Als die Tage kürzer wurden - Paula Roose - E-Book

Als die Tage kürzer wurden E-Book

Paula Roose

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Beschreibung

»Irgendwie war er ganz anders, als sie ihn sich vom Fenster aus vorgestellt hatte. Jetzt sah sie sein Gesicht, und es war, als hätte sie aus einer verkrusteten Oberfläche eine Stelle herausgekratzt.« Seit Jahren beobachtet Martina einen Obdachlosen, der in ihrer Altstadtgasse übernachtet. Eines Tages findet sie ihn bewusstlos in der Kälte und rettet ihm das Leben. Sie lernt den Mann kennen, der vor ihrer Haustür gestrandet ist. Zaghaft entwickeln sie Gefühle füreinander. Doch kann es wirklich Liebe sein? Oder meldet sich ihr Helfersyndrom, das sie vor Jahren in den Burnout getrieben hat? Als ihr der Geschäftsmann Friedrich, ein langjähriger Freund, Avancen macht, scheint sie vor einer Dummheit bewahrt zu werden. Eine Geschichte über Schwere und Leichtigkeit des Lebens. Und über Gott, den man nicht immer versteht.

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Inhaltsverzeichnis

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1

Im Schutz der Dunkelheit schob sie ihre Gardinen einen Spalt zur Seite. Sie wollte nur wissen, ob es ihm gut ging. Soweit sie es von hier aus sehen konnte. Danach zog sie die Gardinen wieder zu, strich ein wenig fahrig mit den Händen den Stoff glatt und atmete langsam aus. Was konnte sie schon tun? Sie war froh, auf ihrer Seite des Vorhangs zu sein.

»Was ist denn dort?«

Martina zuckte unter der Frage zusammen. »Ach, ich habe nur kurz was überlegt. Möchtest du noch Tee?«

»Danke, nein, ich muss gleich los. Aber komm, erzähl mir nichts. Du hast doch nach etwas geschaut. Oder nach jemandem?«

Ihrer Freundin konnte sie einfach nichts vormachen. Mit einem tiefen Seufzer setzte sie sich wieder zu Bärbel aufs Sofa. »Worüber hatten wir gerade gesprochen?«

»Darüber, wen du auf der Straße gesehen hast. Ist dort ein Mann?«

»Nein.« Hastig griff sie die Kanne und ließ Tee in ihre Tasse plätschern.

Bärbel setzte ihre Tasse ab und streckte sich. »Und warum wirst du rot?«

»Ach komm, lass doch. Ich…«

»Entschuldige. Ich trete dir zu nah. Manchmal bin ich ein Elefant im Porzellanladen.«

»Ein liebenswerter Elefant.«

»Findest du, ja?«

Die Frauen warfen sich einen warmen Blick zu.

Martina genoss es, die Nachmittage mit ihrer Freundin auf dem Sofa zu verquatschen. Leider passierte das zu selten, weil Bärbel so weit weg wohnte und immer viel vor hatte. Sie selbst konnte nicht Autofahren, weil sie sich den übervollen Straßen nicht mehr gewachsen fühlte. Und mit dem Zug war es eine mittlere Weltreise. »Gegenüber in der Nische liegt ein Obdachloser.«

»Du meine Güte. Und was willst du machen? Du kannst die Polizei holen.«

»Ihn verjagen? Warum? Das möchte ich auf keinen Fall.«

»Warum denn nicht? Er kann ins Pennerkästchen gehen. Außerdem ist es viel zu kalt, um draußen zu schlafen.«

»Genau. Es ist kalt und die Nische ist windgeschützt.«

»Hast du ihm schon mal einen heißen Tee gebracht?«

»Nein, ich …« Sie senkte den Blick. »Du weißt doch…«

Bärbel runzelte die Stirn. »Ja, ich weiß.«

»Ich überlege es jedes Mal, wenn ich meine Vorhänge zuziehe und ihn dort sehe. Aber wie soll es danach weitergehen?«

