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Adel, Abenteuer und Intrigen: Ein turbulenter Sommer in Baden-Baden Als im Hotel Messmer der Tee ausging entführt uns ins mondäne Baden-Baden des Jahres 1883, die Sommerhauptstadt Europas, in der sich alles trifft, was Rang und Namen hat. Kaiserin Elisabeth von Österreich, der Kronprinz von Wales und das Kaiserpaar flanieren durch den Kurort und sorgen für reichlich Gesprächsstoff. Mittendrin: die junge Klara, die eine Stelle als Dienstmädchen im renommierten Hotel Messmer ergattert. Doch die schillernde Welt der Schönen und Reichen hat auch ihre Schattenseiten. Als Klara durch Zufall von einem geplanten Attentat auf den Kaiser erfährt, setzt sie alles daran, den Anschlag zu verhindern. Unterstützung erhält sie von einem charmanten jungen Reporter, der schon bald mehr als nur ein guter Freund ist ... Eine unterhaltsame Zeitreise in die Belle Époque – wunderbar leichthändig geschrieben von der bekannten Promi-Reporterin aus dem SWR.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Kristina Hortenbach, Jahrgang 1969, stammt aus Bonn, wo sie Politik, Geschichte und Germanistik studierte. Seit einem Volontariat beim SDR arbeitet sie für den SWR in Radio und Fernsehen als Promireporterin, ist jeden Freitag in der Fernsehsendung »Kaffee oder Tee« mit dem Promiklatsch der Woche zu sehen. Seit einigen Jahren schreibt sie Bücher, nach zwei fröhlichen Frauenromanen, die zwischen Berlin und dem Schwarzwald spielen, geschrieben unter dem Pseudonym Nina Bach, veröffentlichte sie eine Gartenkrimi-Reihe. In ihrer Freizeit reist und liest Kristina Hortenbach gerne und spielt seit Kurzem Golf.
Dieses Buch ist ein historischer Roman und damit ein fiktionales Werk. Geschichtliche Ereignisse sind, soweit mit der Dramaturgie vereinbar, dem historischen Quellenmaterial entnommen; zahlreiche Dialoge basieren auf überlieferten Äußerungen der dargestellten Persönlichkeiten. Mehr dazu finden Sie in der Danksagung und dem angehängten Literaturverzeichnis.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
www.emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Lektorat: Uta Rupprecht
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-238-3
Roman
Originalausgabe
Dieser Roman wurde vermittelt durch litmedia.agency Diana Itterheim.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Eine Frau ist wie ein Teebeutel –du kannst erst beurteilen, wie stark sie ist,wenn du sie ins Wasser wirfst.
Eleanor Roosevelt
»Ich fürchte nichts – nichts – als die Grenzen deiner Liebe.« Klara rannte so schnell die Wiese hinunter, dass ihr der lange Zopf bei jedem Schritt auf den Rücken schlug und sich der Rock um ihre Beine bauschte. Sie spürte weder den kalten Boden unter den nackten Füßen noch den Wind im Gesicht, der zu dieser frühen Abendstunde mehr vom Winter als vom beginnenden Frühling erzählte. Auch für die Knospen an den Apfelbäumen hatte Klara heute keinen Blick, so sehr war sie darauf bedacht, das Buch nicht zu verlieren, das sie unter ihrer Schürze versteckt hielt. »Kabale und Liebe«, ein Buch voll mit Sätzen, die tief in ihr Herz drangen.
Klara wusste nicht, was schlimmer wäre – wenn der Vater sie damit erwischte, diesem »unnützen Zeug«, wie er ihre Bücher nannte. Oder wenn sie Suppe und Brot nicht pünktlich auf den Tisch stellte. In seinen Augen, seiner Welt, waren Bücher nur dazu da, Klara von der Arbeit abzuhalten. Und kein Sturm, der durch den Schwarzwald fegte, keine wochenlange Trockenheit, die die Ernte verdorren ließ, kein todbringender Frost waren schlimmer als ein schlecht gelaunter Bauer. Das wusste Klara, seit sie ein kleines Mädchen war. Mürrisch und wortkarg war ihr Vater eigentlich schon immer gewesen. Aber so richtig aufbrausend wurde er, wenn er Hunger hatte. Und ihre beiden ältesten Brüder standen ihm in nichts nach.
Sie schlüpfte durch die schwere Holztür und eilte in die kleine Küche, wo ihre Füße auf den glatt gelaufenen Steinen Abdrücke hinterließen.
Die Suppe auf der Feuerstelle dampfte schon. Die Kartoffeln waren jetzt weich, aber Klara wollte noch Zwiebeln in Fett anschwitzen und mit Mehl rösten, um damit die Suppe zu binden. So mochte Vater sie am liebsten. Sie wollte ihn milde stimmen, wenn er gleich müde von der Arbeit auf dem Feld nach Hause kam. Denn nur wenn er guter Stimmung war, konnte sie ihn um etwas bitten.
Klara schnitt das Brot vom Laib, so wie sie es von ihrer Großmutter gelernt hatte. Großmama Bertha. Ein warmes Gefühl durchströmte sie, wärmer als die Suppe vor ihr auf dem Feuer. Diese kleine und doch gewaltige Frau mit den schwieligen Händen. Hände, die zeit ihres Lebens hart gearbeitet hatten. Die sie als Säugling gehalten hatten, sie als kleines Mädchen hochgehoben, auf die lange Eckbank gesetzt und ihr jeden Tag über die Wange gestreichelt hatten. Bis Bertha sich eines Tages hinlegte und nicht mehr aufstand.
Klara betrachtete die herumwirbelnden Kartoffelstücke in dem großen Kupfertopf, während sie die Zwiebel-Mehlschwitze einrührte. Als Großmama zur Sommersonnenwende vor einem Jahr gestorben war, hatte es sich für Klara angefühlt, als habe sie ihre Mutter verloren. Die Mutter, die sie nie gehabt hatte.
Sie hörte die Holztür schlagen, schwere Schritte näherten sich der Bauernstube. Klara erkannte die laute Stimme ihres ältesten Bruders Ludwig, der mit dem ein Jahr jüngeren Paul über das Vieh sprach, das sie heute zum ersten Mal wieder auf die Weide gelassen hatten. Beide wirkten unzufrieden, ein Ochse hatte den Winter nicht überlebt, und viele Zäune mussten ausgebessert werden. Ihr Vater schwieg wie so oft, nur ihr jüngster Bruder Friedrich rief laut: »Wir sind wieder da, und wir haben Hunger!«
Friedrich – ihr Lieblingsbruder und seit dem Tod der Großmutter ihr Verbündeter in diesem Männerhaushalt. Er steckte den Kopf zur Küche herein und kam ihr zu Hilfe. Gemeinsam trugen sie den schweren Topf in die Stube, wo sich nun mitten auf dem Tisch der würzige Duft der Kartoffelsuppe verbreitete. Mit der abgenutzten Kelle schöpfte Klara die Suppe in den ersten Teller und stellte ihn vor den Vater. Der hatte, wie es Sitte war, am Kopfende Platz genommen. Mit dem Rücken lehnte er am warmen Ofen, an dem nicht mehr alle Kacheln so grün glänzten wie früher. Heute sah Klara nur die abgestoßenen Ecken, die von den vielen Generationen erzählten, die in diesem Haus gelebt hatten. Gut, dass sie rechtzeitig eingeheizt hatte. Wenn es auch schon Anzeichen für den nahenden Frühling gab, so wurde es im Schwarzwald abends doch bitterkalt, wenn nicht sogar noch Schnee fiel. Klara machte sich daran, alle Teller zu füllen, bevor die Suppe kalt wurde. Mit den Mägden und Burschen auf der langen Holzbank waren sie am Esstisch wie immer eine große Gesellschaft.
Ihr Vater faltete die Hände, warf einen Blick zum Kruzifix in der Wandnische und sprach das Tischgebet: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.« Erst als er fertig war und, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, seinen Löffel in die Suppe senkte, fingen alle an zu essen. Klara atmete auf, die Kartoffeln waren schön sämig und nicht versalzen wie beim letzten Mal, ein Wutausbruch des Vaters blieb ihr erspart.
