mitnehmen«: Enten, Gänse, Kaninchen und nicht definierbare Amphibien warten in Käfigen auf ihren Tod. Auf dem Bürgersteig fuhrwerkt ein Zahnarzt in den Rachen ihm ausgelieferter Menschen herum, seine Werkzeuge sehen aus wie Folterinstrumente.

Den brüchigen Asphalt bedeckt eine festgetretene Schicht aus Dreck, Regen und Plastikmüll. Ständig knallen irgendwo Böller – zum Zeichen dafür, dass jemand geboren wurde, geheiratet hat oder gestorben ist; manchmal auch, weil jemand gerade ein Motorrad gekauft hat. Pingxiang hat eine traditionsreiche Feuerwerksindustrie, und das hört, spürt, sieht und riecht man an jeder Ecke. Hinzu kommen die Abgase jahrzehntealter Kohlelaster. Meine Cousine Haohao behauptet, selbst Straßenhunde seien in Pingxiang dreckiger als anderswo.

Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Moderne langsam Einzug hält. Am Bahnhof hat vor kurzem ein McDonald’s eröffnet, und in einem Stadtteil hat die Regierung ein Rathaus gebaut, das aussieht wie eine Mischung aus Weißem Haus und Taj Mahal. Hier und da werden die Uralttransporter und rostigen Santana-Taxis nun von grell lackierten Porsche Cayennes überholt.

Die Reichen Pingxiangs haben ihr Geld mit Kohleminen gemacht, die man an jeder Ausfallstraße am Stadtrand findet: In die Landschaft gefräste Verwerfungen aus schwarzer, kahler Erde, dazwischen Schornsteine, Bagger und umherstapfende Arbeiter mit Schubkarren. Manche Bergwerksgelände sind mehrere Hektar groß, andere klein wie Vorgärten. Früher wurden sie von Staatsfirmen erschlossen, heute vergibt die Regierung die Aufträge an Privatfirmen. Ein Großcousin erklärte mir einmal das Procedere, wie in Pingxiang lukrative Minenprojekte an Land gezogen werden. Man braucht erstens gute Verbindungen ins Rathaus und zweitens einen ausreichend großen Schlägertrupp – Letztere, um Mitbewerber einzuschüchtern und dort, wo die Grube erschlossen werden soll, Anwohner von ihren Grundstücken zu vertreiben. Und drittens, das versteht sich von selbst, benötigt man eine ordentliche Stange Bestechungsgelder als Startkapital. Ein Cousin des besagten Großcousins brachte es als Schläger eines Stadtteilparteisekretärs auf diese Weise selbst zu Wohlstand: Nachdem er jahrelang als Handlanger gedient hatte, wurde er mit dem Zuschlag für eine neue Mine belohnt. Der Großteil des Wirtschaftslebens in Pingxiang wird von mafiösen Geschäftemachern und käuflichen Parteikadern gesteuert.

Dabei hat die Kohleindustrie schon bessere Tage gesehen. Noch 1985 belegte Pingxiang auf der Liste der größten Kohlestandorte Chinas den 33. Platz, heute ist die Stadt auf Platz 90 zurückgefallen. Seit die Minen nicht mehr vom Staat, sondern von illegal operierenden Privatfirmen betrieben werden, sind die Gruben in jämmerlichem Zustand. Fast monatlich ereignen sich Minenunfälle: 157 Arbeiter sind in den vergangenen zehn Jahren ums Leben gekommen, die Dunkelziffer liegt vermutlich weit höher. Bevor ein Grubenarbeiter in Pingxiang in eine Mine steigt, heißt es, zündet er Räucherstäbchen an und spricht zu Buddha.

