Der Buddha aus der Vorstadt - Hanif Kureishi - E-Book

Der Buddha aus der Vorstadt E-Book

Hanif Kureishi

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Beschreibung

Das Kultbuch des britischen Erfolgsautors Hanif Kureishi – erstmals bei btb im Taschenbuch. Ausgezeichnet mit dem Whitbread Book Award. »Kureishis brillanter Debütroman ist sein Meisterwerk. Solch einen frechen, libidinösen, jungen britisch-pakistanischen Protagonisten hat es in der zeitgenössischen britischen Belletristik noch nicht gegeben.« The Guardian

»Ich wusste, was ich wollte. Ich war zwanzig Jahre alt. Ich war zu allem bereit.« Karim ist der Sohn einer Engländerin und eines indischen Emigranten, was seinen Alltag in den spießigen Suburbs von London nicht wirklich einfacher macht. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse. Kurz nachdem sein Vater sich selbst zum Vorstadt-Buddha berufen hat, wird Karim ein Platz in einer Schauspieltruppe angeboten - und plötzlich nimmt sein Leben im London der späten Siebziger ungeahnte Wendungen ...

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Seitenzahl: 623

Veröffentlichungsjahr: 2025

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»Ich wusste, was ich wollte. Ich war zwanzig Jahre alt. Ich war zu allem bereit.«

Karim ist der Sohn einer Engländerin und eines indischen Emigranten, was seinen Alltag in den spießigen Suburbs von London nicht wirklich einfacher macht. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse. Kurz nachdem sein Vater sich selbst zum Vorstadt-Buddha berufen hat, wird Karim ein Platz in einer Schauspieltruppe angeboten – und plötzlich nimmt sein Leben im London der späten Siebziger ungeahnte Wendungen …

Hanif Kureishi wurde 1954 als Sohn einer Engländerin und eines Pakistani in London geboren. International bekannt wurde er 1985 mit seinem Drehbuch für Stephen Frears’ Film »Mein wunderbarer Waschsalon«. Für sein Romandebüt »Der Buddha aus der Vorstadt« erhielt er den Whitbread Prize. Hanif Kureishi ist Verfasser zahlreicher Drehbücher, Erzählbände und Romane. Dort setzt er sich mit beißender Ironie mit Themen wie Rassismus, Diskriminierung, Arbeitslosigkeit und Identitätsfindung auseinander. Von der britischen Tageszeitung »The Times« wurde er in die Liste der »50 besten britischen Schriftsteller seit 1945« aufgenommen.

Hanif Kureishi

Der Buddha aus der Vorstadt

Roman

Deutsch von Bernhard Robben

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Buddha of Suburbia«.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Genehmigte Taschenbuchausgabe Oktober 2025

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 1989 Hanif Kureishi

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025

btb Verlag, München.

Zuerst erschienen im Kindler Verlag GmbH, München.

Covergestaltung: buxdesign | Ruth Botzenhardt

unter Verwendung eines Motivs von © Doreen Fletcher,

Whitsunday, Commercial Road (Detail), 1981, Öl/Lwd.

© VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

KLÜ · Herstellung: han

ISBN 978-3-641-33481-9V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Teil eins In den Vororten

Kapitel eins

Ich heiße Karim Amir und bin ein waschechter Engländer – jedenfalls beinahe. Man hält mich oft für eine komische Sorte Engländer, als gehörte ich zu einer neuen Rasse, die aus zwei alten Kulturen hervorgegangen ist. Aber mir ist das egal: Ich bin Engländer (wenn auch nicht unbedingt stolz darauf), ich komme aus den südlichen Randbezirken Londons und gehe wer weiß wohin. Vielleicht ist es diese verrückte Mischung aus Völkern und Kontinenten, aus Hier und Da, aus dazugehören und nicht dazugehören, die mich so unruhig macht, die schuld daran ist, dass ich mich so schnell langweile. Vielleicht liegt es auch an der Vorstadt, der Suburbia, in der ich aufgewachsen bin. Aber warum im Innenleben herumsuchen, wenn die Erklärung doch völlig ausreicht, dass ich auf Ärger aus war, dass ich keinem Abenteuer, keiner Aufregung oder Affäre aus dem Weg ging, weil es in unserer Familie so trübselig, schlaff und stumpfsinnig zuging; woran das lag, weiß ich nicht. Ganz ehrlich, mich zog einfach alles runter, und ich war zu allem bereit.

Eines Tages änderte sich dann alles. Am Morgen sah die Welt noch so aus und zur Schlafenszeit schon anders. Ich war siebzehn.

An diesem Tag hastete mein Vater einmal nicht niedergeschlagen zur Tür herein. Er war glänzender Laune, zumindest für seine Verhältnisse. Als er seine Aktentasche hinter die Eingangstür stellte, den Regenmantel auszog und über das Treppengeländer warf, stiegen mir aus seiner Kleidung die Gerüche des Vorortzugs in die Nase. Er packte meinen jüngeren Bruder Allie, der sich gerade aus dem Staub machen wollte, und küsste ihn ab; und er küsste meine Mutter und mich mit einer Leidenschaft, als wären wir nur knapp einem Erdbeben entronnen. Schon etwas ruhiger, drückte er Mum sein Abendbrot in die Hand: eine Portion Kebab und Chapatis, die so fett waren, dass sich das Einwickelpapier bereits auflöste. Statt sich in den Sessel fallen zu lassen, um die Nachrichten anzusehen und darauf zu warten, dass Mum ihm das aufgewärmte Essen auf den Tisch stellen würde, ging er erst mal ins Schlafzimmer, das parterre neben dem Wohnzimmer lag, und zog sich bis auf Unterhemd und Unterhose aus.

»Hol mir das rosa Handtuch!«, sagte er zu mir.

Ich holte es ihm. Dad legte es auf den Boden des Schlafzimmers und fiel auf die Knie. Etwas erstaunt fragte ich mich, ob er plötzlich fromm geworden war. Keine Spur. Er stützte die Arme neben dem Kopf auf und stemmte die Beine in die Luft.

»Ich muss üben«, sagte er mit erstickter Stimme.

»Was musst du üben?«, fragte ich natürlich und sah ihm neugierig und ein wenig misstrauisch zu.

»Sie haben mich für diese Scheiß-Yoga-Olympiade nominiert.« Mein Dad wurde ziemlich schnell sarkastisch.

Er stand jetzt in perfekter Haltung auf dem Kopf. Sein Bauch sackte nach unten, Eier und Schwanz fielen ihm aus der Unterhose. Seine beachtlichen Armmuskeln schwollen an, und er atmete energisch. Wie viele Inder war Dad klein, aber er war elegant und sah gut aus, hatte feine Hände und ebensolche Manieren; neben ihm wirkten die meisten Engländer wie tollpatschige Giraffen. Außerdem war er breitschultrig und kräftig; in seiner Jugend hatte er geboxt und fanatisch mit dem Expander trainiert. Auf seinen Brustumfang war er so stolz wie unsere Nachbarn auf ihre Einbauküche. Beim ersten Lächeln der Sonne zog er sein Hemd aus, um mit Liegestuhl und dem »New Statesman« unterm Arm in den Garten zu marschieren. Er erzählte mir, dass er seine Brust in Indien regelmäßig rasiert hatte, damit die Haare darauf in künftigen Jahren umso üppiger sprossen. Ich dachte mir, dass seine Brust wohl das einzige Gebiet war, auf dem er sich jemals vorausschauend verhalten hatte.

Meine Mutter, die wie immer in der Küche stand, kam kurz nach uns ins Zimmer und sah Dad bei seinem Training für die Yoga-Olympiade zu. Er hatte seit Monaten nichts mehr dafür getan, also wusste sie, dass etwas Besonderes anlag. Sie trug eine geblümte Schürze und trocknete sich umständlich die Hände an einem Geschirrtuch ab, einem Souvenir aus Woburn Abbey. Mum war eine pummelige und unsportliche Frau mit blassem, rundem Gesicht und freundlichen braunen Augen. Ich stellte mir vor, dass sie ihren Körper für etwas Lästiges hielt, für etwas, das sie umschloss, als wäre sie auf einer unerforschten, einsamen Insel gestrandet. Meistens war sie ängstlich und nachgiebig, aber wenn sie wütend wurde, konnte sie auf ihre nervöse Art ziemlich aggressiv werden, so wie jetzt.

»Allie, geh ins Bett!«, herrschte sie meinen Bruder an, als der seinen Kopf durch die Tür steckte. Er trug ein Haarnetz, damit seine Frisur im Bett nicht durcheinandergeriet. Zu Dad sagte sie: »Himmel, Haroon, bei dir hängt ja vorne alles raus, und Gott und die Welt können es sehen!« Sie drehte sich zu mir um. »Und du unterstützt ihn auch noch. Zieh wenigstens die Vorhänge zu!«

»Brauchen wir nicht, Mum. Auf hundert Yards steht hier kein Haus, von dem aus man uns sehen könnte – es sei denn, man beobachtet uns mit einem Fernglas.«

»Und genau das tun sie«, sagte sie.

Ich schloss die Vorhänge vor dem Fenster zum Garten. Das Zimmer schien im gleichen Augenblick zu schrumpfen. Die Spannung stieg. Ich konnte es kaum noch abwarten, aus dem Haus zu verschwinden. Ich wollte immer woanders sein, ich weiß nicht, warum.

