Als Nichtschwimmer auf den Weltmeeren - Hagen Deecke - E-Book

Als Nichtschwimmer auf den Weltmeeren E-Book

Hagen Deecke

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Beschreibung

Hagen Deecke verlässt 1960 sein Elternhaus. Aus dem Bauernsohn wird ein Matrose bei einer der größten Reedereien der Welt – der DDG HANSA in Bremen. Dass er nie schwimmen lernte, erfährt niemand. Getragen vom Seefahrertraum und von jugendlicher Naivität holt ihn die Wirklichkeit an Bord und in den Häfen schnell ein: Kameraden kommen ums Leben, sein Schiff wird fast von einer Bohrinsel zerrissen, ein Tanker versinkt samt Besatzung vor Kapstadt. Rekon- struiert aus Briefen und Tagebüchern und voller scharf skizzierter Porträts der »Mitgefan- genen an Bord« legt der erfahrene Autor die unglaublich dicht erzählte, schonungslose Geschichte seiner 15 Jahre zur See vor, die ihn zu einem Kapitän auf den Weltmeeren machte.

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Hagen Deecke

AlsNichtschwimmerauf den Weltmeeren

Meine Seemannsjahre

HINSTORFF

Inhalt

Vorwort

Meine Familie

Lachendorf

Abschied

Bremen

GOLDENFELS

Erste Reise

Das Schiff

Mittelmeer

Straße von Messina

Port Said (Ägypten)

Vor Mukalla (Jemen)

Der Appell

Persischer Golf

Ein Angebot

Bahrain

Das Geständnis

Himmel und Sterne

Bombay (Indien)

Grace

Onno

Atlantik

New York

Houston (Texas)

Führung

Jimis Rache

Lachendorf

Wiedersehn mit Willi

KYBFELS

Biskaya

Chorramshar

NEIDENFELS

Der Nichtschwimmer

László

FRAUENFELS

Offiziers-Anwärter

Vom Mythos der HANSA

Elsfleth

WARRAH RIVER

Der Seelenverkäufer

Seemannshochzeit

Kapitän Blau

ALKMAN

Innere Kündigung

Pazifik

Hamburg, Isestraße

FALDERNTOR, JOSEPHTURMUND SCHEPELSTURM

Nordsee, Mittelmeer, Namibia

WENDENTOR

Westafrika

An Land

Dank

FÜR KATRIN

Mit Kimm, Schweißtuch und Zigarette – der Autor auf der Reling derKYBFELS

Vorwort

Im Zentrum dieses weitgehend autobiografischen Rückblicks steht die Old Seamanship der Sechziger- und Siebzigerjahre des alten Jahrhunderts. Einer gerade erst versunkenen Epoche, in der das Stückgutschiff noch eine zentrale Bedeutung hatte, die es aber sehr bald an den die Seefahrt revolutionierenden Containerfrachter abtreten musste. Mein Seefahrerleben war zum einen geprägt von der erregenden Naturschönheit eines ewig salzigen Meeres und dem Wind mit seinen alles zerfetzenden Orkanen. Er allein ist die gebieterische Kraft auf See, der große Antreiber, der Ozeane und Menschen erbeben lässt.

Zum anderen hinterließ die körperliche Schwerstarbeit auf den Schwergutschiffen der Bremer HANSA-Reederei ihre Spuren. Nicht zuletzt aber auch das soziale Umfeld. Mit den Männern an Bord bin ich meist recht, mal schlecht zurechtgekommen. Wir verhielten uns gegenüber Schwächeren ungerecht und gemein, wir haben einander nur wenig Gutes getan und uns oft böse zugerichtet. Die Wunden an Körper und Seele sind inzwischen vernarbt. Wie kam es, dass ich in der derben und moralisch entgleisten Männerenklave Christliche Seefahrt doch einigermaßen zurechtgekommen bin? Weil ich Glück hatte und einen unsichtbaren Begleiter an meiner Seite glaubte.

Um meine eineinhalb Dekaden auf See besser verstehen zu können und für Dritte nachvollziehbar zu machen, habe ich anhand von Tagebuchaufzeichnungen alte Sachverhalte rekonstruiert. Mit ihrer Hilfe konnte ich verschollen geglaubte Gefühle wiederbeleben, sie aus verschütteten Brunnen und längst verfallenen Gedankenbögen zurückholen. Maßgeblich daran beteiligt war auch meine Mutter, indirekt, weil sie meine an Bord verfassten Briefe aufbewahrt und mir kurz vor ihrem Tod ausgehändigt hatte. Zumeist hellblaue, mit rot-dunkelblau-gestreiften Rändern versehene Luftpostumschläge, auf denen allerdings die häufig exotischen Briefmarken fehlten, weil eifrige Philatelisten immer ganz in Mutters Nähe lauerten. Diese Briefe erst machten es mir möglich, das Buch zu schreiben. Meine Mutter übergab sie mir mit den Worten: »Im Leben habe ich viele Steine erhalten, deine Briefe waren Rosen für mich.«

Meine Familie

Deutschland stand in Flammen, in den Städten verbrannten Menschen in ihren Häusern, Europa und die Welt lagen im Krieg. In Lachendorf dagegen war alles friedlich. Meine Eltern bepflanzten die Äcker unseres Salgenhofes östlich von Celle, auf dem schon zu Martin Luthers Zeiten gepflügt, gesät und geerntet wurde. Neun Monate nach dem achtunddreißigsten Geburtstag meines Vaters kam ich im Ehebett der Eltern zur Welt. Genau an diesem Julitag 1944 feierte Amerika seinen Unabhängigkeitstag, den 168. Independence Day.

In Lachendorf aber gingen Männer und Frauen zum Heumachen, arbeiteten auf Wiesen und Äckern, misteten Ställe aus, melkten Kühe, nahmen den Hühnern die Eier weg, liebten sich im Heu, in der Scheune, auf dem Feld, in armseligen Katen- und breiten Bauernbetten. Mahlzeit für Mahlzeit drängelten sich an unseren langen Tafeln bis zu achtundzwanzig Menschen, aßen selbst gebackenes Brot aus dem Backofen mit guter Butter, geräuchertem Schinken und Leberwurst, tranken Vollmilch, Tee und Muckefuck dazu, den selbst gebrannten Malzkaffee. Niemand stand hungrig vom Tisch auf. Meine Eltern waren überzeugte Nazis. Meine Mutter hatte dem Bund deutscher Mädel angehört, dem weiblichen Zweig der Hitlerjugend; später besuchte sie eine sogenannte Bräuteschule, an der junge Frauen lernten, Haushalte zu führen, zu kochen und Säuglinge zu pflegen. Der Vater war lange vor 1933 Parteimitglied der Nationalsozialisten geworden und hatte es schon bald zum Unterscharführer gebracht. Über diese hässlichen Jahre schwiegen meine Eltern beharrlich.

