Als meine Therapeutin schwieg - Lisa Mundt - E-Book

Als meine Therapeutin schwieg E-Book

Lisa Mundt

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Beschreibung

Eine Psychotherapeutin und drei ihrer Klienten. Alle vier verbindet eines: Sie brauchen Hilfe. Ein Roman über das Geben und Nehmen im psychotherapeutischen Prozess, über die Verletzlichkeit der Menschen, über Stolz und Scham, und über die Möglichkeit der Hoffnung in der scheinbaren Unmöglichkeit eines Gesprächs. Adriana ist Borderline-Patientin, sie verhält sich herausfordernd, aggressiv und neigt zur Selbstverletzung. Simon leidet an Depressionen, er sollte schleunigst seinen Job kündigen, kann sich aber nicht dazu entscheiden. Der achtjährige Adil spricht seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr, was seinen Vater sehr zermürbt. Sie alle sind Klienten von Tina K., einer Psychotherapeutin. Aber auch Tina K. hat etwas erlebt, das sie aus der Bahn geworfen hat – sie verliert als Folge dessen mehr und mehr die Kontrolle über ihr Leben. Während sie sich von ihrer Partnerin Martha zurückzieht, sucht sie sich in Klientin Adriana eine ebenso unpassende wie instabile Verbündete. Als ihr Klient Simon einen Selbstmordversuch unternimmt, gibt sich Tina die Schuld daran. Die notwendige Konsequenz scheint offensichtlich zu sein: die eigene Praxis schließen und sich selber Hilfe suchen. Wo aber findet diejenige Hilfe, die den Glauben an den Erfolg des Helfens verloren hat? Lisa Mundts fesselnder Debütroman zeigt mit sprachlicher Präzision und psychologischer Tiefgründigkeit, was es bedeutet, anderen zu helfen, wenn man sich selbst nicht mehr zu helfen weiß. Meisterlich pointiert führt die Autorin durch die inneren Landschaften und Beziehungen der Figuren und erschafft damit ein atmosphärisches Kammerspiel, das in den Bann zieht.

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FÜR PAUL UND MAX

I tell you all my secretsBut I lie about my past.

Tom Waits, Tango Till They’re Sore

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

1

Ihre Fingerkuppen streichen über den Bilderrahmen, der eine Fotografie von einer Schildkröte einschließt. Das Tier sitzt auf einem Felsen, seine Augen sind geschlossen. Sie kratzt sich rhythmisch am Kinn und betrachtet das Bild. Ich greife nach der Kanne und schenke uns beiden eine Tasse Pfefferminztee ein. Sie geht weiter durch das Zimmer. Ich beobachte sie. Dazwischen werfe ich einen Blick auf die Uhr. Ich stelle sie immer neben der Teekanne auf. Die Uhr ist eine Buddha-Figur, ihr Bauch ist das Ziffernblatt. Es hat aufgehört zu schneien. Das Fenster ist eine graue Fläche. Sie richtet ihren Blick an meinem Kopf vorbei und fixiert einen Punkt an der Wand. »Ich trinke keinen Tee.«

»Sie müssen ihn nicht trinken.«

»Sag Du zu mir.«

»Lieber nicht.«

»Sag Du zu mir.« Sie setzt sich. Ihr kantiges Knie spitzt in meine Richtung. Ich nehme einen Schluck Tee.

»Deine Kollegin hat mich dir vererbt.« Sie wippt mit dem Turnschuh. Ihr Blick wandert von der Wand zu meinen Augenbrauen und hängt sich dort fest. »Ich mag deine Kollegin nicht.«

Ich warte.

»Sie ist nämlich tot.«

Ich warte. Sie lacht.

»Nein. Ich bin tot.«

Ich warte.

»Vor fünfzehn Jahren habe ich mich erfolgreich umgebracht. Das hier –«, sie streckt die Fäuste in die Höhe und gibt einen Blick auf ihre Handgelenke und die weißen Bandagen frei, »– war nur ein Versuch.«

Ich nehme noch einen Schluck Tee. Sie wartet. Dann schiebt sie den rechten Daumennagel ins Nagelbett vom linken. Sie bückt sich nach ihrer Handtasche und zieht in derselben Bewegung ein Taschentuch aus dem vorderen Fach. Sie presst es auf ihren Daumen. Durch den weißen Stoff sickert Blut. Mein Blick wandert zurück zur Handtasche.