Als Dad sprach, klang seine Stimme gequetscht und dünn. »Karim, lies mir aus dem Yoga-Buch vor! Laut und deutlich.«

Ich suchte unter den Büchern über Buddhismus, Sufismus, Konfuzianismus und Zen, die er sich im Orientalischen Buchladen in der Cecil Court, einer Seitenstraße der Charing Cross Road, gekauft hatte, nach Dads Lieblingsbuch über Yoga: Yoga für Frauen, ein Buch mit Bildern von knackigen Frauen in schwarzen Trikots. Mit dem Buch in der Hand hockte ich mich neben ihn. Er atmete ein, hielt den Atem an, atmete aus und hielt wieder den Atem an. Ich war kein schlechter Vorleser und sah mich auf der Bühne des Old Vic stehen und mit grandioser Stimme deklamieren: »Salamba Sirsasana belebt und bewahrt ein jugendliches Gemüt, ein Gewinn, den man nicht unterschätzen darf. Es ist wundervoll, zu wissen, dass man sich den Widrigkeiten des Lebens stellen und ihm zudem all die wahren Freuden abgewinnen kann, die es einem zu bieten hat.«

Bei jedem Satz grunzte Dad seine Zustimmung, öffnete die Augen und blickte suchend nach meiner Mutter, die ihre Lider geschlossen hielt.

Ich las weiter: »Außerdem verhindert diese Stellung Haarausfall und baldiges Ergrauen.«

Das war der Clou: keine grauen Haare. Zufrieden stand Dad auf und zog sich wieder an.

»Jetzt fühl ich mich besser. Ich spüre, dass ich alt werde, weißt du.« Mit sanfterer Stimme: »Übrigens, Margaret, kommst du heute Abend mit zu Mrs Kay?« Mum schüttelte den Kopf. »Komm schon, Liebling! Lass uns zusammen ausgehen und ein bisschen Spaß haben, he?«

»Aber Eva will mich doch gar nicht sehen«, sagte sie. »Für die bin ich Luft. Merkst du das denn nicht? Sie behandelt mich wie ein Stück Dreck, Haroon. Ich bin ihr nicht indisch genug. Ich bin bloß eine Engländerin.«

»Ich weiß, dass du nur eine Engländerin bist, aber du könntest ja einen Sari tragen.« Er lachte. Es machte ihm Spaß, jemanden auf den Arm zu nehmen, aber Mum war ein denkbar ungeeignetes Opfer für seine Neckereien, sie begriff nicht, dass man zu lachen hatte, wenn man lächerlich gemacht wird.

»Außerdem«, sagte Dad, »gibt es heute Abend einen besonderen Anlass.«

Das war es also, worauf er die ganze Zeit hingearbeitet hatte. Jetzt wartete er darauf, dass wir ihn fragten.

»Was ist es, Dad?«

»Wisst ihr, sie haben mich freundlicherweise gebeten, einen Vortrag über diesen oder jenen Aspekt der orientalischen Philosophie zu halten.«

Dad sprach rasch und versuchte, seinen Stolz über diese Ehre, diesen Beweis seiner Wichtigkeit, zu verbergen, indem er eifrig sein Unterhemd in die Hosentasche stopfte. Das war meine Chance.

»Wenn du willst, könnte ich mit zu Eva kommen. Ich wollte eigentlich in den Schachklub, aber wenn du meinst, dann lass ich ihn eben ausfallen.«

Weil ich mein Vorhaben nicht durch Eilfertigkeit gefährden wollte, sagte ich dies in einem Ton, der so unschuldig klang wie der eines Vikars. Ich hatte längst festgestellt, dass andere dazu neigen, das Interesse zu verlieren, wenn man selbst zu eifrig ist. Zeigt man sich aber nicht sonderlich interessiert, neigen die anderen dazu, umso eifriger zu sein. Je interessierter ich also tatsächlich war, desto uninteressierter gab ich mich.

Dad zog sein Hemd wieder hoch und schlug sich rasch hintereinander mit beiden Händen auf den nackten Bauch. Es waren laute und widerliche Geräusche, die wie Pistolenschüsse durch unser Haus hallten.

»In Ordnung, Karim«, sagte Dad. »Zieh dich um!« Er wandte sich an Mum. Er hätte sie gern dabeigehabt, damit sie sehen konnte, wie sehr er geachtet wurde. »Komm doch mit, Margaret!«

Ich stürmte nach oben, um mich umzuziehen. In meinem Zimmer, dessen Wände von oben bis unten mit Zeitungsausschnitten dekoriert waren, konnte ich die beiden unten diskutieren hören. Würde er sie überreden können? Hoffentlich nicht. Ohne meine Mutter war mein Vater viel frivoler. Ich legte eine meiner Lieblingsplatten auf, Dylans »Positively Fourth Street«, um mich für den Abend in Stimmung zu bringen.

Ich brauchte eine Ewigkeit. Dreimal wechselte ich mein gesamtes Outfit. Um sieben Uhr kam ich die Treppe in den Klamotten herunter, von denen ich wusste, dass sie für Evas Abend genau das richtige waren. Ich trug türkisfarbene Hosen mit weitem Schlag, ein durchsichtiges, mit blauen und weißen Blumen bedrucktes Hemd, blaue Wildlederstiefel mit abgeschrägten Hacken und eine armfreie, scharlachrote indische Jacke mit goldenen Saumstickereien. Ich hatte mir ein Stirnband übergestreift, um mein schulterlanges, krauses Haar zu bändigen. Mein Gesicht hatte ich in Old Spice gebadet.

Die Hände in den Hosentaschen, wartete Dad an der Tür auf mich. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover, eine schwarze Jacke aus Lederimitat und graue Kordhosen von Woolworth. Als er mich sah, schien er plötzlich unruhig zu werden.

»Sag deiner Mum auf Wiedersehen!« verlangte er.

Mum saß im Wohnzimmer, sah »Steptoe and Son« und biss einmal von einem Snickers ab, das sie dann wieder vor sich auf den Polsterhocker legte. Es war ihr Ritual: Nur einmal alle fünfzehn Minuten erlaubte sie sich einen Bissen. Deshalb sah sie auch ständig zwischen Uhr und Fernseher hin und her. Manchmal drehte sie durch und verschlang das ganze Ding in weniger als zwei Minuten. »Ich hab mir mein Snickers verdient«, sagte sie dann trotzig.

Bei meinem Anblick wurde sie genauso nervös wie Dad. »Mach uns nicht lächerlich, Karim«, sagte sie, ohne den Blick noch einmal vom Fernseher zu wenden. »Du siehst aus wie Danny La Rue.«

»Und was ist mit Tante Jean?«, sagte ich. »Die hat sogar blaue Haare!«

»Für ältere Damen schickt es sich, die Haare blau zu färben«, sagte Mum.

Dad und ich verließen das Haus, so schnell wir konnten. Als wir am Ende der Straße auf den 227er Bus warteten, ging einer meiner Lehrer – er hatte nur noch ein Auge – an uns vorbei. »Nicht vergessen«, sagte Zyklop, »ein Universitätsabschluss ist zweitausend Pfund im Jahr wert, dein Leben lang!«

»Keine Angst!«, erwiderte Dad. »Natürlich kommt der Junge auf die Universität. Er wird einer der führenden Ärzte Londons. Mein Vater war auch Doktor. Medizin liegt bei uns im Blut.«

Es war nicht weit bis zu den Kays, vielleicht vier Meilen, aber ohne mich wäre Dad nie dort angekommen. Ich kannte alle Straßen und Busstrecken.

Dad war seit 1950 in Großbritannien – seit über zwanzig Jahren, und fünfzehn davon hatte er in den südlichen Vororten Londons gelebt. Trotzdem stolperte er noch immer durch die Gegend wie ein Inder, der gerade vom Schiff kommt, und fragte Sachen wie: »Liegt Dover in Kent?« Dabei sollte man glauben, dass ein Angestellter, ein Beamter der britischen Regierung, selbst wenn er so schlecht bezahlt und unbedeutend war wie Dad, diese Dinge einfach wissen müsste. Ich schwitzte vor Verlegenheit, wenn er Fremde auf der Straße anhielt, um nach einer Straße zu fragen, die gerade hundert Yards entfernt lag und zudem in einer Gegend, in der er schon zwei Jahrzehnte lebte.

Aber auf seine Naivität reagierten die Menschen fürsorglich, und Frauen fanden seine Unschuld hinreißend. Manchmal sah er so verloren und jungenhaft aus, dass sie am liebsten die Arme um ihn geschlungen hätten. Ganz unbeabsichtigt war das natürlich nicht, und Dad zog auch seinen Nutzen daraus. Als ich klein war und wir beide in Lyon’s Cornerhouse saßen und unsere Milchshakes tranken, schickte er mich wie eine Brieftaube zu Frauen an anderen Tischen und ließ mich aufsagen: »Mein Daddy würde Ihnen gerne einen Kuss geben.«

Dad brachte mir bei, mit jedem zu flirten, sei es Mädchen oder Junge, und ich lernte, persönlichen Charme noch vor Höflichkeit, Ehrlichkeit oder gar Anstand für die erste gesellschaftliche Tugend zu halten. Ich lernte auch, selbst niederträchtige und gefühllose Menschen zu mögen, wenn sie nur interessant genug waren. Aber ich war mir immer sicher gewesen, dass Dad sein sanftes Charisma nie dazu benutzte, um mit jemand anderem als meiner Mum zu schlafen.