Die Stadt wirkt heute apathisch und niedergeschlagen, wie vergessen vom Boom der Globalisierung, während andere Teile Chinas in die Zukunft rasen. Die Privatisierung der ehemals staatlichen Kohleunternehmen hat Zehntausende Jobs gekostet, die Wirtschaft darbt vor sich hin. Im Schnitt haben die Bewohner von Pingxiang im Monat umgerechnet 180 Euro zur Verfügung. Im nationalen Wohlstandsranking liegt Jiangxi auf Platz 18 von 23 Provinzen. Wer kann, sucht das Weite, macht sich auf in die Großstädte oder in die Küstenregionen. Zurück bleiben die Alten und Ungebildeten. Nur wenige Rentner haben wie meine Großeltern die Möglichkeit, ihren Lebensabend in lebenswerteren Regionen zu verbringen. Sie sind zu meiner Tante in eine Fünf-Millionen-Metropole mit palmengesäumten Straßen und Luxus-Shoppingmalls gezogen.

Als ich Großvaters Vergangenheit nachspüre, hat unsere Heimatstadt ein besonders mieses Jahr hinter sich: Erst fegte die Antikorruptionskampagne des neuen Präsidenten Xi Jinping das halbe Rathaus leer. In den ersten neun Monaten des Jahres wurden insgesamt 143 Parteikader wegen Korruption verurteilt, vom Vizebürgermeister über den Leiter der Baubehörde bis zum Direktor eines staatlichen Rentenfonds, der Millionen in seine eigenen Taschen abgezweigt hatte. Es war die größte Säuberungsaktion in Pingxiang seit Gründung der Volksrepublik.

Dann verlor die Stadt auch noch ihre zwei reichsten Männer.

Fangen wir mit dem zweitreichsten an. Fan Jixin war ein Kohleboss mit einem geschätzten Vermögen von umgerechnet 60 Millionen Euro und einer typisch chinesischen Neureichen-Vita: Mit neun Jahren heuerte er bei einem Bergwerk als Arbeiter an. Schritt für Schritt arbeitete er sich zum Minenmogul hoch. Ihm gehörten drei Bentleys, drei BMWs, zwei Ferraris, ein Porsche und eine der zwei einzigen Rolls-Royce-Limousinen in der Stadt; ansonsten steckte er seine Millionen in ein Bauprojekt namens »Anyuan Movie City«, eine Art Freilichtmuseum für Touristen und gleichzeitig »das größte Filmstudio Jiangxis«. Dafür ließ der Kohleboss auf 10.000 Quadratmetern das historische Stadtzentrum der zwanziger Jahre nachbauen: Residenzen und Tempel mit geschwungenen roten Dächern, Holzschnitzereien aus tanzenden Drachen und vergoldeten Türrahmen. In einer Ausstellungshalle neben einem Buddha-Schrein konnten Besucher seinen privaten Fuhrpark bewundern. Fan ließ sich als Selfmademan und Wohltäter feiern. Dann kam ans Licht, dass er den Direktor der Aufsichtsbehörde für Kohlesicherheit mit Millionensummen bestochen hatte, um noch größere Summen bei der Unterhaltung seiner Minen einzusparen. Die Polizei steckte ihn hinter Gittern, derzeit wird ihm der Prozess gemacht.

Auch für den reichsten Mann und zweiten Rolls-Royce-Besitzer der Stadt war 2013 ein Unglücksjahr. Sein Fall schaffte es sogar bis in die 19-Uhr-Nachrichten auf CCTV1: Wang Lin, ein Mittfünfziger, der mit Vorliebe schneeweiße Zweiteiler trug, erarbeitete sich als selbsternannter »Qigong-Großmeister« sein Renommee unter den Schönen, Reichen und Mächtigen in ganz China. Er behauptete, tote Schlangen zum Leben erwecken und mit selbstgebrautem »Wunder-Maotai« Kranke von ihrem Leiden erlösen zu können. Für seine Kurse verlangte er Hunderttausende Euros. Die vermeintlichen Heilkräfte des Quacksalbers sprachen sich bis in die höchsten Kreise des Landes herum: Zu seinen Patienten zählten Actionfilm-Held Jackie Chan, Jack Ma, der milliardenschwere Gründer von Alibaba, dem größten E-Commerce-Konzern Chinas, Zhao Wei, die erfolgreichste chinesische Seriendarstellerin, und sogar der ehemalige Eisenbahnminister. Sie alle glaubten an den Hokuspokus von Meister Wang und waren bereit, Unsummen hinzublättern. Als im Juni 2013 eine Pekinger Zeitung schließlich die Ausmaße seiner Geschäftemacherei aufdeckte, setzte er sich nach Hongkong ab. Auf seinem Anwesen in Pingxiang, einer Disney-Schloss-artigen Festung mit goldener Fassade und künstlichem See, fand die Polizei illegale Waffen und Beweise für Schutzgelderpressung. Der Skandal löste im Internet eine wochenlange Diskussion über Aberglauben in der chinesischen Elite aus.

