Drachentau - Paula Roose - E-Book

Drachentau E-Book

Paula Roose

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Beschreibung

"Hüte dich davor, einem Drachen in die Augen zu schauen. Er wird dich in seinen Bann ziehen, und du musst ihm folgen, wohin er dich ruft." Rosa kennt die Warnung ihres Großvaters Jakob und weiß, welche Wunden der Drache in ihrem Bärendorf geschlagen hat. Aber ihre Welt ist in Ordnung und sie will Bodo heiraten, wenn Jakob endlich zustimmt. Doch dann sieht sie den Drachen Tumaros und ist von seiner Schönheit und Stärke fasziniert. Sie schweigt über ihre Gefühle, und als Jakob erkennt, dass der Drache es auf seine Enkelin abgesehen hat, ist es zu spät. Rosa blickt in Tumaros Augen und folgt seinem Ruf in die Drachenhöhle. Rosa scheint verloren, aber Bodo will nicht aufhören, an ihre Rückkehr zu glauben.

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Inhaltsverzeichnis

Jakob

Tumaros

Wir bleiben!

Rosas Augenblick

Jakobs Augenblick

Sternenlied

Schätze

Allein und nicht allein

Drachentau

Auch du kannst zaubern

Neue Wege

Drachenwunden

Drachenbären

Mühlenau

Hoffnung

Zauber der Urzeit

Begegnung

Steinwurf

Finsterwald

Bodo

Tumaros’ Augenblick

Lobelie

Jakob und Emilia

Dämmerung

Zu spät

Neues Kleid

Neue Heimat

Forstschule

Fürstenwald

Feenzauber

Drachenberg

Alte Heimat

Drachentau

Epilog

Jakob

Der Finsterwald streckte sich bereits mit langen Schatten nach Jakob aus und Rosa war noch immer nicht zu Hause. Er stand von der Holzbank auf, ging ein paar Schritte auf und ab, hielt inne und sah den Mittelweg hinunter. Aber die erlösende Silhouette seiner Enkeltochter erschien nicht. Seufzend setzte der Bär sich wieder hin, schaute auf seine Pfoten, die eigentlich Hände waren, und begann aus Verzweiflung, die Finger zu zählen.

Mit einhundertfünfzig Jahren war er im besten Bärenalter. Nicht wenig Artgenossen wurden dreihundert. Er war hochgewachsen, hatte schwarzes Fell, und wenn er nicht saß, ging er aufrecht und nach Bärenart behäbig. Um die Hüfte trug er einen Ledergürtel mit Messer, kleiner Säge und Schraubenschlüssel – schließlich gab es immer etwas zu tun. Ein Blick in sein wettergegerbtes, menschliches Gesicht verriet, dass er gerne draußen war.

Seufzend ließ er von seinen Fingern ab und schaute wieder zum Wald hinüber. Dicht bei dicht wuchsen die Bäume und die Zwischenräume tauchten rasch in Finsternis, gespickt mit Farn und Dornengestrüpp. Eine Mauer mit wenigen Poren zum Atmen. Hob man den Blick über die Wipfel hinaus, sah man ein bizarres Gebirge mit trügerischer Schönheit. Trügerisch, weil der einsame Berg ein Ungeheuer beherbergte: den Drachen Tumaros. Seinetwegen war der Wald so finster. In seiner Nähe gediehen heimtückische Wesen, die sich lieber von hinten anschlichen, als von vorne den Kampf zu wagen.

Doch sie hatten Jakob nicht gehindert, seine Hütte am Wald zu bauen, gut tausend Schritte vom Dorfrand entfernt, hielten sie doch ungebetene Gäste, unnötige Gespräche und neugierige Blicke fern. Und er wusste, dass nicht alle Wesen im Finsterwald von übler Gesinnung waren. Eschagunde, königliche Waldfee, hielt dem Drachen stand und war seine ärgste Feindin.

Der Mittelweg war hier nur noch ein Trampelpfad. Er trennte Jakobs Hütte von wuchernden Brombeerbüschen, die mit einem weißen Blütenmeer eine reiche Ernte versprachen. Kurz bevor er im Wald verschwand, ging er wie ein Wendehammer auseinander. Wer trotz aller Schrecken in den Wald gehen musste, um Holz und vielleicht ein paar Pilze zu sammeln, konnte hier noch einmal tief durchatmen. Zwischen den Bäumen, so glaubten alle, war die Luft dicker. Doch wenn man Glück hatte, fand man auch am Waldrand genug Holz und lief über den Wiesenstreifen bis zum Bach. Dort hatten die Bären einst eine Mühle betrieben. Tumaros hatte sie beim letzten Angriff vor fünfzig Jahren zerstört, das Dorf gebrandschatzt und ausgeraubt. Aus dem wohlhabenden Mühlendorf wurde an diesem Tag das kleine Mühlenau. Es gab keine Familie, die nicht um einen geliebten Bären trauerte. Viele Überlebende verließen es. Etwa einhundert blieben zurück und bauten es wieder auf. Zuletzt war Jakobs Tochter Lena gegangen. Zu sehr von Albträumen geplagt, hatten sie und ihr Mann Boris sich vor zehn Jahren eine neue Heimat gesucht.

Es war Jakob nicht leichtgefallen, Rosas Bleiben zuzustimmen, lieber hätte er auch seine Enkelin in Sicherheit gewusst. Aber Rosa hatte darum gekämpft. Sie liebte das Dorf ebenso wie ihr Großvater.

Jakob versuchte eine Weile, dem Summen der Bienen in den Brombeerblüten zu lauschen. Besorgt schaute er zum dunkler werdenden Wald, als sein Blick an einer Bewegung heften blieb. Zwischen zwei Bäumen bemerkte er ein Flimmern, wie man es sah, wenn sich Luft über dem Boden erhitzte.

Er beugte sich vor. »Das ist doch… ja, wenn das nicht…natürlich …«

Das Flimmern wurde dichter. Es zeichneten sich Konturen ab. Der zierliche Körper einer Frau in grünem, duftigem Blättergewand wurde sichtbar.