Inzwischen hatte ich jedoch den Verdacht, dass Mrs Eva Kay – die meinen Dad ein Jahr zuvor bei einem Hobby-Schriftsteller-Kurs in einem Raum im oberen Stock des King’s Head an der Bromley High Street kennengelernt hatte –, dass diese Mrs Kay sich ihm an den Hals werfen wollte. Pure Lüsternheit war nicht der letzte Grund, warum mir so viel daran lag, sie zu sehen, und Verlegenheit einer der Gründe, warum Mum sich weigerte, mitzukommen. Eva Kay war direkt; sie war schamlos; sie war gewissenlos.

Auf dem Weg zu Eva überredete ich Dad, bei den Three Tuns in Beckenham eine Zwischenstation einzulegen. Ich stieg aus dem Bus; Dad blieb keine Wahl: Er musste mir nach. In der Kneipe drängten sich Kids aus meiner Schule und von den Schulen der Umgebung. Die meisten Jungs sahen tagsüber völlig unscheinbar aus und gingen jetzt, genau wie ich, in Samt und Seide und leuchtenden Farben; einige trugen Bettlaken oder Vorhänge. Die kleinen Pisser redeten ganz esoterisch von Syd Barrett. In der Schule galt es als unheimlicher Vorteil, wenn man einen älteren Bruder in London hatte, der in Mode, Musik oder Werbung machte. Ich musste meine »Melody Maker« und den »New Musical Express« gründlich lesen, wenn ich mithalten wollte.

Ich nahm Dad an die Hand und führte ihn ins Hinterzimmer. Kevin Ayers, der mal bei Soft Machine gewesen war, saß auf einem Barhocker und säuselte ins Mikrofon. Er hatte zwei französische Mädchen bei sich, die auf der Bühne herumtorkelten. Dad und ich bestellten jeder ein Pint Helles. Ich war Alkohol nicht gewohnt und war sofort betrunken. Dad wurde trübsinnig.

»Deine Mutter regt mich auf«, sagte er. »Sie hält sich aus allem raus. Wenn ich mich nicht so verdammt anstrengen würde, wäre diese ganze Familie längst auseinandergebrochen. Kein Wunder, dass ich mir ständig mit leichter Meditation den Kopf frei halten muss.«

Hilfsbereit schlug ich vor: »Warum lässt du dich nicht scheiden?«

»Weil dir das nicht gefallen würde.«

Aber sie wären sowieso nie auf die Idee gekommen, sich scheiden zu lassen. In Suburbia träumen die Menschen selten davon, den Griff nach dem Glück zu wagen. Gewohnheit und Durchhalten geht ihnen über alles: Die Belohnung für Langeweile sind Sicherheit und Geborgenheit. Unter dem Tisch ballte ich meine Fäuste. Ich wollte nicht daran denken. Es würde noch Jahre dauern, bevor ich in die Stadt flüchten konnte, nach London, wo das Leben so grenzenlos verführerisch war.

»Ich habe Angst vor heute Abend«, sagte Dad. »Es ist das erste Mal, dass ich so was mache. Ich weiß nichts. Ich werde ein totaler Reinfall sein.«

Die Kays waren um einiges bessergestellt als wir und hatten ein größeres Haus mit einer kleinen Auffahrt, Garage und Auto. Ihr Anwesen lag etwas zurückgesetzt in einer von Bäumen gesäumten Straße, die unmittelbar von der Beckenham High Street abzweigte. Es hatte Erkerfenster, Mansarden, ein Gewächshaus, drei Schlafzimmer und Zentralheizung.

Ich erkannte Eva Kay nicht, als sie uns an der Tür begrüßte, und einen Augenblick lang dachte ich, wir wären vor dem falschen Haus aufgekreuzt. Außer einem langen, bunten Kaftan hatte sie nichts an, und ihr Haar stand nach allen Seiten vom Kopf ab. Sie hatte sich die Augen mit Kajal geschwärzt und sah aus wie ein Panda. Sie lief barfuß, ihre Zehennägel waren abwechselnd grün und rot lackiert.

Als die Tür fest hinter uns ins Schloss fiel und wir in der dunklen Eingangshalle standen, umarmte Eva meinen Dad und küsste ihm das ganze Gesicht ab, auch die Lippen. Es war das erste Mal, dass ich sah, wie er leidenschaftlich geküsst wurde. Und – sieh an, sieh an – von Mr Kay keine Spur. Als Eva sich wieder rührte, als sie sich zu mir umdrehte, kam sie mir wie eine Art menschlicher Getreidebestäuber vor, der eine Wolke orientalischer Düfte vor sich hersprühte. Ich versuchte gerade zu ergründen, ob Eva die kultivierteste oder die eingebildetste Frau war, die ich je kennengelernt hatte, als sie mich auch auf die Lippen küsste. Mein Magen ballte sich zusammen. Wie einen Mantel, den sie anprobieren wollte, hielt sie mich dann auf Armlänge von sich ab, sah mich von oben bis unten an und sagte: »Karim Amir, du bist so exotisch, so originell! Welch eine Bereicherung für den heutigen Abend! So typisch du!«

»Vielen Dank, Mrs Kay. Hätte ich früher von der Einladung gewusst, hätte ich mich noch etwas zurechtgemacht.«

»Ganz wie der Vater, der gleiche wundervolle, aber vernichtende Witz!«

Ich spürte, dass ich beobachtet wurde, und als ich aufsah, entdeckte ich oben auf der Treppe, vom Geländer halb verborgen, Charlie, ihren Sohn, der auf meiner Schule in die Abschlussklasse ging und fast ein Jahr älter war. Er war ein Junge, den die Natur so überreich mit Schönheit bedacht hatte – seine Nase so gerade, seine Wangenknochen so hoch, seine Lippen solch knospende Rosen –, dass man davor zurückschreckte, sich ihm zu nähern, weshalb er oft allein war. Männer und Jungen bekamen eine Erektion, wenn sie bloß mit ihm im selben Raum waren; andere, die nur mit ihm im selben Land lebten, reagierten genauso. Frauen seufzten in seiner Gegenwart – und Lehrern sträubten sich die Haare. Vor ein paar Tagen, bei einer Schulversammlung, als die Lehrer wie ein Schwarm Krähen auf der Bühne saßen, ließ sich der Direktor lang und breit über Vaughan Williams aus. Wir sollten uns dessen »Fantasia on Greensleeves« anhören. Als Yid, der Religionslehrer, feierlich den Saphir auf die staubige Platte setzte, begann Charlie, der etwas weiter in meiner Reihe stand, auf und ab zu wippen und den Kopf zu schütteln. Er flüsterte: »Hey, Leute, das müsst ihr euch reinziehen! Genießt es!« – »Was liegt an?«, fragten wir. Wir fanden es bald genug heraus, denn als der Direktor sich zurücklehnte, um sich besser an den lieblichen Klängen Vaughans ergötzen zu können, ließ das erste Zischen von »Come Together« die Lautsprecher aufklirren. Und während Yid sich an den anderen Lehrern vorbeidrängte, um den Plattenspieler abzustellen, sang die halbe Schule: »… groove it up slowly … he got ju-ju eyeballs … he got hair down to his knees …« Charlie bekam dafür vor unseren Augen den Rohrstock.

Jetzt senkte er seinen Kopf einen zweiunddreißigstel Zentimeter, um anzudeuten, dass er von meiner Anwesenheit Notiz nehme. Auf dem Weg zu Eva hatte ich absichtlich jeden Gedanken an ihn vermieden. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er zu Hause sein würde, deshalb war ich ja auch in die Three Tuns gegangen, falls er dort auf den ersten Drink des Abends vorbeikommen würde.

»Gut, dich zu sehen, Mann«, sagte er und kam langsam die Treppe runter.

Er umarmte Dad und nannte ihn beim Vornamen. Er hatte Stil, wie immer, und unglaubliches Selbstvertrauen. Als er uns ins Wohnzimmer folgte, zitterte ich vor Aufregung. Im Schachklub ging es mir nie so.

Mum sagte oft, Eva sei eine fürchterliche Angeberin und ein Großmaul, und selbst ich sah ein, dass Eva etwas Lächerliches an sich hatte, aber sie war der einzige Mensch über dreißig, mit dem ich reden konnte. Sie war entweder ständig guter Laune oder engagierte sich leidenschaftlich für etwas. Jedenfalls legte sie ihren Gefühlen keinen Panzer an wie der Rest der elenden Untoten um uns herum. Ihr gefiel das erste Album der Rolling Stones. Die Third Ear Band fand sie spitze. In unserer guten Stube führte sie Isadora-Duncan-Tänze auf und erzählte mir dann, wer Isadora Duncan gewesen war und warum sie Schals gemocht hatte. Eva war beim letzten Konzert von Cream gewesen. Auf dem Schulhof, bevor wir in die Klassenzimmer gingen, hatte uns Charlie von ihrer letzten Wahnsinnstat erzählt: Sie hatte ihm und seiner Freundin Eier und Speck ans Bett gebracht und gefragt, ob es ihnen Spaß gemacht habe, miteinander zu schlafen.

