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Seit einem Sturz ist der britische Schriftsteller Hanif Kureishi vom Hals abwärts gelähmt. In diesem außergewöhnlichen Tagebuch erzählt er von seinem neuen Leben. »Kraftvoll, erschütternd, absolut fesselnd. Es wird Ihre Sicht auf das Leben und die Liebe verändern.« Elif Shafak
»Vor ein paar Tagen ist in meinem Leben eine Bombe eingeschlagen.« So beginnt das außergewöhnliche Memoir des britischen Erfolgsautors Hanif Kureishi. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 2022 wird Kureishi nach einem Spaziergang durch die Gärten der Villa Borghese in Rom schwindlig. Als er wieder zu sich kommt, kann er seine Arme und Beine nicht mehr bewegen. Er vermag fortan nichts mehr ohne die Hilfe anderer zu tun. Und zugleich arbeitet sein Geist auf Hochtouren: Tagtäglich diktiert er seiner Familie Geschichten ins iPad. Voller Witz, Galgenhumor und zugleich berührender Leichtigkeit. Über sein neues und sein altes Leben. Über seine Kindheit als Sohn eines pakistanischen Einwanderers in London. Über den zunehmenden Fanatismus in der Welt und seine Freundschaft mit Salman Rushdie. Kluge, rebellische, berührende Botschaften, mit denen Hanif Kureishi beweist, dass er zurecht zu den originellsten, unerschrockensten und wichtigsten literarischen Stimmen seines Landes zählt. »Eine weitere beschissene Nacht. Ich kann meine Arme und Beine nicht bewegen, und es hat mich auch niemand gehört. Eine gute Gelegenheit also, um über das Leben nachzudenken.«
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Seitenzahl: 329
Veröffentlichungsjahr: 2025
»Vor ein paar Tagen ist in meinem Leben eine Bombe eingeschlagen.« So beginnt das außergewöhnliche Memoir des britischen Erfolgsautors Hanif Kureishi. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 2022 wird Kureishi nach einem Spaziergang durch die Gärten der Villa Borghese in Rom schwindlig. Als er wieder zu sich kommt, kann er seine Arme und Beine nicht mehr bewegen. Er vermag fortan nichts mehr ohne die Hilfe anderer zu tun. Und zugleich arbeitet sein Geist auf Hochtouren: Tagtäglich diktiert er seiner Familie Geschichten ins iPad. Voller Witz, Galgenhumor und zugleich berührender Leichtigkeit. Über sein neues und sein altes Leben. Über seine Kindheit als Sohn eines pakistanischen Einwanderers in London. Über den zunehmenden Fanatismus in der Welt und seine Freundschaft mit Salman Rushdie. Kluge, rebellische, berührende Botschaften, mit denen Hanif Kureishi beweist, dass er zu Recht zu den originellsten, unerschrockensten und wichtigsten literarischen Stimmen seines Landes zählt. »Eine weitere beschissene Nacht. Ich kann meine Arme und Beine nicht bewegen, und es hat mich niemand gehört. Eine gute Gelegenheit also, über das Leben nachzudenken.«
»Kraftvoll, erschütternd, absolut fesselnd. Es wird Ihre Sicht auf das Leben und die Liebe verändern.« Elif Shafak
»Eine wahrlich beeindruckende Lektüre.« Salman Rushdie
Hanif Kureishi wurde 1954 als Sohn einer Engländerin und eines Pakistani in London geboren. International bekannt wurde er 1985 mit seinem Drehbuch für Stephen Frears’ Film Mein wunderbarer Waschsalon. Für sein Romandebüt Der Buddha aus der Vorstadt erhielt er 1990 den Whitbread Prize. Hanif Kureishi ist Verfasser zahlreicher Drehbücher, Erzählbände und Romane. Dort setzt er sich mit beißender Ironie mit Themen wie Rassismus, Diskriminierung, Arbeitslosigkeit und Identitätsfindung auseinander. Von der britischen Tageszeitung The Times wurde er in die Liste der »50 besten britischen Schriftsteller seit 1945« aufgenommen.
Cornelius Reiber übersetzt Literatur aus dem Englischen, u. a. von Maggie Nelson, James Baldwin und Paul Theroux.
Hanif Kureishi
Aus dem Englischenvon Cornelius Reiber
Luchterhand
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Covergestaltung: buxdesign | Ruth Botzenhardt nach einem Entwurf von © gray318
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-33480-2V001
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Für Isabella
Dieses Buch ist aus einer Reihe von Berichten entstanden, die ich nach meinem Unfall am zweiten Weihnachtsfeiertag 2022 aus meinem Krankenhausbett in Italien und später in London diktierte. Meine Partnerin Isabella und meine Söhne schrieben meine Worte tagtäglich für mich auf. Sie wurden seitdem auf die gleiche Weise überarbeitet, erweitert und redigiert, in gemeinsamer Arbeit mit meinem Sohn Carlo, zu Hause in meinem Haus in West-London, wo ich jetzt wieder lebe.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag bin ich in Rom, als ich nach einem gemütlichen Spaziergang zur Piazza del Popolo und durch die Gärten der Villa Borghese wieder zu Hause war, gestürzt.
Ich saß an einem Tisch in Isabellas Wohnzimmer und schaute auf meinem iPad Fußball, Mo Salah hatte gerade gegen Aston Villa getroffen.
Dazu trank ich ein Bier. Plötzlich wurde mir schwindelig. Ich beugte mich vor und senkte den Kopf zwischen die Knie. Ein paar Minuten später kam ich in einer Blutlache zu mir, mein Hals war grotesk verdreht, Isabella kniete neben mir.
Was ich dann sah, lässt sich nur so beschreiben, dass ein schaufelartiges, halbrundes Objekt mit Klauen auf mich niedersank. Mit den Resten meines Verstandes erkannte ich es als eine meiner Hände, ein unheimliches Ding, über das ich keinerlei Kontrolle hatte.
Mir wurde bewusst, dass es zwischen meinem Geist und dem, was von meinem Körper übrig war, keine Verbindung mehr gab. Ich war von mir selbst abgetrennt. Ich dachte, ich würde sterben und mir blieben nur noch ein paar Atemzüge. Es schien mir ein besonders erbärmlicher und unwürdiger Tod.