Mein Vater überragte alle anderen Männer im Dorf um Haupteslänge, knapp zwei Meter war er in den Himmel gewachsen. Über seine Familie und den größten Hof im Dorf herrschte er wie ein Zar. Ein mächtiger Bauer in brauner Cordhose, dunkelblauer Baumwolljacke, grünem Hemd mit weißen Knöpfen und Lederstiefeln an den Füßen. Eine lädierte Nase und rotes Kurzhaar prägten das Gesicht. Der Jähzorn des Mannes ließ seine Familie und die Menschen im Dorf erbeben. Frau Meier nicht. Erna Meier lebte als ältere Arbeiterin unten auf dem Hof in einer Tagelöhnerkate. Wenn zwischen April und September gesät und geerntet wurde, trafen sich mein Vater und Frau Meier frühmorgens und organisierten das tägliche Schaffen auf Hof und Feldern – teilten Tagelöhner, Treckerfahrer, Kutscher und die helfenden Frauen aus dem Dorf ein.

Sobald unser Schultag beendet war, mussten wir Kinder schon früh auf dem Hof, im Stall und auf den Feldern helfen. Im Herbst rodeten wir Kartoffeln, krabbelten dabei im Schneckentempo mal zu sechst, mal zu acht oder zu zehnt nebeneinander her die aufgeworfenen Reihen entlang, Meter für Meter; Stunde um Stunde klaubten wir zusammen mit den Frauen aus dem Dorf Kartoffeln aus dem kalt-feuchten Acker und warfen sie in bereitgestellte Gitterkörbchen. Vorwärts ging es, immerzu voran; die Frauenhände direkt neben den Kinderhänden waren flinker, sie halfen uns. Wer nicht mithielt und zurückfiel, blamierte sich. Wunde Knie, schmerzende Rücken, saukalte Finger. Aufgeben kam nicht infrage, denn hinter Kindern und Frauen wachte der große Mann, der Vater; er leerte die gefüllten Körbe auf einen Wagen und hatte die Kinderarbeiter immer im Auge. Erst wenn das Ende der langen Reihe erreicht war, richteten sich alle auf und verschnauften. Dann setzte, trotz allem, ein kurzes, aber tiefes Glücksgefühl bei mir ein, durchgehalten und etwas geschafft zu haben. Später sollte ich mich an dieses Gefühl gut erinnern können.

Meine Mutter stammte aus dem friesischen Nordseebad St. Peter-Ording. Ihr Vater war dort ein angesehener Mann, der als Schulleiter Generationen von Kindern prägte und als Organist und Chorleiter in der kleinen Dorfkirche wirkte. Seine Frau Marie organisierte unterdessen ihren Haushalt mit vier Kindern, von denen meine Mutter das jüngste war.

Meine Mutter war eine schöne und starke Frau. Sie engagierte sich im Ort, kümmerte sich dort um bedürftige Menschen und war

Mutter Christel Deecke als junge Frau

vielen eine gute Ratgeberin. Sie liebte den Gesang und gründete den Gemischten Chor Lachendorf, in dem sie bei den Sopranen mitsang. Sie legte einen großen Bauerngarten voller Blumen und Beete an, aus dem sie wundervolle Sträuße band und aus dem sie ihr Leben lang Kraft schöpfte. Sie umsorgte liebevoll ihre Kinder und schickte sie auf gute Schulen. Den großen Haushalt führte sie gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter, die die Leute im Dorf Landgräfin nannten; zusammen kochten sie für die Großfamilie und die Helfer auf dem Hof, hielten Kleider und Wohnung in Ordnung. Zwei sogenannte junge Mädchen, die Hauswirtschaft lernten, gingen ihnen zur Hand.

Meine Eltern lernten sich während einer Bahnfahrt zwischen den niedersächsischen Städten Celle und Lehrte kennen; eine Variante erzählt von einer Kontaktanzeige in der Grünen Zeitung, einem Fachblatt für Bauern, das auch Herzenswünsche seiner Leser erfüllte. Was dieser Begegnung entwuchs, zeigen alte Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen meine vier Geschwister und ich Ringelreihen tanzen, vier Jungs und endlich ein Mädchen; auf einem anderen sitzen wir mit Dackel Hexe auf dem weitläufigen Rasen vor dem alten Fachwerkhaus, ein drittes zeigt die drei Ältesten auf dem Rücken von Puppe, unserem Hannoveraner Reit- und Ackerpferd. Doch diese Bilder geben nicht wirklich die Stimmung wieder, die zu Hause vorherrschte. Der große Mann befahl, wir mussten gehorchen. Ich fürchtete mich vor ihm, vor allem während der Mahlzeiten, wenn ich nicht weglaufen, ihm nicht ausweichen, mich nicht vor ihm verstecken konnte. Mich überfielen Angst und Ohnmacht. Wann und wo immer ich in seine Nähe kam, die Furcht vor dem großen Mann wühlte meine Kinderseele auf. Die Mutter versuchte ihre sichernden Hände über uns zu halten, uns vor Prügel zu schützen, häufig mit Erfolg, so manches Mal auch vergeblich. Dem Gebrüll in Haus und Hof vermochte sie nicht viel mehr entgegenzusetzen als ihre Einhalt fordernde Stimme. Ich habe diesen Despoten mit aller Kinderkraft gehasst, und weil es für diesen Hass kein Ventil gab, versteckte er sich in meiner Seele.

Die fünf Deecke-Kinder mit Dackel Hexe. In der Mitte der Autor

Meine Idole spielten bei TuS Lachendorf Fußball in der Ersten Herrenmannschaft der Kreisklasse, später in der Bezirksliga. Mittelläufer Egon Steinkraus und Rechter Läufer Helmut Lage gehörten dazu, beide gestandene Papiermeister in der vierhundert Jahre alten Feinpapierfabrik mitten in unserem Ort an der Lachte. Auch dem torgefährlichen Mittelstürmer Erhard Stark, Dorf-Beau und Maurergeselle, eiferte ich nach. Und nicht zuletzt Kalle Tilgner, dem Linksaußen, der sich bei der Jagd nach dem Ball manchmal selbst überholte. »Er ist eben schneller als der Ball«, sagten die Leute und liefen nach den Spielen in seinen Friseursalon, um sich seine Argumente für Sieg oder Niederlage einzuholen. Wichtig empfand ich die auf »ewig« angelegte väterliche Freundschaft zu Jakob Maurer, einem herzlichen Mann, der aus dem polnischen Galizien in unser Dorf geflüchtet war. Er starb, während ich auf See war, ohne dass ich ihm für seine selbstlose Freundschaft noch hätte danken können.