Man kann also nicht behaupten, unser Heimatort habe keine bekannten Persönlichkeiten hervorgebracht.

Kaum einer, nicht mal unter den Einheimischen, kennt hingegen die ruhmreiche Vergangenheit der Stadt. In den zwanziger Jahren war Pingxiang die Wiege der kommunistischen Arbeiterbewegung und als »Chinas kleines Moskau« bekannt. Niemand aus meiner Familie hat mir je davon erzählt, ich stolpere eher durch Zufall über die Geschichte.

Es ist Sommer2013, als mir ein ehemaliger Grundschulkamerad meiner Mutter den berühmtesten Flecken Pingxiangs zeigen will – besagte »Anyuan Movie City« des verstorbenen Kohlemoguls mit ihren nachgebauten historischen Tempelchen und Teehäusern.

Wir haben eben den Fuhrpark des einst zweitreichsten Mannes der Stadt besichtigt und wollen zurück zum Abendessen ins Zentrum fahren, als ein Monstrum von einer Gedenkhalle auftaucht. Ich dachte, dass ich in Pingxiang bereits alles gesehen hätte – tatsächlich aber erblicke ich das Gebäude zum ersten Mal. Es sieht aus wie ein stalinistischer Heiligenschrein. Über einen Vorplatz von der Fläche mehrerer Fußballfelder führen Hunderte Treppen auf einen steilen Hang, gesäumt von Marmorsäulen, akribisch gestutzten Hecken und eisernen Adlerskulpturen. Auf halber Höhe des Berges lächelt ein meterhohes Mao-Emblem von der Fassade der Gedenkhalle herab. Es ist nicht das Porträt, das man vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking kennt: Auf diesem weltbekannten Bild ist Mao bereits über sechzig und ein senioriger Patriarch mit Geheimratsecken, der gütig auf sein Volk herabblickt. Das Hoheitsbild in Pingxiang zeigt den Großen Vorsitzenden dagegen als jungen Mann mit vollem Haar, sein Gesichtsausdruck changiert zwischen wilder Entschlossenheit und staatsmännischem Ernst. Die Anlage ist gebaut wie eine Pilgerstätte. Aber auch hier: keine Besucher weit und breit.

»Was ist das?«, frage ich Herrn Wen, den alten Schulfreund meiner Mutter.

»Ach das! Nichts Besonderes. Mao war hier mal auf Durchreise.«

Zu Hause blättere ich durch Geschichtsbücher: China schrieb das Jahr1922, die Kommunistische Partei war gerade ein Jahr alt. Mao, 27, damals noch ein unbekannter Name in der Partei, unterrichtete chinesische Literatur in Changsha, 130 Kilometer westlich von Pingxiang. Die Abdankung des letzten Kaisers Puyi lag bereits zehn Jahre zurück, doch noch immer besaß China keine funktionierende Zentralregierung. Die Region um Pingxiang galt als Land der Gesetzlosen: Seit Jahrhunderten hatte der Staat hier nichts zu melden. Regiert wurde das Gebiet von Warlords und Geheimgesellschaften, deren Söldner mit Waffengewalt um die Kohleressourcen stritten. Stärkste Kraft vor Ort war die »Rote Bande«, eine Triadengesellschaft, die neuen Mitgliedern als Initiationsritus auferlegte, warmes Blut aus dem Hals eines frischgeköpften Hahns zu trinken. Die Gassen waren gepflastert mit Opiumhöhlen, Bordellen und Spielsalons.