Wenn sie zu uns kam, um Dad zum Schriftstellerkurs abzuholen, rannte sie immer zuerst in mein Schlafzimmer, um über meine Marc-Bolan-Bilder herzuziehen. »Was liest du? Zeig mir deine neuen Bücher!«, verlangte sie. Und einmal: »Warum um alles in der Welt magst du Kerouac, du armes Unschuldslamm? Weißt du, was Truman Capote mal über ihn gesagt hat?«

»Nein.«

»Er sagte: ›Das nenn ich nicht Schreiben, das nenn ich Tippen.‹«

»Aber Eva …«

Um ihr eine Lektion zu erteilen, las ich ihr die letzten Seiten aus »On the Road« vor. »Gut gebrüllt, Löwe!«, sagte sie und murmelte – sie musste immer das letzte Wort haben: »Ihn mit achtunddreißig noch einmal zu lesen ist das Grausamste, was man Kerouac antun kann.« Als sie ging, öffnete sie ihre Wundertüte, so jedenfalls nannte sie ihre Handtasche. »Hier ist was anderes zu lesen.« Es war »Candide«. »Ich ruf dich nächsten Samstag an und frag dich darüber aus!«

Am spannendsten war es, wenn Eva intim wurde und mir Geheimnisse aus ihrem Liebesleben anvertraute, während sie auf meinem Bett lag und sich die Platten anhörte, die ich ihr vorspielen wollte. Ihr Mann würde sie schlagen, erzählte sie. Sie würden nie miteinander schlafen. Aber sie wolle Sex, es sei das hinreißendste Gefühl, das man haben könne. Sie benutzte das Wort »ficken«. Sie wolle leben, sagte sie. Ich fand sie beängstigend; ich fand sie aufregend; irgendwie hatte sie, seit dem Moment, als sie zum ersten Mal bei uns durch die Tür kam, den gesamten Haushalt durcheinandergebracht.

Was hatte sie jetzt mit Dad vor? Was geschah in ihrem Wohnzimmer?

Eva hatte die Möbel zurückgeschoben. Die Sessel mit gemusterten Bezügen und die Glastische standen vor dem Bücherregal aus Kiefernholz. Die Vorhänge waren zugezogen. Vier Männer und vier Frauen mittleren Alters, alles Weiße, saßen im Schneidersitz auf dem Boden, aßen Erdnüsse und tranken Wein. Etwas abseits, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, saß ein Mann unbestimmten Alters – er konnte ebenso fünfundzwanzig wie fünfundvierzig sein – in einem fadenscheinigen schwarzen Kordanzug und altmodischen, schweren schwarzen Schuhen. Die Hosenbeine hatte er in die Socken gestopft. Sein blondes Haar war fettig; seine Taschen von zerfledderten Taschenbüchern ausgebeult. Er schien niemanden zu kennen, und falls er doch jemanden kannte, dann wollte er nicht mit ihm reden. Wie er dort saß und rauchte, machte er einen interessierten Eindruck, interessiert auf eine neutrale, wissenschaftliche Art. Er wirkte äußerst angespannt und nervös.

Die Leute stimmten eine Art Singsang an, der mich an eine Beerdigung erinnerte.

Charlie murmelte: »Ist Bach nicht einfach göttlich?«

»Nicht gerade mein Fall.«

»Wie du meinst, aber ich schätze, oben habe ich was für dich, das eher dein Fall sein dürfte.«

»Wo ist dein Dad?«

»Er hat einen Nervenzusammenbruch.«

»Heißt das, er ist nicht hier?«

»Er ist in so eine Art Therapiezentrum gegangen, wo er alles aus sich rauslassen darf.«

Bei uns zu Hause waren Nervenzusammenbrüche so exotisch wie New Orleans. Ich hatte keinen Schimmer, was das Wort eigentlich genau bedeutete, aber Charlies Dad schien mir durchaus zum nervösen Typus zu gehören. Das einzige Mal, das er in unser Haus kam, saß er allein in der Küche, weinte und reparierte dabei Dads Füllfederhalter; und im Wohnzimmer sagte Eva, sie müsse sich unbedingt ein Motorrad kaufen. Ich weiß noch, wie Mum dazu nur gähnte.

Dad saß auf dem Boden. Man redete über Musik und über Bücher, es fielen die Namen Dvořák, Krischnamurti und Eclectic. Ich sah mir alle genauer an und vermutete, dass die Männer als Werbefachleute, Designer oder in ähnlich kreativen Berufen arbeiteten. Charlies Vater entwarf Anzeigenkampagnen. Nur auf den Mann im schwarzen Kord konnte ich mir keinen Reim machen. Aber wer diese Leute auch waren, sie gaben fürchterlich an – in diesem Zimmer wurde schlimmer angegeben als im gesamten restlichen Südengland zusammen.

Daheim hätte Dad darüber nur gelacht. Aber jetzt, während er mittendrin saß, schien es, als verbringe er die beste Zeit seines Lebens. Er gab den Ton an, redete viel zu laut, fiel anderen ins Wort und berührte jeden, der gerade in seiner Nähe war. Langsam ließen sich die Männer und Frauen – Kordanzug ausgenommen – auf dem Boden in einem Kreis um ihn herum nieder. Warum bloß sparte er sich seine Verdrossenheit und sein unzufriedenes Gemurmel immer für uns zu Hause auf?

Ich sah, wie der Mann neben mir sich zu seinem Nachbarn beugte und auf meinen Vater zeigte. Dad erklärte gerade voller Elan einer Frau, die nur mit einem langen Männerhemd und schwarzer Strumpfhose bekleidet war, wie wichtig es sei, einen freien, sorglosen Geist zu erlangen. Die Frau nickte meinem Vater aufmunternd zu. Laut flüsternd sagte der Mann zu seinem Freund: »Warum hat Eva uns diesen Scheiß-Inder angeschleppt? Ich dachte, wir wollen uns besaufen?«

»Er soll uns seine mystischen Künste demonstrieren.«

»Und hat er draußen sein Kamel geparkt?«

»Nee, er kam auf einem fliegenden Teppich.«

»Cyril Lord oder Debenhams?«

Ich gab dem Mann einen heftigen Stoß in die Nieren. Er sah auf.

Da sagte Charlie zu meiner Erleichterung: »Komm mit auf meine Bude, Karim!«

Noch bevor wir uns absetzen konnten, löschte Eva jedoch das Deckenlicht. Über die Stahllampe drapierte sie einen großen, durchsichtigen Schal; das Zimmer war jetzt nur noch von einem rosafarbenen Glühen erleuchtet. Ihre Bewegungen hatten etwas Tänzerisches bekommen. Nach und nach verstummten alle. Eva lächelte sie an.

»Warum entspannt ihr euch nicht?«, fragte sie, und sie nickten. Die Frau mit dem Hemd sagte: »Warum eigentlich nicht?« – »Ja, genau«, stimmte ihr jemand zu. Ein anderer schüttelte seine Hände wie leere Handschuhe, öffnete seinen Mund, so weit er konnte, streckte die Zunge heraus und ließ seine Augen hervorquellen, als wäre er ein wasserspeiender Gnom.

Eva wandte sich an meinen Vater und machte vor ihm eine Verbeugung im japanischen Stil. »Mein guter und teurer Freund Haroon hier wird uns den Weg zeigen. Den Pfad der Erleuchtung.«

»O gottverdammte Scheiße!«, flüsterte ich Charlie zu und dachte daran, dass Dad nicht mal den Weg nach Beckenham finden würde.

»Sieh zu, sieh genau zu!«, murmelte Charlie und hockte sich hin.

Dad saß am anderen Ende des Zimmers. Alle sahen ihn aufmerksam und erwartungsvoll an, nur die beiden Männer neben mir warfen sich einen Blick zu, als wollten sie gleich losplatzen. Dad sprach langsam und selbstsicher. Seine Nervosität war offensichtlich verschwunden. Er schien zu wissen, dass er ihre Aufmerksamkeit besaß und dass sie seinen Worten gehorchen würden. Dabei hatte er dergleichen zuvor nie getan, da war ich mir sicher. Er würde improvisieren müssen.

»Heute Abend werden Sie etwas erleben, das Ihnen guttun wird. Es wird Sie vielleicht sogar ein wenig verändern oder doch zumindest bewirken, dass Sie sich gern verändern möchten, um alle Ihre Möglichkeiten, die Sie als menschliche Geschöpfe besitzen, entfalten zu können. Doch eines dürfen Sie nicht machen: Sie dürfen sich nicht dagegen sträuben. Sich gegen Ihre Erfahrungen zu sperren ist so, als wollten Sie mit angezogener Handbremse Auto fahren.«

Er schwieg. Aller Augen ruhten auf ihm.

»Wir werden mit etwas Bodenarbeit beginnen. Bitte spreizen Sie Ihre Beine!«

Sie spreizten die Beine.

»Heben Sie Ihre Arme!«

Sie hoben die Arme.

»Atmen Sie jetzt aus und beugen Sie sich zu Ihrem rechten Fuß vor!«

Nach einigen elementaren Yoga-Positionen ließ er alle sich auf den Rücken legen. Zu seinen sanften Anweisungen entspannten sie ihre Finger, einen nach dem anderen, dann ihre Handgelenke, dann die Zehen, die Fußgelenke, die Stirn und seltsamerweise auch die Ohren. Dad verlor keine Zeit, zog sich Schuhe und Socken aus und dann – ich hätte es mir ja denken können – auch sein Hemd und das weiße Netzhemd. Er glitt durch den Kreis der Träumer, hob dort einen lockeren Arm, hier ein Bein und prüfte ihre Verspannungen. Eva, die auch auf dem Rücken lag, beobachtete ihn aus einem vorwitzigen, sich langsam immer weiter öffnenden Auge. Hatte sie je in ihrem Leben eine so dunkle, harte, haarige Brust gesehen? Als Dad an ihr vorbeischwebte, berührte sie seinen Fuß. Der Mann im schwarzen Kord konnte sich nicht entspannen, nicht die Spur. Er lag da wie ein Holzbündel, die Beine übereinandergeschlagen, eine brennende Zigarette zwischen den Fingern, und sah nachdenklich an die Decke.