Am Wochenende besuchten uns oft Tante Hetta und Onkel Hellmut, ein Bruder meiner Mutter, der als Richtmeister sein Auskommen fand; er fuhr immer das neueste Modell der Auto Union. Er brachte mir bei, wie man einen geraden Scheitel zieht und dass ein Junge nicht weint. Er hatte der Waffen-SS angehört. Nach dem Krieg versteckte er sich einmal in einer Schrotkiste im Schweinestall vor einem britischen Militärsuchtrupp, der ihn aber nicht aufspüren konnte. Weitaus wichtiger für mich wurde Onkel Hermann, promovierter Geologe, der im schleswig-holsteinischen Städtchen Heide für eine deutsche Erdölgesellschaft Öl suchte, bis er schließlich nach Hamburg gerufen wurde. Wenn er uns besuchte, regte er das Lesen guter Bücher an und fragte ab und an nach, wie weit ich damit sei. Er forderte mich auch dazu auf, mein Bewusstsein anzuknipsen und von Fühlen auf Lernen umzuschalten. Er machte vor, wie es gelingen konnte, seinen Platz in der Welt zu finden und zu behaupten.

Auf meiner schmalen Brust keimten erste Härchen, als ich während der sechswöchigen Sommerferien als fünfzehnjähriger Küchenjunge auf der Hornbaltic nach Leningrad reiste. Die Fahrt war ein Test, eine Art Praktikum, ob mir die Seefahrt gefallen könnte. Jahre später gestand ich mir ein, dass mich nicht die Lust auf Seefahrt und Abenteuer auf die Ostsee und später auf die sieben Meere gelockt hatten. Tatsächlich aber war ich vor dem großen Mann geflüchtet. Auch draußen auf See hielt er noch lange meine Seele besetzt. Dabei war der große Mann vor meiner Ostseereise schon längst weggesperrt worden, weil er seiner Frau großes Leid zugefügt hatte.

»Schiff: ›HORNBALTIC‹, Fahrtgebiet: Nord - Ostsee«. Auszug aus dem Seefahrtbuch des Autors

Nach dem Besuch in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, wurde ich beim Rauchen erwischt und flog von der Schule. Und das, wo doch Oberstudienrat Schnelle gerade erst damit begonnen hatte, mir die Ideale der alten Griechen einzupflanzen. So fand meine Schulkarriere ein jähes Ende.

Lachendorf

Mit Heidi im Kopf schlenderte ich den leicht abschüssigen Hofplatz hinunter, in der Hoffnung, dass sie mir gleich begegnen würde. Heidi. Ich schwang mich auf die sonnenwarme Milchbank, die gleich neben dem Tor stand. Sie war aus rohen Eichenbohlen gehauen und stand auf vier in den sandigen Grund eingelassenen Pfählen. Melker Heinrich Fuleda stellte hier jeden Morgen die mit frischer Milch gefüllten Silberkannen ab, jede einzelne mit der Nummer hundertsiebenundfünfzig versehen, sie war wichtig für die spätere Abrechnung.

Die Milchbank war um die Mittagszeit fast immer leer. Keine Spur von der sich sonst hier versammelnden Dorfjugend. Die Bank allein für mich. Den Rücken gegen die warmen Backsteine an der Stirnseite des Tagelöhnerhauses gelehnt, ließ ich die nackten Beine baumeln. Kein Trecker rumpelte über die mit Kopfsteinen gepflasterte Ackerstraße, die gras- und heusatten Kühe brüllten nicht nach ihrem Melker. Sonntagsfrieden in der Südheide. Ich schaute direkt in die mir gegenüberliegende Gasse hinein, wo Heidi zurückgezogen mit Mutter und Großmutter lebte. Von Heidi keine Spur. Wir waren dreizehn Jahre alt, hatten zusammen vier Jahre die Dorfschule besucht und waren einander zugetan. Seit ich in der Stadt zur Schule ging, sahen wir uns nur noch selten. Als wir das letzte Mal allein zusammenstanden, hatte Heidi meine Leidenschaft zu ihr mit einem Stoßseufzer entzündet: »Du bist mein Freund«, hatte sie gesagt. Seither wurde mir warm ums Herz, wenn ich an sie dachte.

Als unerwartet eine große schwarze Limousine auf Trumanns Gasthof einschwenkte, der meiner Milchbank schräg gegenüber lag, war Heidi allerdings vergessen. Wie ferngesteuert glitt ich von meiner Bank, setzte einen mechanischen Schritt vor den anderen und stand erst wieder still, als ich Trumanns weißen Lattenzaun erreichte. Ich begaffte das tolle Auto nur wenige Schritte vor mir – und wartete gespannt darauf, wer gleich aussteigen würde. Bei Onkel Willi, dem Wirt, kehrten sonst eher Bauern, Fabrikarbeiter und Viehhändler aus den Nachbarorten oder Lastwagenfahrer ein, die Getreide oder Kartoffeln, Rüben oder Schweine von den Höfen holten, manchmal auch Lumpen- und Schrotthändler. Zunächst galt meine Aufmerksamkeit ganz dem Wagen, gleich aber nur noch der jungen Frau, die dem Auto entstieg und ihre leuchtend-roten Schuhe auf den Boden setzte. Fünfundzwanzig mochte sie sein. Stolz wie eine Königin ging sie in den Gasthof hinein; verschwommen nahm ich noch ihren Begleiter wahr, den ich auf der Stelle verachtete. Ihren schönen Gang verband ich mit Ballett, Tanz und Theater; die Frauen und Mädchen in meinem Dorf gingen ganz anders. Diese Frau habe ich nie vergessen. Als sie den Gasthof verließ, registrierte ich gerade noch die schwarzen Buchstaben ›HH‹ auf weißem Nummernschild: Hansestadt Hamburg. Ich wusste jetzt, wo schöne Frauen lebten, ich musste mich nur noch auf den Weg zu ihnen machen.

