Drachenschuld - Paula Roose - E-Book

Drachenschuld E-Book

Paula Roose

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Beschreibung

Am Rande des Finsterwaldes ist das einstige Dorf Mühlenau zu einer blühenden Stadt herangewachsen. Doch im Drachenberg befindet sich noch immer Tumaros Schatz. Ein leises Beben öffnet einen Eingang zur Höhle. Prompt wird der Schatz von der Fabrikantentochter Ira entdeckt. Sie erhofft sich von dem Fund eine Tür in die Freiheit. Mit eigenem Vermögen könnte sie dem Diktat ihrer wohlhabenden Mutter entkommen. Aber unter Gold und Juwelen liegen gefährliche Artefakte verborgen. Schnell gerät sie in einen Bann, giert nach immer mehr Gold und ist zu jedem Opfer bereit - bis sie selbst zum Opfer wird. Woher kommt Hilfe, wenn man keine Freunde hat? Und was, wenn man durch seine Taten eine ganze Stadt in Gefahr bringt? Ira gibt alles, um ihre Schuld zu begleichen. Doch sie kann Tote nicht zum Leben erwecken.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil Schuld

Gewitter

Dämmerung

Wolkenbruch

Erschütterung

Erdbeben

Nachbeben

Traum

Modewerkstatt

Hüte dich!

Verlies

Sternenkonstellation

Entblößt

Opfer

Versöhnung

Drekimordingi

Drachenhure

Zweifel

Adolonisnacht

Mutter

Teil Vergeltung

Speicher

Tagebuch

Unterwäldisch

Geschlüpft

Insidia

Carcer Animi

Wahrheit

Meister Ferrada

Proélia

Schuld

Silvamare

Benjamin

Erinnerung

Ewige Hallen

Nykro-Luná

Horizont

Waldreiter

Abschied

Teil Sühne

Steinschmelze

Absturz

Todeskampf

Lydia

Neues Leben

Licht am Horizont

Epilog

Prolog

Die Drachenhöhle verschwand hinter einem Nebelschleier. Immer dumpfer drangen die Geräusche zu Proélia. Ihr eigener Körper lag am Boden. Ein Zacken aus Atrox’ Kragen steckte in seiner Brust. Sie schrie, aber in der Höhle blieb es stumm. Die Bärin und der Mensch fielen sich in die Arme. Widerliche Kreaturen! Ich werde mich rächen! Ich werde euch …

»Du wirst gar nichts, Hexe.« In leuchtendem Gewand stand der uralte Zeitenwächter vor ihr. Sein Blick war hart. Er streckte den Arm aus, urplötzlich wurde es dunkel, und Proélia befand sich mit ihm im schwarzen Verlies.

Verschwinde, alter Mann, keifte sie. Du kannst mich nicht einsperren. Ich werde entkommen. Und dann räche ich mich. Sie entdeckte das Tongefäß in seiner Hand — Nein.

»Noch ist es der einzige Ort, an den ich dich verbannen kann.«

Nicht in den Carcer!

»Nur so lange, bis du im Erdmittelfeuer verbrannt werden kannst.«

Es wird dir nichts nützen! Das Drachenauge. Drekimordingi. Sie werden …

Meister Ferrada hauchte Proélia an. Sein Atem wehte ihre schwarze Seele in den Carcer Animi. Ein Blatt Papier auf der Öffnung hätte ausgereicht, um die Hexe im Gefäß gefangen zu halten. Aber er wollte sichergehen, dass nicht am Ende der Wind sie befreite, und verschloss den Carcer mit Scherbe und Drahtbügel. »Man kann nie wissen, was die Zeiten bringen«, murmelte der uralte Zeitenwächter und verschwand.

Aus dem Seelenkerker blickten zwei Augen ins schwarze Verlies. Ohne Tür, ohne Licht. Proélia wünschte, sie hätte wenigstens im Kreis laufen können.

1. Teil

Schuld

Gewitter

Ira nutzte ihren Körper als Gegengewicht, zog einen Eimer mit dem Flaschenzug hinauf und hievte ihn über den Fenstersims. Einige Tropfen verspritzten, bevor sie das Wasser in den Bottich füllen konnte. Sei’s drum. Zur Hälfte war er voll. Das reichte für heute. Sollte Lucilla sich ruhig beschweren. Sie hätte einen Arbeiter aus der Fabrik abstellen können, statt ihrer Tochter eine Lektion zu erteilen.

Ira schloss das Fenster. Ein Gewitter thronte über Mühlbachstadt, doch am Horizont brach bereits eine Wolke auf. Erste Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg, bereiteten der Regennacht ein Ende und ließen die Spitze des Drachenberges rotgolden erstrahlen – wie ein glühendes Schwert. Sie hockte sich auf den Sims. Das Geheimnis ihres Namens, Ira Drachenbraut, war mit diesem Berg verwoben. Ihre Urahnin Rosa Drachenbraut soll mit einem Drachen davongeflogen sein, um dort zu wohnen.

Davonfliegen!

Wehmütig schaute sie auf ihre geröteten Hände. Vielleicht war sie einfach in der falschen Zeit geboren! Oder die Freiheit blieb ihr versagt, weil sie nur eine Nachfahrin von Rosas Adoptivtochter war.

Zwischen dem Berg und der Stadt wogte der Finsterwald wie ein aufgewühltes Meer. Die Menschen sagten, er sei magisch, und dieses Attribut war der letzte Rest seiner bewegten Vergangenheit. Heute hielt er die Waldarbeiter mit einer üppigen Holzernte auf Trab. Das Holz wiederum beschäftigte Lucillas Arbeiter in der Möbelfabrik, und damit beherrschte der Wald im Grunde die ganze Stadt.

Ira rutschte vom Fenstersims hinunter. Ihre zierliche Gestalt mutete immer ein wenig an, als würde sie über dem Boden schweben. Aber ihre Schultern waren merkwürdig steif, als trüge sie ein eisernes Joch. Sie deckte den Bottich zu. Durch ihn wurden Küche und Badezimmer mit fließendem Wasser versorgt, eine Konstruktion ihres Vaters. Gewöhnlich war es Birta, die das Schöpfen aus dem Brunnen erledigte – wenn sie sich nicht gerade die Hand verstaucht hatte.

Lucilla stand am Spülstein, wusch das Geschirr und bewegte dabei ihre hagere Gestalt ruckartig hin und her. Ihr elegantes steingraues Kleid unterschied sich farblich kaum vom Wolkenhimmel.

Ira ärgerte es, dass ihr mühsam geschöpftes Wasser schon wieder verbraucht wurde. Aber jeder Kommentar dazu hätte ihre Mutter in den Genuss gebracht, einen ihrer Vorträge über das Arbeiten halten zu können, und so setzte sie sich nur stumm an den gedeckten Küchentisch und nahm sich Kaffee.

»Danke, dass du den Bottich gefüllt hast«, sagte Lucilla, als sie ihre Tochter erblickte, und trocknete sich die Hände.