»Warum kommt man dafür nicht ins Gefängnis?«

»Wofür?«

»Für den Mordversuch.«

»Sie meinen an sich selbst?«

»Noch habe ich niemand anderen umgebracht.«

Ich zucke mit den Schultern. »Das würde keinen Sinn ergeben.«

»Mordversuch ist Mordversuch.«

»Sie waren immerhin in der Psychiatrie. Bei meiner Kollegin.«

»Deiner Kollegin.«

»Ja.«

»Eingesperrt.«

»Eben.«

Sie zuckt auch mit den Schultern. Dann bückt sie sich wieder zu ihrer Tasche hinunter und zieht diesmal eine Zigarette hervor. Kein Feuerzeug. Das blutige Taschentuch fällt auf den Boden. Sie dreht die Zigarette zwischen ihren Fingern hin und her. Ich fange ihren Blick ein. Eines ihrer Augen ist aus Glas. Es ist schöner als das andere.

»Ich habe aufgehört. Mit dem Rauchen. Weil deine Kollegin gesagt hat, ich darf nicht mehr.«

»Ich habe nie aufgehört.«

»Du rauchst?«

»Schon lange.«

Sie wirkt verstört.

»Woran denken Sie?«

Sie greift an ihre Hüfte und hebt das karierte Hemd an. Ruckartig, bis zum Hals. Ich sehe einen rosa Push-up-BH, weißes Narbengewebe und hell- bis dunkelrote Streifen. An einer Stelle hat sich die Kruste gelöst, ein dunkler Tropfen quillt aus dem Schnitt hervor. Sie zieht das Hemd wieder hinunter. Durch die aufgekratzte Stelle bildet sich ein Fleck. Dann beugt sie sich über ihre Oberschenkel. Sie setzt einen Fingernagel am Knöchel an und kratzt über das Schienbein. Die Strumpfhose sirrt. Sie zieht den schwarzen Nylonstoff auseinander. Er reißt. Ich sehe weißes Narbengewebe, zwei alte Brandwunden und blaue Flecken. Sie lehnt sich zurück und schlägt das rechte Bein über das linke, dann hebt sie die Zigarette auf.

»Ich bin oft hingefallen.« Sie zerbricht die Zigarette. Ich werfe einen Blick auf die Uhr.

»Bist du traurig?«

»Nein.«

»Glücklich?«

»Nein.«

»Hast du Angst?«

»Manchmal.«

»Jetzt?«

Ich denke nach. »Nein.«

Sie nickt und zerreibt die Zigarette zwischen den Fingern. Der lose Tabak fällt auf den Teppich. Sie streift den rechten Turnschuh ab und verteilt die Krümel mit den Zehen in den weißen Fasern.

»Deine Kollegin ist eine Hure.«

Ich warte.

»Sie schläft mit ihren Patientinnen. Fickt sie ordentlich durch.«

»Sind Sie von meiner Kollegin gefickt worden?«

»Ich bin zu hässlich.« Sie schlüpft wieder in ihren Turnschuh und wippt zweimal mit dem Fuß. Dabei stößt sie am Tisch an. Ihre Tasse fällt um, der Tee sickert in den Teppich. Wir warten.

»Hast du ein Taschentuch?«

»Sie haben ein Taschentuch.«

Sie bewegt sich nicht. Ich warte.

»Ich habe Angst, alleine zuhause zu sein. Dort ist jemand.«

»Wer?«

»Mein Freund.«

»Haben Sie Angst vor Ihrem Freund?«

»Nein.«

»Wie heißt er?«

»Adrian.«

Ich denke nach. »Adriana und Adrian?«

»Ich habe ihn gezwungen meinen Namen anzunehmen. Ich bin nämlich auch eine Hure.«

Ich nicke.

»Es ist schlimmer alleine zu sein, wenn jemand da ist. Davor habe ich Angst.«

»Hat Adrian auch Angst?«

»Ja. Viel mehr als ich.«

»Wollen Sie, dass er Angst hat?«

»Nein.«

Ich warte.