»Du gehst wieder rein und tust nichts weiter.«

»Könntest du das?«

»Ja, natürlich.« Bärbel legte ihr die Hand auf den Arm. »Du denkst doch nicht daran, ihn in dein Haus zu holen?«

»Ich…habe zwei Gästezimmer. Früher hätte ich …«

»Früher warst du das blühende Leben. Vergiss nicht, was deine Ärztin damals zu dir gesagt hat: Du hast dein Lebenspensum an Arbeit abgeleistet. Jetzt tust du nur noch, was dir Spaß macht.«

»Hmm.«

»Es gibt Angebote für Obdachlose, das weiß der Mann dort auch. Ein Tee ist ein Tee. Mehr nicht.«

»Ich sitze hier in meinem warmen Haus mit viel Platz, bringe dem Mann, der vor meiner Tür schläft, einen heißen Tee, gehe wieder hinein und schließe die Tür?«

Bärbel nickte. »Genau so. Und du rufst nicht die Polizei und lässt ihn dort schlafen. Was sagen denn die Nachbarn?«

»Halbschuhs und Stromeyers? Die waren gar nicht begeistert. Er hockt ja quasi zwischen ihren Wohnzimmern. Aber ich konnte sie überreden, ihn zu lassen. Er stört ja nicht wirklich.«

»Na also! Was will er mehr?«

Sie pustete die Backen auf. »Ja, was könnte er mehr wollen?«

Bärbel drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. »Jetzt übertreibst du. Mach es dir nicht so schwer.«

»Ach, ich weiß nicht. Komm, lass uns von etwas anderem reden. Was machst du Weihnachten? Hat deine Tochter dich eingeladen?«

»Hat sie.«

»Das klingt nicht sehr begeistert.«

»Ist es auch nicht. Aber ich werde wohl fahren, schon wegen meiner Enkel. Und mein Schwiegersohn ist selbst Weihnachten die meiste Zeit in seinem Büro. Wird schon gehen.«

»Um den beneide ich dich wirklich nicht.«

»Und du? Gehst du zu deinen Kindern?«

»Ja, Heiligabend zu Tabea. Und am Zweiten sind alle hier.« Unwillkürlich warf sie einen Blick zum Fenster.

Bärbel legte ihr die Hand aufs Knie. »Ich muss leider, habe noch eine Stunde Fahrt.«

»Das nächste Mal komme ich zu dir. Aber ich fürchte, es wird erst im neuen Jahr was.«

Die Tür klackte hinter Bärbel zu, nachdem die Freundinnen sich zum Abschied umarmt hatten. Martina schlurfte zurück zum Fenster und lugte noch einmal hinaus. Der Mann in der Nische schien zu schlafen. Aus seinem Rucksack schaute der Hals einer Wodkaflasche heraus. Nachdenklich warf sie einen Blick zum Wohnzimmertisch. Ihr Tee war inzwischen kalt geworden. Nein, Bärbel hatte nicht recht. Ein Tee war nicht nur ein Tee. Sie würde ihm in die Augen sehen. Es war ein Kontakt, ein Blick über die Schwelle. Und sie wusste nicht, wie es danach weitergehen sollte. Jedenfalls könnte sie nicht mehr nur vom Vorhang aus schauen, ob es ihm gut ging. Und für alles andere fehlte ihr einfach die Kraft. Doch wie auch immer. Am Wochenende würde sie fürs Obdachlosenasyl, dem Pennerkästchen, spenden. Und auf dem Dachboden lag immer noch Kleidung von ihrem Mann, die konnte sie auch mal dorthin abgeben.

Hinter sich hörte sie die Wanduhr ticken.

2

Am Morgen war der Mann fort. Martina war froh, dass er verschwunden war, bevor die Stadt erwachte. Damit ersparte er ihr und ihm die Peinlichkeit, ihn vertreiben zu müssen. Die Nische war verwaist, bis auf ein paar aufgewirbelte Schneeflocken, die Vorboten des Gestöbers, das für den Tag vorhergesagt war. Es war schon neun durch, höchste Zeit, dass sie in die Gänge kam. Der Friedhof stand für heute auf dem Zettel, Holger dort besuchen und nach dem Rechten sehen. So wie jede Woche seit dem Aufprall, seit er Knall auf Fall wegen eines Aneurysmas im Kopf aus ihrem Leben verschwunden war.