Hagen Deecke beim Abschied aus Lachendorf, 1962

Abschied

Vier Jahre später stand mein fertig gestopfter Seesack im hohen Flur. Er reichte mir bis zur Hüfte. Nur Kleidungsstücke, die kraus werden durften, waren darin verstaut – Long Johns und weitere Unterwäsche, Socken, Arbeitshemden und Pullover, zwei warme Jacken. Und die Kulturtasche. Ganz unten beulten harte Schuhe und Gummistiefel das feste, olivgrüne Segeltuch aus. Obenauf hatte Großmutter Hermine mir noch ihr Konfirmationsgeschenk gelegt, ein evangelisches Gesangbuch mit meinem in Gold geprägten Namen auf dem Einband. Ihr kleiner Fingerzeig sollte mir bedeuten: Vergiss nie, dass Er dich begleitet. Der dunkelblaue Zweireiher, die helle Flanellhose und zwei weiße Oberhemden, also die Bügelwäsche, lagen sorgfältig gefaltet in einem flachen, von dünnen Fäden zusammengehaltenen Pappkarton. Friseurmeister Heinz Schulz hatte meine Haare mit einem Messerschnitt frisch gestutzt, Wellaform erfüllte seinen Auftrag. Für mein Abenteuer in der großen Welt fühlte ich mich bereit und gut gerüstet, glaubte ich doch, dass drei Monate theoretische und praktische Vorbereitung auf der Schiffsjungenschule in Elsfleth an der Weser aus mir bereits einen fertigen Seemann gemacht hätten.

Zum Abschied bereitete mir Mutter mein Lieblingsgericht: Pfannkuchen mit weißem Zucker und einem Schuss Amaretto, gut verteilt auf dem knusprig-braunen Teig. Jedes Mal, wenn sie mir einen Pfannkuchen vom Herd brachte und mit weichem Schwung auf den Teller kippte, strich sie mir über den Kopf und sagte wie benommen: »Mein Junge, mein lieber Junge.« Sieben Mal. Ich leerte ein Glas frischer Milch, fuhr mir mit der weißen Stoffserviette über den Mund, auf der ihre Initialen eingestickt waren, ›C. D.‹, und stand vom Küchentisch auf. »Vergiss niemals, dass du aus gutem Hause kommst und folge deinem Gewissen. Dann machst du nichts verkehrt«, sagte Mutter.

Als wir uns umarmten, weinte sie. Der weggesperrte Vater spielte in meinem Alltag keine Rolle mehr. Den bunten Blumenstrauß auf dem massigen Eichentisch erblickte ich noch einmal und Mutters mit Hingabe geschaffenes Paradies, den prächtigen Bauerngarten. Den Weg zum Bahnhof fand ich allein. Der Seesack lag schwer auf der Schulter, der Pappkarton in der Linken. In gut drei Stunden sollte ich Bremen erreichen.

Bremen

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie nicht gemustert werden können«, eröffnete der Leiter des Bremer Seemannsamtes das Gespräch. »Sie sind nicht volljährig und die schriftliche Genehmigung der Erziehungsberechtigten, zur See fahren zu dürfen, liegt uns bis heute nicht vor.«

Bereits zwei Monate vorher hatte ich mir in der Hamburger Heuerstelle der Seeberufsgenossenschaft in der Seewartenstraße, dem heutigen Hotel Hafen Hamburg, für drei Mark eine Gesundheitskarte ausstellen lassen, jetzt fehlte nur noch das Dokument mit Mutters Unterschrift, ohne das es nicht losgehen konnte. Es lag zu Hause vergessen auf dem alten Schreibtisch. Eine kurze Handbewegung des Beamten forderte mich auf, für den Nächsten in der Reihe Platz zu machen. Ich versicherte noch, das Dokument gleich morgen, spätestens übermorgen nachzuliefern, dann fand ich mich auf der regennassen Straße wieder. ›Mein Schiff fährt ab und ich bleib allein zurück‹, schoss es mir durch den heißen Kopf. Am Telefon versprach Mutter mir, den Brief gleich zur Post zu bringen. Übermorgen gegen Abend sollten wir in See stechen, das war zwar knapp, könnte aber gerade noch klappen. Meinen schweren Seesack hatte ich der Bahn anvertraut, er war bisher nicht eingetroffen. Auch diese Ungewissheit plagte mich. Fürs erste kam ich auf dem reedereieigenen Wohnschiff Ali Baba unter, machte mich beim Verproviantieren von Seeschiffen nützlich, schleppte Rinderhälften und Becks-Bier-Kisten, Kartoffelsäcke und Whiskyflaschen und verdiente meine erste Heuer: 20 Mark.

Als mein Seesack auch am zweiten Tag nicht eingetroffen war, wurde ich nervös, denn ohne Ausrüstung würde ich nicht auf Große Fahrt gehen können. Ich lief bereits das dritte Mal zum Bremer Hauptbahnhof, doch der Bahnbeamte schüttelte wieder nur den Kopf. »Aber komm doch mal mit«, forderte er mich diesmal entschlossen auf, »und sieh selbst nach, was in unseren Regalen auf seine Eigentümer wartet. Einen Seesack, wie du ihn beschrieben hast, haben wir hier aber nicht rumliegen.« In der Tat, meinen Seesack fand ich nicht, jedenfalls nicht so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Wohl aber ein Gebilde, das durchaus einmal mein Seesack gewesen sein könnte und aus dem nun mein blau-weiß kariertes Freizeithemd mit den kurzen Ärmeln herausschaute. Jetzt sah ich genauer hin und zu meiner größten Erleichterung fand ich den Seesackinhalt vollständig vor.

Das erste Seefahrtbuch des Autors. Ausgestellt am 20. Juli 1960

Die erste Heuer auf dem Wohnschiff ALI BABA im Bremer Hafen

Der Bahnbeamte erklärte mir die Angelegenheit: »Dieses Gepäckstück ist auf offener Strecke aus dem fahrenden Zug gefallen, mehrfach überrollt und ziemlich zerfetzt worden. Ein Streckenposten hat das Bündel aufgelesen und bei uns abgeliefert.« Zu diesem »Wunder vom Bahndamm« gehörte auch die Tatsache, dass die äußere Hülle des Seesacks zwar völlig zerrupft, alle Siebensachen darin jedoch vollständig intakt geblieben waren. Kein Knopf fehlte, nirgendwo ein Riss, kein Flicken musste gesetzt werden. Aber mein Seesack hatte eine Metamorphose durchlebt: Er war um die Hälfte geschrumpft, reichte mir nicht mehr bis zur Hüfte, sondern nur noch bis zu den Knien. Als kleine Wiedergutmachung überließ mir der Uniformierte einen herrenlosen Koffer aus dem Bahnfundus. Ich verstaute meine Sachen in das willkommene Stück und glaubte wieder an eine Zukunft auf See. Inzwischen war auch die Goldenfels im Europahafen angekommen. Ich konnte also umziehen und wohnte nun auf meinem ersten großen Schiff.