»Mein Auge –«, sie tippt mit dem Nagel dagegen, »– ist aus Glas.«

Ich nehme einen Schluck Tee. »Es ist schöner als das andere.«

»Warum sagst du das?«

»Sie können dagegenklopfen. Es passiert nichts.«

»Ist das gut, wenn nichts passiert?«

»Ja.«

Sie sieht mich an. »Mir ist schon viel passiert. Auf dem Weg hierher bin ich fast von einer Straßenbahn überfahren worden.« Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. »Die Leute haben mir nicht geholfen. Ich habe geschrien.«

»Was hat der Schaffner gesagt?«

»Nichts. Er hat mir mit der Faust gedroht.«

»Haben Sie ihm auch gedroht?«

Sie sieht mich an. »Ich war im Schock.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

Sie fährt mit den Fingerspitzen über die Armlehne. Dann hebt sie die Hand und zeigt mir den Mittelfinger.

»Da wird er sich gefreut haben.«

»Das war für dich.«

Ich nicke. Sie wartet.

»Ich wollte sofort nach Hause fahren. Ins Bett. In meine schöne Wohnung.«

»Was ist schön an Ihrer Wohnung?«

»Du würdest in meiner Wohnung durchdrehen. Es würde dir dort überhaupt nicht gefallen.«

Ich warte.

»Überall Stofftiere. Ich habe alles aufgehoben. Jedes Jahr ein Stofftier, bis ich sechzehn war. Von meiner Mama.«

Ich nicke.

»Adrian hat mir ein Stofftier geschenkt. Letztes Mal, auf der Psychiatrie. Ich habe es der Pflegerin von der Nachtschicht geschenkt.«

»War es ein hässliches Stofftier?«

»Eine Schildkröte.«

»Mögen Sie keine Schildkröten?«

»Nicht wenn sie eingesperrt sind.«

»Vielleicht würde mir ja die Wohnung von der Pflegerin gefallen.«

Sie starrt mich an. Ich trinke meinen Tee aus, er ist kalt. Die Stunde ist in einer Minute vorbei. Adriana steht auf, an ihrem Bein klafft die Strumpfhose. Ich sehe, dass Schneeflocken gegen die Fensterscheibe fallen. Sie geht an meinem Stuhl vorbei und ihre Handtasche schlägt gegen meine Schulter. Ich bleibe sitzen. Sie schließt die Tür nicht. Ich höre ihre schnellen Schritte im Treppenhaus. Ich stehe auf, schließe die Tür und stelle mich ans Fenster. Sie steht im Hof und raucht eine Zigarette. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Sie schaut zu meinem Fenster hoch. Die lose Strickmütze fällt ihr in den Nacken und dann in den Schnee. Sie bewegt sich nicht. Ich wähle ihre Nummer. Sie greift in ihre Jackentasche, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Dann presst sie ihr Handy ans Ohr. Ich spreche leise.

»Nächste Woche, selbe Zeit.«

Sie sagt nichts und legt auf. Steckt das Handy zurück in die Tasche. Sie lässt die Zigarette fallen und geht. Ihre Mütze liegt als grauer Fleck im Schnee.

Ich sperre die Praxis ab, drehe mich einmal um und starre meine Wohnungstür an. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss, sperre auf und gehe hinein. Sperre zwei Mal ab, oben und unten. Ich lege mein Aufnahmegerät neben die Schlüsselschale und sehe aus dem Fenster. Die Schneeflocken schmelzen auf der Scheibe, sie laufen wie Spucke hinunter und bleiben irgendwann stecken. Ich greife nach dem Aufnahmegerät und drücke auf Play.

»Adriana hat eine schwarze Ledertasche mit vielen Fächern. Sie sieht praktisch und neu aus. Woher hat sie die Tasche? Ich brauche auch –«

Ich drücke auf Stopp, gehe in die Küche und drehe den Ofen an. Das Licht fällt auf Marthas vegane Lasagne mit Kichererbsen. Ich starre die braun-rote Masse an. Dann gehe ich ins Badezimmer, stecke den Stöpsel in die Badewanne und lasse heißes Wasser einlaufen. Ich werfe einen Kamillenteebeutel hinein und gehe zurück in die Küche, wo ich wieder die braun-rote Masse anstarre. Mein Handy läutet.

»Wann kommst du zu Christian?«

»Martha.«

»Ich werde um halb neun dort sein.«

»Ich auch.«

»Wirklich?«

Ich warte. Martha wartet. Sie schnaubt.