Es heißt, dass beim Sterben das eigene Leben an einem vorbeizieht, bei mir war es aber nicht die Vergangenheit, an die ich in dem Moment dachte, sondern die Zukunft – alles, was mir genommen wurde, alles, was ich noch vorhatte.
Isabella und ich leben in London, waren aber über Weihnachten in ihrer Wohnung in Rom, und hier ereignete sich mein Sturz; als ich an dem großen runden Tisch voller Bücher und Papiere saß, an dem wir morgens meist zusammen arbeiten.
Sie hörte vom Badezimmer aus meinen panischen Schrei, kam zu mir geeilt und rief einen Krankenwagen. Sie rettete mir das Leben und beruhigte mich, neben mir kniend. Ich sagte, ich wolle mich über FaceTime von meinen drei Söhnen verabschieden, was sie aber für keine gute Idee hielt, da es sie nur in Angst und Schrecken versetzen würde.
Ein paar Tage lang war ich tief traumatisiert, so verändert, dass ich mich selbst nicht wiedererkannte.
Jetzt liege ich in der Gemelli-Klinik in Rom. Ich kann weder Arme noch Beine bewegen. Ich kann mich nicht an der Nase kratzen, nicht telefonieren, nicht allein essen. Wie man sich vorstellen kann, ist das demütigend und entwürdigend, ein Dasein als Last für andere. Meiner hiesigen Patientenakte zufolge führte mein Sturz zur Überstreckung des Kopfes und sofortiger Tetraplegie. Ein MRT zeigte eine schwere Stenose des Wirbelkanals mit Anzeichen einer Rückenmarksverletzung von C3 bis C5. Einfach ausgedrückt: Die Wirbel am oberen Ende der Wirbelsäule haben eine Art Schleudertrauma erlitten. Ich wurde am Hals operiert, um den Druck auf die Wirbelsäule im Bereich der Verletzung zu verringern, was leichte motorische Verbesserungen gebracht hat.
Ich habe Gefühl und geringfügige Bewegung in allen Gliedmaßen, es ist keine sogenannte »vollständige Lähmung«. Sobald es irgend möglich ist, werde ich mit Physiotherapie und der Reha beginnen.
Im Moment ist unklar, ob ich je wieder laufen oder einen Stift in der Hand halten kann. Die Worte hier diktiere ich Isabella, die sie langsam in ihr iPad tippt. Ich bin fest entschlossen, mit dem Schreiben weiterzumachen, noch nie hat es mir so viel bedeutet wie jetzt.
06.01.2023
***
Ich war kein glückliches Kind, aber auch kein unglückliches. Als ich lesen gelernt hatte, war ich frei. Ich konnte jeden Tag in Bibliotheken gehen, oft in Begleitung meiner Mutter, und erkannte, dass Bücher mir einen Ausweg aus meiner unmittelbaren Umgebung boten.
Wenig später lernte ich Rad fahren. Ich konnte allein die Straßen und Felder der ländlichen Halbvororte erkunden, die Gegend, in der ich aufwuchs. Eine Grafschaft namens Kent, die zehn Jahre vor meiner Geburt in Grund und Boden gebombt worden war.
Eltern waren damals weniger polizeimäßig. Sie gaben einem morgens einen Penny und erwarteten einen erst gegen Abend zurück. Ich fuhr den ganzen Tag mit dem Rad herum, hielt, wo ich wollte, und sprach mit jedem, der mir eine Geschichte zu erzählen hatte. So bin ich noch heute.
Das dritte Element meiner Befreiung war die Entdeckung der Bedienungsanleitung für die Schreibmaschine meines Vaters. Mein Vater war früher selbst Journalist gewesen und schrieb Romane. Sein energisches Tippen in den sexy Hemdsärmeln beeindruckte mich sehr.
Eines Tages kaufte er sich eine kleine tragbare Schreibmaschine in einem blauen Koffer, auf die er ungeheuer stolz war. Er schwenkte sie, weil sie so leicht war, in ihrem Koffer herum und verkündete plötzlich, er werde nach Vietnam gehen, um Kriegsberichterstatter zu werden wie Hemingway oder Norman Mailer.
Ich fing an, mir mit meiner Schulkrawatte die Augen zu verbinden und dann zu tippen, und stellte fest, dass ich die Buchstaben in die richtige Reihenfolge bringen konnte, ohne hinzusehen.
Es war berauschend. Damals las ich gerade Verbrechen und Strafe, stets eine heiter-erbauliche Lektüre für einen jungen Mann, und so fing ich zur Übung an, Seiten aus diesem großartigen Roman abzutippen.
In der Schule war ich ein Totalausfall, aber jetzt hatte ich endlich etwas gefunden, worin ich gut war. Ich hatte nie den Wunsch, Unterwassergeschichten, Abenteuererzählungen oder fantastische Storys über Riesen, Zwerge, Elfen oder Meerjungfrauen zu schreiben.
Über solche Dinge wusste ich kaum etwas, dafür aber viel über die Menschen in meiner Umgebung. Wahrscheinlich begann so meine Neigung zum Realismus. Eines Tages, als ich in der Schule aus dem Fenster sah, beschloss ich, mich ab jetzt Schriftsteller zu nennen.
Ich fand, dass mir der Titel stand wie ein gutsitzendes Hemd. Und ich wollte unbedingt von anderen so genannt werden, auch wenn ich noch nichts geschrieben hatte.
Schließlich hatte man mir in der Schule schon andere Namen gegeben, »Brownie« oder »Paki« oder »Shit-face« zum Beispiel, also suchte ich mir ein eigenes Wort als Bezeichnung für mich, behielt es bei und legte es nie wieder ab. Es ist noch immer mein Wort.
Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment, ich bekomme jetzt einen Einlauf.
Das letzte Mal, dass ein ärztlicher Finger in meinen Hintern eindrang, war vor ein paar Jahren. Als die Krankenpflegerin mich umdrehte, fragte sie: »Wie lange haben Sie gebraucht, um Mitternachtskinder zu schreiben?« Ich antwortete: »Wenn wirklich ich das geschrieben hätte, wäre ich dann nicht Privatpatient?«
07.01.2023
Vor meinem Unfall machte ich mir, wenn ich morgens aufwachte, als Erstes einen Kaffee und ging nach oben an meinen Schreibtisch, mit Blick auf die Straße. Mein Schreibtisch ist von diversen alten Töpfen und Kaffeetassen gesäumt, in denen Dutzende alter Füller, Bleistifte und Filzstifte stehen; daneben gibt es noch Tintenfässer in allen möglichen Farben, albernen wie nüchternen.