»Eschagunde!«

Mit leichten Schritten kam die Waldfee auf Jakob zu. »Hallo, du alter Griesgrambär!« Eine Aura aus Sternenstaub umgab sie. Sie trug eine Krone aus Eschenblättern. Ihr schmal geschnittenes Gesicht, hohe Wangenknochen und der volle Mund drückten Entschlossenheit aus. Ihr braunes Haar war im Nacken zu einem Zopf geflochten. Um die Taille trug sie einen braunen Gürtel, in dessen Seite ein Ast steckte, an der Spitze von einem goldenen Eschenblatt geziert.

»Was machen die Geschäfte am Rande meines Waldes?«

»Seit wann braucht die Königin des Waldes Auskunft? Wer weiß besser, wie die Geschäfte laufen, als du?«

»Seit kluge Wesen in dieser Welt die Höflichkeit erfunden haben.« Eschagunde ließ sich neben Jakob auf der Bank nieder. »Aber Spaß beiseite. Gibt es etwas Neues aus Mühlenau?«

»Wie immer kommst du gleich zur Sache. Nein, mir ist nichts zu Ohren gekommen. Warum fragst du? Ist etwas passiert?«

»Bis jetzt nicht. Genaues kann ich noch nicht sagen.«

»Muss ich mir Sorgen machen? Es ist doch nicht etwa … der Drache?«

Eschagunde seufzte. »Seit ein paar Tagen vernehme ich Unruhe aus seiner Höhle. Ich habe versucht, ihn mit einem Zauber wieder in Tiefschlaf zu legen. Aber es wirkt nicht so, wie ich es gehofft habe.«

»Steht ein Angriff bevor?«

»Ich denke nicht, selbst wenn er aufwacht. Drachen sind an keine Zeit gebunden. Er kann Jahre wach sein, ohne herauszukommen.«

»Aber du machst dir Sorgen?«

»Ich habe keine Zeit, ihn im Auge zu behalten und euch zur Seite zu stehen. Ich werde auf dem Waldfeenrat erwartet. Deswegen meine Bitte: sei wachsam, ich bin, so schnell es geht, wieder zurück.«

»Ich weiß zwar nicht, was ein alter Bär gegen einen Drachen ausrichten soll, aber ich werde wachsam sein. Soll ich die Glocke läuten?«

Eschagunde schüttelte den Kopf. »Du würdest nur Panik verbreiten. Und noch schläft er.«

Sie erhob sich und drückte Jakobs Hand. »Ich hoffe, ich komme bald zurück.«

Er wollte etwas sagen, doch Eschagunde war verschwunden, genauso schnell, wie sie gekommen war.

Jakob seufzte. Bilder des letzten Angriffs drängten sich auf. Dort drüben hatte der Drache gestanden ‒ vorm Wald. Walburga, seine Frau, war aus der brennenden Hütte geflohen… lief direkt auf ihn zu… Jakob folgte ihr, sah, wie der Drache sie schnappte und… Er hielt sich die Ohren zu. »JAKOB!« Das Geräusch, als ihre Knochen zwischen den Drachenzähnen zerbarsten – es war in seinem Kopf, hatte sich wie ein langer, spitzer Dolch in sein Herz gebohrt. Und dann hatte Tumaros ihm die Knochen vor die Füße gespuckt.

Verdammtes Scheusal! Jakob ballte eine Faust und hob sie dem Drachenberg entgegen.

»Wo bist du mit deinen Gedanken, dass du es nicht bemerkst, wenn du nicht mehr allein bist?«

Rosa! Über den Schrecken hatte er sie beinahe vergessen. »Na endlich! Die Sonne geht schon unter. Wo warst du so lange?«

Rosa zuckte mit den Schultern, setzte sich auf die Bank und sog die würzige Luft tief ein. Sie hatte ebenso glänzendes Fell wie Jakob. Ihre Gestalt war anmutig, schlank, ihre Bewegungen geschmeidig. Am Kopf jedoch wuchsen kein Fell, sondern lange, schwarze Haare. Um die Hüfte trug sie eine ihrer selbst genähten Schürzen in leuchtendem Lila. Darunter versteckte sich ein ornamentverzierter Ledergürtel, in dem ein Schnitzmesser steckte.

»Hier und da«, antwortete sie ihm. »Du weißt doch, wie Bären sind. Immer neugierig, immer auf ein Schwätzchen aus.«

Jakob legte seinen Arm um sie. »Und meine liebenswürdige Enkelin lässt lieber ihren Großvater warten, als unhöflich zu sein.«

»Ja, du kannst einem leidtun, du armer alter Bär.«

Rosa lachte ihr helles Lachen, das Jakob so gerne hörte, und alles Warten war vergessen. Sie erhoben sich und schlenderten durch die Gartenpforte hindurch zur Hütte.

Vor der Tür drehte Jakob sich noch einmal um. »Ich bringe rasch die Hühner zu Bett«, sagte er über die Schulter und verschwand.

Rosa ging hinein, stellte ihren Korb auf den Küchentisch und zündete die Öllampe an. Sie tauschte die Schürze gegen eine beige aus Leinen und wusch sich sorgfältig, jeden Finger einzeln bedenkend, die Hände. Dann löste sie ihren Flechtzopf und bürstete ausgiebig ihr Haar, bevor sie es im Nacken zu einem Knoten zusammenband. Ihre großen Augen und die hohen Wangenknochen verliehen ihr ein kindliches Aussehen, das immer mehr fraulichen Zügen wich. Ihre dunkle Nase zierte ihr Gesicht und wirkte wie von der Hand eines Künstlers hineingemalt.

Die Flamme im Herd war bedrohlich klein geworden. Rasch legte Rosa ein paar Holzscheite nach, schürte das Feuer und beobachtete, wie die größer werdende Flamme sie prasselnd verzehrte. Wärme breitete sich aus. Rosa schloss die Ofentür, setzte den Wasserkessel auf den Herd und packte den Korb aus. Hähnchenbrüste und Eier hatte sie bei Hühner-Emma erworben. Rosa legte die Eier zu ihren eigenen in den Vorratsschrank und nahm Möhren und Kartoffeln heraus. Mit tänzerischem Schritt bewegte sie sich zwischen Küchentisch und Herd hin und her, putzte summend Gemüse, heizte die Pfanne an, briet Hähnchenbrüste und schnippelte die Möhren in feine Stifte. Ein köstlicher Duft erfüllte den Raum und ließ ihren Magen knurren. Seit dem Frühstück hatte sie nichts gegessen. Rasch schüttete sie das Gemüse zum Fleisch, räumte die Küche auf und deckte den Tisch.