Im Herd prasselte das Feuer. Sonnenstrahlen spiegelten sich an den Fensterscheiben und zauberten winzige Regenbögen in die Tropfen. Doch der Anblick konnte Iras Laune nicht erhellen. »In anderen Städten hat man Wassertürme mit Leitungen in jedes Haus.«

Lucilla setzte sich. Seelenruhig goss sie sich Kaffee ein. »Ein Wasserturm müsste auf dem Drachenberg errichtet werden.«

»Und warum tut es niemand?«

»Es wurde schon versucht. Mehrmals sogar. Aber jedes Mal kam ein Arbeiter ums Leben. Darum halten sie den Berg für verflucht.«

»Und ich muss Wasser schöpfen.«

Lucilla trank einen Schluck und stellte die Tasse präzise neben dem Teller ab, so als würde sie den Tisch gerade erst eindecken. »Timo kommt heute Abend.«

Ira zog die Stirn kraus. »Ja, ich weiß.«

»Ich bin bei meinem Gesellschaftstreffen.«

»Birta ist doch da.«

»Birta geht zu ihrer Freundin.«

»Aber …?«

»Wir werden heute auf eine Anstandsdame verzichten.«

Ira schnappte nach Luft. »Ist das dein Ernst?«

»Timo hat sich bei mir die Erlaubnis geholt, um deine Hand anzuhalten.«

Ihr Herz setzte zwei, drei Schläge aus. Seit Timo ihr das erste Mal seine Liebe gestanden hatte, sehnte sie diesen Tag herbei, an dem sie sich endgültig sicher sein konnte, dass er bleiben wollte und nicht nur ein Abenteuer suchte. Aber warum wusste Lucilla davon und nicht sie? Ihre Gedanken wollten sich noch zu einer Antwort sortieren, als Lucilla fortfuhr. »Der junge Mann ist eine gute Partie. Und er weiß, was sich gehört, sonst hätte er sich nicht bei mir die Erlaubnis geholt.« Sie machte eine kurze Pause, als müsste sie überlegen, was sie als Nächstes sagen wollte. »Nun … es geht auch um die Zukunft der Firma.«

»Ich verstehe nicht.«

»Vieles wäre leichter, wenn das Sägewerk unter unser Firmendach schlüpfen würde.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

Lucilla warf ihr einen Blick zu. »Das weißt du genau. Also vermassel es nicht!«

»Bitte?«

»Du hast richtig gehört.« Sie seufzte. »Ich hatte schon befürchtet, er würde es sich anders überlegen. Nach einem Jahr! Und du bist ja nicht gerade … sagen wir … einfach.«

»Lucilla!«

Ihre Mutter strich sich über das perfekt gebundene Haar und gab sich damit einen Anstrich von Verletzlichkeit. »Wenn es ums Heiraten geht, sind deutliche Worte nötig. Dein Vater hätte sich um einen geeigneten Bräutigam gekümmert. So fällt es halt mir zu. Also noch einmal: Vermassel es nicht.«

Ira stellte die Kaffeetasse ab und verbarg ihre zitternden Hände unterm Tisch. »Mein Vater hätte sich gefreut, dass ein Mann mich heiraten will … der mich liebt.«

Lucilla warf ihr einen peinlich berührten Blick zu. »Jetzt werde bitte nicht albern.«

Mit einem Ruck erhob Ira sich und rannte aus der Küche.

Dämmerung

Leises Klopfen an der Zimmertür riss Ira aus ihrem Tränenfluss.

»Liebes, darf ich reinkommen?«

Sie drückte ihr Gesicht in das Kissen. Nein, bitte nicht. Nicht jetzt. Aber sie sehnte sich nach Birtas großer, weicher Brust. So schwieg sie, bis die Klinke sich senkte und Birtas rundliches Gesicht sich durch den Türspalt schob.

Mitfühlend schaute die Haushälterin auf Iras Tränen und schloss die Tür. Es ertönte ein seufzendes Geräusch, als sie sich auf das Himmelbett setzte, wobei man nicht genau sagen konnte, ob der Seufzer von Birta kam oder vom Bett.

Ira griff hastig nach einem Taschentuch, trocknete sich das Gesicht und ließ sich von Birta in die Arme ziehen.

»Lucilla hat mir von eurem … Gespräch erzählt.«

Sie spürte den Impuls, sich zu versteifen und aufzurichten, doch im Augenblick tat die Nähe zu gut, als dass sie sich daraus lösen wollte. »Ich bin Firmeneigentum, das zum besten Preis verschachert werden soll.«

»Nicht doch! Du bist und bleibst unbezahlbar.« Birta strich ihr eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sie schnäuzte ins Taschentuch, nahm ein zweites und tupfte sich den erneuten Tränenstrom von den Wangen. »Ist es wahr? Hat Timo um meine Hand gebeten?«

»Jawohl, das hat er.«

»Aber wann?«

»Gestern Abend.«

»Warum weiß ich davon nichts?«

»Ich wollte es dir doch sagen. Wenn das mit der dummen Hand nicht passiert wäre.«

»Ach, Birta.« Ira barg den Kopf an Birtas Schulter. Sie war das Kissen, das sie auffing, wenn Lucilla sie in den Abgrund gestoßen hatte.

»Du bekommst einen guten Mann. Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt.«

»Ich hatte befürchtet, er würde gar nicht mehr fragen.«

Birta lachte. »Ach, woher denn. Er ist verrückt nach dir!«

Sie erhob sich und ging zum Fenster, ließ den Blick in die Ferne schweifen, ohne etwas Bestimmtes zu suchen. »Was hätte mein Vater dazu gesagt?«

»Elias? Er hätte Timo noch vor dem ersten Kuss nach seinen Absichten gefragt. Und wehe, die wären nicht ehrenhaft gewesen! Er hätte Drachenfutter aus ihm gemacht.«

Sie musste lachen und wandte sich wieder um. »Ihr lasst mich heute Abend wirklich mit Timo allein?«

»Na und ob! Deine Mutter hat endlich eingesehen, dass Anstandsdamen nicht mehr in unsere Zeit passen. Dabei haben sie und Elias …«

»Birta …« Sie setzte sich wieder aufs Bett. »Wir sind schon manchmal allein … im Wald und bei Timo … und wir küssen uns auch … aber … wir haben noch nie … ich meine so …«

Birta drückte ihre Hand. »Dann wird es wohl Zeit.«

»Aber …?«

»Kein aber! Liebes, ihr seid jung. Klar behauptet Lucilla, ein anständiges Mädchen tut so etwas nicht. Aber lass dir gesagt sein: Anständig Verliebte tun so etwas.«

Sie rang mit sich, doch dann platzte es aus ihr heraus. »Und wenn er mich gar nicht heiratet? Womöglich bekomme ich ein Kind von ihm?«

»Aber doch nicht Timo!«

Wieder traten ihr Tränen in die Augen. »Ich wurde schon einmal verlassen.«

»Ich weiß, Liebes, ich weiß. Manchmal lässt das Leben uns keine Wahl.«

Sie konnte sich nicht erinnern, überhaupt jemals eine Wahl gehabt zu haben. Nicht einmal ihre Schneiderlehre, so sehr sie das Handwerk auch liebte, hatte sie selbst gewählt. »Bin ich schwierig?«

Über Birtas Gesicht huschte ein Schatten. Sie beeilte sich zu lächeln, aber Ira hatte es gesehen.