Ich nahm einen Stift zur Hand und machte einen Strich auf gutem dickem Papier, dann noch einen, dann schrieb ich ein Wort, einen Satz und noch einen Satz, bis ich spürte, dass etwas in mir erwachte. Die Schrift zog sich vielfarbig im Zickzack über die Seite, als hätte es in einem Klassenraum einen Unfall gegeben.
Während ich diese Striche machte, hörte ich irgendwann Figuren sprechen; wenn ich Glück hatte, fingen sie an, miteinander zu reden oder sich sogar gegenseitig zu erheitern. Dann freute ich mich und hatte das Gefühl, dass mein Leben einen Sinn hatte.
Ich bin mir sicher, dass Maler, Architekten und Gärtner ihre Werkzeuge lieben und als Erweiterungen ihres Körpers sehen. Ich hoffe, dass auch ich eines Tages wieder in der Lage sein werde, meine kostbaren und geliebten Instrumente zu benutzen.
Entschuldigen Sie mich kurz, ich bekomme eine Spritze in den Bauch mit einer Flüssigkeit namens Heparin, einem Blutverdünner.
Das Schreiben mit der Hand, wenn ich das Handgelenk über die Seite bewege, Haut auf Papier, empfinde ich dem Zeichnen ähnlicher als dem Tippen. Ich würde nicht direkt in eine Maschine schreiben wollen, mir ist das zu formell.
Nach einer Weile bringt ein Wort ein anderes hervor, und diesem folgt noch eins und mit der Zeit weitere Wörter und Sätze. Ich sitze in meinem schwungvoll gestreiften Pyjama von Paul Smith an meinem Schreibtisch und habe nach einer Stunde vielleicht etwas Verwendbares zu Papier gebracht.
Wenn ich es dann noch mal durchlese, fällt mir meist etwas ins Auge, das ich weiterentwickeln kann. Ich glaube, diese Methode nennt man heute Freies Schreiben oder Freie Assoziation.
Man beginnt mit nichts und gelangt nach einer Weile an einen neuen Ort.
Meine Hände fühlen sich weiterhin an wie fremde Objekte. Sie sind geschwollen, ich kann sie nicht öffnen und nicht schließen, und wenn sie unter der Bettdecke liegen, könnte ich nicht genau sagen, wo. Vielleicht sind sie auch in einem völlig anderen Gebäude, bei einem Drink mit Freunden.
Ich bin von der Intensivstation in ein kleines, düsteres Nebenzimmer verlegt worden. Mir gegenüber hängt ein Bild der Jungfrau Maria, und vor dem Fenster befinden sich, was ich selbst nicht sehen kann, ein Parkplatz, eine Schnellstraße und römische Pinien, die an Sonnenschirme erinnern. Ich sage zu Isabella, dass die Räume vermutlich seit Hemingways Entlassung nicht mehr renoviert worden sind.
Gestern war ich extrem deprimiert. Als ich versuchte, Isabella diese Worte zu diktieren, wurde ich ungeduldig, weil es so langsam ging. Sie ist Italienerin, und Englisch ist nur ihre Zweitsprache, daher versteht sie nicht immer, was ich sage.
Carlo Kureishi, der jüngere meiner Zwillingssöhne, ist jetzt nach Italien gekommen und hilft mir beim Diktat. Er ist Ende zwanzig und hat, wie ich, Philosophie studiert. Er mag Filme und Sport und macht gerade seine ersten Schritte als Drehbuchautor. Ich mag an ihm besonders, dass er schnell tippen kann. Normalerweise könnte ich das natürlich selbst schreiben.
Isabella und ich haben angefangen zu streiten. Sie ist den ganzen Tag bei mir im Krankenhaus und sieht müde und eingefallen aus, wie sollte es auch anders sein bei dieser schrecklichen Belastung. Als sie mich fragte: »Hättest du das Gleiche für mich getan?«, konnte ich nicht antworten. Ich weiß es nicht.
Unsere Beziehung hat eine Wendung genommen, keine, die wir hätten vorhersehen können, und wir werden eine neue Weise finden müssen, uns zu lieben. Im Augenblick habe ich keine Ahnung, wie das gehen soll.
Vor ein paar Monaten bekam ich eine Anfrage von Apple Music im Namen der Beatles: Ob ich eine Einleitung zu ihrem Buch Get Back schreiben könne, das gleichzeitig mit Peter Jacksons Serie über die Band bei Disney erscheinen sollte. Ich war lange ratlos. Was gab es über die Beatles noch zu sagen?
Doch irgendwann wurde mir klar, dass ich darüber schreiben wollte, dass diese vier Jungs, miteinander und mit ihren unzähligen Helfern etwas hervorbringen konnten, das sie allein niemals hätten hervorbringen können. Das ist ein Wunder und eine schreckliche Abhängigkeit zugleich. Meiner Erfahrung nach sind alle Künstler Kollaborateure.
Arbeitet man nicht mit einer Person zusammen, dann mit der Geschichte des Mediums; man arbeitet auch mit der eigenen Zeit zusammen, der Politik und der Kultur, die einen umgibt. Es gibt keine Individuen.
In diesem etwas trostlosen Krankenhaus in einem Vorort von Rom schreibe ich diese Worte, um vielleicht irgendwen zu erreichen, und gleichzeitig versuche ich, eine Verbindung zu Isabella herzustellen, aus einer alten Beziehung eine neue zu formen. Keine leichte Aufgabe.
Ich wünschte, das, was mir zugestoßen ist, wäre nie passiert, aber es gibt auf diesem Planeten keine Familie, die von Katastrophen oder Unglücken verschont bleibt. Und es müssen sich aus diesen unerwarteten Brüchen neue Möglichkeiten ergeben, kreativ zu sein.
Wenn Sie heute Abend bei mir wären, mein Leser, meine Leserin, würden wir uns jeder einen großen Wodka mit einem guten Fruchtsaft mixen und einander mit ein wenig Hoffnung zuprosten und umarmen.