Wo Jakob wohl blieb?

Kaum gedacht ging auch schon die Tür auf und ihr Großvater kam herein.

»Wo hast du gesteckt? Man könnte meinen, du hättest den Hühnern beim Brüten geholfen.«

»Könnte man meinen.« Jakob wusch sich die Hände und setzte sich an den Tisch. »Wenn unsere Lilly nicht wieder ausgebüxt wäre.«

Die Hütte war klein und gemütlich. Als die Bären das Dorf wieder aufgebaut hatten, wurden der Einfachheit halber alle Hütten in der gleichen Art errichtet. Eine große Wohnküche mit Herd zur Rechten und Kamin zur Linken, dahinter zwei Schlafstuben. Vor dem Kamin standen bei Jakob zwei Ohrensessel und in der Ecke ein Sofa. Am Fenster befand sich ein Beistelltisch mit Schachfiguren.

Großvater und Enkelin ließen es sich schmecken und plauderten über den vergangenen Tag. Jakob versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Wie geht es denn unserer alten Hühner-Emma? Redet sie noch immer so viel?« Jakob verzog das Gesicht, aber er meinte es nicht böse. Emma war nie über den Verlust ihres Mannes und der beiden Söhne hinweggekommen. Sie redete oft viel und unnützes Zeug. Aber niemand im Dorf mied sie deswegen. Sie war einmal eine tüchtige Bärin gewesen, doch von allen glich sie am wenigsten den Menschen.

»Du sollst sie nicht Hühner-Emma nennen. Sie ist eine arme, einsame Bärin.«

Rosa drohte ihm mit dem Zeigefinger.

»Der Name passt doch zu ihr. Wenn sie so schnell redet, gackert sie wie ein Huhn.« Jakob ahmte mit den Armen fuchtelnd ein Huhn nach.

Rosa lachte. »Wenn sie so schrecklich ist, warum kaufen wir dann Eier bei ihr, obwohl du eigene Hühner hast?«

Jakob wurde ernst. »Du weißt, warum.«

»Ja, ich weiß es, Großvater. Sie tut dir leid, weil der Drache ihr alles genommen hat, was ihr lieb und teuer war. Mir geht es genauso. Es ist anstrengend, ihr zuzuhören, aber ich tue es trotzdem, denn irgendwie hab ich sie gern. Und das mag ich an dir. Du würdest nie freiwillig mit ihr reden, aber ihre Eier, die kaufst du.«

Jakob lächelte und beide schwiegen eine Weile.

»Gibt es etwas Neues aus dem Dorf?«

Rosa zuckte mit den Schultern. »Sicher nichts, was dich interessiert. Ein neuer Zaun bei Edmund, der Mittelweg muss instand gesetzt werden und sie suchen wieder Bären, die die Schulkinder unterrichten.«

»Das ist alles?«

»Meinst du was Bestimmtes?«

»Nein, nein. Spielen wir heute Abend Schach?« Jakob konnte etwas Ablenkung gebrauchen, er würde sowieso die ganze Nacht grübeln.

»Heute Abend? Ach, es ist doch etwas. Bodo wollte mit dir sprechen.«

Sie konnte sich denken, worum es ging. Seit Längerem bat er um Rosas Hand, aber Jakob hatte nicht zugestimmt, weil er seine Enkelin noch zu jung fand. Mit fünfundzwanzig war sie beinahe im heiratsfähigen Alter. Aber, wie Jakob fand, eben nur beinahe.

Er hatte keine Lust, mit Bodo zu reden, wenn er ihn auch sehr mochte und für einen tüchtigen Bären hielt. »Würdest du ihm sagen, dass es heute nicht passt? Mir ist nicht nach Besuch.«

»Dir ist so gut wie nie nach Besuch.« Rosa freute sich auf die Aussicht, ein wenig mit Bodo zu schwatzen. »Nur unter einer Bedingung. Die Küche räumst du heute auf.«

Jakob lachte. »Abgemacht!«, sagte er.

»Und danach spielen wir unsere Schachpartie.«

»Abgemacht!«

Tumaros

Nachtschwarz ragte der einsame Berg aus dem Finsterwald heraus. Die Stille war klirrend starr. In der Nähe dieses Berges fiel das Atmen schwer. Drachen hatten feine Sinne, nichts entging ihnen. Nur in besonderen Nächten war es Eschagunde möglich, sich mit starkem Gegenzauber zu nähern. Aber es war riskant und band für mehrere Tage ihre Kräfte.

Da lag er in seiner Drachenhöhle, dunkelgrün gepanzert, jede Schuppe mit einem Edelstein besetzt, umgeben vom funkelnden Schimmer seiner Zauberkräfte, eingerollt in einer behaglichen Haltung, seinen Kopf auf die Schwanzspitze gebettet, inmitten von Goldmünzen, Silbergefäßen, Edelsteinen, Schwertern und Schilden ‒ und schlief. Zufrieden schnaufte sein Atem mit einem wohlig kehligen Geräusch.

Aber Drachen waren nur mit einer Hälfte ihrer Sinne im Land der Träume. Die andere Hälfte war wach. Nichts entging ihm, was um ihn herum geschah, weder in der Nähe des Berges noch in der Ferne im Mühlendorf. Er genoss seine Macht und die Furcht, mit der die Bären an ihn dachten. Drachen waren immer auf ihren eigenen Vorteil bedacht, durch und durch verschlagen. Sie taten niemals etwas in Eile, heckten in ihrer finsteren Höhle Pläne aus und konnten Jahre, sogar Jahrhunderte warten, bis sie ihre Vorhaben ausführten, stets darauf aus, große Beute zu machen. Tumaros’ Schatz war unermesslich, angesammelt in 500 Jahren Raubzug. Für ihn aber war er armselig. Er träumte davon, einen Schatz zu finden, mit dem er die ganze Drachenhöhle füllen könnte. Etwas Besonderes sollte es sein, das ihm für alle Zeit den Respekt der anderen Drachen bringen würde. Er war es leid, Bärendörfer zu überfallen, deren Ausbeute kaum den Aufwand lohnte. Es war lediglich ein Zeitvertreib.