»Nein, bist du nicht … Aber dein Leben war schwierig. Bis jetzt. Und du bist etwas Besonderes.« Birta versuchte, sie wieder an ihre Brust ziehen.

Einen Moment herrschte Schweigen. Ira erhob sich und ging zum Spiegel. »Ich muss gut aussehen …«

»Du siehst gut aus.«

»Am besten nehme ich ein Bad … Lässt du mir Wasser ein? Ach, du kannst ja nicht …«

»Immer langsam. Bis heute Abend ist noch Zeit. Ich werde euch etwas Schönes kochen. Was meinst du?«

»Aber du bist doch außer Haus?«

»Erst heute Abend.«

»Und deine Hand?«

»Das wird schon gehen.«

Ira schaute zum kleinen, runden Tisch in der Zimmerecke.

Birta verstand ihren Blick. »Natürlich werdet ihr hier oben essen. Hoffentlich vergisst Lucilla nicht, dass sie es erlaubt hat.«

»Danke.«

»Holst du mir etwas vom Markt? Ich schreib dir einen Zettel.«

»Aber … du bist die Haushälterin.«

Birta lachte und wuschelte ihr durchs Haar. »Ich kann doch nichts tragen mit der Hand.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, wandte Birta sich ab und verschwand mit den gleichen knarzenden Schritten, mit denen sie gekommen war.

Ira ließ sich in ihre Kissen fallen. Sie fühlten sich wunderbar weich an, wie Wolken, auf denen sie über ihre Sehnsucht hinwegschweben konnte. Das morgendliche Gewitter jedenfalls schien vertrieben zu sein. »Timo«, flüsterte sie in die Stille des Raumes hinein. Und heute war die Stille ihr Freund, der sie den Zauber dieses Momentes genießen ließ.

Endlich!

Durch das Fenster in Iras Zimmer sah der Drachenberg wie ein Gemälde aus, das von den golddurchwirkten Samtvorhängen gerahmt war. Von ihrem Sofa aus konnte Ira es betrachten, doch die modernen Korbmöbel aus der Familienwerkstatt stritten gegen diesen Hauch von Ewigkeit. Das war der Grund, weshalb sie lieber Eichenmöbel gehabt hätte. Doch wenn sie vor dem Kamin saß und mit ihrem Herzen den wärmenden Geschichten lauschte, die das prasselnde Feuer zu erzählen wusste, dann tröstete das ein wenig darüber hinweg. Obwohl es gleichzeitig die Sehnsucht mehrte. Wie gerne wäre sie dabei gewesen, als es in diesem Haus noch glückliches Leben gegeben hatte.

Ira setzte sich an die Frisierkommode. Sie bestand aus etlichen kleinen Schubladen, allesamt gefüllt mit kostbaren Cremes, Bürsten, Kämmen, Haarschmuck und Lippenstiften. Doch nur die unterste Schublade pflegte sie zu benutzen. Sie enthielt eine Eschenholzbürste mit Wildschweinborsten – ein Geschenk ihres Vaters. »Wer so drachenfeuerrotes Haar hat, der braucht eine besondere Bürste, damit es für immer so schön bleibt«, hatte er lachend gesagt. Es war eine der wenigen Erinnerungen, die sie an ihn hatte. Sie strich sich mit der Bürste über die Haare, träumte sich in diesen Moment zurück, und es war, als wäre alles, was danach kam, nicht geschehen.

Aber es war geschehen, es hatte ihn gegeben, diesen Tag, als die Männer in die Villa kamen und sagten, ihr Vater werde niemals wiederkommen. Was bedeutete »nie wieder« für ein fünfjähriges Mädchen? Sie hatte auf ihn gewartet.

Lucilla bekämpfte den Schmerz auf ihre Weise, stürzte sich in Arbeit und überließ die Tochter sich selbst. Ira wäre im Warten ertrunken, hätte es nicht Birta gegeben, die mit der Villa verwurzelt und schon den Großeltern zu Diensten gewesen war. In ihren Armen wurde sie in den Schlaf gewiegt, bekam Geschichten vorgelesen, und mit ihr konnte sie über ihren Vater sprechen. Birta hatte ihr auch die Grafitzeichnung auf dem Nachtschrank geschenkt, die Elias vor dem Drachenberg zeigte. Der Schmerz wurde nicht kleiner, nur Ira wurde größer. Als sie den Kinderschuhen entwachsen war, beschloss sie, den Reichtum ihrer Mutter zu genießen – eine Entschädigung für die Einsamkeit und fehlende Freundinnen, weil alle nur ihr Geld wollten, obwohl ihr eigentlich nichts gehörte.

Sie warf einen Blick auf ihr Spiegelbild und beschloss, sich die Haare zu einem seitlichen Zopf zu flechten. Ein Hütchen mit Schleier rundete das Bild ab. Das rote Kleid war ihr eigener Entwurf, schlicht und elegant geschnitten mit leicht ausgestelltem Rock. Zufrieden betrachtete sie ihre saphirblauen Augen. Die Tränenspuren waren verschwunden. Wenn sie auf den Markt von Mühlbachstadt ging, wollte sie sich keine Blöße geben. Die Menschen hofierten sie, weil sie die Erbin der Möbelfabrik und des Modeateliers war. Aber sie wusste, dass unter der Schleimschicht anbiedernder Freundlichkeit die Abscheu derer schlummerte, die sich nicht aussuchen konnten, wen sie mochten und wen nicht.

Der Marktplatz bildete das Zentrum von Mühlbachstadt. Eine Glocke stand als Mahnmal in seiner Mitte. Der Sage nach wurde sie geläutet, wenn ein Drache angriff. Um sie herum wuchsen dickstämmige, schattenspendende Linden – ein begehrter Platz, um Neuigkeiten zu erfahren oder um Gesellschaft zu finden.

Menschenschlangen drängten sich vor den Auslagen der Marktstände und Händler priesen lauthals ihre Waren an. Iras Einkaufskorb füllte sich rasch, denn in jeder Schlange ließ man sie mit einem aufgesetzt freundlichen Nicken vor. Hin und wieder fiel eine Bemerkung, wie entzückend man es fand, dass sie einkaufen ging. Sie versprach, die Grüße für die Mutter auszurichten.