Sie aß schweigend, schaute nur hin und wieder über den Tisch hinweg zu ihrem Vater. Dem Mann, der ihr so vertraut sein sollte und doch so fremd war. Der von den Burschen und Mägden nur Bauer Heinrich genannt wurde. Der bei allen als streng, aber gerecht galt, wie sie es abends öfter gehört hatte, wenn die Frauen in der Mägdekammer noch leise miteinander sprachen, in der Annahme, die Tochter des Hofherrn schlafe schon längst. So wie Klara das Gehörte nie weitertrug, so schwärzten die Mägde sie nicht beim Vater an, wenn sie noch ein Buch unter dem Kopfkissen hervorzog, um im Kerzenschein ein paar Seiten zu lesen. Dann drehte sich lediglich ihre Lieblingsmagd Martha mit einem Grunzen um und murmelte: »Der Schlaf ist die größte Wohltat Gottes, also verärgere ihn mal nicht, Mädle.«
Bücher! Ihr größter Schatz in einem Leben ohne Besitz, in dem sie die Kleider ihrer Mutter auftrug. Was Klara nicht störte, sie fühlte sich ihr dadurch ein wenig näher. Genau wie durch die vielen Geschichten ihrer Großmutter. Bei der gemeinsamen Hausarbeit hatte Klara sie häufig gebeten, von ihrer Mutter zu erzählen. Solange es ging, hatte die Großmama versucht, ihrer einzigen Enkeltochter Arbeit abzunehmen, aber jetzt musste Klara den ganzen Haushalt allein bewältigen.
Klara spürte einen Fußtritt unter dem Tisch, Friedrichs Art, sie darauf aufmerksam zu machen, dass Vaters Teller leer war und dringend aufgefüllt werden musste. Frauenarbeit, für die sie zuständig war. Klara schöpfte dem Vater neue Suppe in den Teller und wartete, bis er ein paar Löffel genommen hatte und sich mit einem Seufzen an den Ofen lehnte. Dann erst setzte sie an.
»Vater, darf ich etwas fragen?«
Heinrich hob müde den Kopf. In seinem Blick erkannte sie Erschöpfung und eine tief liegende Trauer. Statt einer Antwort sah er seine Tochter nur an und wartete.
»Wäre es wohl möglich, dass ich einmal die Woche zu Fräulein Stern ginge? Sie würde mir weiter Schulstunden geben, ohne ein Entgelt zu verlangen. Ich lerne dabei auch viel über die Landarbeit. Die Wäsche werde ich natürlich trotzdem nicht vernachlässigen und –«
Weiter kam sie nicht, denn Heinrichs Fäuste ließen den Tisch erzittern, dass die Suppe aus den Tellern schwappte. Er richtete sich auf, starrte sie an und brüllte: »I hab g’sagt, Schluss mit der Schul, und dabei bleibt’s. Koi Mensch muss sei Zeit mit Bücher verplempere, wenn des Vieh nix zu fresse hat und de Stub net geputzt is. Koi Mann will so a Frau.«
»Aber Vater!« Klara sprang auf, obwohl sie genau wusste, sie sollte lieber still in ihre Suppe weinen, als gegen das Familienoberhaupt aufzubegehren. Es polterte, etwas fiel zu Boden, während alle am Tisch Klara anschauten. Paul bückte sich und hob das Buch auf, das ihr aus der Schürze gefallen war.
»›Kabale und Liebe‹. Klingt aber nicht nach Landarbeit.« Der mittlere Bruder grinste, spöttisch, so empfand es Klara, und schob das Buch seinem Vater hin, quer über den langen Tisch.
Klara versuchte noch, danach zu greifen, aber vergeblich. Ihr Vater, der wohl niemals auch nur eine Seite davon lesen würde, griff sich ihren Schiller, zog die Ofentür auf und warf das Buch in die Flammen. Klara schrie auf. Doch Friedrich drückte sie zurück in die Bank und raunte ihr zu: »Mach’s nicht noch schlimmer.«
Klara fühlte Tränen aufsteigen. Aber dies war nicht der Ort, um zu weinen, nicht am Tisch vor den Mägden und Burschen.
Was hatte Großmama Bertha immer zu ihr gesagt, wenn sie gemeinsam auf dem Feld die Kartoffeln aufgesammelt, die Äpfel vom Baum oder die Wäsche von der Leine geholt hatten? »Klärle, mir Frauen san stärker als all die Mannsbilder z’samme. Hier obe.« Und dabei hatte sie mit ihrem Finger an die Stirn getippt. Wäre ihre Großmutter nicht gewesen, dann hätte sie überhaupt keine Schule besuchen dürfen, dachte Klara und biss sich auf die Lippe.
»Das Zeug brauchst du eh nicht mehr«, meldete sich jetzt Ludwig zu Wort. »Der Vater hat andere Pläne für dich.« Aufmunternd sah er Heinrich an, der sich mit dem Handrücken über den Mund fuhr und seinen leeren Suppenteller von sich schob.
»Was? Was meint er, Vater?« Klara konnte ihr Temperament nicht zügeln, Angst umklammerte ihr Herz.
Heinrich blickte seine Tochter ruhig an, um dann mit nur einem einzigen Satz Klaras Leben auf den Kopf zu stellen: »Heirate wirscht.«
Und bevor sie etwas erwidern konnte, ergänzte Ludwig: »Den Ketterer Karl. Der sei Frau verlore hätt.«
»Sie ist jetzt da, wo Mama ist«, bemerkte Friedrich beschwichtigend, ehe Ludwig weitersprach.
»Der braucht ein Weib für seine drei Blagen. Und wir haben dann einen Esser weniger.«
»Aber …« Klara schnappte nach Luft, auch wenn es unklug war zu widersprechen. Als Frau, als Jüngste am Tisch. »Aber wer macht dann die ganze Arbeit hier im Haus?«
»Der Vater wird auch wieder heiraten, die Schwester vom Ketterer Karl«, verkündete Paul.
»Aber … aber ich …« Klaras Stimme versagte.
»Schluss jetzt. Die Sach isch abgemacht.« Heinrich stand auf. Erst als er mit schweren Schritten den Wohnraum verlassen hatte, sprangen auch alle anderen vom Tisch auf und eilten hinaus.
Ihr Bruder Ludwig drehte sich an der Tür noch einmal um und sah sie drohend an. Die drei Wörter, die er dabei ausspuckte, hallten in Klaras Kopf nach.
»Wage es nicht!«
Klara blieb stehen und blickte in der Morgendämmerung ein letztes Mal zum Hof hinab, der in der Ebene lag. Von hier oben wirkten das Bauernhaus und die Ställe so klein, als passten sie in eine Hand. Wenn der Hof ihrer Familie auch nicht der größte im Umkreis war und es Ländereien gab, die besseren Ertrag brachten, so wusste sie doch, wie viel Arbeit in jeder Ähre, in jedem Hühnerei steckte. Klara zitterte und sah ihrem dampfenden Atem hinterher. Konnte sie wirklich davon ausgehen, dass niemand mitbekam, wenn sie nicht im Bett oder im Stall war, wo sie um diese Uhrzeit hingehörte?
Sie schob die klammen Hände tief in die Taschen des grauen Wintermantels, der schon lange nicht mehr nach ihrer Mutter roch, sich für Klara aber noch immer nach einer Umarmung von ihr anfühlte. Nein, die Hofarbeit würde sie nicht vermissen: das Aufstehen vor Sonnenaufgang, um die Kühe zu melken, die Hühner zu füttern und den Ofen anzuheizen. Den ganzen Tag das Vieh hüten, Kartoffeln sammeln, den Gemüsegarten bewirtschaften, das Haus putzen und die Wäsche für eine ganze Familie samt Mägden und Burschen machen. Und erst die Ernte im Herbst! Aber das war es nicht, was Klara aus ihrer Heimat vertrieb, denn für Arbeit war sie sich nie zu schade. Und während die Männer auf den Feldern waren, fand Klara oft noch Zeit, den Geschichten aus ihren Büchern nachzuhängen oder sich ihren Träumen hinzugeben.
Nein, es war nicht die tägliche schwere Arbeit. Es war der ständige Streit mit dem Vater, der sie erst aus der Schule genommen hatte. Und der es jetzt ernst meinte mit seinem Vorhaben, sie an den nächstbesten Bauern zu verheiraten.
Klara wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Dem Hof ging es jedes Jahr schlechter. Das hatte sie mitbekommen aus den Gesprächen, die die Männer des Hauses unter sich führten. Und ihr Vater hatte recht, mit siebzehn Jahren war sie alt genug, um zu heiraten. Das war der Weg, der für eine junge Frau auf dem Land vorgezeichnet war: einem Bauern auf seinen Hof zu folgen, ihn gemeinsam zu bewirtschaften, wie sie es zu Hause gelernt hatte, und eine eigene Familie zu gründen.
Aber ihr Vater konnte sie doch nicht an einen alten Mann verschachern, der bereits drei Kinder hatte – und das auch noch, ohne sie zu fragen! Er behandelte sie wie eine dieser Arbeitssklavinnen im alten Ägypten, von denen ihr Fräulein Stern erzählt hatte. Klara traten Tränen in die Augen.