Die Kohlemine im Stadtteil Anyuan, einem der wichtigsten Bergbauzentren Chinas, war aufgrund der gesunkenen Nachfrage nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in desolatem Zustand. Monatelang warteten die Arbeiter auf ihre Gehälter, außerdem mussten sie als Sklavensöldner in den Armeen der Warlords dienen. Die Zeit war reif für einen Aufstand.

Mao engagierte sich damals in einer von der Kommunistischen Partei unterstützten Arbeitervereinigung in Hunan. Als die Arbeiter der Anyuan-Mine die KP schriftlich um Hilfe baten, machte sich der in der Partei noch unbekannte Mao auf den Weg in die benachbarte Kohlestadt hinter der Provinzgrenze. Er schien begeistert zu sein: Dieses Pingxiang hatte revolutionäres Potential, befand er. Der Stadt eilte ein Ruf als Rebellennest voraus, über Jahrhunderte hatte es hier immer wieder antiautoritäre Aufstände gegeben. Erst kurz vor Maos Besuch hatten unterdrückte Bauern Häuser von Großgrundbesitzern gestürmt und angezündet. In einem offenen Brief »an die Bauern Chinas« appellierte nun der aufstrebende KP-Aktivist: »Folgt den Bauern von Pingxiang (…), und der Kommunismus wird euch von allen Leiden befreien.«

Der Kommunistischen Partei gehörten zu Beginn hauptsächlich Intellektuelle an. In Pingxiang erkannte Mao die Chance, eine proletarische Gefolgschaft zu mobilisieren. Die Stadt lag in geographischer Nähe zu Maos Heimat, die Menschen sprachen denselben Dialekt. Nirgendwo sonst in der Region fand sich eine größere Konzentration von Arbeitern.

Mao schickte seine Vertrauten und ließ einen Streik organisieren. Im Mai 1922 strömten 30.000 Arbeiter der Anyuan-Kohlemine auf die Straße. Während sie rote Flaggen schwenkten, riefen sie »Arbeiter aller Welt, vereinigt euch!«, »Nieder mit den Feudalherren!« und »Lang lebe die Kommunistische Partei!«. Es wurde der erste erfolgreiche Arbeitskampf in der Geschichte Chinas.

In den folgenden Jahrzehnten machte die Kommunistische Partei den Anyuan-Streik zu einem regelrechten Mythos. Das Porträt Der Vorsitzende Mao geht nach Anyuan wurde zum wichtigsten Propagandabild der Kulturrevolution und ist noch heute eine der am weitesten verbreiteten Mao-Ikonen. Das Bild zeigt den jungen Mao, der dem Betrachter wie eine aufgehende Sonne entgegenschreitet, furchtlos und voll revolutionären Siegeseifers. In seinem rechten Arm hält er einen Regenschirm als Zeichen dafür, dass er gegen jedes Unwetter gewappnet ist. Seine Haare und die lange blaue Mandarin-Robe flattern im Wind. Die Partei erklärte es zum »Nationalen Heiligtum« und wies die Bevölkerung an, es in jedem Büro und Klassenzimmer, jedem öffentlichen Raum und jeder Privatwohnung des Landes aufzuhängen. Es wurde 900 Millionen Mal nachgedruckt, ein Produkt beispiellos dreister Geschichtsklitterung: Denn Mao war 1922 während des eigentlichen Streiks gar nicht vor Ort.