Sie war bereits auf dem Heimweg, als sie unter den Linden Timos dunkelbraunen, verwuschelten Haarschopf entdeckte. Einen Moment überlegte sie, hinüberzugehen – oder würde das etwas vom Abend vorwegnehmen? Als sie noch zögerte, sah sie Benjamin, Timos besten Freund, an seiner Seite. In ihren Augen war er ein dicklicher Tollpatsch, der nicht einmal in der Lage war, sein Hemd ordentlich in die Hose zu stecken, sich kleidete, als wäre er bei irgendetwas ertappt worden. Zu allem Überfluss zwang er sie durch seine Körpergröße, zu ihm aufzusehen. Seit er das Tischlerhandwerk in Lucillas Möbelmanufaktur erlernte, lief er ihr öfter über den Weg, als ihr lieb war.

Sie beschloss, in der Menge zu verschwinden, doch es war zu spät, Timo hatte sie entdeckt. Sogleich ließ er Benjamin stehen und kam zu ihr hinüber.

»Nanu, Ira. Du hier? Habt ihr Birta entlassen? Oder warst du so garstig zu ihr, dass sie gekündigt hat?« Er zog sie lachend in seine Arme und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.

Sie ließ es geschehen und schürzte die Lippen. »Birta hat sich die Hand verstaucht.«

»Du hast mein tiefstes Mitgefühl.«

»Wirklich?« Einen Moment fühlte sie sich verstanden — bis sie den Spott in seinen Augen sah. Empört löste sie sich aus der Umarmung.

Versöhnlich reichte Timo ihr seinen Arm. »Komm mit zu Benni! Wir diskutieren gerade über das Geheimnis des Waldes.«

Sie blickte zu Benjamin hinüber, der eifrig winkend Anstalten machte, zu ihnen zu kommen und dabei seinen Bauch entblößte. »Ich will lieber nicht stören. Außerdem muss ich weiter. Birta wartet.«

»Bleibt es bei heute Abend?«

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. »Natürlich!« Leise wagte sie, hinzuzufügen: »Ich freu mich auf dich.«

Er forschte in ihrem Gesicht und runzelte die Stirn. Doch dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Und ich freu mich erst.«

Benjamin kam gefährlich nah. Rasch löste sie sich aus seinem Arm und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Bis heute Abend.«

»Die hat es aber eilig.« Benjamin schaute Ira hinterher und kickte einen Stein zur Seite, bevor er Timo ansah. »Nimm’s mir nicht übel. Für mich sieht Liebe anders aus.«

»Und wie, du Experte?«

»Sehnsucht, Leidenschaft, Verlangen … Such dir was aus. Die ist so abgekühlt wie die Suppe von gestern. Ich werde nie begreifen, was du an der Zicke findest.«

»Vorsicht! Du redest über meine zukünftige Verlobte.«

»Im Ernst? Ich hatte gehofft, du merkst es noch.«

»Merke was?««

»Sie ist arrogant. Und sie bildet sich sonst was auf ihren Status ein. Oder besser gesagt, den Status ihrer Mutter.«

»Du warst doch auch mal in sie verliebt. Hat sie dir nicht einen Korb gegeben?«

»Sehr milde ausgedrückt. Die hat mich so was von abserviert.«

»Daher weht der Wind! Der zurückgewiesene Liebhaber. Ich kann dir versichern, dass sie weder arrogant noch eingebildet ist. Es wird eben ein gewisser Auftritt von ihr erwartet.«

»Vielleicht, ja. Aber wenn du mich fragst, dann will sie deinen Status … oder ihre Mutter will ihn.«

Timo warf Benjamin einen warnenden Blick zu. »Jetzt gehst du zu weit.«

»Tu ich das? Holz und Möbel, ist doch klar. Lucilla Drachenbraut hat jahrelang versucht, einen Holzhandel in Mühlbachstadt zu eröffnen. Außerdem will sie die Weidenzweige für ihre Möbel selbst ernten. Unser Bürgermeister hat ihr die Stirn geboten. Zu Recht, wenn du mich fragst. Als Nächstes dürfen wir sie mit ›Ihre Majestät‹ ansprechen. Die Verbindung mit deiner Familie ist mehr als vorteilhaft für sie.«

»Mag sein, aber wer sagt, dass wir in den Familienbetrieb einsteigen?«

»Ira will das Atelier. Sie hält sich doch jetzt schon für eine Modeschöpferin.«

»Wenn du weitersprichst, riskierst du eine Freundschaft.«

Benjamin hob beschwichtigend die Hände. »Tut mir leid. Vielleicht ist sie ja wirklich ganz anders. Hat es auch nicht leicht.«

»Wahrlich nicht.« Timo zog ein Schächtelchen aus seiner Hosentasche. Mit einem bedeutungsvollen Lächeln öffnete er es. Ein goldener Diamantring funkelte auf einem schwarzen Samtkissen.

Benjamin stieß einen Pfiff aus. »Es ist dir ernst.«

»Kein Wort zu niemand. Sie weiß es noch nicht.«

»Und die gnädige Frau?«

»Die habe ich gefragt. Aber ich habe ihr Wort, dass sie nichts verrät. Soll eine Überraschung sein.«

»Hättest du nicht Ira zuallererst fragen sollen?«

»Hab lange überlegt. Aber du weißt ja, wie ihre Mutter ist. Sie verzeiht nicht, wenn sie sich übergangen fühlt.«

»Glaub mir, sie verzeiht schnell, wenn es um ihr Geld geht.«

»Wie auch immer, heute Abend mache ich Ira zu meiner Braut. Du wirst dich schon noch an sie gewöhnen.«

»Und sie sich an mich, hoffe ich.«

Timo steckte das Schächtelchen wieder ein. »Du findest auch noch dein Glück.«

Benjamin grinste. »Aber klar! Bei meinem Aussehen.«

»Hey, du hast die blondesten Haare der Stadt.«

»Na, dann!« Benjamin knuffte Timo in die Seite. »Kommst du noch mit zu mir?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich hab zu tun. Wir sehen uns morgen.«

»Bis morgen. Und hey, werde glücklich.«

Wolkenbruch

Eichensäulen, von üppigen Efeuranken umschlungen, flankierten die Eingangstür der Villa Drachenbraut. Hier und dort blitzten unter der Pracht eingeschnitzte Figuren heraus. Sie verführten Besucher dazu, das Grün beiseitezuschieben und die Geschichten anzusehen, die von tanzenden Waldfeen in duftigen Kleidern und Blumenelfen mit lustigen Hüten erzählten. So eingestimmt war jeder bereit, dem Zauber der Villa zu erliegen, wenn die Tür sich öffnete und man über die Schwelle trat.

Jenseits der Tür wanderte Ira schon geraume Zeit auf und ab, pendelte zwischen Birtas warmer Küche und Lucillas vornehmem Salon hin und her. Das Stakkato ihrer Schritte tönte durch die Stille der verlassenen Halle, bis das Klopfen sie erlöste.

Sie schob den Riegel zur Seite und öffnete, begleitet von einem beinahe rituellen Quietschen, die Tür.