Heinrich hatte kein Herz. Wenn sie Großmutters Erzählungen glauben durfte, war er bitter und aufbrausend geworden, als seine Frau, die Mutter seiner Kinder, bei Klaras Geburt gestorben war. Ihre älteren Brüder waren nicht besser als er, und auch sie hatten Grund dazu: Wenn Friedrich als jüngster Sohn der Tradition entsprechend den Hof übernahm, mussten Ludwig und Paul sich Arbeit im Dorf suchen oder, wenn sie Glück hatten, in einen Bauernhof einheiraten.
Klara vermisste ihren jüngsten Bruder jetzt schon. Er würde als Einziger verstehen, warum sie gegangen war. Es konnte für sie nicht besser werden, nicht auf dem Bauernhof und überhaupt nie mehr. Klara wusste: Sie musste ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen, wenn sie nicht wollte, dass sie auf ewig festsaß in einem Leben, das sie sich nicht ausgesucht hatte.
Ihre Finger ertasteten das Papier in ihrer Tasche. Das hatte Fräulein Stern ihr zugesteckt, als sie ein letztes Mal heimlich zu ihr gerannt war, um ihr alles zu erzählen. Ihre Lehrerin, die über die Jahre zu einer guten Freundin geworden war, hatte ihr eine Adresse aufgeschrieben. Ein Ziel, eine Hoffnung, eine Aussicht auf Verdienst und auf eine andere Zukunft. Dieses Stück Papier war für sie so wertvoll wie das kleine goldene Kreuz um ihren Hals, das Klara von der Großmutter an ihrem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest bekommen hatte. Damals, als Großmama schon spürte, dass es zu Ende ging. Das Kreuz solle sie beschützen, hatte Bertha gesagt. Mit Gottes Segen auf all deinen Wegen.
Jetzt liefen Klara die Tränen über die Wangen. An diesem Tag führte ihr Weg fort von hier, in eine Fremde, die ihr so unergründlich und angsteinflößend erschien wie die Tiefen des Schwarzwaldes.
Ein Bellen zerriss die Stille der Dämmerung. Arcos, ihr Schäferhund! Hatte er sie bemerkt? Er würde alle im Haus wecken. Hastig zog sich Klara die Mütze tief ins Gesicht, rückte die Riemen ihres Rucksacks zurecht und holte Luft. Nach einem letzten, langen Blick auf ihr bisheriges Zuhause drehte sie sich entschlossen um und lief über das silbrige, feucht glänzende Gras einem neuen, unbekannten Leben entgegen. Ihrer Zukunft.
Klara atmete schwer, als sie ihren Zopf unter dem Mantelkragen versteckte, bevor sie dem Mann am Fahrkartenschalter die abgezählten Pfennige hinüberschob. Am Bahnhof war sie zwar erst einmal in ihrem Leben gewesen, aber im Schwarzwald kannten sich die Leute. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn der Bahnbeamte ihrem Vater die Nachricht zukommen ließ, seine Tochter habe in aller Herrgottsfrühe einen Zug bestiegen, mutterseelenallein! Das Herz klopfte Klara bis zum Hals, trotz der Kälte schwitzte sie. Getrieben von Angst war sie fast den ganzen Weg hierher gerannt. Angst vor dem, was vor ihr lag. Angst, eingeholt zu werden von denen, die sie zurückließ. Sie hielt den Kopf gesenkt, aber der Beamte schob ihr nur schweigend das Billett zu.
Als der Zug ruckelnd anrollte, musste Klara sich festhalten. Ihr Geld hatte nur für die vierte Klasse gereicht. Ohne Sitzplatz, ohne Dach stand sie eng gedrängt neben fremden Menschen und spürte den Fahrtwind im Gesicht. Während das Schild »Hausach« langsam in der Ferne verschwand und die Landschaft an ihr vorüberzog, schnaufte der Zug die kurvenreiche Strecke entlang, auf und ab durch den Schwarzwald.
Klara wagte erst aufzuatmen, als sie endlich in einen Bahnhof einrollten, auf dessen Schild »Station Offenburg« stand. Hier musste sie umsteigen, so hatte es ihr Fräulein Stern erklärt.
Sie kletterte aus dem Wagen, während ihr erneut Tränen in die Augen stiegen. Klara hätte nicht sagen können, ob vom Dampf der Lokomotive oder durch die Gedanken an ihre Lehrerin, ihre Vertraute, bei der ihr Geheimnis und ihre Pläne sicher waren. Sie schaute sich um.
»Warten Sie auf den Zug nach Karlsruhe, mein Fräulein?«
Ein Mann trat auf sie zu. Die dunklen Augen über dem struppigen Schnäuzer wanderten über ihren Körper. »Er wird gleich eintreffen, ich nehme denselben, Sie können mich begleiten.«
Klara wich zurück und warf einen vorsichtigen Blick auf den Mann. Der schwarze Hut auf seinem Kopf passte nicht recht zur Jacke, er erinnerte sie an die Knechte auf dem Hof, wenn sie sich für den sonntäglichen Kirchgang anzogen.
»Vielen Dank, ich komme zurecht.«
Klara umklammerte den Riemen ihres Rucksacks, als sie sah, dass der Zug bereits einfuhr, angekündigt von einer weißen Dampfwolke und dem Trillern der Pfeife des Bahnhofsvorstehers. Sie zückte ihre Fahrkarte und wartete darauf, dass der Wagen der vierten Klasse vor ihr zum Stehen kam, als ihr jemand das Billett aus den Fingern riss.
»Wer wird denn die vierte Klasse nehmen, wenn er auch in der dritten fahren kann? Das Fräulein fährt mit mir.«
Der Mann mit dem Hut hatte ihre Hand gepackt und zog sie jetzt zum Wagen der dritten Klasse. Ehe Klara begriff, wie ihr geschah, saß sie auf einer Holzbank, den fremden Mann neben sich. Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, da wurde der Wind, der durch die Fenster hereinblies, stärker – der Zug war losgefahren.
»Ist doch viel schöner hier als hinten beim Vieh. Wie heißt du?« Der Mann hatte seinen Hut abgenommen und sah sie auffordernd von der Seite an. Er grinste. Fräulein nannte er sie nicht mehr.
»Klara«, erwiderte sie zögernd und sah sich um. Von den Mitreisenden schien niemand Notiz von ihnen zu nehmen. »Herr …«
»Nenn mich Toni. Schöne blaue Augen hast, Klara, und so langes Haar.« Er griff nach ihrem Zopf, und Klara zuckte erschrocken zurück. »Du willst doch bestimmt immer in der besseren Klasse fahren, hm?«
»Ich …«
»Ich seh’s dir doch an. Arbeit suchst, kommst vom Land. Weiß deine Familie, dass du hier bist?«
Klara rückte ein Stück von ihm ab, zitternd vor Aufregung. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und sah dem Mann ins Gesicht: »Was wollen Sie von mir?«
Er lehnte sich zurück und betrachtete Klara erneut von oben bis unten. »Ich kann dir Arbeit verschaffen. Dann musst nicht mehr in alten Säcken laufen.« Er zupfte verächtlich an Klaras Mantel. »Gute Arbeit. Für die du gutes Geld verdienst, brauchst gar nicht viel dafür tun.« Der Mann, der sich Toni nannte, rückte wieder näher an Klara heran und strich ihr über die Wange. Sie spürte seinen Atem. »Musst halt nur ein bisschen freundlicher sein und nicht so schüchtern.«
Mit einem Quietschen kam der Zug zum Stehen. Klara sprang auf, stieß dem Mann ihren Rucksack ins Gesicht und stolperte an ihm vorbei aus dem Wagen. Raus, nur raus! Hektisch sah sie nach links und rechts. Waren sie schon in Karlsruhe? Sie mischte sich unter die Leute und lief den Bahnsteig entlang.
»Hey, warte!« Der Mann mit dem schwarzen Hut, Klara hörte seine Stimme durch den Rauch. Eine Pfeife ertönte. »Eiiiiinsteigen bitte!«
Jetzt sah Klara neben sich auf dem anderen Gleis einen zweiten Zug. Ohne zu zögern, sprang sie in den letzten Wagen. Sie keuchte, während sie sich durch die Menschen kämpfte, die dicht gedrängt standen. Als sie einen Platz am Rand gefunden hatte, setzte sich der Zug auch schon in Bewegung, »Station Oos«, las sie beim langsamen Vorbeifahren auf einem Schild.
Klara versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken, genau wie den Hunger, der in ihrem Magen rumorte. Sie wusste nicht, in welchem Zug sie sich befand und wohin sie unterwegs war. Die vorbeiziehende grüne Landschaft und die verstreuten Häuser konnten sie nicht trösten. Doch bevor Klara angesichts ihrer Lage in Tränen ausbrach, wurde der Zug bereits langsamer und kam schließlich in einem Bahnhof zum Stehen. »Bade-Bade, Endstation«, rief ein untersetzter Mann in fröhlichem Singsang. Seine dunkelblaue Uniform war vor lauter Orden kaum zu sehen.