In dieser windstillen Nacht, in der ein Wolkenband den Mond verdeckte und nicht einmal ein blasser Lichtstrahl die Dunkelheit durchbrach, geschah das, was Eschagunde befürchtet hatte: Tumaros erwachte. Zunächst wurde nur sein Atem schneller, dann blinzelte er. Noch immer rührte er sich nicht, blickte nur durch einen Schlitz seiner Lider still umher und folgte seinen Gedanken. Der letzte Traum war noch präsent, in dem er den Schatz eines Zwergenkönigs erbeutet hatte.

Mit einem langen Gähnen riss er sich von den Bildern los und öffnete die Augen. Klarer als der reinste Saphir waren sie seine gefährlichste Waffe. Blickten andere Wesen in seine Augen, wurde Tumaros’ Zauberkraft wirksam. Er konnte sie in seinen Bann ziehen. Sie mussten ihm dann folgen, wohin er sie rief, und waren für immer verloren.

Ein feiner Luftzug strömte von draußen herein. Tumaros erhob sich und tapste zum Ausgang. Dann wollen wir mal sehen, wie es meinem Mühlendorf so geht. Er grinste hämisch. Nach seinem letzten Besuch war es reichlich verkohlt gewesen. Er stieß sich vom Felsen ab und schwang sich in die Luft. Lautlos schwebte das Ungeheuer mit ausgestreckten Flügeln durch die Nacht. Jeder seiner Schläge brachte einen heftigen Windstoß hervor.

Die meisten Bewohner von Mühlenau lagen in ihren Betten und schliefen. Nur vereinzelt sah man Kerzenschein aus den Fenstern flackern. Tumaros musterte das Dorf. Die Hütten waren klein. Reichtümer schienen sie nicht zu bergen. Er spürte den regelmäßigen Herzschlag der schlafenden Bären. Angst hatten sie auch nicht. Er kniff die Augen zusammen. Sie haben mein Holz gestohlen für ihre armseligen Hütten. Ich werde sie lehren, wie man Drachen fürchtet. Er flog eine Schneise und glitt über den Mittelweg hinweg. Aber nicht heute Nacht. Sollten sie ruhig noch eine Weile zittern, bevor er sie heimsuchte.

In Jakobs Hütte saßen Enkelin und Großvater bei Kerzenschein über dem Schachbrett zusammen. Rosa setzte ihren Turm und brachte den nur schwer zu schlagenden Jakob in eine ausweglose Lage.

»Schach!«

Sein Blick musterte jede seiner Figuren. Seufzend nahm er den König und legte ihn hin. »Matt.«

»Du bist nicht bei der Sache, Großvater.« Stirnrunzelnd blickte Rosa ihn an. »Willst du mir nicht sagen, was dir durch den Kopf geht?«

»Nichts, was eine junge Bärin wie dich kümmern sollte«, antwortete er und erhob sich. »Zeit, schlafen zu gehen.«

»Wie du meinst. Ich schaue noch mal, ob das Tor zu ist, damit sich die Hasen nicht an unserem Salat gütlich tun.«

Rosa sprang auf und war schon an der Tür, als Jakob ihr noch »Das kann ich doch machen« hinterherrief.

Zu spät.

Das Tor stand offen. Rosa wollte es schließen, als ein unbekanntes Geräusch, ähnlich einem leisen Donner, aber irgendwie heller, ihre Aufmerksamkeit anzog. Sie schaute den Mittelweg hinunter. Ein Windstoß wirbelte ihre Haare auf. Im selben Moment gab das Wolkenband den Mond frei und die Nacht hellte auf.

Und dann sah sie ihn! Mit unvorstellbarer Größe flog das Ungeheuer auf sie zu. Seine Spannweite überragte alles, was sie bisher gesehen hatte. Er hätte ihr gesamtes Anwesen unter seiner Körpermasse begraben können. Und doch flog er majestätisch, jede Bewegung beherrschend, fast anmutig auf sie zu. Die Panzerjuwelen funkelten im Mondlicht mit atemberaubendem Glanz.

Rosa stand gebannt und für einen Augenblick hörte die Welt auf, sich zu drehen.

Und Tumaros sah Rosa! Ihre grazile, zerbrechliche Gestalt, ihr glänzendes tiefschwarzes Fell, ihre ebenmäßigen, vollendeten Gesichtszüge, ihre großen dunkelbraunen Augen. Sie ist es, durchschoss es ihn. Sie ist der Schatz, der mir fehlt.

Ihre Blicke suchten sich, zogen sich an, wollten sich berühren– dann wurde Rosa hart am Arm gepackt und ins Haus gezerrt.

Die Tür knallte zu. Jakob lehnte sich keuchend dagegen. Sein Herz schlug wild. Tumaros war aufgewacht!

Rosas Puls raste ebenso. Sie war tief erschrocken und zugleich… »Ich habe ihn gesehen! Ich habe den Drachen gesehen! Er ist groß. Er ist gewaltig. Er ist… schön.«

»Er ist ein Ungeheuer! Das Grausamste, das du dir vorstellen kannst. Nein, tausendmal grausamer, als du zu denken in der Lage bist.« Er ging auf Rosa zu, packte sie beim Arm und blickte ihr fest in die Augen. »Hüte dich davor, einem Drachen in die Augen zu blicken. Hörst du! Wenn du das tust, bist du verloren. Du kommst nie wieder von ihm los. Du gehörst ihm und niemand kann dir helfen.«

Rosa schwieg und blickte auf den Boden. Aber ihr Herz raste noch immer. Sie hatte den Drachen gesehen. Er war schön, unglaublich schön. Ich muss ihn noch einmal sehen, dachte sie und blickte zum Fenster. Nur noch einmal.