»Na dann.«

»Warte.«

»Ja?«

»Geschenk?«

Ich höre sie atmen. »Er will keine Geschenke.«

»Er lügt.«

»Natürlich lügt er.«

»Martha.« Ich öffne meinen Mund.

Martha ist schneller. »Ich muss weitermachen. Der Kaninchenstall ist voller Scheiße.«

Sie legt auf. Ich lege das Handy auf die Ablagefläche. Die Lasagne beginnt nach Zimt zu duften. Ich gehe ins Badezimmer und fische den Kamillenteebeutel aus dem Wasser. Die Wanne ist halbvoll. Ich lasse kaltes Wasser nach. Schnell ziehe ich mir die Bluse über den Kopf und schlüpfe aus meiner Hose. Dann aus meiner Unterhose. Dann aus meinem BH. Ich fasse mir kurz an die Schulter und zucke zusammen. Dann drehe ich den Wasserhahn ab und lasse mich in die Wanne gleiten. Das heiße und kalte Wasser schwappen über meinen Körper; zwei Strömungen, die zueinander finden.

Ich parke genau vor Christians Wohnung. Ein einziger Platz ist noch frei. Es hat aufgehört zu schneien. Ich steige aus, schließe den Wagen ab und gehe zwei Schritte bis zur Tür. Ich schwitze, der Mantel ist zu warm. Ich drücke die Klingel und höre Christians Stimme. Dahinter dröhnt Musik.

»Tina.«

»Hast du mich gesehen?«

»Wir waren auf dem Balkon.«

»Mach auf.«

Die Tür surrt und ich trete ins Wohnhaus. Ich suche nach dem Lichtschalter. Im Auto habe ich versucht, mich daran zu erinnern, wo er ist. Ich taste an der Wand herum, bis ich ihn finde. Es wird hell. Ich knöpfe den Mantel auf, die Hitze strömt aus meinem Körper. Ich rufe den Lift und fahre in den vierten Stock. Christian öffnet die Tür, es riecht nach Curry.

»Tina.«

»Ist Martha schon da?«

Christian deutet mit seinem Glas in Richtung Küche. Ich nicke und klopfe ihm auf den Oberarm.

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Ich bringe dich zu ihr.« Er nimmt mich an der Hand. »Du hast kalte Hände. Und schwitzig.«

Ich sage nichts. Christian geht mit mir in die Küche. Martha dreht sich zu mir um. Sie gießt Orangensaft in ein Glas und gibt es mir. Ich sehe sie an. »Die Lasagne war sehr gut. Auch aufgewärmt.« Sie nickt. Ich hole Luft. »Du riechst nach Kaninchenstall.«

Martha sieht mich ausdruckslos an und schlägt mir das Glas aus der Hand. Ein paar Leute im Hintergrund lachen. Einer schreit. Sie geht ins Wohnzimmer. Ich drehe mich um und fülle mir ein neues Glas Orangensaft ein. Christian steigt über die Glasscherben.

»Kein Wodka?«

»Ich trinke nicht mehr.«

Ich nehme einen Schluck. Christian wirft ein Tuch auf den Boden über den Saft und die Scherben und wischt lustlos mit seinem Fuß auf.

»Du riechst auch komisch.«

»Ich rieche nach Kamille.«

»Kaninchen fressen Kamille.«

»Martha passt zu mir.« Ich schütte den restlichen Orangensaft in die Spüle. »Ich fahre heim.«

»Nein.«

»Dann bleibe ich nur kurz.«

Christian schiebt das Tuch mit den Scherben nahe an den Geschirrspüler. »Hier nicht reinsteigen.«

Die anderen im Raum nicken. Jemand schüttet Curry in einen dampfenden Topf und rührt um. Ein anderer steckt seine Nase hinein. Als er sein Gesicht hebt, sind die Brillengläser angelaufen. Christian spricht ganz normal weiter.

»Wie alt bist du jetzt?«

»Achtunddreißig. Habe ich doch eh in die Einladung geschrieben.«

»Ich weiß. Es ist besser, wenn man es selbst ausspricht.«

»Achtunddreißig.«

Ich nicke. Christian schenkt mir ein Glas Punsch ein.