Endstation, dachte Klara, als sie aus dem Wagen kletterte, besser konnte man ihre Situation wohl nicht beschreiben. Ängstlich blickte sie sich um, konnte aber den aufdringlichen Kerl nirgendwo entdecken. Sie folgte den anderen Reisenden und kam an einem Stall vorbei, aus dem sich ihr drei Pferdehintern entgegenreckten. In der Halle daneben standen Waggons, ähnlich dem, aus dem sie gerade gestiegen war.
Als die Glocke auf dem Dach läutete, rief der dicke Mann mit der blauen Kappe und der Uniform: »Oiiiisteige bidde!«
Klara betrat die Wartehalle, wo ihr zahlreiche Menschen entgegenströmten. Erschöpft ließ sie sich auf eine frei gewordene Bank fallen. Am liebsten hätte sie gleich den nächsten Zug genommen und wäre zurückgefahren, aber sie saß hier fest. Nur noch eine einzige Münze ertastete sie in ihrer Manteltasche, mit Sicherheit zu wenig für eine Fahrkarte nach Karlsruhe.
Klara nahm die Mütze ab und knöpfte den Mantel auf. In diesem merkwürdigen Ort mit dem doppelten Namen war es viel wärmer als zu Hause im Schwarzwald. Sie lockerte auch die Schnürung ihrer Stiefel. Ihre Füße brannten, so viel auf einmal war sie überhaupt noch nie in Schuhen gelaufen. Klara spürte, dass sie beobachtet wurde, und hob den Kopf. Auf der gegenüberliegenden Bank lümmelte ein junger Mann in einem schlichten grauen Anzug. Er lächelte, als sich ihre Blicke trafen.
»Sie sehen mir aus, als könnten Sie Hilfe gebrauchen.« Als der Mann seinen runden Hut abnahm und aufstand, sah Klara, dass sich darunter wilde dunkle Locken befanden. »Mein Name ist Ferdinand Vogel.«
Klara schwieg. War das wieder so ein aufdringlicher Mensch, der ihr gutes Geld anbieten wollte, angeblich, ohne dass sie viel dafür tun müsste? Er reichte ihr eine Karte, auf der sein Name stand.
»Keine Sorge, ich werbe keine Mädchen an«, sagte er, als ob er ihre Gedanken erraten hätte. »Ich bin Reporter beim hiesigen Badeblatt. Sie sind wohl zum ersten Mal in Baden-Baden?«
Klara nickte stumm.
»Wo kommen Sie her?« Er sah freundlich aus, fand Klara. Aber was wusste sie eigentlich über Männer? Von den drei Brüdern, die sie hatte, war einer ein guter Mensch. Falls die beiden anderen über Herzenswärme verfügten, konnten sie das die meiste Zeit ziemlich gut verbergen. Klara beschloss, dem hübschen jungen Mann eine Chance zu geben. Er war immerhin höflicher als dieser furchtbare Toni und auch besser gekleidet. Sie stand auf und reichte ihm die Hand.
»Klara Butterfass. Ich komme von einem Bauernhof im Kinzigtal. Können Sie mir sagen, wie ich nach Karlsruhe komme?«
»Was wollen Sie denn in Karlsruhe? Hier ist es doch viel schöner.« Der junge Herr Vogel hielt ihre Hand noch immer fest, Klara entzog sie ihm.
»Ich habe eine Adresse in Karlsruhe, wo es Arbeit gibt«, sagte sie so selbstbewusst wie möglich, auch wenn ihre Stimme piepsig klang. Mit der Hand fuhr sie in die Manteltasche, fand jedoch das Papier nicht. »Wo ist es denn nur?« Klaras Augen suchten hektisch den Boden ab.
»Na, arbeiten können Sie auch hier, kommen Sie mit.«
Ehe Klara sich wehren konnte, hatte Ferdinand Vogel sie an der Hand gepackt und zog sie aus dem Bahnhofsgebäude hinaus auf die Straße, wo aufgereiht eine Pferdekutsche hinter der anderen stand.
»Wir laufen. Ich habe eine Idee. Du kannst doch anpacken, oder?«
Klara nickte eifrig und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten, ohne aus den halb offenen Stiefeln zu rutschen. »Was riecht denn hier so?«
»Ach, das ist unser Fluss, die Oos. Du kannst dir ja vorstellen, was die Menschen da so alles reinkippen.« Klara bemerkte, dass Ferdinand Vogel zum vertraulichen Du übergegangen war. »Es ist kaum zu glauben, wir schreiben das Jahr 1883, und hier stinkt es wie im Mittelalter. Ich habe darüber schon im Badeblatt geschrieben.«
Irritiert schwieg sie eine Weile. »Und das stört die Damen gar nicht?« Sie wies auf die Frauen, die in langen Kleidern, mit kleinem Hut auf dem Kopf und Glas in der Hand, vor dem Gebäude entlang der Säulen flanierten und dabei die Gesichter in die morgendliche Sonne hielten. »Warum sind hier so früh am Tage eigentlich so viele Menschen unterwegs?«
»Kurgäste. Sie holen sich in der Trinkhalle jeden Morgen ihr Heilwasser. Um es besser im Körper zu verteilen, laufen sie ständig herum. Wenn du mich fragst – die wollen alle nur eine gute Partie machen.«
»Die Leute sind wohl sehr reich.« Klara kam sich zum ersten Mal arm vor in ihrem Wintermantel mit dem abgewetzten Kragen und dem Loch in der Tasche. Das konnte zwar niemand sehen, aber sie ertastete es jedes Mal, wenn sie die kalten Finger zum Aufwärmen hineinsteckte.
»Die Reichste von allen wird bald dort drüben wohnen.« Ferdinand zeigte auf die gegenüberliegende Seite, wo ein Haus stand, so groß, wie es Klara noch nie gesehen hatte. »Hotel de l’Europe«, las sie über dem Eingang.
»Wir nennen es Europäischer Hof. Dort erwartet man die Kaiserin von Österreich. Es heißt, sie soll diesmal länger bleiben als bei ihrer ersten Stippvisite. Wahrscheinlich langweilt sie sich wieder zu Hause, am Kaiserhof in Wien.«
»Schon bald?« Klara staunte. Dass es in Österreich einen Kaiser gab, hatte sie von Fräulein Stern gehört. Aber dass seine Frau in dieser Stadt zu Besuch kommen sollte, gar nicht so weit von ihrem Bauernhof entfernt, das hatte sie ihr verschwiegen.
»Das hoffe ich doch. Ich brauche neue Geschichten für mein Blatt. Auf die Hoheiten ist immer Verlass. Elisabeth von Österreich wird mit ihrem Gefolge das ganze Hotel belegen. Es heißt, sie bringe sogar ihre eigene Kuh mit.«
»Eine Kuh?« Klara stellte sich kurz vor, wie es wohl gewesen wäre, hätte sie ihre Lieblingskuh Elsa heute neben sich im Waggon mitgebracht. »Warum denn das?«
»Na, wegen der frischen Milch. Sisi hat angeblich ihre Lieblingskühe und behauptet, jede Milch schmecke anders.« Ferdinand grinste über das ganze Gesicht. »Auf jeden Fall nicht, um auf ihr zu reiten, falls du das geglaubt hast.«
Klara stieg die Röte in die Wangen, doch Ferdinand redete weiter: »Aber Elisabeth reist immer mit eigener Dienerschaft und bleibt sehr für sich, da hast du keine Chance auf eine Stelle. Komm, wir müssen weiter.« Er wies ihr den Weg, und sie gingen nun unter knospenden Kastanien entlang. Klara kam sich fast vor wie einer der flanierenden Kurgäste.
»Ist das noch eine Trinkhalle?« Klara wies auf ein zweites Gebäude mit Säulen an der Front, aus dem Musik herüberschallte.
»Das ist das Konversationshaus, wer Geld hat, vergnügt sich dort auf Konzerten oder Bällen. Am 1. Mai startet die Saison, dann ist dort täglich etwas los. Jeden Morgen gibt es Musik und auch jeden Abend, gleich gegenüber im Musikpavillon. Seit seinem Tod vor ein paar Wochen spielen sie besonders häufig Wagner. Kennst du den großen Komponisten? Er ist nicht bei allen in Baden-Baden beliebt, nachdem er sein großes Konzerthaus am Ende doch lieber in Bayreuth gebaut hat anstatt in unserem hübschen Städtchen.«
»Darüber schreibst du auch in deinem Badeblatt?« Klara kam sich so unwissend vor neben Ferdinand. Was wusste sie schon über das, was auf der Welt passierte?