Als ich meine Mutter nach dem Bild frage, lacht sie laut auf. Kaum einen Ort hat es in ihrer Kindheit gegeben, an dem der jugendliche Große Vorsitzende ihr nicht entgegenstarrte. Im Klassenzimmer hing das Bild neben der Tafel direkt vor ihrem Pult. Wenn sie nach Hause ging, begegnete es ihr an Mauern und an Bäumen. Jeder Straßenverkäufer führte es im Angebot. Nur zu Hause existierte das Porträt nicht. Großvater weigerte sich, es aufzuhängen. Er hat Mao gehasst. Doch darauf komme ich später zurück.

Als Kinder waren meine Mutter und ihre Geschwister stolz darauf, einem so glanzumwobenen Schauplatz der Revolution zu entstammen. Der Streik von Anyuan, so hatte man ihnen eingetrichtert, zeuge als leuchtendes Beispiel davon, mit welcher Tapferkeit Mao für die Rechte und die Würde der Arbeiter gekämpft habe. Der Anyuan-Streik von 1922 war ein Meilenstein in der Geschichte der KP. In den folgenden Jahren wurde Pingxiang zu einer proletarischen Festung. Tausende Bergarbeiter traten der Roten Armee bei. Hier wurde die erste Arbeitergewerkschaft des Landes gegründet und der erste Ortsverband der Kommunistischen Partei außerhalb Shanghais. In den zwanziger Jahren kam ein Fünftel aller landesweiten KP-Mitglieder aus Pingxiang. Linksintellektuelle strömten aus allen Ecken des Landes herbei, um zu studieren, wie man die Massen mobilisierte. Mehrere Jahre lang war Pingxiang landesweit das Zentrum der kommunistischen Bewegung.

*

Am Ende der zwanziger Jahre soll mein Ururgroßvater zehn Soldaten der Roten Armee erschossen haben. So steht es in mehreren Parteidokumenten meines Großvaters: handgeschriebene Zettel aus dünnem Reispapier, datiert auf die Jahre zwischen 1953 und1968, als die Partei immer wieder jedes Detail unserer Familiengeschichte unter die Lupe nahm.

Peng Shuzhao, mein Ururgroßvater, geboren1895, besaß in der kleinen Bauerngemeinde Lashi, zwanzig Kilometer von Pingxiang entfernt, eineinhalb Hektar Land und einen angrenzenden Hügel, auf dem die Familie Kameliensträucher, Tee und Tungölbäume anbaute. Die Leute nannten ihn Lao Peng, den »alten Peng«. Einen Teil des Bodens verpachtete er an Nachbarfarmer. In den Augen der Kommunisten zählte er damit schon zur feudalen Klasse der Grundbesitzer. Jahrzehnte später korrigierte die Partei ihre Einordnung: Lao Peng sei lediglich ein »kleiner Grundbesitzer« gewesen, eigentlich ein aufrechter Bauer. Ohnehin hatte es in China, anders als im zaristischen Russland, seit Jahrhunderten keine feudale Ausbeuterschicht mehr gegeben. Land konnte frei gekauft und verkauft werden. Lao Peng sagte man nach, dass er sein Leben lang ein gutes Händchen für Geschäfte gehabt habe.

Das blutige Aufeinandertreffen trug sich 1927 zu. Im September jenes Jahres probte Mao seinen ersten bewaffneten Aufstand, angekündigt mit dem später berühmt gewordenen Spruch: »Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.« Gemeinsam mit einheimischen Bauernaktivisten und arbeitslosen Bergarbeitern aus den Kohlegruben von Pingxiang attackierten seine Roten Soldaten im Großraum Changsha Großgrundbesitzer und Stützpunkte der Guomindang, der Partei der chinesischen Nationalisten. Nach dem Ende der Qing-Dynastie im Jahr 1912 begründete sie die erste chinesische Republik, kontrollierte das Land aber nur zu Teilen. Als Partei der Reichen und Mächtigen war die Guomindang beim einfachen Volk verhasst. Mit Hilfe der Minenarbeiter von Pingxiang machten sich die Kommunisten nun daran, sie aus der Region zu vertreiben. Beteiligt an diesem Angriff waren 5000 Mann. Die Losung der Operation, die später als »Herbsternte-Aufstand« in die Geschichtsbücher einging und den Auftakt des 22 Jahre währenden Bürgerkriegs zwischen den Kommunisten und der Guomindang markierte, war simpel: »Exekutiert lokale Reaktionäre, konfisziert ihren Besitz und brennt ihre Häuser nieder.«