Jakob setzte sich an den Küchentisch und stützte die Hände auf. Was sollte er tun? Alarm schlagen? Er spürte Furcht vor dem Glockenschlag, vor der Panik in den Augen der anderen. Warum hatte der Drache nicht angegriffen? Es war besser, er wartete auf Eschagunde, bevor er alle informierte. Doch wie sollte er dieses Wissen für sich behalten? Er musste das Dorf zusammenrufen und sich mit den anderen beraten! Gleich morgen früh.

»Lass uns schlafen gehen, Rosa, heute können wir nichts mehr tun.« Er verschwand in seine Schlafstube.

Rosa war es recht, dass er schwieg. Tumaros! Er ist gewaltig. Schrecklich. Schön.

Tumaros flog auf den Drachenberg zu, segelte um ihn herum und landete im Höhleneingang. Er blickte zurück zum Mühlendorf. In ihm regten sich völlig neue Gefühle, beinahe zitterte er. Er sah sie immer noch vor sich, diese wunderschöne Bärenfrau. Er musste sie haben. Sie war der Schatz, nach dem er gesucht hatte. Mit diesem Juwel konnte er bei der nächsten Drachenversammlung König werden. Atrox würde die Bärin von ihm fordern müssen und Tumaros konnte den Kampf verlangen. Er war schon lange stärker. Aber ohne Grund durfte niemand den König herausfordern. Sie ist ein Grund, dachte Tumaros. Dann werde ich Herrscher und die Bärenfrau habe ich obendrein. Er legte sich auf seinen Schlafplatz und schloss zufrieden die Augen. Doch er konnte nicht einschlafen. Immer wieder gingen seine Gedanken zu Rosa. Schließlich schmiedete er einen Plan. Ab jetzt werde ich jede Nacht über dem Dorf kreisen. Irgendwann werde ich in ihre Augen sehen können und sie verzaubern. Dann gehört sie mir! Damit schlief er ein und träumte mit allen seinen Sinnen von Rosa.

Kurz vor Sonnenaufgang stand Jakob auf und weckte Rosa. Ohne Frühstück gingen sie zum Dorfplatz. Jakob schlug die Glocke. Wenige Minuten später kamen die ersten Bären angelaufen. Er läutete unbeirrt weiter, bis auch der letzte Dorfbewohner vor ihm stand. Dann wurde es still. Alle blickten auf Jakob.

»Was ist los? Warum schlägst du in aller Frühe Alarm?« Die Frage kam von Mischa, dem Dorfältesten. Er war in Jakobs Alter, etwas fülliger, aber nicht dick und trug eine schwarze Lederhose.

»Tumaros ist erwacht! Letzte Nacht ist er über unser Dorf geflogen. Rosa und ich haben ihn gesehen.«

Ein Aufschrei ging durch die Menge. Die Bären redeten wild durcheinander. Manche fingen an zu weinen. Hühner-Emma schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Emilia legte den Arm um sie.

Jakob wartete, bis die Menge sich beruhigt hatte. Dann sprach er weiter. »Lasst uns überlegen, was zu tun ist. Wenn wir alle durcheinanderreden, kommt niemand recht zu Wort. Ich schlage vor, dass wir einen Rat von zehn Bären wählen, die das weitere Vorgehen bestimmen. Außerdem sollten die schnellsten von uns als Boten zu den umliegenden Dörfern laufen, um sie zu warnen. Zur Mittagsstunde versammeln wir uns erneut.«

»Und wenn Tumaros bis dahin angreift? Sollten wir nicht lieber fliehen?«, wandte Emilia ein.

Jakob schaute sie an. Sie war sportlich und klug, wusste über jeden etwas Gutes zu sagen und das leicht ergraute Haar schmückte elegant ihr Haupt.

»Wenn er uns vernichten wollte, hätte er es schon getan«, antwortete er. »Schätze haben wir nicht, die er rauben kann. Es ist möglich, dass er sich ein anderes Dorf sucht. Ich denke nicht, dass er so bald angreift.«

Zustimmendes Nicken ging durch die Reihen. Mischa wählte zehn für den Krisenrat, darunter Emilia und Bodo. Sie setzten sich im Kreis unter die Dorfplatzlinden und begannen. Die übrigen Bären wählten die Boten und gingen zurück in ihre Häuser.

Auch Rosa eilte nach Hause und setzte sich mit einer Tasse Kaffee an den Tisch. Sie wusste, wie gefährlich der Drache war. Und ihre Eltern fehlten ihr. Trotzdem war er so schön, eine imposante Erscheinung, der seinen gewaltigen Körper perfekt beherrschte. Ich darf nicht an ihn denken, befahl sie sich. Vor allem darf niemand wissen, dass er mir gefällt. Wie kann man von einem Ungeheuer fasziniert sein?

Aber sie dachte weiter an Tumaros.

Und Tumaros dachte an Rosa.

Jakob führte das Wort. Er kannte sich bestens mit dem Drachen aus und die Bären vertrauten ihm. Warum er so gut Bescheid wusste, ahnte kaum einer, denn nur wenige kannten Eschagunde. Emilia kannte sie und fragte sich, ob sie von Tumaros’ Erwachen wusste. Sie blickte Jakob fragend an. Dieser schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Lasst uns zunächst die Fakten sammeln«, eröffnete er die Runde. »Tumaros ist aufgewacht, er wird in jedem Fall Beute machen wollen. Aber unser Dorf hat er nicht angegriffen.«

»Weil wir keine Schätze haben«, ergänzte Emilia.

»Was man nicht hat, kann man nicht verlieren. Wer verliert schon gerne seinen Besitz an einen Drachen«, warf Edmund ein, dem die Mühle gehört hatte.

»Wenn Tumaros keine Beute machen kann, verbreitet er Angst und Schrecken«, sagte Jakob.

»Denkst du, er war auf Erkundungsflug und plant einen Angriff in den kommenden Nächten?«, fragte Mischa.

»Ja, das könnte sein. Oder er wollte angreifen und hat seinen Plan während des Fluges geändert. In jedem Fall müssen wir damit rechnen, dass er wiederkommt«, erwiderte Jakob.