»Na, um über Musik zu berichten, haben wir unseren großen Richard Pohl, ein Kollege. Ich bin eher der Gesellschaftsreporter, der den Adligen beim Feiern zuschaut. Zum Beispiel im Konversationshaus.« Er wies auf das große, helle Gebäude. »Aber schon um dort oben hinter den Säulen zu flanieren, müssen wir Eintritt bezahlen.« Jetzt erst nahm Klara den Zaun mit dem Kontrollhäuschen wahr. »Ich habe ein anderes Ziel, komm.« Ferdinand ging weiter.
»Unser Theater!« Sie passierten das einstöckige Gebäude, dessen hohe Türen um diese Uhrzeit noch geschlossen waren. Klaras Blick wanderte hoch zum Balkon und zu den Fenstern bis hinauf zum Giebel, wo sie Figuren entdeckte. Fragend sah sie Ferdinand an.
»Die neun Musen«, erklärte er. »Und daneben die Herren Goethe und Schiller.« Schiller! Dessen Werk ihr Vater in den Ofen geworfen hatte. Hier an diesem Palast der Kunst nahm er den Platz ein, der ihm gebührte.
Eine Menschenmenge verdeckte ihnen den Blick auf den Eingang des nächsten Hotels, das sich nur wenige Schritte entfernt befand. Eine Kutsche rollte an ihnen vorbei. »Die Maison ist nicht so nobel wie die anderen Hotels, eher wie ein Landhaus. Trotzdem steigt hier immer das deutsche Kaiserpaar ab. Ich vermute, weil es die gemütlichste Unterkunft von allen ist.«
»Kaiser Wilhelm?« Klara staunte. Von ihm hatte sie in ihrer kurzen Schulzeit gehört. Und sogar schon ein Bild gesehen, in ihrem Schulbuch. Ein Mann mit weißem Backenbart, der meistens eine Pickelhaube trug.
»Er geht manchmal an der Oos spazieren, das ist sein Kaiserwegle. Die Kaiserin zeigt sich häufiger. Wahrscheinlich stehen deshalb alle hier.« Ferdinand drängte sich mit Klara an der Hand durch die Schaulustigen nach vorne bis in die erste Reihe. Und tatsächlich trat gerade eine schwarz gekleidete alte Dame aus dem Haus, am Arm eines kräftigen, großen Mannes mit grauem Spitzbart.
»Der Kaiser!« Klara hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund.
»Unsinn, das ist Herr Messmer, dem gehört das Hotel.« Ferdinand lachte.
»Und das daneben ist seine Mutter?«
»Das ist Kaiserin Augusta. Unser treuester Kurgast. Sie kommt jeweils im Frühjahr und im Herbst und bleibt stets mehrere Wochen. Nicht die einfachste Person, was ich so gehört habe.«
Der Hotelbesitzer mit den gescheitelten Haaren und dem roten Gesicht geleitete die gebrechlich wirkende Frau die wenigen Stufen hinunter zu der wartenden Kutsche. Ihr Gesicht erinnerte Klara an das ihrer Großmutter, als sie schon sehr alt gewesen war. Unter der dunklen Haube schauten streng frisierte schwarze Löckchen heraus, ihre Hand umklammerte einen Stock. Als die Frau sich zur Kutsche wandte, fiel etwas zu Boden. Alle waren so damit beschäftigt, die Kaiserin in die offene Kutsche zu bugsieren oder dabei zuzuschauen, dass es niemandem auffiel.
Klara sprang nach vorne und bückte sich. Ein Handschuh aus schwarzer Spitze. Vorsichtig hob sie ihn auf. Nicht einmal das Fell der neugeborenen Kälber fühlte sich so zart an. Sie richtete sich auf und reichte der Kaiserin den verlorenen Handschuh nach oben in die Kutsche. Die alte Dame mit der spitzen Nase und den Schatten um die Augen sah sie verdutzt an.
»Danke, mein Kind.« Sie nahm den Handschuh entgegen. »Wilhelm, würden Sie so gut sein?«
Der Hotelier, der sich schon entfernt hatte, trat heran und griff in seine Jackentasche. Stechend blaue Augen musterten Klara, bevor er ihr eine Münze reichte. Gerade als Klara danach greifen wollte, besann sie sich. Sicher, sie brauchte Geld für ihren großen Traum. Für ihr eigentliches Ziel, für das sie ihr Heimatdorf verlassen und die Reise auf sich genommen hatte. Aber ihr wurde bewusst: Diese eine Münze würde sie nicht weit bringen. In dieser Stadt der Reichen und Adligen könnte sie damit vermutlich gerade mal ein, zwei Tage überleben.
Klara schluckte, machte einen Knicks und nahm all ihren Mut zusammen.
»Vielen Dank, Majestät, vielen Dank, der Herr. Aber ich brauche keine Almosen. Ich brauche Arbeit.«
Es war still geworden. Die Menschen sahen erschrocken den Hotelbesitzer Messmer an, der fragend zur Kaiserin in der offenen Kutsche blickte. Ferdinand sprang herbei und mischte sich ein: »Sie müssen entschuldigen, Herr Messmer. Sie ist neu hier in Baden-Baden. Sie kommt vom Land und kennt sich nicht aus …«
Aber Wilhelm Messmer winkte ab, er wartete auf eine Reaktion der Kaiserin. Deren überraschte Miene unter der Haube wandelte sich zu einem spitzen Lachen, in das der alte Messmer einstimmte. Und plötzlich lachten alle um Klara herum, bis Kaiserin Augusta das Wort ergriff.
»Nun, Wilhelm, wie sieht es aus? Brauchen Sie in Ihrem Hause noch eine helfende Hand? Vielleicht könnte das Mädchen mir das Frühstück aufs Zimmer bringen? Ich hätte nichts einzuwenden gegen ein erfrischendes Lüftchen am Morgen.«
»Und ich brauche Hilfe bei den Hochzeitsvorbereitungen, Papa!«
Hinter den überrumpelten Hausherrn war eine junge Frau getreten, die wohl nur wenig älter war als Klara selbst. Sie trug ein langes Kleid in der Farbe reifer Kirschen und hatte die dunklen Haare zu einem Dutt hochgesteckt. Sie lächelte Klara freundlich an, während sie den Arm ihres Vaters ergriff. »Mon père, lass uns das drinnen besprechen, wir wollen Tante Augusta doch nicht aufhalten.« Sie gab dem Kutscher ein Zeichen, und der Wagen mit der Kaiserin ratterte davon.
Während sich die Menschenmenge auflöste und Wilhelm Messmer ein »Na, dann wollen wir doch mal schauen, was sie kann« in seinen Bart brummelte, wurde Klara von der jungen Frau zu der Treppe geschoben, die hinauf zum Hoteleingang führte.
»Ich heiße übrigens Augusta.«
»Wie die Kaiserin?« Klara staunte.
»Ja, sie ist meine Patentante.«
»Und ich heiße Wilhelm. Wie der Kaiser.« Herr Messmer grinste. »Und das ist meine vorlaute Tochter.« Wieder blickte er sie mit seinen blauen Augen so eindringlich an, dass sich Klara des Eindrucks nicht erwehren konnte, einen Mann vor sich zu haben, der wusste, was er wollte.
Die beiden lachten gemeinsam, wie Klara mit ihrem eigenen Vater nie gelacht hatte. Aufgeregt stieg sie hinter ihnen die Stufen zur Eingangstür hoch, die sich an einem Eck des Hauses befand. Von hier aus kam ihr das Hotel riesig vor, es schien sich in jede Richtung auszudehnen. Nach oben hin erblickte Klara Fenster bis unters Dach, und direkt über ihr lud ein großer Balkon dazu ein, das Treiben in der Stadt zu beobachten.
Die Musik aus dem nahe gelegenen Pavillon hatte aufgehört. Auch vor dem Restaurant vis-à-vis saß niemand mehr. Der ganze Platz vor dem Hotel war leer bis auf einen Mann mit rundem Hut. Er hatte ihn abgenommen und winkte ihr damit zu – Ferdinand Vogel, der junge Reporter mit den braunen Locken und dem frechen Lächeln.
Ob Klara jemals erfahren würde, wo in diesem lebendigen Baden-Baden er sie hatte hinbringen wollen? Klara griff in ihre Manteltasche und berührte seine Karte. Bevor sie im Hotel verschwand, hob sie die Hand zum Gruß und warf einen letzten Blick auf den Menschen, der heute ihr Glücksbringer gewesen war.