Die Revolte währte nur wenige Tage; die Streitkräfte der Guomindang schlugen Maos Armee gnadenlos nieder. Mit seinen verbliebenen 1500 Männern floh Mao daraufhin ins 220 Kilometer südlicher gelegene Jinggang-Gebirge. Unterwegs ging Maos ausgehungerte und demoralisierte Truppe auf Beutezug. Die Raubüberfälle wurden als Kampf gegen die Ausbeuterklasse getarnt und da tuhao genannt – »zerschmettert tyrannische Grundbesitzer«. Sogar parteiintern wurden diese Übergriffe später kritisiert. Auf dem Sechsten Parteikongress, der im Dezember 1927 in Shanghai stattfand, straften KP-Obere Maos Vorgehen mit den Worten, seine Männer seien nichts anderes als »vagabundierende Banditen«.

Irgendwann in diesen Wochen, laut Akten wohl zu Beginn des Rückzugsmarsches, stürmten Rote Soldaten auf den Hof von Lao Peng. Es muss eine Gruppe von zehn gewesen sein, die sein Haus umzingelten, ihn festnehmen und seinen Besitz beschlagnahmen wollten. Hinrichtungen von »Grundbesitzern« wie ihm waren an der Tagesordnung, man stellte sie dabei zur Schau: Ihre Körper wurden auf hölzerne Rahmen gespannt und von allen Seiten mit einer speerähnlichen Waffe beworfen, suobiao genannt: scharfe, zweischneidige Messer mit einem meterlangen Schaft. Lao Peng fürchtete wahrscheinlich um sein Leben. Mit einer Jagdflinte schoss er auf die Eindringlinge. Ob es genau zehn waren, die er tötete, ließ sich später nicht mehr feststellen, ebenso wenig, ob er jemals zur Rechenschaft gezogen wurde. Die Tatsache aber, dass Großvater von einem – wenn auch nur »kleinen« – Grundbesitzer abstammte, der darüber hinaus in den Anfangstagen der kommunistischen Bewegung fast ein Dutzend »Klassenkämpfer« umgebracht hatte, belegte ihn mit einer Erbschuld. Als er Ende der fünfziger Jahre selbst wegen »konterrevolutionärer Gesinnung« am Pranger stand, musste er sich dafür unzählige Male rechtfertigen. In Verhören versuchte er seinen eigenen Großvater damals mit den Worten zu verteidigen, es seien keine Roten Soldaten gewesen, die dieser in Notwehr erschossen habe, sondern Gangster. Damit lag er falsch und richtig zugleich. Es waren Rote Soldaten. Und zugleich waren sie Gangster. Für eine endgültige Klärung der Tat war es da aber ohnehin zu spät. Es gab keine Beweise mehr und keine Augenzeugen. Aber der Makel blieb haften: Er galt als Enkel eines Kommunistenmörders.