»Die Pläne eines Drachen sind stets überlegt«, sagte Emilia. »Dass er seinen Plan plötzlich ändert, ist unwahrscheinlich.«

»Und doch ist es möglich«, antwortete Jakob.

»Dann sollten wir unsere Sachen packen und uns in Sicherheit bringen, solange wir es noch können«, sagte Ferdinand, der seine Kinder allein großgezogen hatte.

»Oder wir überlegen, wie wir bleiben und uns vor dem Drachen schützen können«, sagte Mischa.

»In einer Sache sind wir Tumaros überlegen. Wir sind nicht gierig! Soll er unsere Hütten abbrennen. Dann bauen wir neue. Hauptsache, wir bleiben unversehrt«, meldete sich Bodo zu Wort, der trotz seiner Jugend von allen als Ratgeber geachtet wurde. »Ich schlage vor, dass jeder das Nötigste seiner Habe außerhalb des Dorfes in Sicherheit bringt.«

»Das ist ein guter Plan. Dazu soll sich jeder ein Versteck im Wald suchen«, nahm Mischa den Vorschlag auf.

»Und was, wenn wir vom Feuer überrascht werden?«, fragte Edelgard, Edmunds Frau.

»Natürlich brauchen wir eine Wache«, sagte Mischa.

»Aber glaubt ihr, dass wir auf Dauer mit der Bedrohung leben können?«, gab Emilia zu bedenken. »Angegriffen werden ist hart, aber täglich damit zu rechnen, ist härter. Es ist niemand im Dorf, der nicht einen Verlust durch den Drachen zu beklagen hätte. Jetzt, wo er erwacht ist, kommt die Gefahr wieder näher und damit auch die Erinnerung. Denkt nur einmal an unsere Emma. Die Wunden, die ein Drache schlägt, gehen tief und manche heilen nie.«

»Auch ein verwundetes Leben ist ein Leben«, antwortete Jakob. »Dennoch ist es ein berechtigter Einwand. Die Nerven liegen blank. Aber wir können nur gehen oder einen Weg finden, zu bleiben.«

Jakob sah Emilia an. Sie erwiderte seinen Blick.

So überlegte der Rat noch eine Weile hin und her, jeder meldete sich mal zu Wort und jeder war mal ratlos.

Schließlich band Mischa den Sack zu. »Also, hört: Jeder packt ein Paket mit dem Nötigsten, das wir außerhalb des Dorfes verstecken. Wir bauen dort auch ein kleines Gehege mit Hühnern und Ziegen, die wir reihum versorgen. Jede Nacht hält einer an der Glocke Wache. Wir bauen uns ein Versteck im Wald, in das wir fliehen können. Bodo kümmert sich um die Organisation. Ich werde jeden Tag zum Dorfplatz kommen und für die da sein, die Fragen haben. Würdest du auch dazukommen, Jakob?«

»Muss wohl sein«, antwortete Jakob.

»Du schaffst das schon«, zwinkerte Emilia ihm zu. »Der einsame Bär muss auch mal ins Licht.«

Jakob schaute sie an. Er wusste, was sie meinte. »Der einsame Bär ist für das Licht zu alt«, antwortete er.

»Und ich? Bin ich auch zu alt?«

»Du?« Er sah in ihre geradlinigen Augen. »Du bist für gar nichts zu alt.«

Das war das schönste Kompliment, das ein wortkarger, ruppiger Bär machen konnte. Emilia lächelte und senkte den Blick.

Gegen Mittag schlugen sie sanft die Glocke und die Bären versammelten sich erneut auf dem Dorfplatz. Der Ratschluss wurde verkündet und angenommen. Dass Mischa und Jakob täglich zu sprechen waren, beruhigte sogar Hühner-Emma. Bodo würde am Nachmittag beginnen, jeden in seiner Hütte aufzusuchen, um die Fluchtwege zu besprechen. Zwei Bären wurden gewählt, geeignete Verstecke im Wald auszukundschaften und für einen längeren Aufenthalt vorzubereiten. Es half ihnen, etwas zu tun, denn letztendlich waren sie doch gegen den Drachen machtlos. Das wusste jeder. Aber sie waren sich einig: Wir bleiben!

Bodo wohnte ebenfalls am Mittelweg, nahe dem Dorfplatz. Er hatte seit drei Jahren eine eigene Hütte. Auf dem Heimweg begleitete er Jakob ein Stück. »Kann ich heute Abend bei dir vorbeischauen?«

»Du bist in meiner Hütte immer willkommen«, antwortete Jakob. »Aber ich frage mich, wann du Rosa endlich einen Antrag machst?«

Bodo zog die Augenbrauen hoch. »Sagtest du nicht, Rosa sei noch nicht so weit? Woher der plötzliche Sinneswandel? Ein gutes Wort zur falschen Zeit macht mehr kaputt, als es nützt, so waren deine Worte. Es hat doch nicht etwa mit dem Drachen zu tun?«

Jakob war selbst von seinem Vorstoß überrascht. »Warte nicht zu lange. Nicht, dass du den richtigen Zeitpunkt verpasst. Ihr habt das beste Alter zum Heiraten.«

»Was ist los, Jakob? So kenn ich dich nicht. Ist alles in Ordnung mit Rosa?«

»Natürlich ist alles in Ordnung. Sehen wir uns heute Abend?«

Bodo nickte.

Jakob nickte zurück und entfernte sich.

Rosa brutzelte schon die Eier. Sie warf Jakob einen kurzen Blick zu, als er die Hütte betrat. An seinem Gesicht sah sie, dass er gerne schweigend die Mahlzeit genommen hätte, doch sie mussten besprechen, wie weiter vorzugehen wäre, was sie packen wollten, wo ein gutes Versteck wäre und: Ist der Drache wirklich so gefährlich?

»Ja! Ist er!« Mehr sagte Jakob bis zum Abend nicht.

Rosa räumte den Tisch ab und ging in den Garten, fütterte die Hühner und setzte sich dann auf die Bank.

Tumaros.

Wir bleiben!