Klara betrat die Eingangshalle durch die hohe Tür, die ein junger Bursche in dunkelgrüner Uniform aufhielt. Während er seine Kappe zur Begrüßung lüpfte, grinste er, als freute er sich über Klaras Anblick. Staunend hielt sie inne. Zwei einfache runde Holztische standen rechts und links in der Halle, umringt von einem bunten Sammelsurium von Ledersesseln und Stühlen, die auf Gäste zu warten schienen. Durch die gegenüberliegenden Fenster fiel die Vormittagssonne zwischen den Vorhängen in den Raum. Klara schaute hinaus, direkt in einen Garten oder einen kleinen Park, und kam sich mit einem Mal vor wie in einer fremden Welt. Lampen wie dort an den Wänden neben den Fenstern gab es bei ihr zu Hause nicht. Und solche großen Pflanzen mit langen, spitzen Blättern, die hier die Ecken schmückten, hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Sie zuckte zurück, um nicht auf einen der gemusterten dicken und vermutlich teuren Teppiche zu treten, die die Eingangshalle trotz ihrer Größe wohnlich und gemütlich machten. Zu gern hätte sich Klara auf die gepolsterte Bank unter einem der hohen Fenster gelegt, so müde fühlte sie sich mit einem Mal.
»Jetzt bringen sich die Herrschaften die Gäste schon von der Straße mit!«
Eine ältere Frau mit weißer Schürze über einem schwarzen Kleid war aus einer Tür getreten. Klara blickte hinab auf die kleine, aber doch kräftige Gestalt, die sie neugierig musterte. Auf dem grauen Dutt saß ein weißes Häubchen, was nicht so recht zu ihrem burschikosen Gesicht passte.
»Unsere Crescenzia, très charmante comme toujours. Cricri, das ist kein Gast, das wird unser neues Mädchen, wenn sie sich gut anstellt.« Wilhelm Messmer lächelte milde. Die kleine Frau reichte ihm gerade bis an den Gürtel.
Er wandte sich an seine neue Angestellte. »Wir haben dich noch gar nicht gefragt, wie du heißt.«
»Klara Butterfass, aus dem Kinzigtal.«
»Na, bei dem Namen schafft sie wohl am besten in der Küche.« Der Hausdame entfuhr ein gackerndes Lachen.
»Wo auch immer wir Hilfe brauchen. Eigentlich haben wir gerade neu eingestellt, aber wer könnte der Kaiserin einen Wunsch abschlagen?«
Ein Schrei schallte durch die Eingangshalle. Und noch einer.
»Krieg mal keinen Schrecken, das ist nicht der Kaiser, der da schreit. Das ist die neue Freundin vom Chef. Der Chef hat nämlich ’nen Vogel.« Crescenzia schaute Wilhelm Messmer auffordernd an.
»Ja, das Fräulein Lora, das schreit und teilt den ganzen Tag kräftig aus wie ein richtiges Weibsstück. Komm ihr bloß nicht zu nahe!« Wilhelm Messmer klimperte mit seinem Schlüsselbund am Gürtel. »Ich sollte endlich die Weinvorräte im Keller überprüfen. Jetzt, wo wir wieder hohen Besuch haben, wollen wir nur das Beste servieren. Die Damen!« Er empfahl sich.
»Na, dann lass noch was übrig«, murmelte seine Tochter Augusta, während ihr Vater sich entfernte. »Ich muss mich jetzt umziehen, Camille holt mich gleich ab.« Sie strahlte.
»Ah, der Herr Bräutigam. Eine Schande, dass der Erstbeste dich hier wegholt, kaum dass er aus der großen, weiten Welt zurück ist. Einen Prinzen hättst verdient.«
Augusta lächelte und strich sich eine dunkle Strähne hinter das Ohr. »Ach, davon haben wir den lieben langen Tag genug im Haus. Du weißt doch, ich werde nicht weit weg sein. Nur ein Stück die Lichtentaler Allee hinunterspaziert und einmal über die Oos gehüpft. Das wirst du schaffen, Cricri.«
Die kleine Frau schnaubte verächtlich. »Hüpfen werd ich im Leben nicht mehr. Und nenn mich nicht Cricri, das darf nur dein Vater. Nach fast fünfzig Jahren krieg ich das nicht mehr raus aus dem Kerle.«
Augusta lachte auf und betrachtete ihre langjährige Angestellte – liebevoll, so empfand es Klara.
»Wie du siehst, sind wir wie eine große Familie. Und Papa hat schon recht, Crescenzia kennt sich hier aus wie keine andere, sie ist die heimliche Chefin des Hauses. Sie wird dich in alles einweisen und die Formalitäten klären.«
»Formalitäten?« Klara erschrak.
»Na komm, ich geb dir deine Arbeitskledage, dein Dienstbuch kannst später vorzeigen.«
»Dienstbuch?«
»Jetzt klingst wie unsere Lora. Na, irgendwie wirst du dich ja ausweisen können. Wir müssen auf unseren Kaiser aufpassen. Nicht dass dem Wilhelm schon wieder einer ans Leder will, weißt du?«
Die alte Frau führte Klara eine seitliche Marmortreppe hinunter. Ein Geruch nach Fleisch und Eintopf stieg ihr in die Nase und ließ ihren Magen knurren. So ruhig und kühl es in der Eingangshalle gewesen war, so lebhaft ging es hier im Keller zu. Und warm war es. Klara blickte durch die offene Tür auf ein Gewimmel aus Weißgekleideten unter einer Reihe glänzendem Kochgeschirr, das von der Decke baumelte. Dampf stieg aus großen Töpfen und erhitzte die Gesichter der Köche und Gehilfen. Einer stach hervor mit seiner kreisrunden Kochmütze.
»Non, non, non, mehr Butter an die Sauce! Nicht sparen, wenn wir für einen Kaiser kochen. Nur ein satter Mann ist ein zufriedener Mann. Das gilt erst recht für einen Kaiser.« Der Singsang des Kochs klang anders als der Dialekt, den Klara aus ihrer Heimat kannte. In der einen Hand hielt der Mann mit der Kochmütze und dem gezwirbelten Schnauzbart einen Löffel, mit der anderen tätschelte er seinen runden Bauch. »Und nicht vergessen: Fett macht glücklich!«
Klara musste lächeln. Das hatte ihre Großmama auch immer gesagt. Noch bis kurz vor ihrem Tod, als Bertha ihr gezeigt hatte, wie der Ziegenbraten zum Osterfest einen besseren Geschmack bekam.
»Wer lacht hier über meine Anweisungen, eh?« Verschmitzt blitzende Augen über einer sehr großen Nase schauten sie fragend an. Die Wangen des Kochs leuchteten rot.
»Unser Küchenchef! Das größte Franzosenmaul, das der Herrgott finden konnte, um es zu uns nach Baden-Baden zu schicken.« Crescenzia musste ihren Kopf schon sehr in den Nacken legen, um dem umfangreichen Chefkoch des Hauses in die lustigen blauen Augen zu sehen. »Monsieur Imbery. Wir nennen ihn liebevoll Himbeer.« Wieder gab die alte Frau ein gackerndes Lachen von sich. »Und das hier ist unser jüngster Neuzugang.«
»Herr, äh, Him… ich meine Imbery.« Klara reichte dem Koch zögernd die Hand, unsicher, ob sie einen Knicks machen sollte. Aber den hob sie sich lieber für den Kaiser auf, sollte sie ihn jemals zu Gesicht bekommen. »Ich heiße Klara Butterfass, und ich werde hier im Haus arbeiten.«
»Soso, wirst du das. Na, du hättest sicherlich gewusst, dass an jede gute Sauce ordentlich Butter gehört, was?«
Klara nickte eifrig. »Die Kartoffelsuppe mache ich immer mit Mehlschwitze und Zwiebeln. So mag sie der Vater am liebsten.« Sie presste die Lippen aufeinander. Bloß nicht zu viel von zu Hause, von ihrer Familie erzählen. Zu groß war ihre Angst, wieder zurück auf den Hof geschickt zu werden.
»Na, wenn ich beim Kochen nicht weiterkomme, werde ich dich fragen!« Der Koch lachte breit, während Klara beschämt zu Boden blickte. Warum konnte sie nur nie den Mund halten?
»Das Mädle kommt erst mal mit mir, die Kaiserin persönlich hat sie eingestellt. Sie soll sie bedienen.« Crescenzia schob Klara aus der Küche. »Bei den Frauen ist er ein ewiger Charmeur, aber auf ihn kannst dich verlassen«, flüsterte sie ihr zu. »Nicht nur beim Essen. Wenn dir kein Mensch weiterhelfen kann – unser Himbeer hat immer einen Rat parat. Fast so gut wie der liebe Gott.«
Vor der nächsten Tür blieb Crescenzia stehen und zog einen großen Schlüssel aus der Schürzentasche. Nur wenig Licht fiel durch schmale Schächte in die kleine Kammer. Als sich Klaras Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, bemerkte sie eine Reihe von Regalen, in denen Kleidung lag, nach Farben und Größen sortiert. »Hausburschen klein« und »Hausburschen groß«, las Klara auf vergilbten Zetteln an den grünen Stapeln.