Lao Peng, dessen Ahnen vor 600 Jahren aus Hunan in das Dorf Lashi bei Pingxiang übersiedelten, war ein tüchtiger und gebildeter Mann. Bereits im Alter von achtzehn Jahren gebar ihm seine Frau einen Sohn – Großvaters Vater. Es folgten drei weitere Söhne und eine Tochter. Erzählungen zufolge beherrschte Lao Peng jede Form der Feldarbeit, wusste Strohsandalen zu flechten, Stoffe zu weben, Ziegelsteine zu brennen und war geübt in Kalligraphie. Nebenbei verdiente er sich ein Zubrot als Barfußdoktor, wie man jene Sorte von chinesischen Ärzten bezeichnet, die zwar keine medizinische Ausbildung hatten, aber ein rudimentäres Verständnis von Heilkunde besaßen und in ländlichen Gegenden üblicherweise Hausbesuche erledigten. Oft sah die Familie ihn am zischenden Feuerherd in der Küche stehen und in einem großen gusseisernen Topf voll brodelnder Heilkräuter rühren, die er auf seinen Streifzügen durch die Berge sammelte. Lao Peng war schnell zu Fuß und trug meist lange, dunkle Roben. Riefen ihn Menschen wegen Erkältungen oder Schlangenbissen um Hilfe, erkannten sie ihn schon von weitem an seiner hageren Statur und dem langen Kinnbart. Achtung erwarb Lao Peng sich in der Gemeinde außerdem als daoistischer Meister, dem eine Verbindung zur spirituellen Welt nachgesagt wurde; bei Beerdigungen beauftragten ihn Familien damit, ihre toten Angehörigen zu segnen.

Großvater bewunderte seinen Großvater. Als Kind tat er nichts lieber, als auf dem Erdboden zu kauern und Lao Peng zuzuhören, wie er in sanftem Bariton Erntelieder sang. Dazu spielte er mit einem Bogen aus Rosshaar die erhu, ein traditionelles Streichinstrument aus Rosenholz, das er auf seine Knie stützte. Von Lao Peng erlernte Großvater die Liebe zur Musik und zur Kalligraphie; die gemeinsamen Singstunden in der Wohnstube zählen zu den wenigen schönen Momenten seiner Kindheit, an die er sich ansonsten nicht gerne erinnert.

Auch Großvaters Vater, Urgroßvater Peng Likun, gründete früh eine Familie, wie es damals üblich war. Mit zwanzig bekam er seinen ersten Sohn. Ein Jahr später, am 6. April1934, brachte seine Frau das zweite Kind auf die Welt. Wieder ein Sohn – meinen Großvater. Urgroßvater gab ihm den Namen Peng Fangcong.

Im selben Jahr brach Mao Zedong zum berühmten Langen Marsch auf. Nach der Niederschlagung des Herbsternte-Aufstands hatte er sich mit seiner Roten Armee für eineinhalb Jahre in den Wäldern des Jinggang-Gebirges verschanzt. Es folgte eine Zeit der parteiinternen Querelen und der Guerillagefechte mit der Guomindang. Die Übermacht der feindlichen Streitkräfte zwang Mao dazu, sein Bergrefugium zu räumen und die Truppenbasis in den Süden Jiangxis zu verlegen. In Ruijin, einer Stadt 400 Kilometer südlich von Pingxiang, rief Mao 1931 die Chinesische Sowjetrepublik aus. In den nächsten drei Jahren konnten die Kommunisten noch vier Großangriffe der Guomindang-Truppen abwehren. 1934 wurde der feindliche Druck jedoch zu groß: Die Rote Armee war von allen Seiten umzingelt, die Lebensmittelvorräte waren aufgebraucht. Als Ausweg blieb allein die Flucht in den Nordwesten. 85.000 Soldaten und 15.000 Parteikader machten sich auf den beschwerlichen Weg.

Eine Zeichnung aus unserem Familienstammbaum.

Sie zeigt die Ahnenhalle der Pengs in Lashi, 1995.

Großvater wurde in eine Welt des Chaos und der Gesetzlosigkeit hineingeboren.Die Guomindang hatte einen vorläufigen Etappensieg über die Kommunisten errungen und errichtete nun ihre Schreckensherrschaft. Als Großvater drei wurde, rückte aus dem Norden auch noch die japanische Armee vor. 1937 fiel sie in Pingxiang ein, tötete Tausende Menschen und zerstörte die gesamte Straßeninfrastruktur. Die Bevölkerung von Pingxiang lebte in dieser Zeit im ständigen Kreuzfeuer, eingekesselt zwischen Guomindang, den Japanern und lokalen Warlords.