Hinter einem üppigen Strauß roter Rosen lugte Timo hervor. Sie trat zur Seite, wollte lächeln, aber als sie die Tür hinter Timo wieder zudrückte, verhallte das Klacken des Schlosses im Foyer, und sie fühlte sich wie in einem Ruderboot auf einem Ozean.

Timo lächelte sein charmantestes Lächeln, schlug angedeutet die Hacken zusammen und reichte ihr mit einer leichten Verbeugung den Blumenstrauß. »Für dich.« Nur seine krause Stirn verriet kurz seine Anspannung. Sein Blick tastete über ihren Körper: das schwarze, eigens für diesen Augenblick entworfene Kleid — sie hatte es vor Lucilla geheim gehalten —, die hochgesteckten Haare. Sein Lächeln wich unverhohlener Bewunderung. »Du bist wunderschön!«

»Danke.« Sie drehte sich errötend um und wusste nicht, ob das Ruderboot nun ins Schaukeln geriet oder ob Timo sie an Land ziehen würde. »Ich bin gleich zurück. Willst du schon hochgehen?«

»In dein Zimmer?«

»Von höchster Stelle genehmigt.«

Er stieß einen Pfiff aus und wartete, bis sie seinen Mantel in die Garderobe gebracht hatte.

Mit Vase und Rosen kehrte sie zurück und wagte kaum, ihm in die Augen zu sehen, als sie seine Hand nahm, um ihn nach oben zu führen.

Die Zimmer im Obergeschoss besaßen Vorräume, die mit geschnitzten Wandbildern ein wenig von ihren ursprünglichen Bewohnern verrieten. Lucilla hatte oft darüber geklagt, dass die Villa so verwinkelt gebaut war. Doch Ira liebte die Vorstellung, dass ihre Ahnin für jedes Enkelkind einen Raum mit einer eigenen Geschichte eingerichtet hatte. Ihre eigene Tür war mit Sternenbildern verziert.

Das Feuer knisterte im Kamin und verbreitete Wärme wie in einer lauschigen Sommernacht. Den Tisch hatte Birta von der Wand abgerückt, mit einer Lilie geschmückt und kleine Köstlichkeiten – Hähnchenbrüste, Brot, Weintrauben – darauf angerichtet.

Timo atmete hörbar ein. »Lucilla hat es dir gesagt, nicht wahr?«

Sie stellte die Blumen auf ihren Nachtschrank und nickte. »Sie hat Sorge, dass ich es vermassel.«

»Vermasseln? Was?«

»Die gute Partie.«

Er stöhnte. »Ich hatte ihr Versprechen, dass sie den Mund hält. Es tut mir leid. Ich … hatte Angst, dass sie uns Steine in den Weg legt, wenn ich sie nicht vorher frage.«

»Meine Mutter den Mund halten?«

Mit einer bedauernden Geste hob er die Hände. »Ich hätte es wissen müssen. Aber … na ja, sie kann ziemlich sauer werden, wenn sie sich übergangen fühlt.«

»Sie sagte … ach, schon gut.«

»Was sagte sie?«

»Nichts.«

»Komm, sag es mir! Außerdem …« Er nahm ihre Hände und führte sie an seine Lippen. »Bin ich denn eine gute Partie?« Sein Blick hungerte nach einer Antwort.

Sie spürte den Boden unter sich wanken und schlug die Augen nieder. Sanft löste sie sich von ihm. »Wir sollten etwas essen. Birta hat trotz ihrer verstauchten Hand den ganzen Nachmittag in der Küche gestanden.«

Timo lachte. »Birtas Zorn fürchte ich noch mehr als Lucillas.« Er fasste erneut ihre Hand und zog sie zu sich. »Aber ich werde den Zauber dieses Momentes nicht von deiner Mutter stehlen lassen. Darum …« Seine Hand glitt in die Hosentasche.

Sie ahnte, was er vorhatte, und hielt ihn zurück. »Tu so, als wäre nichts geschehen.«

Er forschte in ihrem Gesicht. Dann nickte er. »Gut.«

»Auf unsere Liebe!« Der Klang, mit dem sie ihre Gläser aneinanderstießen, vertrieb die von Lucilla aufgetürmte Gewitterwolke. Timo probierte vom Hähnchen und nahm mit einem »Mmmh« gleich einen zweiten Bissen, während Ira ihr Fleisch auf dem Teller hin und her schob. Lediglich ein paar Weintrauben brachte sie hinunter.

Er plauderte von seinem Marktbesuch, Gerüchten um den Drachenberg und den Plänen seiner Familie.

Sie lauschte ihm, schaute auf ihre zitternden Hände und begann schon zu befürchten, dass er es sich anders überlegt hatte, als er endlich sein Besteck beiseitelegte.

»Erinnerst du dich an den Abend nach unserem Abschlussball?«

»Als du mich nach Hause gebracht hast?«

»Mein Herz hat so laut geklopft, dass ich den ganzen Weg befürchtet habe, du würdest es hören.« Er sah in sein Glas, als könnte er darin lesen, was er als Nächstes sagen wollte. »Ich hatte schreckliche Angst, dass du mich auslachst. Ich war schon so lange in dich verliebt.«

»Das hast du mir nie erzählt. Du hast mich so selbstverständlich gefragt, ob ich dein Mädchen sein will, da dachte ich …«

»Was?«

»Du wärst dir sicher, dass ich Ja sage.«

Er lächelte. »Hast du deswegen gezögert?«

»Vielleicht.«

»Du wolltest mich zappeln lassen!«

Ihre Blicke berührten sich.

»Mir fiel ein Stein vom Herzen, als du Ja gesagt hast.« Er schaute wieder in sein Glas. »Die ganze Zeit, die du nun mein Mädchen bist … ich …«

»Ja?«

»Ich weiß, dass viele denken, ich bin nur wegen der Verbindung unserer Familien mit dir zusammen … Das ist Schwachsinn.« Er erhob sich, wurschtelte das Schächtelchen aus seiner Hosentasche, öffnete es, holte den Ring heraus und kniete vor ihr nieder. »Ira Drachenbraut, ich liebe dich von ganzem Herzen. Willst du meine Frau werden?«

Sie taumelte innerlich. Hatte er diese wundervollen Worte wirklich gesagt? Oder war alles nur ein Traum, aus dem sie jeden Augenblick erwachen würde, allein in ihrem Bett in der nächtlichen Dunkelheit? Der Raum schien zu verschwinden. Sie blickte auf ihn hinab, und es gab nur noch ihn, sie und den glücklichsten Moment ihres Lebens.

»Was ist? Warum antwortest du nicht?«

»Was? Timo … ich …«

Er zog die Stirn kraus. »Willst du nicht? Ist es dir zu früh?«

»Nein … doch … Ja.«

»Ja, was?«

»Ja! Ich will. Ich will deine Frau werden.«

Er stieß einen glücklichen Seufzer aus und erhob sich. Zärtlich zog er sie an sich und nahm ihre Hand. Er brauchte einen zweiten Anlauf, um mit dem Ring ihren Finger zu treffen.