08.01.2023
Ich habe mich heute aufgesetzt.
Nach acht Tagen Auf-dem-Rücken-Liegen habe ich mich heute aufgesetzt.
Vier Physiotherapeuten kamen dafür in mein Zimmer. Sie bewegten mich, drehten mich auf die Seite, und einen Moment lang saß ich, die Füße auf dem Boden, auf dem Bett und starrte geradeaus. Ich muss sagen, ich war stolz und erstaunt, und mir war unglaublich schwindlig.
Als ich gerade nach London gekommen war, um am Theater zu arbeiten, war ich Inspizient bei einer großartigen Inszenierung von Kafkas Die Verwandlung. Jeden Abend sah ich dem Schauspieler zu wie bei einem makabren Tanz, wenn er versuchte, sich von seinen neuen schwarzen Gliedmaßen zu befreien. Damals konnte ich nicht ahnen, dass ich Jahre später, aufrecht auf der Bettkante sitzend, meine eigene Verwandlung erleben würde.
Ich fühle mich zerknittert und schief. Ich sacke in mir zusammen. Früher habe ich meine Hemden sorgfältig ausgewählt, in Farben, von denen ich dachte, dass sie mir stehen. Ich bewegte mich leichtfüßig durch die Straßen meiner Stadt. Jetzt kann ich nicht mal mehr die eigenen Knöpfe zumachen.
Das Wort vocation, »Berufung«, kommt vom lateinischen vocatio, »Ruf, Aufforderung«. Hier in der Klinik, wo ich Tage und Nächte mit Krankenpflegern und Ärzten verbringe, hat das Wort für mich an Bedeutung gewonnen. Wie viele Künstler betrachte ich meine Arbeit nicht als Zeitvertreib oder bloßen Job, sondern als eine Form der Integration in die Welt der anderen.
Manchmal um drei oder vier Uhr morgens, wenn die Schlaflosigkeit am schlimmsten ist, kommt ein charmanter junger Mann ins Zimmer und setzt sich zu mir. Er trägt eine Brille und Maske, auf der Straße würde ich ihn wahrscheinlich nicht erkennen. Offenbar ist er nicht nur Arzt, sondern auch ausgebildeter Pianist.
Er fragt mich, ob er lieber professioneller Pianist werden oder weiter als Arzt arbeiten solle. Die Frage kann ich ihm nicht beantworten, aber da ich jetzt nichts mehr habe außer Zeit, kann ich ihm wenigstens bei der Suche nach einer Antwort helfen.
Es gibt viele gute Interpreten des klassischen Repertoires, als Künstler sollte man aber, meiner Ansicht nach, jeden Tag etwas Neues schaffen, Dinge, die man noch nie gemacht hat.
Also habe ich ihm gesagt, er solle am Morgen, wenn er übt, versuchen, einen neuen Klang zu erzeugen, einen, der von ihm selbst kommt.
Das macht einem vielleicht Angst, aber Angst ist der Motor der Kunst. Man mag Angst davor haben, der Welt etwas Persönliches zu offenbaren, aber man kann nicht wissen, wie der andere es rezipieren wird.
Soweit ich sein Gesicht überhaupt sehen konnte, schien er etwas verängstigt, und ich fragte mich, ob ich ihm irgendetwas hatte mitgeben können – nach allem, was er mir als Arzt gegeben hatte.
Ich bin in einem gemischt britisch-indischen Haus aufgewachsen und habe als Kind sehr oft Leuten zugehört, deren Sprache ich nicht verstand: Urdu oder Punjabi, vermischt mit Cockney-Englisch. Dass ich kein Italienisch verstehe, ist zwar frustrierend, aber ich versuche, einfache und direkte Fragen zu stellen wie: »Wann wussten Sie, dass Sie Krankenpfleger oder Ärztin werden wollten?«, oder: »Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie verliebt waren?«
Ich habe festgestellt, dass unter diesen schwierigen Umständen die naiven Fragen die besten sind. So habe ich eine Krankenpflegerin gefragt, wie sie ihre Berufung fand. Als sie sieben war, erzählte sie, kam eine Krankenpflegerin zu ihnen nach Hause und rettete ihrer Mutter das Leben; in dem Moment wusste sie, dass sie in einem medizinischen Beruf arbeiten musste.
Ich beschloss, Schriftsteller zu werden, als ich vierzehn oder fünfzehn war. Ich dachte nie, dass ich etwas anderes gut könnte, und manchmal frage ich mich, ob ich mir durch diese frühe Entscheidung zu viele andere Möglichkeiten verbaut habe.
Vielleicht hätte ich Friseur, Architekt oder Schatzkanzler werden können. Aber jetzt bin ich Schriftsteller, und während ich eine weitere Woche in diesem tristen Raum sitze, kann ich, wie ein Beckett’sches Plappermaul, nichts als sprechen, aber ich kann auch zuhören.
Ich kann mit den Zehen wackeln und meine Fußspitzen anziehen. Mein linker Fuß ist stärker als der rechte, der weniger Reaktion zeigt. Das linke Bein kann ich strecken und beugen, das rechte lässt sich kaum bewegen. Ich kann meinen Hintern bewegen und sogar mit ihm wackeln. Die Haut fühlt sich hüftabwärts etwas taub an, aber ich habe überall in den Beinen Empfindungsvermögen. Ich trage keine Halskrause und habe nicht den versteinert starren Blick, den manche gelähmten Menschen haben. Ich kann den Hals und die Schultern bewegen und den rechten Arm etwas heben, wobei das Handgelenk so schwach ist, dass die Hand schlaff herunterhängt. Ich kann die Finger rechts nicht bewegen und die Hand nicht öffnen oder schließen. Meine Hände sind leblos, steif und geschwollen und könnten genauso gut jemand anderem gehören. Ich kann den linken Arm bewegen, aber er ist wie leicht verrenkt und schmerzt. Seine Beweglichkeit ist sehr begrenzt. Die Finger der linken Hand sind überstreckt, und ich kann sie ein wenig bewegen. Auch mit ihnen kann ich nichts greifen. Soweit ich es beurteilen kann, ist mein Gehirn nicht beeinträchtigt, und ich kann denken wie früher.