Doch der andere Druck lastete weiter auf meinen Schultern. Das alles entscheidende Dokument fehlte immer noch, die schriftliche Genehmigung, ohne die ich die Welt nicht erobern konnte. Mit der Straßenbahn fuhr ich zur Bremer Hauptpost, fragte nach einem braunen Umschlag aus Lachendorf und drängte, aufgewühlt wie ich war, auf augenblickliche Nachforschung. Und siehe da, das Kuvert lag im Fach für fehlgeschlagene Zustellungen. Der Postbote hatte ihn nicht an die Reedereianschrift liefern können, weil er Mutters Handschrift nicht lesen konnte – sie war in Sütterlin gehalten.

Als ich an Bord zurückkehrte, lag die Goldenfels seeklar im Bremer Europahafen und schien allein auf mich zu warten. Ich stieg die flache Gangway hoch und legte Kapitän Otto Mendel meinen unterschriebenen Dreijahresvertrag vor. Eine Stunde später kam der Lotse an Bord und der Schwergutfrachter mit zwölf Kadetten ging auf Große Fahrt. Laut Fahrplan würden wir elf Monate unterwegs sein, die Liste der Häfen war lang: über Genua und Port Said nach Bombay, nach Colombo und Rangun und schließlich nach Amerika, wo wir unter anderem New York und New Orleans anlaufen sollten.

Ich hatte es geschafft.

Die GOLDENFELS

GOLDENFELS

Erste Reise

Wenn Bootsmann Jan Przybylak von seinen zwölf Kadetten sprach, redete er nur von den »jungen Löwens« oder von seinen »starken Kerls«. Im Ton lag Stolz, auf seinem Gesicht ein wissendes Lächeln. Wir Kadetten hatten auf der Schule Steuermann oder Handelsmarine als unseren Berufswunsch angegeben, auf dem Ausbildungsschiff Goldenfels sollte Bootsmann Przybylak dafür die praktischen Fundamente legen.

Die HANSA-Reederei vertraute ihm ihren seemännischen Nachwuchs an. So viel Verantwortung war für einen Bootsmann ungewöhnlich, zumal er ein kleiner, fragiler Mann um die fünfzig war, der rot und grün nicht voneinander unterscheiden konnte. Er trug eine mächtige Hornbrille mit schweren dicken Gläsern, die er ständig bergauf schob. Die Matrosen erzählten auch Geschichten von einer Zuckerkrankheit und einer altersbedingten Netzhautablösung. Warum er trotzdem noch zur See fahren durfte, deutete ein Steuermann an, der mit ihm schon auf mehreren Schiffen gefahren war: Es liege an einer Ausnahmegenehmigung, die ihm die See-Berufsgenossenschaft erteilt habe. Die Reederei mache ihren ganzen Einfluss bei maßgeblichen Behördenvertretern geltend, weil der Bootsmann die HANSA vor Jahren einmal vor einem Millionenschaden bewahrt haben soll. Die Hoffnung allerdings, jemals als Steuermann auf der Brücke zu stehen, war wegen seiner Farbenblindheit vergeblich, das wusste auch Jan. Seit er vor zwanzig Jahren zum Bootsmann befördert und damit direkter Vorgesetzter der Decksbesatzung geworden war, saß eine inzwischen zerschlissene, ehemals weiße Steuermannsmütze wie festgeschraubt auf seinem Schädel. Als Unteroffizier hatte er ein Recht auf diesen sogenannten Sonnenbrenner. Kaum jemand hatte ihn je ohne dieses Statussymbol gesehen. Der Bootsmann rasierte sich täglich nass, danach betupfte er Wangen, Hals und Kinn mit dem mentholhaltigen Rasierwasser Mennen, besonders in den Tropen halte Mennen die Frische besonders gut, meinte er einmal. Sobald ich mit dem Putzen seiner Kammer an der Reihe war, säuberte ich Duschkabine und Klo, Waschbecken, Spiegel und Fußboden, baute seine Koje, wischte Staub und brachte sein Rasierzeug wieder in Ordnung. Ich hatte große Achtung vor unserem Bootsmann und wollte von ihm wahrgenommen werden. Jan Przybylak ging fast nie mehr an Land, vertrat sich nur noch selten die Beine an der Pier. Alle größeren Häfen auf den fünf Kontinenten hatte er während der letzte fünfunddreißig Jahre gesehen. Er war nicht länger an der Welt interessiert. Stattdessen gab er seinen jungen Kerls mit auf den Weg, wo sie sich für wenig Geld maßgeschneiderte Anzüge machen lassen konnten, nämlich in Karatschi, gab uns Tipps, in welchem Hotel er sich im südafrikanischen Durban am wohlsten gefühlt hatte, im Edward, nannte uns eine Hamburger Adresse, wo wir gut und günstig Elektronikartikel einkaufen konnten, das Kaufhaus Brinkmann in der Spitaler Straße. Trotz schwacher Augen las er viel: Schifffahrtsbücher, »Die Wache« von Nikos Kavvadias stand in seinem Regal, auch Stevensons »Schatzinsel«.

Kurz nachdem ich in Bremen an Bord gegangen war, hatte Bootsmann Jan mich zu sich bestellen lassen. »Warum kommst du erst in letzter Minute an Bord?«

»Seesack und Sütterlin«, meine Antwort akzeptierte er, ohne nachzufragen.

»Heuerbaas Ludwig Lessing hat mir von deinen Schwierigkeiten erzählt. Ich wollte mir jetzt selbst ein Bild machen.«

Auf meine Frage, welche Seewache ich gehen solle, sagte er: »Der Erste Offizier teilt die Wachgänger und Tagelöhner ein, nicht ich.« Als ich mich wegdrehen und seine Kammer wieder verlassen wollte, fügte er hinzu: »Ich glaube, wir kommen gut miteinander aus. Wie heißt du eigentlich?«

»Hagen«, antwortete ich.