Ich zischte Charlie zu: »Lass uns hier verschwinden, bevor wir auch noch hypnotisiert werden wie diese Idioten!«

»Ist das nicht einfach faszinierend?«

Auf dem oberen Treppenabsatz stand eine Leiter, die in Charlies Mansarde führte. »Leg bitte deine Uhr ab!«, sagte er. »In meinem Reich spielt Zeit keine Rolle.« Also legte ich meine Uhr auf den Boden und kletterte zur Mansarde hoch, die so groß wie der gesamte Dachboden war. Charlie hatte diesen riesigen Raum für sich allein. Die schrägen Wände und die niedrige Decke waren mit Mandalas und langhaarigen Köpfen bemalt. Sein Schlagzeug stand mitten im Zimmer. Seine vier Gitarren – zwei akustische und zwei Stratocaster – standen aufgereiht an der Wand. Überall lagen große Sitzkissen, Platten stapelten sich, und die vier Beatles aus der »Sergeant Pepper«-Zeit hingen wie Götzenbilder an der Wand.

»In letzter Zeit was Gutes gehört?«, fragte er und zündete eine Kerze an.

»Yeah.«

Nach der Gelassenheit und Stille im Wohnzimmer klang meine Stimme lächerlich laut. »Das neue Album von den Stones. Ich habe es heute im Musikklub aufgelegt, und die Jungs drehten beinahe durch. Sie haben sich die Jacken und Schlipse vom Leib gerissen und getanzt. Ich hab auf dem Tisch gestanden. Es war wie bei einem verrückten, heidnischen Ritual. Mann, du hättest dabei sein sollen!«

Als ich Charlies Blick sah, war mir sofort klar, dass ich mich wie ein Tier, wie ein Philister, wie ein Kleinkind verhalten hatte.

Charlie warf sein schulterlanges Haar zurück, sah mich einige Male nachsichtig an und lächelte dann.

»Ich glaube, es ist an der Zeit, mein Freund, dass du deine Ohren an etwas wirklich Erquickendem labst.«

Er legte eine Platte von Pink Floyd auf, die »Ummagumma« hieß. Ich zwang mich, der Musik zuzuhören, während Charlie mir gegenübersaß, ein getrocknetes Blatt über den Tabak krümelte und einen Joint drehte.

»Dein Vater. Der ist wirklich top. Ein echter Weiser. Macht ihr diese Meditationssache jeden Morgen?«

Ich nickte. Ein Nicken ist schließlich keine Lüge, oder?

»Und ihr singt auch?«

»Nicht jeden Tag, nein.«

Ich dachte daran, was morgens in unserem Haus ablief; an Dad, der in der Küche rumrannte und nach Olivenöl für sein Haar suchte; an meinen Bruder und mich, wie wir uns um den »Daily Mirror« stritten; an meine Mutter, die wieder einmal über ihre Arbeit im Schuhgeschäft jammerte.

Charlie gab mir den Joint. Ich zog daran, reichte ihn zurück und schaffte es, mich dabei mit Asche zu bestreuen und ein kleines Loch in mein Hemd zu brennen. Ich war so erregt und verwirrt, dass ich sofort aufsprang.

»Was ist los?«

»Ich muss auf den Pott.«

Ich hastete die Mansardenleiter hinunter. Im Badezimmer der Kays hingen gerahmte Plakate von Genet-Stücken. Ich blickte auf Bambusstangen und Pergamentrollen mit drallen, kopulierenden Orientalen. Neben dem Klo stand ein Bidet. Während ich so dasaß, die Hosen zwischen den Knien, und mir alles ansah, hatte ich eine höchst merkwürdige Vision. Zum ersten Mal konnte ich mein Leben klar vor mir ausgebreitet sehen: die Zukunft und was ich tun wollte. Ich wollte nur noch so intensiv wie jetzt leben: Mystik, Alkohol, sexuelle Abenteuer, kluge Menschen und Drogen. Alles zusammen hatte ich vorher noch nie erlebt, und jetzt wollte ich nichts mehr davon missen. Die Tür zur Zukunft hatte sich aufgetan: Ich konnte sehen, welchen Weg ich gehen würde.

Und Charlie? Meine Gefühle für ihn waren keine gewöhnliche Liebe, zumindest nicht, was man unter Liebe nun einmal versteht: Ihr fehlte die Großmut. Ich bewunderte ihn mehr als jeden anderen Menschen, wünschte ihm aber nichts Gutes. Ich fand ihn schlichtweg besser als mich und wollte so sein wie er, wollte sein Talent, sein Gesicht, seinen Stil. Ich wünschte mir, ich würde aufwachen, und all das würde mir gehören.

Ich stand im Treppenhaus. Bis auf die leisen Töne von »A Saucerful of Secrets«, die vom Dachboden des Hauses herüberklangen, war es still. Jemand hatte Räucherstäbchen angezündet. Ich schlich die Treppe hinunter. Die Wohnzimmertür stand offen. Vorsichtig spähte ich in den schwach erleuchteten Raum. Die Werbefritzen und ihre Frauen saßen aufrecht da, mit überkreuzten Beinen und steifem Rücken, die Augen geschlossen; sie atmeten regelmäßig und tief. Kordanzug saß in einem Sessel, drehte allen den Rücken zu, las und rauchte. Nur Eva und Dad waren nicht im Zimmer. Wo konnten sie sein?

Ich ließ die hypnotisierten Buddhas allein, lief durch das Haus und in die Küche. Die Gartentür stand weit offen. Ich tauchte in die Dunkelheit. Es war ein warmer Abend, ein Vollmondabend.

Ich kniete nieder. Ich wusste, dass dies genau das Richtige war – seit Dads Vorführung war ich in höchstem Maße intuitiv geworden. Ich kroch über den Rasen. Sie mussten hier vor Kurzem ein Barbecue veranstaltet haben, denn rasiermesserscharfe Kohlestückchen schnitten mir die Knie auf. Trotzdem überquerte ich die Rasenfläche ohne ernsthafte Verletzungen. Am Rand sah ich undeutlich eine Gartenbank. Als ich noch näher herankroch, erkannte ich im Mondlicht Eva. Sie zog gerade ihren Kaftan über den Kopf. Wenn ich genau hinsah, konnte ich sogar ihre Brust erkennen. Und ich sah genau hin; ich sah so genau hin, dass mir beinahe die Augen aus dem Kopf fielen. Dann wusste ich, dass ich mich nicht getäuscht haben konnte: Eva hatte nur noch eine Brust. Soviel ich erkennen konnte, war dort, wo man eigentlich die andere Brust erwartete, tatsächlich nichts zu sehen.

Unter den Massen von Fleisch und Haaren war, beinahe völlig unsichtbar, mein Vater. Ich war mir sicher, dass es sich um Daddio handelte, weil er fast ohne jede Rücksicht auf die Nachbarn über die Gärten Beckenhams hinwegröhrte: »O mein Gott, o Gott, o Gott!« War ich etwa so empfangen worden, fragte ich mich, in vorstädtischer Nachtluft, beim Geheul eines christlichen Fluches aus dem Munde eines abtrünnigen Moslems, der sich als Buddhist verkleidet hatte?

Mit einem schallenden Klaps schloss Eva meinem Vater den Mund. Das war eine Spur zu gebieterisch, dachte ich und war nahe daran, aufzuspringen und zu protestieren. Aber, verdammt noch mal, wie die Eva federn konnte! Kopf zurück, Blick zu den Sternen, so stieß sie sich wie ein Fußballer mit fliegendem Haar vom Rasen ab. Was war jedoch mit dem mörderischen Gewicht auf Dads Hintern? Der Abdruck der Gartenbank würde bestimmt noch tagelang wie Grillstreifen auf einem Steak auf seinen Arschbacken zu sehen sein.

Eva nahm ihre Hand von seinem Mund. Er begann zu lachen. Dieser glückliche Ficker lachte und lachte. So klang die Lebenslust eines Mannes, den ich nicht kannte, voller Geilheit und egoistischer Zufriedenheit. Es machte mich völlig fertig.

Ich hoppelte zurück. In der Küche goss ich mir einen Scotch ein und kippte ihn runter. Kordanzug stand in einer Ecke. Seine Lider zuckten entsetzlich. Er streckte die Hand aus.

»Shadwell«, sagte er.

Charlie lag in der Mansarde auf dem Boden. Ich nahm ihm den Joint aus der Hand, zog meine Stiefel aus und legte mich auch hin.

»Komm, leg dich neben mich!«, sagte er. »Näher!« Seine Hand berührte meinen Arm. »Du darfst mir nicht übelnehmen, was ich dir jetzt sage.«

»Nein, niemals, Charlie, egal, was es ist.«

»Du musst weniger anziehen.«

»Weniger anziehen, Charlie?«

»Dich weniger aufdonnern, ja.«

Er setzte sich auf, stützte einen Ellbogen aufs Knie und sah mich prüfend an. Sein Mund war geschlossen. Ich badete in seinem Blick.