Zwei meiner Söhne, Kier und Sachin, sind nach Rom gekommen. Kier ist Klavier- und Gitarrenlehrer; er ist dünn, hat helle Haut und blaue Augen. Sachin ist dunkler und muskulös und schreibt für eine Soap Opera im Fernsehen. Als sie mich das erste Mal in meinem Zustand sahen, waren sie schockiert, und wir mussten alle weinen, aber sie haben trotzdem versucht, positiv zu bleiben und ihren Humor nicht zu verlieren. Niemand weiß, ob oder wie weit sich mein Zustand verbessern wird, und so lässt sich nur schwer vorhersagen, wie die Zukunft für uns als Familie aussehen wird.
Ich würde niemandem zu einem Unfall wie meinem raten, muss aber feststellen, dass es für die Kreativität gut sein kann, unbeweglich, still und ohne viel Ablenkung in einem trostlosen Zimmer am Stadtrand von Rom zu liegen. Ohne Zeitungen, Musik und das alles blüht die Fantasie auf.
Mit Ende sechzig hatte ich in den vergangenen Jahren zunehmend das Gefühl, dass ich als Schriftsteller langsamer wurde, auch wenn die Ideen weiter sprudelten. Figuren, Stimmen, Situationen – jetzt kommen mir ständig Einfälle, vielleicht sogar mehr als früher. Also ist eine Pause von ein paar Tagen, fern jeder Ablenkung, vielleicht eine gute Schocktherapie für einen Schriftsteller, der bei der Umsetzung der Ideen nicht weiterkommt und feststeckt. Wobei es wahrscheinlich gar keine Schriftsteller gibt, die feststecken, sondern nur ruhende und wartende.
Mein Freund Salman Rushdie, einer der tapfersten Männer, die ich kenne, der sich tagtäglich der brutalsten Form des Islamofaschismus erwehrt, schreibt mir jeden Tag und mahnt zur Geduld. Er muss es wissen. Er macht mir Mut.
Seit ich mit dem Schreiben dieser Texte begonnen habe, sind weltweit zahlreiche Artikel über mich und meine Arbeit erschienen. Das freut mich natürlich, denn sie sind überwiegend lobend und freundlich. Es ist ein wenig so, als würde man Artikel lesen, die nach dem eigenen Tod erscheinen und in denen auf das eigene Werk zurückgeblickt und über die eigene Bedeutung als Künstler nachgedacht wird. Es ist bewegend und unheimlich zugleich.
Das einzig Gute an einer Lähmung ist, dass man sich nicht bewegen muss, um zu scheißen und zu pissen.
09.01.2023
***
Seit ich zu Gemüse geworden bin, war ich noch nie so beschäftigt wie jetzt. Gestern Abend um neun habe ich mir ein paar Minuten eines Films angesehen, was mir gefiel. Dann brach die Internetverbindung ab, und alles wurde dunkel.
Ich schlief ein, wachte um eins wieder auf und lag dann den Rest der Nacht wach. Mir kamen viele Ideen, aber da ich meine Hände nicht benutzen kann, um Notizen zu machen, muss ich mir die Ideen bis zum nächsten Tag merken, wenn ich sie, ins Telefon schreiend, Carlo diktiere.
So schreibe ich dieser Tage; ich werfe ein Netz über mehr oder weniger zufällige Gedanken, hole es ein und hoffe, dass sich aus dem Fang irgendeine Art von Muster ergibt.
Heute Morgen kamen drei wunderschöne italienische Physiotherapeutinnen ins Zimmer. Sie trugen blütenweiße Uniformen mit orangefarbenem Saum. Sie befestigten mich in einem blauen Patientengurt, hoben mich aus dem Bett und setzten mich in einen Rollstuhl. Als sie mich umdrehten, sah ich zum ersten Mal die andere Seite meines Zimmers. Durchs Fenster sah ich den italienischen Himmel, einige Bäume, eine Wolke und ein paar Vögel. Ich schöpfte Hoffnung, dass sich meine Lage bessern könnte.
Mein Herz fühlt sich an wie ein singender Vogel.
Die Physiotherapeutinnen gingen, und ein anderer kam herein. Ein freundlicher, ebenfalls schöner Mann, der auch die Spieler des AC Rom behandelt. Vor meinen hatte er gerade die Beine von Tammy Abraham untersucht.
Er rieb und streichelte meine Finger und Füße, öffnete meine Hände und drückte sie sanft. Ich begann zu spüren, dass ich einen ganzen, zusammengehörigen Körper hatte und nicht nur ein Flickwerk aus zufällig zusammengestümperten Teilen war, wie der Fantasie Mary Shelleys entsprungen.
Dennoch habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich weiß nicht, welcher Tag heute ist, nicht einmal, welcher Monat.
Ich bin zu einem großen Bewunderer der italienischen Männer geworden. Ich finde sie schön. Ihre Haut ist glatt und strahlt, ihr starkes dunkles Körperhaar beeindruckt mich. Sie sind weder Machos noch Muttersöhnchen.
Seit ich meinen eigenen Körper verloren habe, ist es für mich zu einem ästhetischen Vergnügen geworden, die Körper anderer eingehend zu betrachten, zu riechen und auf mich wirken zu lassen. Auch die der Frauen natürlich, mit ihren langen Haaren und wunderbaren Augen.
Ich habe hier bereits viele vertrauliche Gespräche mit jungen queeren und nicht-binären Angestellten geführt. Sie haben Angst um die Zukunft von Italien, das jetzt leider von einer Faschistin regiert wird.
Um sich ein Leben aufbauen zu können, werden diese tollen jungen Menschen ihr schönes Land verlassen und sich eine wohlgesinntere und menschlichere Umgebung suchen müssen. Das ist ein großer Verlust.
Italien ist eine der großen schwulen Zivilisationen in Europa. Der Vatikan ist schwul, genau wie die Modeindustrie. Die gesamte Ästhetik der Renaissance beruht auf polyamorer Sexualität.
In Großbritannien gab es vor einigen Jahren eine gefährliche, wenn nicht verhängnisvolle Debatte über den Brexit, die unser Land zerrissen hat, und etwas Ähnliches ist in Italien mit dem Amtsantritt Giorgia Melonis passiert.