Sie hatte sich oft vorgestellt, wie es sein möge, einen Verlobungsring zu tragen — Timos Ring. Aber nun fand sie keine Worte, als sie den funkelnden Brillanten betrachtete.

»Du hast mir einen Schrecken eingejagt.«

»Das wollte ich nicht.«

»Ich liebe dich, Ira.«

»Ich liebe dich auch, Timo.«

Es war das erste Mal, dass sie sich traute, es auszusprechen. Es fühlte sich an, als würde sie auf eine Eisfläche gehen, ohne zu wissen, wo die gefährlichen Stellen waren. Unsicher schaute sie zu ihm auf, senkte den Blick wieder und wagte es erneut. Er war taktvoll genug, zu schweigen und ihr nur mit seinen strahlenden Augen zu zeigen, wie sehr er sich über ihre Worte freute.

»Sag es noch einmal«, flüsterte er.

»Ich liebe dich.«

Mit beiden Händen fasste er ihr Gesicht und beugte sich zu ihr hinab.

Sie spürte das kühle Metall des Ringes um ihren Finger — wie eine Seilschaft. Er kannte die dünnen Stellen im Eis und er würde sie führen. Vertrauensvoll bot sie ihm ihre Lippen zum Kuss.

Er schmeckte süß wie eine reife Erdbeere. Sie atmete seinen Geruch, würzig, wie der Duft eines Sommerregens. Seine Arme umfassten sie, und der Stoff ihres Kleides konnte die Berührung seiner Hände nicht verschleiern. Sie spürte ein Prickeln in sich, ein süßes Drängen, enger von ihm gefasst zu werden, enger als jemals zuvor.

»Wollen wir tanzen?«, fragte er.

»Wir haben keine Musik.«

Mit beiden Händen fasste er sie und führte sie in die Mitte des Zimmers, zog sie in seine Arme und summte ihr ins Ohr. Es war jene Melodie, zu der sie auf dem Abschlussball miteinander getanzt hatten, damals noch mit gebührlichem Abstand.

Er führte sie durch den Raum. Sanft bewegten sie sich.

Sehnsucht, sich dem Verlangen hinzugeben, durchflutete sie. Sie spürte, wie seine Finger die Knöpfe ihres Kleides öffneten. Ein Teil in ihr wollte, dass seine Hände unter das Kleid glitten.

Und der andere Teil …

Er schob ihren Träger hinunter. Ein kühler Luftzug strich über ihre Haut … Seine warme Hand hüllte sie ein.

Aus der Halle hörte sie die Eingangstür quietschen!

»Warte!«

»Was ist?«

»Es ist jemand gekommen.«

»Das wird Birta sein.«

»Birta wollte ausgehen.«

»Dann ist es Lucilla. Ihren Segen haben wir.« Er beugte sich wieder zu ihr hinunter. In seinen Augen brannte das Begehren. Mit seinen Lippen liebkoste er ihre Schulter.

»Timo … bitte!«

»Soll ich die Tür abschließen?«

Die Vorstellung, Lucilla würde den Türdrücker betätigen und vor verschlossener Tür stehen, während sie …

»Was hast du?«

»Ich weiß nicht … das geht zu schnell.«

»Sollen wir tanzen?«

»Nein … ich …«

»Die Nachspeise essen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Nein … es ist nur … ich möchte noch warten.«

»Worauf?«

Sie schob den Träger wieder nach oben. »Ich … ich weiß nicht.«

Er schaute verwirrt. »Aber … ich dachte … willst du mich nicht?«

Eine leise Stimme in ihrem Kopf flüsterte, dass sie ihm ihr Herz öffnen sollte, dass sie ihm sagen musste, sie liebe ihn. Sie bräuchte Zeit. Nur ein wenig. Vermassel es nicht!

Er versuchte, sie wieder in seine Arme zu ziehen, aber sie wich zurück. »Ich … will erst deine Frau sein.«

»Du wirst meine Frau. Wir sind verlobt.«

»Ja … und deshalb müssen wir noch warten.«

»Warum?«

Sie schaute auf den Boden. Wusste sie es doch selbst nicht. »Was ist, wenn ich schwanger werde?«

»Dann heiraten wir sofort. Niemand wird es erfahren. Denkst du, ich würde dich sitzen lassen?«

»Nein … es ist nur …«

Er zog die Stirn kraus. »Geht es doch um die Verbindung?«

Das gab ihr einen Stich. »Wie kannst du so etwas sagen?«

»Ich weiß nicht. Holz und Möbel.«

»Und worum geht es dir? Nur darum, bei mir zu liegen?«

Sein Blick änderte sich. »Ja, das möchte ich. Weil ich dich liebe.«

»Und warum kannst du dann nicht warten?«

»Ich warte doch! Ich habe das ganze Jahr gewartet. Und ich dachte, du fühlst genauso.« Er forschte in ihrem Gesicht.

Sie wich seinem Blick aus. »Du hast nur gewartet, dass wir …?«

»Natürlich nicht! Was denkst du von mir? Ach, verdammt …!«

»Verdammt was?«

»Vielleicht hat Benjamin doch recht.«

»Was hat dieser Trottel damit zu tun?«

Sein Gesicht verfinsterte sich. »Dieser ›Trottel‹ ist mein Freund.«

Sie schauten sich schweigend an. Er suchte in ihrem Blick nach etwas, das seine Gedanken Lügen strafte. Aber er fand nur den Trotz, der die Verzweiflung verborgen hielt.

»Soll ich gehen?«

Sie stand wie angewurzelt. Nein!

Schließlich wandte er sich zur Tür. Als er die Klinke berührte, warf er ihr einen Blick zu.

Sie schaute auf den Boden.

»Ich finde allein raus.«

Das Klappen der Tür löste ihre Erstarrung. Vermassel es nicht, hämmerte es durch ihren Kopf. Sie wollte ihm hinterherlaufen. Stattdessen warf sie sich aufs Bett und weinte, bis sie vor Erschöpfung einschlief.

Erschütterung

Ira erwachte. Das Bett vibrierte. Sie wähnte sich noch im Traum, als es schepperte. Erschrocken fuhr sie hoch.

Da war der Spuk auch schon vorbei. Ein Spalt in den Vorhängen ließ gräuliches Vollmondlicht ins sonst stockdunkle Zimmer. Der Geruch nach kaltem Essen hing in der Luft. Sie zog sich ihr Kleid über den Kopf, warf es auf den Boden, schwang die Beine aus dem Bett und landete mit den Füßen in einer Pfütze. Die Vase war zerbrochen, die Rosen unter ihrem Kleid begraben. Das war also das Scheppern gewesen.

Sie öffnete das Fenster. Die Vorhänge raschelten im nächtlichen Windhauch. Wie ein Scherenschnitt zeichnete sich der Drachenberg gegen den Himmel ab. Sie tastete nach dem Ring an ihrem Finger. Ohne Timo in ihrer Nähe fühlte er sich kalt an.