»Levis, würde ich vorschlagen, dazu ein Hemd mit offenem Kragen, vielleicht in Rosa oder Purpur, und einen breiten braunen Ledergürtel. Das Stirnband kannst du vergessen.«

»Das Stirnband – vergessen?«

»Vergiss es!«

Ich riss mir das Stirnband vom Kopf und schleuderte es auf den Boden.

»Für deine Mum.«

»Siehst du, Karim, du neigst dazu, wie eine Paillettenschwuchtel auszusehen.«

Ich, der ich doch wie Charlie sein wollte – so klug, so cool auch noch im letzten Winkel meiner Seele –, ich tätowierte mir seine Worte in mein Hirn. Levis mit offenem Hemd, vielleicht einem dezent rosa- oder purpurfarbenen. Für den Rest meines Lebens wollte ich in keinen anderen Klamotten mehr herumlaufen.

Während ich voller Verachtung über mich und meine gesamte Garderobe nachdachte und ohne zu zögern auf jedes Kleidungsstück geschissen hätte, lehnte Charlie sich mit seinem einzigartigen Verständnis für Fragen der Mode und geschlossenen Augen zurück. Außer mir war wohl jeder in diesem Haus im siebten Himmel.

Ich legte meine Hand auf Charlies Schenkel. Keine Reaktion. Ich ließ sie einige Minuten lang dort liegen, bis mir der Schweiß an den Fingerspitzen ausbrach. Seine Augen blieben geschlossen, aber in seinen Jeans schwoll etwas an. Ich begann, mich mutiger zu fühlen. Ich wurde wahnsinnig. Ich stürzte mich auf seinen Gürtel, auf seinen Reißverschluss, auf seinen Schwanz, den ich an die frische Luft zerrte, um mich zu beruhigen. Er gab ein Zeichen! Er zuckte! Mit Hilfe solcher Ströme menschlicher Elektrizität verstanden wir uns.

Ich hatte in der Schule schon oft einen Penis gedrückt. Wir rubbelten und rieben und streichelten uns ständig gegenseitig; das unterbrach die Monotonie des Lernens. Aber ich hatte noch nie einen Mann geküsst.

»Wo bist du, Charlie?«

Ich versuchte, ihn zu küssen. Er drehte den Kopf zur Seite und wich meinen Lippen aus. Aber ich schwöre, als er in meiner Hand kam, da war das einer der unvergesslichsten Augenblicke in meinem noch relativ jungen Leben. Es tanzte in meinen Straßen. Meine Flaggen flatterten, meine Trompeten schmetterten!

Ich leckte mir die Finger und überlegte, wo ich mir ein rosa Hemd kaufen könnte, als ich ein Geräusch hörte, das nicht von Pink Floyd kam. Ich drehte mich um und sah, wie Dad mich vom anderen Ende der Mansarde mit flammenden Augen anstarrte. Dad, der sich mit Nase, Hals und seiner berühmten Brust durch die rechteckige Luke im Boden hochgestemmt hatte. Ich sprang auf. Dad kam auf mich zu, gefolgt von einer lächelnden Eva. Dad sah Charlie an, dann mich, dann wieder Charlie.

Eva schnupperte.

»Ihr unartigen Jungs!«

»Wieso, Eva?«, fragte Charlie.

»Gras Marke Eigenbau.«

Eva meinte, es sei an der Zeit, uns nach Hause zu fahren. Wir stiegen der Reihe nach rückwärts die Leiter hinunter. Dad war der Erste; er trampelte auf meine Uhr, die unten lag, zertrat sie in Stücke und schnitt sich in die Fußsohle.

Zu Hause stiegen wir aus dem Auto, ich sagte Eva gute Nacht und ging voran. Von der Tür aus konnte ich sehen, wie Eva versuchte, Dad zu küssen, während er sich bemühte, ihr die Hand zu schütteln.

Unser Haus war dunkel und kalt, als wir uns erschöpft hineinschlichen. Dad musste um halb sieben aufstehen, und ich hatte meine Zeitungstour um sieben. Im Flur hob Dad seine Hand, um mich zu schlagen. Er war besoffener, als ich bekifft war, und so fiel ich dem undankbaren Schwein in den Arm.

»Was zum Teufel hast du getan?«

»Halt’s Maul!«, sagte ich, so ruhig ich konnte.

»Ich hab dich gesehen, Karim. Mein Gott, was bist du für ein verdammter Scheißkerl! Ein Arschficker! Mein eigener Sohn – wie ist das nur möglich?«

Er war von mir enttäuscht. Verzweifelt rannte er auf und ab, als hätte er gerade erfahren, dass sein Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt sei. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also äffte ich den Ton nach, in dem er vorher zu den Werbefritzen und Eva gesprochen hatte.

»Entspann dich, Dad! Entspann deinen Körper, von den Fingern bis zu den Zehen! Schicke deine Gedanken in einen ruhigen Garten, wo …«

»Ich schick dich zu einem verdammten Arzt, um deine Eier untersuchen zu lassen!«

Ich musste ihn am Weiterschreien hindern, bevor wir Mum und die gesamte Nachbarschaft um uns versammelt hatten. Ich flüsterte: »Aber ich habe dich gesehen, Dad.«

»Du hast nichts gesehen«, sagte er mit äußerster Verachtung. Er konnte sehr arrogant werden, was wohl an seiner gutbürgerlichen Erziehung lag.

Aber ich hatte ihn. »Mum hat wenigstens zwei Titten.«

Dad ging auf die Toilette, ohne die Tür zu schließen, und übergab sich. Ich stellte mich hinter ihn und rieb ihm den Rücken, während er sich die Seele aus dem Leib kotzte.

»Ich werde kein Wort mehr über heute Nacht verlieren«, sagte ich. »Und du auch nicht.«

»Wie kannst du ihn bloß so heimbringen?«, fragte Mum. Sie stand hinter uns in ihrem Morgenmantel, der so lang war, dass er fast den Boden berührte und sie beinahe quadratisch aussehen ließ. Sie war müde. Sie erinnerte mich an die wirkliche Welt. Ich hätte sie gern angeschrien: Schaff mir diese Welt vom Hals!

»Hast du nicht auf ihn aufpassen können?«, fragte sie. Sie zupfte mich ständig am Ärmel. »Ich habe aus dem Fenster gesehen und stundenlang auf euch gewartet. Warum habt ihr nicht angerufen?«

Endlich richtete Dad sich auf und drückte sich an uns vorbei.

»Mach mir mein Bett im Wohnzimmer!«, sagte sie. »Ich will nicht die ganze Nacht neben diesem nach Kotze stinkenden Mann schlafen.«

Als ich ihr Bett gemacht und sie sich hingelegt hatte – das Lager war viel zu schmal und zu kurz und zu ungemütlich für sie –, gestand ich ihr: »Ich werde nie heiraten, okay?«

»Ich kann’s dir nicht verdenken«, sagte sie, drehte sich um und schloss die Augen.

Ich glaubte nicht, dass sie auf dieser Couch viel schlafen würde, und sie tat mir leid. Aber es machte mich auch wütend, wie sie sich selbst bestrafte. Warum konnte sie nicht stärker sein? Warum konnte sie nicht kämpfen, zurückschlagen? Ich würde stärker sein, beschloss ich. In dieser Nacht ging ich nicht zu Bett, sondern blieb auf und hörte Radio Caroline. Ich hatte einen Blick auf eine Welt voller Aufregung und Möglichkeiten geworfen, eine Welt, die ich mir in meinen Gedanken bewahren wollte und die das Gerüst für meine Zukunft abgeben sollte.

Nach diesem Abend schmollte Dad eine Woche lang und sprach kein Wort, nur hin und wieder deutete er mit dem Finger, etwa auf Salz und Pfeffer. Manchmal endete dieses Gestikulieren in einer komplizierten Marcel-Marceau-Zeichensprache. Besucher von einem fremden Planeten hätten bei einem Blick durch unser Fenster glauben können, wir seien bei einem Familienratespiel. Mein Bruder, Mum und ich standen um Dad herum und riefen uns mögliche Lösungsworte zu, während er uns, ohne sich auf den Kompromiss eines freundlichen Wortes einzulassen, zu zeigen versuchte, dass die Regenrinne mit Laub verstopft war und die Seitenwand des Hauses feucht wurde, dass Allie und ich auf die Leiter steigen und die Rinne freimachen sollten, während Mum die Leiter halten könnte. Zum Abendbrot aßen wir schweigend unsere verschrumpelten Hamburger mit Pommes und Fischstäbchen. Einmal brach Mum in Tränen aus und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Mein Leben ist fürchterlich, fürchterlich!«, schrie sie. »Sieht das denn niemand ein?«

Wir sahen sie einen Augenblick lang überrascht an, dann aßen wir weiter. Mum machte wie immer den Abwasch, und keiner half ihr. Nach dem Tee verschwanden wir so schnell wir konnten. Mein um vier Jahre jüngerer Bruder Amar nannte sich Allie, um Problemen rassischer Art aus dem Weg zu gehen. Er zog sich immer so früh wie möglich ins Bett zurück und nahm sich Modemagazine mit, zum Beispiel »Vogue«, »Harpers and Queen« oder was er sonst noch an europäischen Heften in die Finger bekam. Zum Schlafen trug er winzige rote Seidenhosen, eine Hausjacke, die er sich mal auf einem Flohmarkt gekauft hatte, und sein Haarnetz. »Warum soll ich nicht gut aussehen?«, fragte er und ging nach oben. Abends verdrückte ich mich oft in den Park, um in dem nach Pisse stinkenden Schuppen zu sitzen und mit den anderen Jungens, die auch von zu Hause abgehauen waren, eine zu rauchen.