Alle nazistischen und faschistischen Programme beruhen auf dem Glauben, dass die Beseitigung einiger weniger Schädlinge eine leuchtende neue Zukunft hervorbringen wird. Es ist eine schwachsinnige Überzeugung.
Mir ist es in diesem Krankenhaus gut gegangen. Alle hier haben mich respektvoll und höflich behandelt. Doch es hat etwas Tragisches, sogar Befremdliches, wie ethnisch exklusiv es ist. Ich frage mich jeden Tag, wo meine Brüder und Schwestern of colour sind.
Werden sie an einem besonderen Ort untergebracht, damit sie die anderen nicht anstecken? Es wäre schrecklich, wenn das Land mit dem besten Essen, der reichsten Kultur und den kultiviertesten Menschen sich in eine Insel verwandeln würde, isoliert vom Rest der Welt.
Isabella d’Amico möchte hier Einspruch erheben. Sie sagt, mein Wissen über ihr Land sei nicht besonders differenziert und tief und vielleicht sei ich nicht der beste Kommentator der Missstände in der italienischen Gesellschaft, wenn ich mir nicht einmal die Mühe machte, ihre Sprache zu lernen. Ich antworte ihr, dass es jedem in Italien leichter fiele, Englisch zu lernen, als mir, die italienische Sprache zu beherrschen.
Die Literatur als Kunstform ist, was ihr zur Ehre gereicht, ein schmutziger Bastard. Vom Vulgärsten und Skurrilsten bis zum Erhabensten und Poetischsten – alles kann man in ein Buch packen, formen und zu etwas Unvergesslichem machen. Ein Insekt, einen Helden, ein Gespenst oder Frankensteins Monster. Gerade solche Mischungen bringen die eindrücklichsten Grauen und Wunderdinge hervor.
Jeden Tag öffne ich beim Diktieren dieser Gedanken das, was von meinem zerstörten Körper übrig ist, um dem Chaos, in dem ich versinke, eine Form zu geben; um zu verhindern, dass ich innerlich sterbe.
10.01.2023
***
Eine weitere beschissene Nacht. Eine der schlimmsten bislang. Nachdem ich meine Medikamente genommen hatte, bin ich um acht eingeschlafen, um eins war ich hellwach. Aber nicht nur das, mein Kopf war irgendwie an der Seite des Bettes eingeklemmt. Ich kann meine Arme und Beine nicht bewegen, und es hat mich niemand gehört. Eine gute Gelegenheit also, über das Leben nachzudenken.
Aber worüber genau?
Mein Vater war Journalist und Schriftsteller. Mehrere meiner Onkel hatten in Indien als Journalisten gearbeitet und Filmzeitschriften herausgegeben, die wir »Filmies« nannten.
Als Teenager habe ich Dutzende von Schriftstellerbiografien gelesen. Von Balzac über Proust und Zola, Dickens, Colette und Henry Miller bis hin zu den autobiografischen Meisterwerken meines damaligen Helden James Baldwin. Ihr Dasein mit all dem Zechen, Ficken, Streiten und dem allgemein ausschweifenden Lebensstil schien mir etwas durchaus Erstrebenswertes. Als ich anfing zu schreiben, als verwirrter und halbkrimineller Teenager, war ich überzeugt, dass es außerhalb meines Zimmers und der Vororte Menschen – mindestens einen – geben musste, die mich verstanden.
Die ersten Schriftsteller, denen ich persönlich begegnet bin, waren Brian Patten und Roger McGough, bekannt als die Liverpool Poets. Als Vorsitzender der Studentenvereinigung am Bromley College of Technology habe ich mal ein Konzert mit den Pink Fairies als Headliner organisiert, und da trat auch Brian Patten auf, der als Autor schon einen Namen hatte und bei Penguin veröffentlicht wurde. Ich gab ihm einen braunen Umschlag mit neunzig Pfund, er trug ein Gedicht vor und zog direkt wieder ab, zack mit dem Bus nach Hause.
Als ich achtzehn war, stieg ich eines Abends am Bahnhof Bromley South in einen Zug zur Victoria Station, ging von dort zum Sloane Square und hoch in die Bar des Royal Court Theatre und weiter in den Zuschauerraum. Auf der Bühne stand ein großer dünner Mann, der vehement mit dem Finger auf eine Schauspielerin deutete. Es war Samuel Beckett, Mitte der 1970er-Jahre, der sein Stück Footfalls mit Billie Whitelaw inszenierte.
Ich fing an dem Abend dort als Platzanweiser an und sah viele Schriftsteller zum ersten Mal in echt und aus nächster Nähe. Ich stand nur wenige Meter entfernt von dem großen David Storey, von Edward Bond und der großartigen Caryl Churchill, die im Haus rumschwirrte und jungen Leuten Mut machte.
Für mich waren das faszinierende Figuren, weil sie imstande waren, Sprache zum Singen zu bringen und Schauspieler zu ihren Instrumenten zu machen. Ich konnte jetzt in der Nähe von Menschen sein, die die Kunst ernst nahmen und sich ihr mit Haut und Haar verschrieben.
Sie waren exzentrisch, verrückt und ernsthaft, leidenschaftlich in dem, was sie taten, und sie stritten erbittert.
Jeden Abend saß ich in der Bar neben dem Royal Court, las meine Zeitung, und beobachtete Samuel Beckett, der gern mal einen trank. Ich freundete mich mit seinem genialen Beleuchter Duncan Scott an, wodurch ich auch Beckett näherkam. Anders als allgemein angenommen war er überhaupt kein alter Griesgram. Wenn eine junge Frau mit einem Stapel seiner Bücher zu ihm kam, wirkte Sam richtig munter und signierte sie gern.
Von den jungen Schriftstellern war der charmanteste Christopher Hampton, der ein Stück über die Beziehung zwischen Rimbaud und Paul Verlaine geschrieben hatte, Total Eclipse, das im Royal Court aufgeführt wurde, als er gerade mal zweiundzwanzig war. Christopher war so nett, mich seiner Agentin Peggy Ramsay vorzustellen, die mich in ihr Büro im West End einlud.