Zitternd griff sie den Morgenmantel, ging hinaus auf den Flur und lauschte eine Weile an Birtas Schlafzimmertür. Das Schnarchen ließ den Boden von Neuem vibrieren. Sie unterdrückte den Wunsch, die Tür zu öffnen und unter Birtas Decke zu kriechen — so wie früher. Seufzend huschte sie in ihr Zimmer zurück.

Birta werkelte in der Küche, als sie am Morgen hineingeschlichen kam. Bestürzt schaute die Haushälterin in ihre geröteten Augen. »Nanu? Was ist denn los?«

»Ach, frag nicht.«

»Und ob ich frage.«

»Ich hab’s vermasselt. Das ist los.«

Birta trocknete sich die Hände und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Erzähl mir, was passiert ist.«

»Es gibt keine Verlobung.« Stockend berichtete sie, was sich am Abend zugetragen hatte, wie alles gut begann, aber dann: » … ich habe die Eingangstür quietschen gehört. Wir waren nicht mehr allein …«

»Das war ich. Ich bin früher nach Hause gekommen. Meine Freundin war krank.«

»Ich dachte, Lucilla kommt jeden Augenblick ins Zimmer.«

»Warum habt ihr nicht abgeschlossen?«

»Timo wollte es, aber … das ändert doch nichts.«

Birta drückte ihre Hand. »Aber natürlich tut es das! Du bist erwachsen. Also, wenn du mich fragst, es wird höchste Zeit, dass du deine Tür verriegelst.«

»Ich weiß nicht …« Wie, wollte Ira sagen, aber sie wusste, dass es sich albern anhörte und Birta es nicht verstehen würde.

»Ach, komm, vermasselt hast du gar nichts. Nur ein bisschen … weißt du was? Ich koch heute noch einmal für euch. Du schickst Timo eine Nachricht und dann redet ihr miteinander.«

»So einfach geht das nicht.«

»Und ob. Lass ihn in dein Herz schauen. Er weiß doch, dass du ihn nicht wegen des Geldes heiratest.«

»Woher willst du wissen, wie es in meinem Herzen aussieht? Vielleicht hat er ja recht?«

»Womit recht? Das ist doch Unsinn!«

»Die Reste von gestern stehen noch oben.«

»Die werde ich wegräumen.«

»Ich meine … das hat doch schon einmal nicht geklappt.«

»Wie wäre es, wenn du zum Drachenberg gehst und Sapiruspilze sammelst? Timo liebt sie.«

Ira schaute zweifelnd. »Die sind schwer zu finden.«

»Eben. Da sieht der junge Mann, dass es dir ernst ist. Außerdem geht Liebe durch den Magen.«

»Ach, Birta! Ein paar Pilze sammeln und alles wird gut? So einfach ist das nicht.«

»Natürlich nicht. Die Pilze sind nur ein Türöffner. Hindurchgehen musst du hinterher selbst. Aber wenn das feine Fräulein sich nicht scheut, sich für den Mann ihres Herzens zu bücken … glaub mir, er wird überrascht sein.«

»Er wird mich auslachen.«

»Ihr könntet gemeinsam darüber lachen und es noch einmal versuchen.«

»Du bereitest sie zu?«

»So wie er sie mag.«

»Ich weiß nicht.« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. Doch die Aussicht, etwas tun zu können, statt den ganzen Tag Trübsal zu blasen, war verlockend. »Ich schicke ihm erst die Einladung, wenn ich die Pilze habe.« Seufzend umarmte sie Birta. »Du bist die Beste.«

Erdbeben

Im Finsterwald wuchsen bizarre Eichen mit dickbäuchigen Stämmen. Manchmal waren sie wie ein Flechtzopf miteinander verschlungen. Einzelne Bäume hatte Ira in den Schnitzereien der Villa Drachenbraut wiedererkannt, auch wenn sie mittlerweile Hunderte Jahre älter waren.

Vögel begrüßten die Waldbesucher mit hell tönendem Gesang oder – was selten geschah – mit einem warnenden Krächzen.

Ein Rätsel war das Licht. An manchen Tagen bahnten sich die Sonnenstrahlen einen Weg um die Baumstämme, umschlängelten sie wie eine Beute, um dann plötzlich zu erlöschen. So konnte es passieren, dass man ein, zwei Atemzüge lang im Dunkeln stand, bevor das Sonnenlicht, als wäre nichts geschehen, den Wald wieder erhellte. Dies war der Grund, warum Birta darauf bestand, dass Ira eine Öllampe mitnahm.

Als sie den Wald betrat, ertönte das Krächzen.

Nach drei Stunden Wanderung erreichte sie den Drachenberg. Die Grenze zwischen Bäumen und Gestein war gestochen scharf. Nur etwas Sand war auf dem blanken Felsen zu finden. Der Wald behielt sogar Moose und Flechten auf seiner Seite. An heißen Sommertagen kam man aus der kühlen Waldluft direkt in die sengende Hitze, an Wintertagen aus dem Schutz der Bäume in den eisigen Wind. Doch gerade an der Naht zwischen Wald und Berg waren, wenn überhaupt, Sapiruspilze zu finden. Dicht unter den Wurzeln der Randbäume standen die unscheinbaren, äußerst köstlich schmeckenden Fruchtkörper.

Ira setzte sich auf einen Findling, um einen Augenblick zu verschnaufen. Das Bild des wetterzerklüfteten Felsens wurde auf halber Höhe durch einen Geröllhaufen unterbrochen. An dessen Rand glitzerte ein Saum in der Sonne, der das ehemals prächtige Eingangstor erahnen ließ. Wie das Geröll mitten in den Berg gekommen war, wusste niemand, vermutlich ein Erdbeben. Doch wann immer man versucht hatte, dem Eingang näher zu kommen, hatten lose Felsbrocken Menschen in die Tiefe gerissen. Deshalb sah man niemals einen Wanderer die Aussicht genießen, obwohl ein Pfad direkt hinaufführte. Man sprach auch nicht über die Möglichkeit, Erze zu schürfen, so als wäre das genauso abwegig, wie im Sommer auf Schnee zu hoffen.

An all das dachte Ira, als sie ihren Blick über den Berg schweifen ließ und urplötzlich an der Oberkante des Geröllhaufens einen schwarzen Fleck entdeckte. Die nächtliche Erschütterung fiel ihr ein. War es doch ein Erdbeben gewesen? Hatte die Höhle sich wieder geöffnet?

Der Fleck prangte im Felsen wie ein Augenzwinkern des Schicksals, das Geheimnis ihrer Ahnen zu lüften. Doch nein! Seufzend entschied sie sich für den Wald. Der Berg musste warten, mindestens so lange, bis sie die Pilze gefunden hatte.

Sie wanderte den Waldsaum entlang. Die Baumwurzeln wanden sich über den Boden, boten kleine Eingänge zu Höhlen oder Wohnstatt fürs Moos. Nur Pilze entdeckte Ira nicht – bis ein Erdhaufen, der einen Höhleneingang unter einer knorrigen Eiche zu verstopfen schien, ihre Aufmerksamkeit erregte. Sapiruspilze sahen von Weitem wie frisch aufgeworfene Maulwurfshügel aus.