Das Telefon klingelte. Sie warf einen irritierten Blick auf die Wanduhr. Wer mochte das um diese Zeit sein? Etwas ratlos ging sie in den Flur und nahm den Hörer ab.

»Hallo? Hier ist Ernst.«

»Wer bitte?… Ach, Ernst… hallo!« Der Anrufer war ein Mitglied ihrer Kirchengemeinde. »Was verschafft mir die Ehre?«

»Weißt du, ich wurde doch zum Blumendienst verdonnert, aber ich komme heute nicht dorthin. Könntest du es für mich machen?«

»Ach so … aber … wohnst du nicht in der Parallelstraße?«

»Ja, Bergbachstraße.«

Ernst hatte sie noch nie angerufen. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, dass er jemals mehr Worte mit ihr gewechselt hatte als ein förmliches »Guten Morgen« im Vorbeigehen. Und nach allem, was sie von ihm wusste, hatte er wahrscheinlich nur keine Lust bei dem Sauwetter aus dem Haus zu gehen. Doch sofort hatte sie das Bild hängender Blütenköpfe und brauner Bergpalmenblätter vor Augen. »Weißt du, ich bin heute am anderen Ende der Stadt unterwegs.«

»Hier ist ja nichts weit. Nimm doch das Auto.«

»Ich habe keins.«

»Ach so! Aber du bist meine letzte Rettung.«

»Wen hast du denn schon gefragt?«

»Erna. Sie hat Schnupfen.«

»Hmm … und wen noch?«

»Wieso? Wen meinst du?«

»Sabine zum Beispiel. Sie wohnt gleich nebenan.«

»Die hat doch immer so viel zu tun mit ihren beiden Kindern.«

»Weißt du, das kommt jetzt sehr plötzlich und …«

»Wieso, was hast du denn?«

»Ich möchte zum Friedhof.«

»Na! Der läuft ja nicht weg.«

Sie hörte ihn lachen – offensichtlich fand er sich komisch – und hielt die Luft an. »Ich …« Zu den Blütenköpfen gesellte sich das Bild eines unendlich langen Weges im Schneegestöber quer durch die Stadt.

»Du bist wirklich die letzte Rettung. Wenn am Sonntag alle Köpfe hängen, das wäre doch nicht schön.«

»Aber ich …«

»So weit ist es ja nicht.«

»Hmm … na ja … dann …«

»Du hast was gut bei mir. Einen schönen Tag noch.«

»Dir auch.«

Der Hörer fiel zurück aufs Telefon. Warum hatte sie nicht einfach Nein gesagt? Dabei dachte sie, sie hätte es mittlerweile gelernt. Ihre Hände zitterten. Erst mal tief Luft holen. Sie brauchte jetzt einen Kaffee.

Die Regale in ihrer gemütlich verkramten Küche waren vollgestellt mit Dosen und Gläschen, Fotos und getrockneten Kräutersträußen, auf der Fensterbank wucherten gelbe Begonien. Der ganze Raum atmete Erinnerungen. An eine Zeit, als der Platz kaum für alle gereicht hatte, Lachen und Streiten die Sphäre füllten. Ganz normales Familienleben. Heute kam das einzige Geräusch meistens von der Uhr. Tick – tack. Aber wenigstens tickte sie wieder. Kurz nach Holgers Tod, der über sie hereingebrochen war wie der Vesuv über Pompeji, hatten sogar die Uhren unter der Asche geschwiegen.

Der alte Kessel von Großtante Anna dampfte und verkündete brodelnd, dass das Wasser kochte. Nein, sie war nicht unzufrieden mit ihrem Leben, liebte ihr Fachwerkhäuschen mitten in der Altstadt und besonders den Blick auf den Hofgarten aus ihrem Küchenfenster. Nur ihre Tage waren so kurz geworden, seit die Kinder aus dem Haus waren. Und erst recht seit dem Burnout vor zehn Jahren, der gleich nach dem Vesuv gekommen war, und von dem sie sich nie wieder erholt hatte. Früher war sie mittags mit der Hausarbeit fertig gewesen. Jetzt fing sie erst nach Mittag damit an, wenn überhaupt. So viel Zeit war vergangen, aber ihre Wunden hatte sie nicht geheilt.