»Mit Vornamen?«

»Ja.«

»Nie gehört. Hier heißt du Hannes. Einverstanden?« Er sah zu mir hoch. Ich nickte. Diese Begegnung überraschte mich. Ein derart unverkrampftes Gespräch hatte ich nicht erwartet, eher eines zwischen Ritter und Knappe. Bevor ich seine Kajüte verließ, gab er mir noch einen Hinweis: »Wenn du Fragen hast zu Tauwerk und Taljen, Marlspiekern und Persenningen oder wann welcher Knotentyp bei welcher Gelegenheit angewendet werden muss: Halte dich an den Altmatrosen Walter Meyer. Bei Walli lernst du am meisten.« Dann wandte er sich wieder seinem Lesestoff zu. Ich drehte mich um und verließ seine Kammer.

Der Erste Offizier steckte mich in die Mittelwache, besser bekannt als Hundewache und ungeliebt, weil sie nicht nur nachmittags von zwölf bis vier dauert, sondern auch zu nachtschlafender Zeit. Sie findet prinzipiell unter der Führung des Zweiten Offiziers statt. Die daran anschließende Wache von vier bis acht leitet immer der Erste Offizier, gefolgt vom Dritten Offizier, der traditionell die Wache von acht bis zwölf unter sich hat. Da er meistens auch der jüngste Nautiker ist und seinen Brückendienst unter den wachsamen Augen des Kapitäns erst noch lernen sollte, wird sie auch Kapitänswache genannt. Die deutschen Seeleute hatten diesen klassischen Wachrhythmus einst von der Royal British Navy übernommen, und er gehörte seitdem zum bewährten Zeitkorsett. Die Glasenuhr war dabei behilflich. Mit einem einzigen Glockenschlag erinnerte sie die Wachgänger daran, dass die erste halbe Stunde ihrer Schicht vorüber war; alle halbe Stunde kam ein neuer Schlag hinzu, zum Wachwechsel waren es schließlich vier Doppelschläge. Mit ihnen endete der Törn des einen Offiziers und der des nächsten begann. Vor langer Zeit, zu Segelschiffszeiten, hatte auf der Brücke stets ein mit Sand gefülltes Stundenglas – daher Glasenuhr – gestanden, das alle halbe Stunde umgedreht werden musste. So lange brauchte der feine Sand, bis er von der oberen Stundenglashälfte in die untere gerieselt war. Damit die Bordgemeinschaft dann wusste, was die Stunde geschlagen hatte, griff ein Matrose den Klöppel der Schiffsglocke und verbreitete alle halbe Stunde die aktuelle Uhrzeit mittels der entsprechenden Anzahl von Schlägen über das ganze Schiff.

Bootsmanöver an Land in der Schiffsjungenschule Elsfleth

Während meiner ersten Seewache erreichten wir die Außenweser, fuhren ein paar Meilen über die Nordsee, an der Kugelbake, dem Wahrzeichen Cuxhavens, und an Brunsbüttel vorbei und von dort die Elbmündung flussaufwärts Richtung Hamburg. Unser erstes Etappenziel hieß Schuppen 80/81 im HANSA-Hafen. Drei Tage lang übernahmen wir Ladung für unsere Zielhäfen. Es stiegen auch zwölf Passagiere zu, Ingenieure und Techniker mit ihren Familien, die Arbeitsverträge mit dem Schah von Persien geschlossen hatten, und ein Soziologe, der nach Indien wollte.

In Hamburg wurde ich mit Jonny als Lukenwächter eingeteilt. Wir hatten uns schon vor dieser ersten großen Reise auf der Schiffsjungenschule in Elsfleth kennengelernt und wurden Freunde. Er kam aus Kiel und war dort als Schüler bereits Leistungsschwimmer gewesen. Keiner machte die Mädchen so unverblümt an wie Jonny, keiner von uns ging so direkt zur Sache wie er. Jetzt sollten wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Ladung unangetastet blieb. Die Hauptaufgabe dieses dumpfen und langweiligen Jobs bestand darin, Hafenarbeiter allein durch unsere Anwesenheit im Laderaum davon abzuhalten, sich nicht an den verstauten Kostbarkeiten zu vergreifen und fremdes Eigentum mitgehen zu lassen. Ladungsdiebstahl war ein beliebtes Hobby vieler Schauermänner, gute Gelegenheit macht fleißige Diebe. Sie gingen dabei trickreich vor: Während die einen Pensum arbeiteten und im Akkord Stückgüter in die Luken packten und in die flachen Zwischendecks zerrten, suchten ein paar andere Beute. Wir beide sollten nun verhindern, dass sie Holzkisten aufbrachen, Kartons aufschlitzten oder Schlösser knackten. Die ungleich höhere Hürde allerdings mussten sie erst danach überwinden: das Raubgut durch den Freihafenzoll zu schmuggeln. Kein Hafenarbeiter auf der Welt – und ein Hamburger schon gar nicht – ließ sich gern erwischen. Überführte Ladungsdiebe wurden von ihren Arbeitgebern fristlos entlassen. Besonders begehrt waren Zigaretten, Schweizer Uhren, Elektronikartikel, Kaffee, Haushaltswaren und Klamotten – alles Sachen, die ein Schauermann bei Hehlern auf dem Hamburger Kiez gut losschlagen konnte.

Jonny und ich mussten hellwach sein: Einerseits sollten wir keinen Krach riskieren und die Männer in Ruhe arbeiten lassen, denn diese standesbewussten Typen waren nicht gerade zartbesaitet und setzten ihre Interessen gern nachdrücklich mit barschen Worten und Prügelandrohung durch. Andererseits sollten die Lukenwächter zuallererst die Interessen des Schiffes und seines Reeders vertreten, der wiederum mit Ladungseigentümern und Versicherungsgesellschaften nicht in Streit und juristische Händel geraten wollte. Obwohl der Job des Lukenwächters somit nicht ganz risikolos war, gehörte er dennoch zu den besten Gelegenheiten, die begehrten, weil einträglichen Überstunden zu schieben, ohne sich groß krumm zu machen.