Erstaunlich flink stieg die alte Hausdame auf einen Hocker, und aus dem obersten Regal zog sie schwarze und weiße Kleidung, die sie Klara in den Arm legte. »So aufgebauscht, wie unsere Majestät immer rumläuft – da müssen auch wir immer aussehen wie aus dem Ei gepellt. So.« Sie stieg vom Hocker und reichte Klara noch ein Paar Schuhe aus dem untersten Fach. »Die sollten passen. Und jetzt zeig ich dir, wo wir Untertanen uns zur Nachtruhe betten.« Crescenzia verschloss die Kammer und führte Klara zu einem versteckten Treppenaufgang, den sie immer weiter hinaufstiegen, bis unters Dach. Dabei ächzte die kleine Frau lauter, als die Stufen knarzten.
»Der Wilhelm als Herr des Hauses hat das Herz schon auf dem rechten Fleck. Der kann keiner Fliege was zuleide tun. Als Kind hat er junge Eichhörnchen und Meisen mit nach Hause gebracht, wart’s ab, bis du seinen Tierpark hinterm Haus siehst. Was war das für ein hübscher Junge, wie ein Engel! Jeden Morgen habe ich ihm die langen blonden Locken aufgewickelt!« Crescenzia lachte auf. Sie waren oben angekommen.
»Das ist meine Kemenate.« Sie deutete auf eine kleine Tür am Ende des langen Ganges. »Kriegst du, wenn du so lang im Hause bist wie ich. Und hier«, die alte Frau öffnete eine breite Tür, hinter der Klara zwei Reihen von Betten ausmachte, »schlafen die Dienstmädle. Na ja, viel Zeit wirst hier drin nicht verbringen. Das da vorn müsste frei sein.« Crescenzia zeigte auf das erste Bett in der Reihe. »Gewaschen wird sich drüben im Badekabinett.« Sie deutete auf Klaras Rucksack. »Mehr Gepäck hast nicht?«
Klara ließ den Rucksack von den Schultern rutschen und stellte ihn neben dem Bett ab. Sie schüttelte den Kopf.
»Dann kann dir auch nix gestohlen werden. Jetzt ziehst dich um, dann zeig ich dir, wie das mit dem Bedienen geht. Und was zu essen kriegst auch.«
Klara strich den Rock ihres Kleides glatt und zog noch einmal die Bänder der weißen Haube fest. Ihren dicken, langen Zopf hatte sie hochgewickelt und so ordentlich mit Nadeln festgesteckt, wie sie das sonst am Sonntag zum Kirchgang machte. In diesem Aufzug kam sie sich eher vor wie eine Adlige, die im Hotel abgestiegen war, und nicht wie ein Dienstmädchen. Kleider aus so einem festen Stoff und Schürzen mit gestärkter Spitze trugen die Frauen in ihrem Dorf höchstens an Feiertagen.
Mittags, bei einem Teller Gemüsesuppe im Bedienstetenzimmer neben der Küche, hatte Klara ein paar der anderen Angestellten kennengelernt und erfahren, dass es in diesem Monat in der Maison Messmer nur zwei Gäste gab, dafür sehr wichtige: Kaiserin Augusta und Kaiser Wilhelm. Alle anderen Menschen, die im Hotel umherliefen, waren die Dienerschaft. Von denen sie Gräfin von Brandenburg und Gräfin von Vitzthum zwar würde bedienen müssen, aber letztendlich waren die beiden Hofdamen der Kaiserin und standen damit bei Hofe in Lohn und Brot.
Klara seufzte. Es würde dauern, bis sie jede und jeden aus dem Hofstaat des Kaiserpaares erkannte und wusste, wie der- oder diejenige anzusprechen war.
»Erst die Flädlesuppe und dann Forelle. Riesling für den Kabinettssekretär, und die Hofdamen mögen am Abend am liebsten einen Krug vom Starkbier. Mach’s genauso wie Marie vor dir, dann kann nix passieren. Nicht ausrutschen auf den Treppenbeschlägen. Wird schon schiefgehen, Mädle.«
Crescenzia schob Klara in die Küche, wo Koch Imbery bereits die Ausgabe des Abendessens dirigierte.
»Und wann darf ich der Kaiserin ihr Essen bringen?«
»Eins nach dem anderen. Wir haben alle klein angefangen. Wenn du dir das bei mir auch nicht vorstellen kannst.« Crescenzia kicherte. »Brauchst mich gar nicht so anzuschauen.«
Als Klara mit der großen Schöpfkelle in der Hand hinter Marie die Treppe hochstieg, begleitete sie das eigentümlich keckernde Lachen der nicht ganz so geheimen Chefin des Hauses bis in den Speisesaal.
Große Kronleuchter über weiß gedeckten Tischen verliehen dem Raum eine vornehme Erhabenheit. Vor der Tür empfing sie eine zierliche Frau, die ein grünes Taftkleid mit weißem Kragen trug. Auf der Brosche an ihrem Hals erkannte Klara das Porträt der Kaiserin. Ob das auch eine der Hofdamen war?
Marie vor ihr mit der Suppenschüssel im Arm nickte der Frau kurz zu und murmelte: »Guten Abend, Frau Messmer.«
»Tisch drei, vier und fünf werden belegt sein. Die Herrschaften kommen jeden Augenblick. Und du musst Klara sein.« Die Frau sah sie aus schmalen, dunklen Augen neugierig, aber freundlich an. Klara nickte eifrig und verbeugte sich leicht, das Suppenbesteck in den klammen Händen. »Mein Mann hat mir schon erzählt, wie du zu uns gelangt bist.«
Klara erschrak. Die elegante Frau vor ihr war die Dame des Hauses. Vielleicht fühlte sie sich überrumpelt vom Wunsch der Kaiserin, sie einzustellen? Daran war nur ihre vorlaute Art schuld.
Scham stieg in Klara auf. Gestern hatte sie noch auf dem Hof die Schweine gefüttert und im Haus den Holzboden gewischt. Wer, glaubte sie, war sie, dass sie es verdient hatte, hier für die wichtigsten Menschen des Landes in diesem feinen Hotel zu arbeiten?
Aber die Ehefrau von Wilhelm Messmer lächelte sie milde an. »Wir tun alles, damit die Majestäten sich wohlfühlen und sich während ihres Aufenthaltes in unserer Maison nicht langweilen. Sie schätzen einen normalen Umgang, aber natürlich muss der Service erstklassig sein. Und jetzt auf Position, Mädchen, da kommen schon die Hofdamen, zusammen mit dem Grafen von Oeynhausen. Sieh an, wenn der Kammerherr Zeit zum Essen findet, muss der Kaiser beschäftigt sein. Fehlt nur noch der Kabinettssekretär von dem Knesebeck. Sobald die Herrschaften sitzen, fangen wir mit der Suppe an.«
Klara hielt die Teller, in die Marie aus dem großen Topf die dampfende Suppe goss und dabei die Flädlestreifen gerecht verteilte. Zum Servieren standen zwei weitere Dienstmädchen bereit, sodass Klara vor dem Abräumen der Suppenschüssel kurz Zeit blieb, einen Blick durch den länglichen Speisesaal auf die Gäste zu werfen. Die Hofdamen trugen helle, bodenlange Kleider, wenig Schmuck und unterhielten sich angeregt. Der Mann im förmlichen Anzug, der von Frau Messmer als Kammerherr tituliert worden war, hatte sich zu den Damen gesetzt. Gerade steuerte ein weiterer Mann mit Weste unter dem Jackett und einem Monokel an der Kette den freien Tisch daneben an, unter dem Arm eine Zeitung. Ob das der Sekretär war?
»Badeblatt, das neue Badeblatt!«, schallte es in diesem Moment durch den Saal. Ein Junge mit kurzen Hosen und Kappe und einem Stapel Zeitungen auf dem Arm stand im Eingang, er schwenkte eins der Blätter über seinem Kopf. Eine der Hofdamen hob die Hand, und schon spurtete er durch den Raum. Kleingeld und Zeitung wechselten die Besitzer, dann war der Junge wieder verschwunden.
Hatte nicht Ferdinand gesagt, dass er beim Badeblatt arbeitete? War er auch hier? Klara schaute suchend zur Eingangshalle und versuchte, durch die hohen, von schweren Vorhängen umrahmten Fenster etwas zu erkennen. Aber dort draußen war nur die hereinbrechende Dunkelheit.
Nachts, als der Mond schon längst durch das Dachfenster leuchtete, lauschte Klara den ruhigen Atemzügen der anderen Dienstmädchen in den Betten neben ihr. Ihre Gedanken flogen zurück zu ihrem Hof im Kinzigtal, den sie erst heute früh verlassen hatte.