An diesem Tag hatte niemand im Dorf Zeit für ein Schwätzchen. Alle Bären waren in ihren Hütten beschäftigt. Es wurden Koffer herausgeholt und gepackt, Fluchtwege geplant und Verstecke gesucht, möglichst nicht mehr als zehn Mann in einem. Rudi, der beste Zimmermann des Dorfes, begann mit dem Bau des Geheges für Hühner und Schafe. Im Übrigen brauchten Bären nicht viel, um zufrieden zu sein. Das Wichtigste, ihren Pelz, trugen sie ohnehin am Leib und Honig ließ sich fast überall finden. Auch das trug erheblich dazu bei, dass sie am Abend mit dem größten Teil der Arbeit fertig waren.

Bodo ging von Hütte zu Hütte, half, beriet, beruhigte und lobte die gute Planung, wann immer er konnte. Hin und wieder hatte er Mühe, einzelne Bären davon zu überzeugen, ihren Fluchtweg nach hinten aus der Hütte heraus zu planen und nicht nach vorne über den Mittelweg in den Wald zu laufen, auch wenn es da am schnellsten ging. Dank guter Argumente zeigten sich am Ende alle einsichtig. Sie nahmen die Arbeiten gerne auf sich, denn das Treiben und Überlegen ließ ihnen keine Zeit zum Grübeln.

Am Abend, als alle in ihren Hütten vor dem Kamin saßen, wurde der Drache in den Köpfen wieder größer und die sonst mutigen Bärenherzen schlugen schneller. »Warten ist geschenkte Zeit für Ruhe und Gemütlichkeit«, so pflegte man zu sagen. Aber warten, ob man Opfer eines Drachen wurde oder nicht, war, als wäre man im Ozean auf einem winzigen Baumstamm treibend von Haien umzingelt und hoffte, man würde nicht gefressen.

Jakob, Rosa, Bodo und Emilia saßen in Jakobs Hütte beisammen, hielten eine Tasse Tee in den Händen und schauten zu, wie das Kaminfeuer die Holzscheite verzehrte. Obwohl die Gedankenmühle sich unaufhörlich drehte, fanden sie keine Worte für ihre Angst ‒ und so schwiegen sie. Müde vom Tag, müde von der Erwartung auf die kommende Nacht, waren sie froh, nicht allein zu sein.

Die Sonne neigte sich zum Westen und färbte den Himmel mit rötlichem Schimmer. Die erste Wache an der Glocke hatte Edmund. Bodo hätte es auch getan, aber er wurde bei der Planung dringender gebraucht.

Fast sah es gemütlich aus, wie die vier so am Kaminfeuer saßen. Obwohl die Ankündigung des Drachen gerade einen Tag zurücklag, kam es allen vor, als lebten sie schon immer so. Und in gewisser Weise taten sie das auch.

Endlich brach Emilia das Schweigen. »Hast du den Drachen gesehen, Rosa?«

Rosa schaute überrascht auf. »Ja, habe ich.«

»Bist du nicht erschrocken? Ich sah ihn ein einziges Mal und habe seinen Anblick nie vergessen.«

»Doch schon, aber… ich weiß nicht… irgendwie auch nicht.« Sie rührte ihren Tee.

»Ich habe den Drachen noch nie gesehen. Wie meinst du das, ›irgendwie auch nicht‹?«, fragte Bodo.

»Ich kann es nicht sagen, er sieht prachtvoll aus. Wie ein fliegender Schatz. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass er wirklich so schrecklich ist.«

»Das ist er aber«, sagte Emilia sanft. »Vor allem musst du dich vor seinem Blick hüten.«

»Das weiß ich. Großvater hat es mir gesagt. Wann soll ich einem Drachen schon in die Augen blicken?«

Jakob zog die Stirn kraus. »Dann, wenn er es will.«

Rosa starrte auf den Strudel, der sich in ihrem Tee gebildet hatte.

»Hat er dich auch gesehen?«, fragte Emilia weiter.

Alle Augen waren auf Rosa gerichtet. Sie dachte daran, wie er zu ihr geschaut hatte, wie sich ihre Blicke um ein Haar getroffen hätten. »Nein, ich glaube nicht. Großvater hat mich ins Haus gezogen.«

Emilia atmete auf. »Dann ist es gut.«

Aber Jakob schaute skeptisch.

Sie blickten wieder ins Kaminfeuer. Rosa spielte ziellos mit ihren Fingern. Ihr Herz schlug beim Gedanken an Tumaros höher. Doch es war keine Angst, es war Faszination und… Sehnsucht. Sehnsucht, den Drachen noch einmal zu sehen.

Bodo holte gerade Luft, um etwas zu sagen, setzte an… dann kam es, das gefürchtete Geräusch! Über die Stille und das Abendrot hinweg legte sich wie eine erstickende Decke das dröhnende Tönen der Glocke. Sie sprangen auf. Rosa wollte hinausstürzen, doch Jakob packte sie.

»Bleibt in der Hütte, ich gehe allein.« Er warf Rosa einen Blick zu. Darin war Abscheu zu lesen und Entschlossenheit, diesen Platz nicht zu räumen. Rosas Hände zitterten. Sie wünschte, sie könnte das Ungeheuer genauso hassen, wie Jakob es tat. Verwirrt blickte sie auf den Boden. Bodo legte den Arm um sie und Rosa ließ es geschehen.

Jakob rannte zum Gartenzaun. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie keinen Angriff zu befürchten hatten, aber die Glocke tönte weiter. »Wo bist du, Scheusal? Zeig dich!«

Zuerst hörte er den leisen Donner. Dann sah er ihn. Mit ganzer Spannweite flog er auf ihn zu und rauschte über Jakobs Hütte hinweg. Jakob schaute zu ihm auf und Tumaros glotzte hinunter. Rosa, durchschoss es ihn. Er will sie sehen! Bewahre, was geht hier vor?

Alles hatte nur Sekunden gedauert. Er blickte dem Drachen nach, wie er den Himmel füllte, langsam kleiner wurde und Richtung Drachenberg verschwand. Was hast du vor, du Bestie?