Sie war rigoros und einschüchternd, und ich hatte wirklich eine Heidenangst vor ihr. Sie saß auf der Couch, wippte mit dem übergeschlagenen Bein und sagte: »In jungen Jahren war ich einem Nachmittagsfick nicht abgeneigt.«
Ich gab ihr eine Adaption von Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, die ich geschrieben hatte. Irgendwie schaffte sie es binnen Kürzestem, Erdbeermarmelade auf das Papier zu schmieren, sodass die Seiten zusammenklebten. Leicht verächtlich gab sie mir das Manuskript zurück mit der Bemerkung, dass es etwas kurz wirke.
Viele Jahre später, als sie dement war, brannte ihr Büro ab. Sie erzählte dem Schauspieler Simon Callow, dass es sich um einen Racheakt von mir handle und ich für den Brand verantwortlich sei.
Ich erzähle das aber nicht etwa, weil mein Kopf weiterhin zwischen Wand und Bett feststeckt und wir uns irgendwie die Zeit mit Anekdoten vertreiben müssen, sondern weil Sie wissen sollen, dass Schriftsteller lebende, atmende Geschöpfe waren und dafür bezahlt wurden, ihre Fantasie zu gebrauchen.
Das zweite wichtige Ereignis in meinen Anfangstagen als Schriftsteller war ein Abend des Jahres 1982. Ich arbeitete damals in der Buchhandlung des Kunstzentrums Riverside Studios in Hammersmith. Eines Abends war dort Italo Calvino zu einer Lesung zu Gast, vorgestellt und eingeführt von Salman Rushdie, dem ich da zum ersten Mal begegnete. Nach der Veranstaltung gab es ein Abendessen bei Gaia Servadio in Chelsea (ihre schöne Tochter, Allegra Mostyn-Owen, heiratete später Boris Johnson).
Salman Rushdie schenkte mir zum Abschied ein Exemplar von Mitternachtskinder. Als ich nach dem Essen in meine winzige Wohnung in der Barons Court Road 48 zurückgekehrt war, legte ich mich auf meine Matratze auf dem Boden und las das Buch in einem Zug durch. Als ich fertig war, machte ich einen Spaziergang am Fluss entlang nach Hammersmith, hoch zur Chiswick Bridge und wieder nach Hause, wo ich bei einer Flasche Wein das gesamte Buch gleich noch einmal las.
Rushdie lud mich zu einem Abendessen mit Angela Carter zu sich nach Hause ein. Er war ein Wirbelwind an Informationen, Witz und Erzählungen und verfügte über enormes Wissen über alles Mögliche von Star Trek bis zu den klassischen Sagen.
Als ich dieses Phänomen beobachtete, wurde mir klar, dass ich als Mensch und als Schriftsteller neu anfangen musste. Ich musste ein komischer Autor werden, einer, der die wildesten und die interessantesten Elemente auf ein und derselben Seite unterbringen konnte. Etwa zu dieser Zeit fing ich an, mich selbst ernst zu nehmen und mehr zu arbeiten.
Die Krankenschwester ist da. Sie hat es geschafft, meinen Kopf aus der Steißlage zu befreien und mich wieder ordentlich hinzulegen. Es gibt den wunderschönen ersten Satz einer Erzählung in Raymond Carvers Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden: »Ein Mann ohne Hände kam an die Tür und wollte mir ein Foto von meinem Haus verkaufen. Er war um die fünfzig und sah bis auf die Chromhaken ganz normal aus.«
An dieses Bild musste ich heute Nacht denken, da ich der Mann ohne Hände bin.
11.01.2023
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Endlich mal eine nicht ganz so schlimme Nacht. Ich bin um neun eingeschlafen und habe, bis auf ein paar kleinere Unterbrechungen, bis fünf durchgeschlafen. Am Abend hatte ich um mehr Schlafmittel gebeten, bekam aber mitgeteilt, dass nichts mehr da sei – vielleicht hatte ich die Vorräte des gesamten Krankenhauses aufgebraucht. Trotzdem war die Nacht besser.
Nachdem ich dieses Zimmer seit neun Tagen nicht verlassen habe, scheine ich mich langsam an meinen Zustand zu gewöhnen – traurigerweise.
Morgens um halb sieben kamen die Krankenpflegerinnen und -pfleger mit klappernden Eimern und laut miteinander redend, um mich zu waschen und zu wickeln. Sie heben einen auf eine Decke, rollen einen darauf herum und schrubben den Körper. Sie waschen einem die Genitalien und den Hintern und singen dabei nicht selten heitere italienische Lieder.
Einer der Krankenpfleger ist ein großer Fan von Bruce Springsteen und singt während der Verrichtungen gern Dancing in the Dark. Mir ist das alles recht, ich freue mich über die Gesellschaft.
Danach kommt das Frühstück, eine Schale mit trübem, kaltem Tee, in den ein gezuckerter Keks geworfen wird. Den löffeln sie mir dann in den Mund.
Nach dem Frühstück kommen meine Physiotherapeuten, vier an der Zahl. Heute wollten sie mich aufrichten. Sie haben mich dafür in einen blauen Patientengurt geschnallt und mich mit den Füßen auf den Boden gestellt. Da ich mich so lange nicht mehr in einer aufrechten Position befunden hatte, war es schrecklich.
Alles in meiner Umgebung schien sich im falschen Winkel zu befinden, an der falschen Stelle, und die Farben wirbelten mir, losgelöst von den Objekten, vor den Augen herum wie Halluzinationen.
Ich bekam keine Luft und dachte, ich müsste mich übergeben. Sie legten mich wieder hin und sagten, es würde noch eine Weile dauern, bis ich mich ans Stehen gewöhnt hätte.
Das nächste Abenteuer des Tages bestand darin, dass sie mich auf eine fahrbare Liege legten und meilenweit durchs Krankenhaus schoben, um verschiedene Tests zu machen. Mittlerweile weiß ich anhand der vorüberziehenden Deckenplatten, wo wir uns gerade befinden.