Wann war dem Vater wohl aufgefallen, dass sie nicht mehr da war? Hatte Arcos’ Bellen alle geweckt? Und wer würde nun ihre Arbeit machen? Wer hatte heute das Essen bereitet, die Wäsche gemacht, sich um die Hühner und den Gemüsegarten gekümmert? Klara seufzte. Sie war sich sicher, dass alle sie verfluchten, aber sie hoffte, der Ärger würde wieder vergehen. Doch wie hatte der Vater reagiert, als ihm klar geworden war, dass seine Tochter nicht im Stall, nicht im Haus, nicht auf den Weiden und noch nicht einmal bei Fräulein Stern war?
Frauen liefen nicht einfach weg vom Hof, sie machten ihre Arbeit und beklagten sich nicht. Eine jede erfüllte die Rolle, die für sie vorgesehen war. So, wie es der liebe Gott bestimmt hatte. Und der Vater.
Klara presste eine Faust gegen die Lippen. Jetzt bloß nicht weinen. Sonst dachten die anderen Mädchen, dass sie Heimweh hatte und der neuen Aufgabe hier in der Stadt nicht gewachsen war. Doch sie vermisste das Fell der Tiere unter den Händen auf ihrer abendlichen Runde durch den Stall. Arcos’ treuen Blick, wenn er Futter erwartete. Friedrichs lautes Lachen über einen ihrer Witze.
Ihren jüngsten Bruder hätte Klara gerne bei sich gehabt, um alles, was sie heute gesehen und erlebt hatte, mit ihm zu besprechen. Aber Friedrich war weit weg. Er würde sie sicherlich verteidigen gegen die schlechten Reden der anderen Brüder und des Vaters. Aber er konnte ihr nicht helfen. Ob der Vater schon jemanden losgeschickt hatte, um sie zu suchen?
Klara wälzte sich auf die andere Seite, der Mond machte sie unruhig und ließ ihre Gedanken herumwirbeln. Sie wusste ja genau, was ein Eheversprechen auf dem Land bedeutete. Es ging um die Ehre, um das Ansehen von Person und Hof und der ganzen Familie, über Generationen hinweg. Damit ging es auch um das Geschäft, den Fortbestand des Familienbesitzes, der Ländereien, ihrer aller Existenz. Das und nicht weniger hatte sie mit ihrer Flucht aufs Spiel gesetzt.
Klara krallte ihre Hände in das Laken, unter dem sie lag. Sie wusste genau, ihre Familie würde nicht einfach akzeptieren, dass sie weggelaufen war, sie würde nach ihr suchen, früher oder später. Klara musste Vorkehrungen treffen, sie brauchte Verbündete in diesem Haus. Aber wem konnte sie vertrauen?
Klaras Hand fuhr unter ihr dünnes Kopfkissen, tastete nach Ferdinands Karte. »Ferdinand Vogel«, stand dort in geschwungenen Buchstaben, »Reporter beim Badeblatt«. Die Begegnung mit ihm – es kam ihr vor, als wären seitdem Tage verstrichen und nicht bloß Stunden, so viel hatte sie heute erlebt. Ob er morgen noch an sie dachte? Könnte er ihr ein Freund in der Fremde sein?
Nein, sie durfte von niemandem Hilfe erwarten, sich auf niemanden verlassen, schon gar nicht auf Männer. Das hatte ihr nicht zuletzt das Erlebnis heute früh im Zug gezeigt. Aber dieser Ferdinand Vogel war freundlich zu ihr gewesen, dank ihm hatte sie jetzt ein Bett, in dem sie die Nacht verbringen konnte, und ein sehr großes Dach über dem Kopf. Und sie hatte eine Arbeitsstelle. Für den ersten Tag in Freiheit war das schon sehr viel, beruhigte sich Klara.
Sie war doch frei? Würde sie hier genauso viel Geld verdienen wie in der Fabrik, zu der Fräulein Stern sie geschickt hatte und bei der sie nie angekommen war? Und woher bekam sie das geforderte Dienstbuch, von dem Crescenzia gesprochen hatte? Durfte sie überhaupt ohne die Zustimmung ihres Vaters in der Fremde arbeiten? Zu viele Fragen schwirrten durch ihren Kopf.
Aber bevor Klara auch nur einer gründlicher nachgehen konnte, war sie bereits eingeschlafen.
»Beeil dich, unser Dienst fängt an. Wir müssen unten sein, bevor die Hoheiten erwachen.« Während die Worte in ihr Ohr drangen, rüttelte jemand an ihrer Schulter. Klara fuhr hoch.
»Auf, auf, zieh dich an.« Marie stand vor ihr, das Dienstmädchen vom Abendessen gestern, bereits fertig angezogen. In der Hand hielt sie Klaras Dienstkleid. »Waschen muss ausfallen, wenn du keinen Ärger mit Crescenzia bekommen willst.«
Klara sah sich um. Die Betten waren alle leer, bis auf ihres. Sie sprang auf, murmelte ein: »Danke, Marie«, und tauschte ihr einfaches weißes Nachthemd gegen das schwarze Kleid mit Schürze und Haube vom Vortag. Sie schlüpfte in die Schuhe und schnürte sie, so schnell sie konnte. Dann wickelte sie ihren langen Zopf hoch, steckte ihn fest und lief hinter Marie her, die schmale Holztreppe hinunter bis zur Küche. Schon von Weitem hörte Klara das Klappern von Töpfen und Pfannen, Tassen und Tellern, und ihre Nase machte gebratene Eier und Kaffee aus. Ihr knurrte der Magen.
»Mon dieu, was für ein Schlamassel. Was mache ich denn jetzt?« Das war Himbeer, und er klang aufgebracht. »Ich habe gedacht, wir hätten noch eine Dose von der letzten Lieferung in der Vorratskammer, aber da ist nichts mehr. Die Kaiserin wird wütend sein, ich werde entlassen! Was soll ich nur tun? Ich bin mit meiner Weisheit am Ende.« Koch Himbeer stand in der Küche, eine Teedose in den Händen.
»Na, das bist du doch schon lange.« Crescenzia nahm ihm die Dose aus der Hand. »Schau mal, da ist noch a bissle drin. Na komm, das kannst noch drei Mal aufgießen. Hoheit ist eh viel zu nervös.«
»Ja, aber danach? Jeden Morgen will Madame Augusta zum Frühstück ihren Tee. Trinkt ihn wie die Mutter ihrer Schwiegertochter Vicky, mit fünf Tröpfchen Milch. Was die große Victoria von England macht, kann nicht falsch sein. Unsere Kaiserin wird nicht verzichten wollen auf ihre Teestunde.«
»Dann kaufen wir eben neuen Tee.« Crescenzia stellte eine Tasse Kaffee und einen Teller mit einer Scheibe Brot vor Klara auf den Tisch, die sich an die lange Bank für Bedienstete gesetzt hatte.
»Mais oui, das dachte ich auch. Aber jetzt sagt mir ihre Hofdame, Majestät will nur ihren Hankow-Tee.«
»Den der Zar ihr persönlich aus St. Petersburg schicken lässt, seit Jahren. Ich kenn das Päckle.« Crescenzia nickte wissend.
Klara lauschte dem Gespräch, während sie auf die Schnelle frühstückte. Neugierig probierte sie das hellbraune Getränk. Auf ihrem Hof gab es am Morgen immer nur einen Kaffeebrei, aber der war viel dunkler.
»Der nette Alexander mit der hohen Stirn«, fuhr Crescenzia fort, »der die Verlobte von seinem Bruder hat heiraten müssen. Hat er damals dem Nikolai auf seinem Sterbebett versprochen, viel zu jung ist der von uns gegangen. Was für eine traurige Geschichte. Aber sie ist gut ausgegangen, ist eine glückliche Ehe geworden.« Sie begann, ein silbernes Tablett zu polieren. »So ein Zar hat’s auch nicht leicht.«
»Aber er schickt keinen Tee mehr. Oder der Tee kommt einfach nicht an. Seit Monaten nicht.« Der Koch ließ sich ratlos auf die lange Bank sinken, wo Klara noch einen großen Schluck vom Kaffee nahm. Wie gut der schmeckte!
»Aber wir sind doch nicht im Krieg!«
»Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht ist er verloren gegangen auf dem langen Weg. Wie dem auch sei, es ist vorbei. Ich brühe jetzt den letzten Rest Hankow-Tee auf, und morgen gebe ich meine Entlassungspapiere ab.«
»Papperlapapp!« Crescenzia baute sich mit verschränkten Armen vor Himbeer auf. Womit sie in etwa genauso groß war wie der vor ihr sitzende Koch. »Wir servieren ab morgen einfach einen anderen Tee, wahrscheinlich fällt es der Kaiserin gar nicht auf.«
»Also gut.« Der Koch seufzte und schaute gequält. »Versuchen wir es mit einem Souchong-Tee, und dann beten wir.«