»Ich trinke nicht.«

Er nimmt mir das Glas weg und reicht es dem Typen mit den Brillengläsern. Er streckt den Daumen hoch. Christian verschränkt die Arme und sieht mich an.

»Wann sperrst du zu?«

»Was?«

»Wann sperrst du die Praxis zu?«

Ich überlege. »Ich sperre die Praxis nicht zu.«

»Du hast gesagt, du sperrst die Praxis zu.«

»Wann?«

»Als ich dich vor zwei Wochen abgeholt habe.«

Ich schaue ihn an. »Ich sperre die Praxis nicht zu.«

Christian nimmt mich am Arm und dirigiert mich zum Balkon.

»Ich brauche meine Jacke.«

»Du brauchst eine Zigarette.«

Martha ist in die Küche zurückgekommen. Ich werfe ihr einen Blick über die Schulter zu. Sie wendet sich ab, bückt sich nach dem Tuch auf dem Boden und beginnt damit aufzuwischen. Sie versucht die Scherben aufzusammeln. Kalter Wind schlägt mir entgegen. Christian verscheucht alle anderen vom Balkon. Sie nehmen ihre Zigaretten mit nach drinnen. Christian schließt die Tür hinter uns. Ich reibe meine Arme.

»Wir könnten auch drinnen rauchen.«

»Drinnen ist rauchen verboten.«

Er fischt zwei Zigaretten aus seiner Packung und steckt mir eine in den Mund. Er gibt Feuer. Die Dächer sind weiß und glitzern. Irgendwo heult eine Sirene.

»Markus wird mich verlassen.«

Ich nicke. »Ich weiß.«

»Ich weiß es auch.«

Er zieht an seiner Zigarette an und beginnt zu weinen. Ich werfe einen Blick durch die Glastür. Martha ist nicht mehr in der Küche. Der Brillentyp füttert einen anderen mit dem Curryeintopf. Ich seufze.

»Du könntest bei Martha in der Tierhandlung vorbeischauen. Du könntest dir ein Haustier zulegen.«

Christian wischt sich über das Gesicht. »Mir ist Rauch in die Augen gestiegen.«

Ich nicke. Es ist kalt. »Es ist kalt. Können wir nicht wieder hineingehen?«

Christian schüttelt den Kopf. Er nimmt zwei weitere Zigaretten aus der Packung und zündet sie an. Er reicht sie mir. Die erste steckt immer noch halb fertiggeraucht in meinem Mund.

»Markus sagt seit Ewigkeiten, dass er wegziehen will. Nach Schweden oder Irland. Irgend so etwas. Ich habe nicht gewusst, dass er es ernst meint.«

»Ich schon.«

»Jetzt ist es zu spät.«

Ich warte. Er wischt sich noch einmal über das Gesicht.

»Achtunddreißig.«

»Ausgezeichnet.«

»Du solltest die Praxis zusperren.«

»Warum?«

»Weil du gesagt hast, dass du die Praxis zusperren wirst, als ich dich vor zwei Wochen abgeholt habe.«

»Ich glaube nicht.«

Christian wirft beide Zigaretten vom Balkon. Dann greift er nach meinen und lässt sie ebenfalls in die Tiefe fallen. Er sieht mich an. »Martha weiß nicht Bescheid.«

Ich sage nichts.

»Das ist ein Problem.«

Ich stoße die Balkontür auf und trete in die Küche. Martha ist nicht da. Das Tuch und die Scherben sind weg. Es stinkt nach angebranntem Curry und Punsch, der Brillentyp winkt mir zu. Ich taumle. In meinem Kopf steigt der Druck an. Ich gehe schnell in den Vorraum und wühle meinen Mantel aus dem Haufen auf der Schuhkommode hervor. Martha lehnt im Türrahmen zum Wohnzimmer. Sie beobachtet mich. Ich schlüpfe in meine Stiefel und fische die Autoschlüssel aus der Manteltasche.

»Fahr vorsichtig.«

Ich werfe die Tür hinter mir zu.

2

»Ich mag Sie.«

»Ich mag Sie nicht.«

Ich warte seine Reaktion ab. Er legt seine Hände in den Schoß und starrt die Teekanne an.