Dad hatte genaue Vorstellungen von der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau. Meine Eltern gingen beide arbeiten: Mum hatte eine Stelle in einem Schuhgeschäft an der High Street, damit Allie auf eine teure Privatschule gehen konnte, denn er hatte beschlossen, Balletttänzer zu werden. Aber Mum erledigte auch alle Hausarbeit und das Kochen. In der Mittagspause ging sie einkaufen, und abends machte sie das Essen. Danach sah sie bis halb elf fern. Der Fernseher war das Einzige, worüber sie absolute Autorität besaß. Es galt als unausgesprochene Regel in unserem Haus, dass sie sich ansah, was ihr gefiel; wollte jemand von uns etwas anderes sehen, hatte er keine Chance. Mit der letzten Energie, die ihr der Tag noch gelassen hatte, raffte sie sich dann zu einem solchen Anfall von Wut, Selbstmitleid und Enttäuschung auf, dass niemand mehr wagte, ihr zu widersprechen. Nach »Steptoe and Son«, »Candid Camera« und »The Fugitive« war sie wie verrückt.

Wenn es im Fernsehen Wiederholungen oder politische Sendungen gab, zeichnete sie. Ihre Hand flog nur so übers Papier. Sie war auf einer Kunstschule gewesen. Im Lauf der Jahre hatte sie uns immer wieder gezeichnet, unsere drei Köpfe auf einem Blatt. Drei egoistische Männer nannte sie uns. Sie sagte, sie habe Männer noch nie gemocht, weil Männer Folterer seien. Das Gas in Auschwitz sei nicht von Frauen aufgedreht worden, behauptete sie, und die Bomben über Vietnam hätten sie auch nicht abgeworfen. In den Tagen, an denen Dad stumm blieb, zeichnete sie viel. Sie steckte den Zeichenblock griffbereit zu ihrem Strickzeug, dem Kriegstagebuch ihrer Kindheit (»Heute Nacht Luftangriff«) und ihren Catherine-Cookson-Romanen hinter den Sessel. Ich hatte oft und nachdrücklich versucht, sie zum Lesen vernünftiger Bücher wie »Tender is the Night« oder »The Dharma Bums« zu überreden, aber sie behauptete jedes Mal, die seien ihr zu klein gedruckt.

Eines Nachmittags, wenige Tage nach Beginn von Dads großer Schmollerei, bestrich ich mir eine Scheibe Brot mit Erdnussbutter, legte »Live at Leeds« von den Who unter die Nadel – volle Lautstärke, um Townshends Fetzakkorde in »Summertime Blues« besser genießen zu können – und schlug Mums Zeichenblock auf. Ich wusste, ich würde etwas finden. Ich blätterte, bis ich eine Zeichnung von meinem nackten Vater fand.

Neben ihm stand Eva, etwas größer, ebenfalls nackt, inklusive ihrer einen großen Brust. Wie verängstigte Kinder hielten sie sich an der Hand und sahen mich an, ungeschminkt und ohne alle Eitelkeit, als wollten sie sagen: Mehr hat es mit uns nicht auf sich, dies sind unsere Körper. Sie sahen aus wie John Lennon und Yoko Ono. Wie konnte Mum nur so unbeteiligt sein? Woher wusste sie überhaupt, dass sie miteinander gevögelt hatten?

Vor mir war kein Geheimnis sicher. Ich beschränkte meine Nachforschungen nicht auf Mum. So erfuhr ich auch, dass Dad zwar seinen Mund nicht aufmachte, seine Augen aber fleißig arbeiten ließ. Ich stöberte heimlich in seiner Aktentasche und zog Bücher von Lu Po, Laotse und Christmas Humphreys heraus.

Es war mir klar, dass das Interessanteste, was in diesem Haus passieren konnte, eintreten würde, sobald Dad einen Anruf bekam und sein Schweigen auf die Probe gestellt wurde. Also sah ich zu, dass ich als Erster am Apparat war, als es eines Abends um halb elf klingelte. Ich erkannte Evas Stimme und wusste plötzlich, wie sehr ich darauf gewartet hatte, ihre Stimme wiederzuhören.

Sie sagte: »Hallo, mein süßer, unartiger Junge! Wo ist dein Dad? Warum hast du mich nicht angerufen? Was liest du gerade?«

»Was schlägst du vor, Eva?«

»Du kommst besser vorbei und besuchst mich, dann füll ich dir den Kopf mit rosaroten Ideen.«

»Wann kann ich kommen?«

»Frag nicht – komm einfach!«

Ich holte Dad, der gerade ganz zufällig in seinem Pyjama hinter der Schlafzimmertür stand. Er griff nach dem Hörer. Ich konnte es nicht fassen: Er wollte tatsächlich in seinem Haus den Mund aufmachen.

»Hallo«, krächzte er, als wäre seine Stimme aus der Übung gekommen. »Eva, schön, dass du anrufst, mein Liebling. Ich bin leider heiser, geschwollene Mandeln wahrscheinlich. Kann ich dich vom Büro aus zurückrufen?«

Ich ging auf mein Zimmer, stellte das große braune Radio an, wartete, bis es warm wurde, und dachte nach.

In dieser Nacht zeichnete Mum wieder.

Es geschah noch etwas, das mich begreifen ließ, dass Gott, wie ich meinen Dad jetzt nannte, ernstzunehmende Pläne hegte: Als ich zu Bett ging, hörte ich seltsame Laute aus seinem Zimmer. Ich presste mein Ohr auf die weiße Lackfarbe der Tür. Ja, Gott führte Selbstgespräche, wenn auch nicht gerade Gespräche privater Natur. Er sprach langsam, mit einer tieferen Stimme als sonst, fast als stehe er vor einer Menschenmenge. Er zischte die S-Laute und übertrieb seinen indischen Akzent. Jahrelang hatte er versucht, sich den Engländern anzupassen, um nicht aufzufallen oder sich lächerlich zu machen, und jetzt wollte er mit aller Macht das Gegenteil. Warum?

Einige Wochen später, an einem Samstagmorgen, rief er mich in sein Zimmer und sagte geheimnisvoll: »Bist du heute Nacht dabei?«

»Was ist heute Nacht, Gott?«

»Ich habe meinen Auftritt«, sagte er mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.

»Wirklich? Noch einmal?«

»Ja, sie haben mich darum gebeten. Die Nachfrage ist so groß.«

»Großartig! Wo denn?«

»Wird noch nicht verraten.« Er schlug sich glücklich auf den Bauch. Von jetzt an wollte er nichts anderes mehr machen als »auftreten«. »Ganz Orpington wartet auf mich. Ich werde bekannter sein als Bob Hope. Aber sag deiner Mutter nichts davon! Sie hat kein bisschen Verständnis für meine Auftritte, genauso wenig übrigens wie für meine Abgänge. Also, sind wir dabei?«

»Wir sind dabei, Dad.«

»Sehr gut. Mach dich bereit.«

»Bereit für was?«

Er strich mir sanft mit dem Handrücken übers Gesicht. »Bist ganz schön aufgeregt, he?« Ich antwortete nicht. »Dir gefällt dieses In-der-Welt-Herumzigeunern, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich schüchtern.

»Und mir gefällt es, dass du dabei bist, mein Junge. Ich habe dich sehr lieb. Wir werden zusammen erwachsen, wir beide.«

Er hatte recht, ich freute mich auf sein zweites Auftreten. Mir gefiel es, dass sich etwas tat, aber ich musste auch etwas Wichtiges herausfinden: Ich wollte wissen, ob Dad ein Scharlatan war oder ob an der ganzen Sache wirklich etwas dran war. Schließlich hatte er Eva imponiert und sogar das Unmögliche geschafft – er hatte Charlie beeindruckt. Bei ihnen hatte seine Magie gewirkt, und ich hatte ihm deshalb den Spitznamen Gott verpasst, wenn auch mit Vorbehalt; ein volles Anrecht hatte er noch nicht auf diesen Namen. Ich wollte erst mal sehen, ob Dad jetzt, da er langsam bekannt wurde, den Leuten wirklich etwas zu bieten hatte oder ob er nur einer von diesen Vorstadtexzentrikern war.

Kapitel zwei

Dad und Anwar hatten in Bombay Tür an Tür gelebt und waren seit ihrem fünften Lebensjahr die besten Freunde. Dads Vater, der Arzt, hatte am Juhu-Strand für sich, seine Frau und seine zwölf Kinder ein wunderschönes flaches Holzhaus gebaut. Dort schliefen Dad und Anwar auf der Terrasse und liefen beim Morgengrauen zusammen ans Meer, um zu schwimmen. Sie fuhren in einer von Pferden gezogenen Rikscha zur Schule, am Wochenende spielten sie Kricket und nach der Schule Tennis auf dem eigenen Platz. Die Diener waren die Balljungen. Oft spielten die beiden Kricket gegen die Engländer, aber die musste man gewinnen lassen. Außerdem gab es immer wieder Aufstände, Demonstrationen und Unruhen zwischen Hindus und Moslems. Man konnte vor seinem Haus Hindu-Freunde und Hindu-Nachbarn in Sprechchören obszöne Schimpfworte rufen hören.