Bodo erschien neben Jakob. »Was ist passiert?«

»Nichts, gar nichts. Er ist einfach nur übers Dorf geflogen.«

»Bitte? Treibt er ein Spiel mit uns?«

»Ich weiß es nicht.« Jakob schwang sich über die Pforte. »Komm, wir laufen ins Dorf und sehen nach, ob jemand Hilfe braucht.«

Schon bald kamen ihnen die ersten Bären entgegen.

»Er ist weg, ihr braucht nicht ins Versteck«, sagte Jakob.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich habe ihn Richtung Berg verschwinden sehen. Keine Ahnung, was er vorhat, aber ich glaube, für heute war es das.«

Die Gruppe blickte ratlos. Schließlich teilten sie sich. Einige liefen ins Versteck, andere hörten auf Jakob und gingen zurück. Bodo und Jakob eilten weiter, um so viele wie möglich zu erreichen.

Rosa und Emilia standen am Gartenzaun. Rosa stellte sich vor, wie Tumaros in seiner Höhle lag und sein Panzer glitzerte. Sie war froh, ihn nicht gesehen zu haben. Sie war traurig, ihn verpasst zu haben. Eine Träne rollte über ihre Wange.

Emilia drückte ihre Hand. »Komm, Liebes, lass uns reingehen. Er ist weg.«

Der Tee war kalt geworden. Keiner vermochte etwas zu sagen. Sie schauten eine Weile in den Kamin, bis Rosa ein Gespräch begann.

»Ins Feuer blicken und an einen Drachen denken. Das passt irgendwie.«

»Ja, das passt. Nur dass dieses Feuer wärmt. Drachenfeuer zerstört. Bist du sicher, dass er dich nicht gesehen hat? Jakob scheint besorgt zu sein.«

Rosa störte die Frage. »Ja, bin ich. Er hat mich nicht gesehen«, antwortete sie fast ein bisschen trotzig.

Emilia wechselte das Thema. »Was ist mit dir und Bodo, wenn ich fragen darf? Hat er dir einen Antrag gemacht?«

Rosa senkte den Blick. »Ich glaube, er würde gerne, aber Großvater hat ihm keine Erlaubnis gegeben.«

»Warum stimmt Jakob dem nicht zu? Bodo ist eine gute Partie.«

»Er findet mich zu jung.«

»Wirklich? Jakob war selbst erst fünfundzwanzig, als er Walburga geheiratet hat. Und du? Würdest du gerne von Bodo gefragt werden?«

Rosa blickte Emilia an. Sie war plötzlich froh, mit einer Frau zu sprechen. »Ich finde Bodo nett. Ja, ich mag ihn wirklich. Aber bisher war alles gut, so wie es war. Ich bin glücklich mit Großvater in der Hütte.«

Zwei Tage zuvor hätte Rosa anders geantwortet. Insgeheim hatte sie sich geärgert, dass Jakob Bodo so lange hinhielt.

»Hört sich an, als wenn du dir nicht viel aus Bodo machst? Hast du noch gar nicht ans Heiraten gedacht, Rosa?«

Rosa beschloss, die Frage zu übergehen. »Und du, Emilia? Was ist mit dir und Großvater? Es sieht doch jeder, dass ihr euch liebt.«

Emilia errötete. »Jakob ist in Liebesdingen fürchterlich ungeschickt. Sogar ein bisschen verschroben. Er sagt, er ist für die Liebe zu alt. Ich glaube, er verbietet es sich selbst, weil er deine Großmutter sehr geliebt hat.«

Rosa erstaunte Emilias plötzliche Offenheit. »Kanntest du meine Großmutter?«

»Natürlich kannte ich Walburga. Sie hatte ein feinfühliges Wesen. Wir waren gut befreundet. Man konnte ihr Dinge anvertrauen, ohne dass bald das ganze Dorf Bescheid wusste. Geheimnisse waren bei ihr sicher aufgehoben. Alle Jungbärinnen waren in Jakob verliebt, aber er hatte nur Augen für Walburga und sie war die Einzige, die Jakob zu nehmen wusste.« Emilia schaute Rosa an. »Du hast viel von ihr.«

Rosa traute sich plötzlich zu fragen, was ihr schon lange auf der Seele brannte. »Weißt du, wie sie gestorben ist?«

Emilia zog die Augenbrauen hoch. »Weißt du es etwa nicht? Tumaros hat sie gefressen. Jakob musste ansehen, wie er sie mit einem Happen verschlang.«

Rosa wurde kalt. »Ist das wahr?«, sagte sie leise. »Nein, das wusste ich nicht.«

Dann schwiegen sie.

So fand Jakob sie, als er heimkam. Er lächelte, als er sah, dass Emilia noch bei ihm war. Leise fragte er: »Darf ich dich nach Hause begleiten?«

Emilia, die seinen gedämpften Ton völlig falsch verstand, antwortete: »Aber nein, das ist doch nicht nötig. Ich wohne nicht weit… ich meine in der gleichen Straße.«

Jakob reichte Emilia seinen Arm. »Ich bringe dich trotzdem.«

Sie hakte sich ein. Schweigend gingen sie nebeneinander her, jeder in Sorge, durch unbedachte Worte diesen Moment zu zerstören. Angekommen vor Emilias Hütte schenkten sie sich einen langen Blick. Mehr traute Jakob sich nicht. Mit einer kurzen Verbeugung wandte er sich zum Gehen. Nein, dafür war er zu alt.

Rosa blieb vor dem Kaminfeuer sitzen. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie Tumaros ihre Großmutter verschlang, wie er Jakob das Herz brach, ihm das Liebste nahm, das er hatte. Sie schämte sich, dass sie fasziniert von ihm war. Nein, sie würde ihn sich aus dem Kopf schlagen. Er war keinen Gedanken wert.

Rosa wusste nicht, dass ein Drache, wenn er einmal ein Herz berührt hatte, ob im Guten oder Bösen, Spuren hinterließ, die niemand mehr löschen konnte.

In der Drachenhöhle lag ein zufriedener Drache. Sein Plan war gut. Wie hatte er es genossen, ihre Angst zu sehen. Und diese alberne Glocke. Was sind es doch für erbärmliche Kreaturen.