Nachdenklich goss sie sich Kaffee ein und beobachtete die Vögel, die eifrig in ihrem reetgedeckten Futterhaus herumpickten. Wirklich, sie war nicht unzufrieden. Und das mit dem Neinsagen würde sie noch hinbekommen. Irgendwann. Das schwor sie sich.

Der Friedhof befand sich im Norden der Stadt. Die kleine Kirchengemeinde, zu der Martina gehörte, hatte ihr Gemeindehaus im Süden. Einen Bus, der quer durch die Stadt fuhr und keine Weltreise bedeutete, um vom einen Ende zum anderen zu gelangen, gab es nicht. Für das Fahrrad war es zu verschneit, also blieb ihr nur, zu Fuß zu gehen. Als sie in ihren Mantel schlüpfte und sich die Mütze über die graublonden Locken zog, hasste sie sich dafür, dass sie nicht einfach aufgelegt hatte. Sollte sie den Friedhof sausen lassen und morgen hingehen? Aber freitags besuchte sie Holger. Seit zehn Jahren. Die Blumen morgen gießen? Wenn sie die Lage richtig einschätzte, hatten sie vor vier Wochen das letzte Mal Wasser gesehen. Bis Sonntag würden sie sich kaum erholen können und, soweit hatte Ernst recht, hängende Köpfe waren im Gottesdienst nicht schön.

Also zog sie ihren Mantel enger um sich und stapfte los.

3

Holgers Grab war frisch geharkt, die Buchsbaumumrandung geschnitten und vor dem Grabstein drei Christrosen mit weißen Blüten gepflanzt. Martina stand allein in der Reihe. Um diese Zeit und schon gleich bei diesem Wetter fanden sich wenig Leute auf dem Friedhof ein. Aber eine ihrer Töchter, Damaris oder Tabea, mussten vor Kurzem hier gewesen sein. Sie kümmerten sich genauso liebevoll um das Grab ihres Vaters, wie Martina es tat. Das war eine gute Hilfe und sie war dankbar dafür. Trotzdem war sie manchmal ein wenig eifersüchtig auf ihren toten Mann, wünschte sich, statt zum Friedhof würden sie öfter zu ihr kommen. Sogleich verwarf sie den Gedanken als völlig albern. Natürlich halfen ihre Töchter ihr zuliebe bei der Grabpflege. Das war die Krux in Dingen, die man aus Liebe tat: Man meinte es gut und trotzdem klemmte es irgendwo.

Sie hockte sich hin und legte eine weiße Lilie in die Mitte. »Wie geht es dir da oben, Schatz?« Dicke Schneeflocken bedeckten eine nach der anderen die Blüte. »Ich kann heute nicht lange bleiben. Ernst – erinnerst du dich an ihn? – hat mich überredet… ja, ich weiß. Du hättest sofort Nein gesagt.« Sie holte tief Luft. »Aber bei dir habe ich es auch nicht gekonnt, oder? Du warst der erfolgreiche Tischlermeister und ich… alles andere.« Ein Seufzer glitt durch ihre Lippen. Vor ihren Augen schwebte eine Flocke im sanften Zickzack zu Boden. »Nein, es geht mir gut. Ich wollte gar nicht damit anfangen.« Sie erhob sich wieder. »Weißt du, ich habe dir nie erzählt, dass in der Nische zwischen Halbschuhs und Stromeyers manchmal ein Obdachloser schläft. Komme nur darauf, weil Bärbel ihn gestern gesehen hat. Keine Sorge, ich lasse ihn nicht ins Haus. Weiß doch, dass es dir nicht recht wäre, und Bärbel musste ich es auch versprechen. Aber ich hoffe, er geht heute ins Pennerkästchen. Bei dem Wetter!«