Es gab Partys, auf die sie gehen konnten, denn Bombay war das Zentrum der indischen Filmindustrie, und einer von Dads älteren Brüdern gab eine Filmillustrierte heraus. Dad und Anwar prahlten gern damit, wie viele Schauspieler sie kannten und wie viele Schauspielerinnen sie geküsst hatten. Einmal, ich war sieben oder acht Jahre alt, sagte mir Dad, ich solle Schauspieler werden; es sei ein gutes Leben, meinte er, und das Verhältnis von Arbeit und Geld sei gar nicht so schlecht. Aber eigentlich war es ihm doch lieber, dass ich Arzt werde, und er erwähnte das Thema Schauspielerei nie wieder. Der Berufsberater in der Schule meinte, ich solle zum Zoll gehen – wahrscheinlich dachte er, ich hätte ein natürliches Talent zum Filzen von Koffern. Und Mum meinte, ich solle zur Marine gehen, vielleicht weil ich so gerne Hosen mit weitem Schlag trug.

Dad hatte eine idyllische Kindheit, und wenn er mir von seinen Abenteuern mit Anwar erzählte, fragte ich mich oft, warum er seinen Sohn in einen trübseligen Londoner Vorort verbannte, von dem es hieß, dass Menschen, die hier ertranken, vor dem inneren Auge nicht ihr Leben, sondern ihre Doppelglasfenster vorbeiziehen sahen.

Erst später, als er nach England kam, begriff Dad, wie kompliziert das tägliche Leben sein konnte. Er hatte noch nie in seinem Leben gekocht, noch nie abgewaschen, noch nie seine Schuhe geputzt oder sein Bett gemacht. Dafür gab es Diener. Wenn er sich an das Haus in Bombay erinnere, erzählte uns Dad, könne er sich die Küche nicht vorstellen: Er hatte sie nie gesehen. Allerdings konnte er sich entsinnen, dass sein Lieblingsdiener wegen gewisser Missetaten in der Küche entlassen worden war: Einmal hatte er im Liegen Toast geröstet und dabei das Brot mit den Zehen über die Flamme gehalten, und bei einer anderen Gelegenheit hatte er Sellerie mit der Zahnbürste geputzt – seiner eigenen, wie sich herausstellte, nicht der seines Herrn, aber das war keine Entschuldigung. Diese Vorfälle hatten Dad zum Sozialisten werden lassen, jedenfalls soweit er jemals ein Sozialist war. Mum irritierte Dads aristokratische Nutzlosigkeit, aber sie war auch stolz auf seine Familie. »Sie ist bedeutender als die der Churchills«, ließ sie alle wissen. »Mein Mann fuhr mit einer Pferdekutsche in die Schule.« So sorgte sie dafür, dass man Dad nicht für einen jener indischen Bauern hielt, die in den fünfziger und sechziger Jahren in Scharen nach Großbritannien gekommen waren und denen man nachsagte, dass sie nicht wüssten, wie man mit Messer und Gabel umgehe, geschweige denn mit einer Toilette, da sie auf den Sitz stiegen und von hoch oben herunterschissen.

Im Unterschied zu den Bauern war Dad von seiner Familie nach England geschickt worden, um dort zu studieren. Seine Mutter hatte ihm und Anwar einige wollene, kratzige Unterhemden gestrickt, ihnen beim Abschied von Bombay zugewinkt und sie schwören lassen, niemals zu Schweinefleischessern zu werden. Wie vor ihm Gandhi und Jinnah sollte Dad als geschickter englisch diplomierter Rechtsanwalt und vollendeter Tänzer nach Indien zurückkehren. Aber als er losfuhr, ahnte Dad nicht, dass er das Gesicht seiner Mutter nie wiedersehen würde. Dies war der große, unausgesprochene Kummer seines Lebens, und ich denke, das erklärt seine hilflose Anfälligkeit für Frauen, die sich um ihn sorgten, für Frauen, die er lieben konnte, wie er seine Mutter hätte lieben sollen, der er nie auch nur einen einzigen Brief schrieb.

London und die Old Kent Road waren ein eiskalter Schock für Anwar und Dad. Es war nass und neblig; Dad nannte man Sunny Jim; es gab nicht genug zu essen; und Dad hat es nie geschafft, Geschmack an Bratenfett auf Brot zu gewinnen. »Schmeckt wie Nasenpopel«, hatte er gesagt und damit den Bann über das Nationalgericht der Arbeiterklasse verhängt. Es war noch die Zeit der Lebensmittelkarten, und der Bezirk sah durch die Bombenangriffe, die alles in Trümmer gelegt hatten, ziemlich heruntergekommen aus. Der Anblick der Briten im Mutterland erstaunte und ermutigte Dad. Er hatte vorher noch nie einen armen Engländer gesehen, kannte keine englischen Straßenkehrer, Müllmänner, keine Engländer hinter dem Tresen eines kleinen Geschäfts oder einer Bar. Er hatte noch nie zuvor einen Engländer gesehen, der sich das Brot mit den Fingern in den Mund stopfte, und niemand hatte ihm gesagt, dass die Engländer sich nicht regelmäßig wuschen, weil das Wasser zu kalt war – wenn sie überhaupt Wasser in ihrer Wohnung hatten. Und als Dad versuchte, in den Eckkneipen über Byron zu diskutieren, hatte ihn vorher niemand gewarnt, dass nicht alle Engländer lesen konnten oder dass es ihnen möglicherweise nicht gefiel, wenn ein Inder ihnen Nachhilfeunterricht über die Lyrik eines Perversen und Verrückten erteilte.

Dad und Anwar hatten Glück; sie kannten jemanden, bei dem sie wohnen konnten. Dr. Lai, ein Freund von Dads Vater, war ein indischer Zahnarzt von riesenhaftem Wuchs und, so behauptete er, ein Freund von Bertrand Russell. Während des Krieges hatte in Cambridge ein einsamer Russell Dr. Lai den Hinweis gegeben, dass Masturbation die Antwort auf sexuelle Frustration sei. Für Dr. Lai, der seitdem, wie er sagte, nie mehr unglücklich gewesen war, stellte Russells großartige Entdeckung gleichsam eine Offenbarung dar. War Dr. Lais sexuelle Befreiung etwa gar eine der herausragendsten Leistungen Russells? Schon möglich, denn wenn Dr. Lai nicht so unumwunden mit seinen beiden jungen und sexuell so gierigen Untermietern über körperliche Lust gesprochen hätte, wären sich mein Vater und meine Mutter vielleicht nie begegnet, und ich hätte mich nie in Charlie verliebt.

Mit seiner dicken Wampe und seinem runden Gesicht war Anwar schon immer etwas plumper gewesen als mein Vater. Kein Satz war für ihn vollständig, wenn er ihn nicht mit unanständigen Wörtern spicken konnte, und ihm gefielen die Huren, die sich im Hyde Park herumtrieben. Sie nannten ihn Baby Face. Er war freilich nicht sonderlich elegant. Wenn der monatliche Wechsel aus Indien eintraf, ging Dad sofort in die Bond Street, um sich Frackschleifen, flaschengrüne Westen und Socken mit Schottenmuster zu kaufen, und danach war er gezwungen, sich von Baby Face Geld zu leihen. Tagsüber studierte Anwar Luft- und Raumfahrttechnik im Norden Londons, und Dad versuchte, sich hinter seinen juristischen Büchern zu vergraben. Nachts schliefen sie zwischen den Apparaturen in Dr. Lais Behandlungszimmer.

Anwar schlief im Zahnarztstuhl. Verrückt vor Wut über die zahlreichen Mäuse, sexuell frustriert und gepeinigt von den kratzenden Unterhemden, die seine Mutter ihm mitgegeben hatte, zog Dad eines Nachts Lais hellblauen Kittel an, griff nach dem schrecklichsten Bohrer und fiel über den schlafenden Anwar her. Anwar schrie, als er aufwachte und den zukünftigen Guru von Chislehurst mit einem Zahnarztbohrer über sich sah. Diese Verspieltheit, diese Weigerung, etwas ernst zu nehmen, als hätte das Leben keine Bedeutung, bestimmte auch Dads Einstellung zu seinem Studium. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Dad hatte noch nie gearbeitet, und es gelang ihm auch jetzt nicht. Anwar sagte bald von Dad: »Haroon tritt täglich vor die Schranken – und zwar um zwölf und um halb sechs in der Kneipe.«

Dad verteidigte sich: »Ich gehe in die Kneipe, um nachzudenken.«

»Zum Trinken – nicht zum Denken«, antwortete Anwar.

Freitags und samstags gingen sie tanzen und schoben zur Musik von Glenn Miller, Count Basie oder Louis Armstrong die Mädchen über den Tanzboden. Dort fiel Dad auch zum ersten Mal ein bestimmtes Mädchen ins Auge und in die Hände. Sie hieß Margaret, kam aus einer Arbeiterfamilie und der Suburbia. Meine Mutter sagte mir, dass sie ihn vom ersten Augenblick an geliebt habe, ihren kleinen Mann. Er habe so lieb und freundlich und gänzlich verloren ausgesehen, weshalb die Frauen in ihm auch ein gefundenes Fressen sahen.