Sie hatte Glück. Es war der Sapirus! So reichlich, dass er kaum in ihren Rucksack passen würde. Ira hob an, den ersten Pilz zu pflücken, doch bevor sie ihn berührte, kam ihr der Geröllhaufen wieder in den Sinn.

Ihr Herz begann wild zu pochen. Vielleicht war sie doch nicht in der falschen Zeit geboren und ihre Stunde war nun gekommen. Die Pilze konnten warten. Kurz entschlossen lief sie zum Pfad.

Der Weg war nackt, Wind und Regen waren darübergestrichen, aber sie hatten ihn nicht verwischen können. Erstaunlich leicht ließ er sich bezwingen. Rasch erreichte sie ein Plateau direkt vor dem Geröllhaufen. Rechter Hand floss ein Rinnsal den Berg hinunter, verbreitete sich hinter dem Weg zu einem Bach und verlor sich zwischen den Weiden im Wald. Ein Vorsprung oberhalb des Plateaus fing das Wasser in einer Pfütze auf. Sie trank davon. Es schmeckte köstlich frisch.

In der Ferne leuchteten die Dächer von Mühlbachstadt. Die Bäume wiegten ihre Blätter im Wind, als würden sie sich vor dem Berg verneigen. Ergriffen hielt Ira inne, sog den Anblick in sich auf und genoss den Moment. Wenn es wirklich einen Drachen gegeben hatte, dann verstand sie, warum er diesen Platz für sich gewählt hatte.

Die Brocken des Geröllhaufens wirkten nicht hinabgestürzt, sondern aufgeschichtet, von starker Hand abgelegt. Ira zögerte. Sollte sie es wagen, hinaufzuklettern? Was, wenn sich wieder ein Stein löste? Sie wäre nicht die Erste … Probeweise trat sie auf den untersten Stein – er rührte sich nicht. Im Gegenteil, er wurde von den anderen gehalten und es schien unmöglich, ihn auch nur einen Finger breit zu bewegen. Sie reckte sich, zog sich nach oben und kletterte hinauf.

Die Öffnung war knapp mannshoch. Sie lehnte sich vor und wagte einen Blick hinein. Finsternis stand in der Höhle, geheimnisschwanger und undurchdringlich. Sie beugte sich weiter vor, wurde prompt von muffiger Luft angeweht und zuckte zurück. War es nicht doch zu gefährlich? Mit einem Blick auf das wogende Grün des Waldes verdrängte sie den Zweifel, schwang sich über den Kamm und glitt hinab in die Höhle.

Eigenartiger Geruch empfing sie, wie kalter Rauch. Zögernd traute sie sich einige Meter vor, ihre Schritte hallten kurz auf und wurden sogleich verschluckt. Es herrschte Grabesstille. Die wenigen Lichtstrahlen, die ihr durch die Öffnung folgten, wurden von der Dunkelheit gefressen. Zum Glück hatte sie die Lampe. Mit blassem Lichtkegel vor den Füßen tastete sie sich an der Wand entlang. Unzählige, winzige Kristalle sprossen aus dem rauen Stein hervor. Das Licht tanzte darüber, brach sich in Hunderten Facetten und brachte den Felsen zum Funkeln – als stünde sie unter einem Sternenhimmel.

Mit jedem Schritt gewöhnte sie sich mehr an das Dunkel. Konturen erschienen in der Tiefe der Höhle, Wände bauten sich vor ihr auf – oder waren es Ungeheuer? Sie blickte über die Schulter. Nur noch ein winziger Lichtpunkt zeigte sich im Ausgang. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber die Lust, das Geheimnis des Berges zu ergründen, trieb sie voran.

Schließlich stieß sie auf einen Torbogen, gerade groß genug, um aufrecht hindurchzugehen. Sie zögerte ob der alles verschlingenden Schwärze dahinter, leuchtete mit der Lampe hinein, fasste noch einmal Mut – und ging hindurch.

Die Höhle war kaum größer als die Bottichkammer der Drachenbrautvilla, die Wände tiefschwarz. Auf dem Boden lag Kohle. Oder verkohlte Gegenstände? Sie trat näher heran, der Lichtschein wippte darauf hin und her. War es ein Tisch? Sie strich darüber und fühlte, wie ihre Finger bei der Bewegung auf und ab tanzten. Korb! Die Möbel waren aus Korb gefertigt! Mit einem Mal stand ihr das Inferno vor Augen, das hier geherrscht haben musste. Sie machte kehrt und ging zurück in die Haupthöhle. Einen Moment hielt sie inne und sammelte sich. Im spärlichen Licht der Lampe schwamm sie inmitten eines Meeres aus Dunkel und Einsamkeit, ohne auch nur den Flügelschlag einer Fledermaus erahnen zu können.

Plötzlich befürchtete sie, jemanden zu wecken.

Im selben Augenblick stieg die Sonne höher und schien direkt in die Höhle. Kristallpunkte leuchteten an den Wänden, funkelten und warfen die Strahlen von einer zur anderen Wand weiter. Urplötzlich verselbstständigte sich das Licht, wirbelte in einem Tanz durch die Halle, steigerte sich zu einer Pirouette und wanderte zu einem Torbogen – der Eingang in eine andere Höhle.

Fasziniert lief sie darauf zu. Das Licht pulsierte. Es wippte auf und ab wie Mondstrahlen auf bewegtem Wasser.

Der Bogen überragte sie um drei Längen. Es schien, als würde Sternenstaub auf sie herabregnen. Das Funkeln verdichtete sich zu einem einzigen Strahlen, baute sich vor ihr auf. Ihr wurde gewahr, dass das Licht nicht mehr von den Wänden gebrochen wurde. Vor ihr lag ein Gebilde aus Rubinen, Smaragden, Saphiren, Diamanten, Halsgeschmeiden, Goldmünzen, Silber … Der Boden wankte. Alles um sie herum schien zu verschwinden. Nur noch sie und ein unermesslicher Schatz waren im Raum.

Die Lampe glitt ihr aus der Hand. In letzter Sekunde fing sie sie auf. Die Bewegung brach den Zauber. Benommen wischte sie sich über die Stirn und warf einen Blick zum Ausgang. Die Sonne schien noch immer hinein. Konnte das sein? Wie, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte, griff sie sich zitternd eine Münze. Kühl und schwer lag das Metall in ihrer Hand. Bizarre Symbole waren darauf eingraviert, Striche, die wie ein Sternenbild aussahen, angeordnet um ein sonnenförmiges Zentrum. Ein Wappen? Die andere Seite zeigte das Konterfei eines Königs mit übertrieben großen Augen — der durchdringende Blick eines allwissenden Herrschers. Der Schatz erstreckte sich weit in die Höhle hinein, sein Ende verschwand in einem Rachen aus Dunkelheit.