»Wie fühlt sich das an?«

Er zuckt mit den Schultern. »Normal.«

»Was fühlt sich normal an?«

Er überlegt und schaut mich dabei an. Sein Gesicht zuckt. »Weihnachten?«

»Warum?«

»Weil jedes Jahr Weihnachten ist. Das ist ganz normal.«

»Sehr normal.«

»Sehr.«

Ich nehme einen Schluck von meiner Tasse und verbrenne mir die Zunge. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Simon zupft an seiner grauen Hose. Sein Kopf wird rot. »Sex ist auch normal.«

»Ist er?«

»Ist er nicht?«

Ich denke nach. »Ich glaube nicht. Ich glaube, Sex ist nicht normal. Wann hatten Sie das letzte Mal Sex?«

Simons Kopf läuft noch roter an. »Vor vierzehn Jahren.«

»Wie bitte?«

»Vor zwölf Jahren.« Er zupft an seinem Hemd. Sein Blick bleibt auf seinen Schoß gerichtet.

Ich schlage ein Bein über das andere. »Finden Sie das normal?«

Er zuckt mit den Schultern. »Nein.«

»Gut. Was ist sonst noch normal?« Ich wippe leicht mit dem Fuß. Fast wäre ich am Tisch angestoßen. Simon hebt den Kopf und lächelt mich vorsichtig an.

»Zur Therapie zu gehen, wenn es einem schlecht geht.«

Ich denke nach. »Das sehen viele Leute anders.«

»Aber es ist trotzdem normal.«

Simon verschränkt die Arme. Ich lehne meinen Kopf in meine aufgestützte Hand und sehe ihn lange an. Er wetzt ein bisschen auf dem Stuhl herum. Dann wird er still. Er löst seine Krawatte, zieht sie sich vom Hals und wickelt sie sorgfältig um die linke Hand.

»Warum mögen Sie mich nicht?«

»Wie kommen Sie darauf, dass ich Sie nicht mag?«

»Sie haben gesagt, Sie mögen mich nicht.«

»Das waren andere Umstände.«

»Welche Umstände?«

Ich nehme einen Schluck von meinem Tee. »Wir haben ein Spiel gespielt.«

Simon hebt seine Augenbrauen. »Das wusste ich nicht.«

»Jetzt wissen Sie’s.«

Er nickt. Er stopft die Krawatte umständlich in seine Hosentasche. »Ich hasse Krawatten.«

»Wieso hassen Sie Krawatten?«

»Sie sind so normal. Ich hasse normal.«

Ich nicke.

»Heute hasse ich normal.« Er sagt es sehr laut und triumphierend. Ich zucke zusammen. Simon sieht es. »Entschuldigen Sie.«

»Simon, wieso würden Sie überhaupt denken, dass ich Sie nicht mag? Wieso haben Sie mir geglaubt?«

Simon fährt unter seine Brille und wischt sich den Schweiß von den Tränensäcken. »Was meinen Sie?«

»Sie wissen, was ich meine.«

Er sieht verlegen aus. »Ist das jetzt auch ein Spiel?«

»Nein. Keine Spiele mehr.«

»Ich glaube, Sie sind eine nette Person.«

»Nette Personen sagen, dass sie jemanden nicht mögen?«

»Nette Personen lügen nicht.«

Simon lacht. Ich lache nicht. Er verstummt. Mein Handy vibriert. Ich habe vergessen, es abzuschalten. Es liegt neben dem Buddha. Eine Nachricht blinkt auf. Kann morgen nicht kommen. Auf Wiedersehen. Adriana.

Simon reckt den Hals. »Müssen Sie jemanden anrufen?«

Ich drehe das Handy um und schalte den Vibrationsalarm ab. »Nein, ich habe es schon gelesen.«

»Wer hat Ihnen geschrieben?«

»Eine Klientin. Sie hat abgesagt.«

Simons Augen weiten sich. »Ein Spiel.«

Ich nicke. Wir betrachten einander.

»Sie müssen die Firma verlassen, Simon.«

Er nickt. Dann sieht er mich fragend an. »Wäre das nicht auch ganz normal?«

»Nein, das wäre der Grund, warum Sie zu mir in die Therapie gekommen sind. Sie haben gesagt: Ich muss diese Firma verlassen.«

Simon kaut an seiner Unterlippe. »Das habe ich gesagt.«