Unser nächster Seehafen war Rotterdam, weltweit der größte überhaupt. Nachts gegen drei – viele Stunden vor der Ankunft – kam ein Lotsenboot an Steuerbord längsseits. Ein erstaunlich schweigsamer Seelotse kletterte an der Jakobsleiter die Bordwand hoch, nahm die Aufgänge zur Brücke und äußerte sich dabei nicht mal mit einem einzigen Wort zur aktuellen Wetterlage. Sehr ungewöhnlich, wir aber reagierten nicht darauf. Ein schwerer Fehler, wie wir bald erfahren sollten, denn nach einer knappen Stunde vollzog die Goldenfels urplötzlich eine Vollbremsung. Zwei heftige aufstoppende Bewegungen durchliefen das Schiff, als würde eine Riesenschaukel auf dem Rummelplatz jäh abgebremst werden. Die Wachgänger auf der Brücke und in der Maschine stieß es nach vorn, sie schwankten wie Getreide im Wind und fanden gerade noch rechtzeitig Halt. Die Hauptmaschine wurde abgestellt, eine unbehagliche Stille legte sich über das gerade noch vor Leben vibrierende Schiff. Reglos wie ein totes Flusspferd lag es im flachen Wasser. Wir waren gestrandet. Aufgelaufen! Mit das Hässlichste, was einem Seemann widerfahren kann. Wir schaukelten nicht länger auf leisen Nordseewellen, wir saßen fest auf weichem Sand, lagen mit plattem Bauch still und bewegungslos wie im Trockendock. Die westfriesische Insel Terschelling hielt uns fest und gab uns nicht wieder frei.

Der schweigsame Seelotse hatte allen Grund, schweigsam zu sein: Er war betrunken. Er hatte unseren West-zu-Süd-Kurs verlassen und war auf Südwest gegangen – fünfzehn Meilen zu früh! Auf diesem neuen Kurs lag jedoch die holländische Insel im Weg und auf ihrer flachen Westspitze jetzt die Goldenfels. Der Rudergänger war wie aufgelöst, glaubte, einen Fehler gemacht zu haben. Aber der Steuermann konnte ihn beruhigen, ihn traf keine Schuld. Der schweigsame Seelotse schlief derweil auf den bequemen Brückensessel seinen Rausch aus. Wir bugsierten ihn später in die Lotsenkammer, wo ihn die Polizei nach Ankunft in Rotterdam in Empfang nahm. Trotz allem hatten wir Glück: Nach einer Stunde setzte die Flut ein, das Wasser stieg, wir hörten ein leises Schmatzen und Glucksen, bekamen mehr und mehr Wasser unter den flachen Kiel und schwammen schließlich vollständig auf, ganz ohne Schlepperhilfe. Allein die zurückkehrende See hatte uns in dieser hochpeinlichen Lage geholfen und die Goldenfels von der Sandbank befreit. Gegen Mittag legten wir in Rotterdam an, wo wir im sogenannten Felshafen, der nach den Schiffen der HANSA-Reederei benannt wurde, festmachten. Es war unser letzter Aufenthaltsort in Nordeuropa.

Ich dachte an den Abschied von zu Hause, an Pfannkuchen mit Amaretto und den blühenden Bauerngarten und daran, dass es nun unwiderruflich auf Große Fahrt gehen würde. Gedankenverloren schlenderte ich ziellos durch den Hafen und landete am Tresen des Felsenkellers, gut zehn Minuten von meinem Schiff entfernt. An der Bar bestellte ich ein Bier und genoss die Sprachmelodie des holländischen Barkeepers. Völlig unerwartet trat eine Frau von hinten an mich heran, so dicht, dass wir sogleich hautnah aneinanderklebten. Eine Weile blieben wir so stehen, ich war gespannt, wie es weitergehen würde. Ich war noch nie mit einer Frau zusammen gewesen, war aufgeregt und neugierig, wer da hinter mir stand. Ich drehte mich langsam zu ihr um; sie war einen halben Kopf kleiner als ich, hatte kurze rotblonde Haare und trug ein enges, hellblaues Kleid ohne Dekolleté. Ihr Name war Rheé, sie war vielleicht zwanzig – drei Jahre älter als ich. Wir setzten uns auf Barhocker an einen runden Tisch, tranken weißen Rum, tanzten Becken an Becken nach englischen Hits und landeten später in ihrem Apartment in der Heenekijnstraat in der Rotterdamer Innenstadt. Vor diesem Augenblick hatte ich mich immer gefürchtet und ich erzählte ihr von meiner Angst. Sie lachte nur, sagte etwas Nettes auf Holländisch und nahm mir alle Befangenheit. Wir liebten uns die ganze Nacht, es war bereits hell, als sie mich zum Schiff begleitete. Von da an sahen wir uns jedes Mal, wenn mein Schiff Rotterdam anlief.

Der Felshafen war bei Seeleuten sehr beliebt, was nicht zuletzt am Bäcker von Laboe lag, einem zuvorkommenden holländischen Handelsmann, der sein schnell wachsendes Geschäft in den Fünfzigern mit einem Bauchladen in seinem gleichnamigen Stadtteil gegründet hatte. Anfangs lief er mit frischen Semmeln und süßen Kuchen von Schiff zu Schiff und verkaufte Seeleuten sein Backwerk, daher sein Spitzname. Inzwischen aber gab es nichts, was er nicht hätte liefern können. Auf der Goldenfels waren gefütterte Winterstiefel und eine Fellmütze samt Ohrenschützern für einen Matrosen bestellt worden, für einen Jungmann und drei Leichtmatrosen je ein Paar Arbeitshandschuhe, für den Zweiten Offizier ein Schachbrett, den Leitenden Ingenieur Luftpostpapier und für uns alle eine englische Darts-Scheibe mit zehn Pfeilen, die aus der Gemeinschaftskasse bezahlt wurde.

Und dann fragte der Bäcker von Laboe während der Tea Time-Pause, die vormittags von zehn bis zehn Uhr zwanzig abgehalten wurde, in der Mannschaftsmesse: »Ist hier ein Hagen an Bord?«

Ich hatte nichts bestellt, reagierte aber auf seine Frage. Er kam auf mich zu und händigte mir ein rotes, quadratisches Kästchen aus. Darin fand ich ein goldenes R. Es stand für Rheé.

Das Schiff

Mein Schiff als riesiger Scherenschnitt: Masten, Ladepfosten und-bäume strebten in den Abendhimmel hinein. Sie standen senkrecht zum Hauptdeck und senkrecht zu dem lang hingestreckten Schiffskörper auf schwarzem Wasser. Lasttaljen, Hanger und Winden forderten Beachtung – ein jedes Teil für sich allein und alle gemeinsam. Die flachen Aufbauten der mittschiffs gelegenen Brücke und das Achterschiff vollendeten den Anblick der kunstvollen Silhouette dieses schweren Stückgutfrachters. Durch die Vielzahl der Ladebäume mit all den Drähten, Renner und Faulenzer genannt, den Geien und Blöcken mit ihrem laufenden Gut, gewann man den Eindruck, dass dieses Schiff höchst kompliziert zu handhaben sei. Tatsächlich aber hatte sich dieser Typ seit vielen Jahren in der Fahrt bewährt. Bei seinem Anblick schlug echten Seeleuten das Herz höher und uns Kadetten schmeichelte die Erkenntnis, auf einem so schönen Schiff zu fahren. Dieses Meisterwerk – hundertsiebzig Meter lang und neunzehn breit – sollte für ein Jahr unsere Heimat werden, auf der Goldenfels würden wir arbeiten, Geld verdienen und dabei die Welt erfahren. Schon nach ein paar Tagen sollten wir erkennen, dass hier Schwerstarbeit von uns zu leisten war: Giene und Schäkel, Herzplatten und Spannschrauben, Königsgeien und Stahlmatten – alles, was wir anpackten, war schwer und wuchtig, massig und gewaltig. Wir hatten eben nicht auf einem Operettenschiff angemustert, auf dem blaue Uniformen und goldene Kordeln spazieren geführt wurden, sondern auf einem Schwergutfrachter.