Vor zwei Wochen ist in meinem Leben eine Bombe eingeschlagen, die auch das Leben der Menschen um mich herum erschüttert hat. Das meiner Partnerin, das meiner Kinder, das meiner Freunde. Meine Beziehungen zu ihnen müssen von Grund auf neu verhandelt werden. Das macht alle etwas irr, alles verändert sich. Es entstehen Schuldgefühle und Wut, die Leute ärgern sich darüber, dass sie so voneinander abhängig sind und nicht alles selbst machen können. Mein Unfall war eine körperliche Tragödie für mich, aber die emotionalen Folgen werden für uns alle gravierend sein. Zugleich bin ich stolz darauf, auf Menschen angewiesen zu sein, die mich lieben, und bis jetzt scheinen sie mir auch helfen zu wollen. Ich habe viele sehr liebe Angebote von Freunden und Fremden erhalten, die mir teure und nützliche Dinge schenken wollen, damit ich weiter schreiben kann. Ich muss wohl kaum erwähnen, wie tief gerührt und dankbar ich bin.
Mir macht es, das sollte ich hinzufügen, wirklich Freude, diese Berichte aus meinem Bett zu verfassen. Wenigstens habe ich nicht das eingebüßt, was mir im Leben das Wertvollste war: die Fähigkeit, mich sprachlich auszudrücken.
Seit ich hier bin, habe ich mich kaum bewegt. Carlo hat jetzt angefangen, meine Gliedmaßen ein wenig zu dehnen, er hat meine Arme über den Kopf gehoben und etwas Druck auf sie ausgeübt und meine Beine bis zur Brust angewinkelt. Es war das erste Mal seit dem Unfall, dass ich das Gefühl hatte, mich in meinem Körper zu befinden.
Gestern Abend kam es hier in meinem kleinen Zimmer zu Spannungen; Isabella war müde, vielleicht erschöpft, und wir hatten unschöne Konflikte. Seinen Höhepunkt erreichte der Streit, als es um das Putzen meiner Zähne ging.
Isabella ist, wie man vielleicht schon ahnt, keine erfahrene Zahnärztin. Sie versuchte, mit einer Zahnbürste, etwas Zahnseide und einem Zahnstocher meinen Mund zu reinigen, während ich zu diktieren versuchte. Ich kam mir vor wie ein hilfloses Baby und zugleich wie ein furchtbarer Tyrann; in einer Situation wie meiner muss man die eigene Verletzlichkeit und Frustration aushalten können.
12.01.2023
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Gestern Abend machte mir Isabella, bevor sie ging, einen Film auf dem iPad an. Ich war entspannt und freute mich an dem Film, als die Reinigungskraft reinkam, Sachen herumräumte und das iPad so umstieß, dass es mit dem Bildschirm nach oben platt dalag. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte sie das Licht ausgemacht und die Tür hinter sich geschlossen.
Ich lag in fast in völliger Dunkelheit, konnte den Ton aber noch hören und versuchte, den Film durch die flackernden Bilder an der Zimmerdecke wie ein Schattenspiel zu verfolgen.
Irgendwann schlief ich ein und träumte, dass meine Hände mit einer silbernen Schnur gefesselt waren.
Aus unklaren Gründen kamen im Traum auch Erinnerungen an die Filmfestspiele von Cannes 2009 hoch, bei denen ich der Jury angehörte; den Vorsitz hatte in dem Jahr Isabelle Huppert.
Wir aus der Jury, zu der auch Asia Argento und Robin Wright gehörten, schlichen uns immer frühmorgens ins Kino, um den roten Teppich bei den Vorführungen am Abend zu meiden. Es hatte auch den Vorteil, dass wir den Saal früher verlassen konnten, wenn uns ein Film nicht gefiel, was recht häufig der Fall war.
Ein Film blieb mir aber besonders im Gedächtnis, Antichrist von Lars von Trier, und dessen Bilder verfolgten mich letzte Nacht im Traum. Der beste Beitrag in jenem Jahr war übrigens Ein Prophet von Jacques Audiard; der hätte eigentlich die Goldene Palme verdient gehabt.
Ich bin aufgewacht und musste weinen. Wenn man im Liegen weint, muss man sich die Tränen aus den Augen wischen, was ich aber nicht kann. Meine Augen füllten sich also mit bitterem, salzigem Wasser, und ich geriet in Panik, weil ich dachte, dass ich jetzt auch noch mein Augenlicht verliere. Irgendwann kam eine freundliche Krankenschwester ins Zimmer, verabreichte mir eine ordentliche Dosis Lorazepam, strich mir über die Wange und sagte: »Es ist doch nicht so schlimm, wenigstens liegen Sie nicht im Koma.«
Am Morgen verspürte ich Hunger, noch verstärkt durch den leckeren Frühstücksduft, der vom Flur her ins Zimmer wehte. Ich freute mich, als ich hier zum ersten Mal warmes italienisches Gebäck, Käse und frisch gepressten Orangensaft vor mir stehen sah.
Die Krankenpflegerinnen müssen mich füttern. Die heute Morgen sprach kein Englisch und wusste offenbar nicht über meine besonderen Bedürfnisse Bescheid. Das Essen stand eine Stunde lang verlockend vor mir auf dem Tisch, bis die Krankenpflegerin wieder hereinkam, mit den Schultern zuckte, das Tablett nahm, »Hat nicht geschmeckt?« fragte und mit meinem Frühstück den Raum verließ.
Später kam einer der Physiotherapeuten. Ein sehr ernster Mann mit dunklen Augen, der mir versprach, dass ich irgendwann mit meiner rechten Hand wieder einen Stift halten würde. Es fällt mir schwer, das zu glauben; im Moment sehen meine Finger aus wie Würste, die an den Stumpf über meinem Handgelenk angenäht sind.
Morgen werde ich das Krankenhaus verlassen. Es ist mein letzter Tag in diesem kleinen Zimmer, meinem zeitweiligen Gefängnis. Ich werde in eine deutlich größere Einrichtung mit sechs Etagen und einer offenbar hochspezialisierten physiotherapeutischen Abteilung verlegt. Es fühlt sich an, als verwandle sich mein Körper in ein Marshmallow, als zerginge ich langsam. Ich werde dort auch auf andere Menschen treffen, deren Körper auf die eine oder andere Weise zerstört ist.
Mir ist etwas Seltsames widerfahren: Ich bin mit Isabella über Weihnachten für ein paar Tage nach Rom gereist, und jetzt werde ich nie mehr nach Hause zurückkehren. Ich habe kein Zuhause mehr, keinen Mittelpunkt. Ich bin mir selbst ein Fremder. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Jemand Neues ist im Entstehen.