»Schiff: M/S ›GOLDENFELS‹, Fahrtgebiet: große Fahrt«. Auszug aus dem Seefahrtbuch des Autors

MS GOLDENFELS, August 1962

Die Schiffsmitte war geprägt von den weißen Aufbauten mit dem Peildeck und der Kommandobrücke mit ihren beiden Nocken. Im Deck unter der Brücke lag das Reich von Kapitän Otto Mendel mit großer Kajüte und dem weitläufigen Salon, darunter wohnten seine drei Nautischen Offiziere, alle schön weit weg vom Lärm der Hauptmaschine und dem Alltag der Matrosen. An der Rückseite dieser Mittschiffsaufbauten war der Schwergutbaum befestigt, hundertfünfundsechzig Tonnen konnte er auf einen Schlag heben, ein Schiff wie ein Herkules. Damit konnte die Reederei es auch dort einsetzen, wo Häfen noch ohne eigene Kräne waren, wie in Afrika oder auch in Indien.

Auch die Aufbauten des Achterschiffs strahlten weiß und hell wie eine mediterrane Jacht. Aus ihnen wuchs ganz oben – wie ein Burgfried aus dem Fels – ein mächtiger Schornstein empor, von vier Rettungsbooten eingerahmt. Ein Deck tiefer machten es sich die zwölf Passagiere bequem, darunter wiederum lagen die Einzelkammern der Ingenieure, die Offiziersmesse, Versorgungsräume und das Hospital. Lagerhalter, Boots- und Zimmermann logierten mit Chefkoch und Kajütsteward in Einzelkammern auf dem Hauptdeck. Dort lagen auch Kombüse, Kühlräume und Mannschaftsmessen.

Wir Schiffsjungen lebten, wie auch die Matrosen und Heizer, ganz unten im Achterschiff zwischen Maschinenraum und Ladung – nur wenige Fuß über der Wasseroberfläche, dort, wo es eng und dunkel zugeht – in unmittelbarer Nähe des Machtbereichs des Chef-Maschinisten, wo es zischte und dampfte, wo riesige Lüfter die Maschinen mit Sauerstoff versorgten, wo es nach Schmiere, Diesel und Getriebeöl stank; hier im Fettkeller war es rutschig, stickig und laut. In den Kammern und Unterkünften rüttelte es, Tassen schepperten in ihren Ablagen, Kaffee sprang aus den Mucken, Teller hüpften von den Tischen. Besonders schlimm war es, wenn das rigorose Rückwärtsmanöver »Zurück Voll« verlangt wurde.

Mein Zimmerkamerad Paul und ich richteten es uns dort in unserer sieben Quadratmeter großen Kammer so häuslich und gemütlich ein, wie es nur eben ging: Unter einer Tischdecke versteckten wir die Resopalplatte, vor die Bullaugen hängten wir Gardinen, fleißig rankende Süßkartoffeln zierten mit ihren grünen Blättern unser Reich. Neben den beiden Holzspinden hingen Waschbecken und Spiegel, unter den Bullaugen standen fest eingebaut eine hart gepolsterte Holzbank und ein kleiner Tisch, gerade mal so groß wie zwei Atlanten. Den einzigen Stuhl mussten wir bei Seegang laschen, damit er nicht gegen Wand und Koje krachte. Dicke Luft in unserem Heim verjagten Paul und ich, indem wir ein halbrundes Blech so in eines der Bullaugen klemmten, dass es über die Bordwand hinausragte. Der Fahrtwind belohnte uns dann sogleich mit salziger Frische. Brieste das Wetter dann allerdings auf und wir hatten vergessen, das Windblech rechtzeitig wieder einzuholen, schlug unser schönes Zuhause mit Atlantikwasser voll. Nicht selten schwammen auch Krebse und Fischlein zwischen salzwassergetränkten Schuhen, Socken und Wäschestücken umher. Bei Seegang legten wir, um während des Schlafs nicht aus der Koje zu kippen, ein eigens dafür vorgesehenes Brett in die entsprechende Halterung. Eigene Duschen und Toiletten waren den höheren Dienstgraden vorbehalten, wir mussten uns mit Gemeinschaftsduschen und -toiletten begnügen.

Ob Ober- oder Unterkoje – auf der ganzen Welt gab es für mich keinen vertrauteren Ort als diesen dunkelholzgetäfelten Schlafplatz! Nur ihn musste ich mit wirklich niemandem teilen. Messingleuchten sandten goldgelbes Licht in die enge Hütte. In diesem kleinsten und intimsten aller Weltenreiche träumte ich meine großen Träume. Hier bereitete ich Landausflüge vor und kehrte beschenkt wieder zurück, beklagte Niederlagen und suchte neue Hoffnungen, pflegte meine geschundenen Knochen und kam wieder auf die Beine. Hier überwand ich Bedrängnis und Bitterkeit, weinte vor Enttäuschung, Heimweh und Glück.

Mittelmeer

Hinter uns versank der Atlantik im weißen Kielwasser. Eine ganze Stunde benötigten wir, um Gibraltars Affenfelsen zu passieren, nahmen dann Kurs auf Kap da Gata im Südosten Spaniens und zogen zügig an Marbella und Malaga vorbei. Auf uns warteten Marseille und Genua, dort sollte die Goldenfels mit weiteren Waren beladen werden, bis kein Platz mehr an Deck und in den Luken frei sein würde. Nach dem ägyptischen Port Said würden wir den Suezkanal durchqueren und Abendland gegen Morgenland tauschen. Falls wir keine neuen Anweisungen erhielten, würden wir danach zur Ostküste Amerikas versegeln, oben von Boston angefangen über New York und Philadelphia bis hinunter in den Golf von Mexiko und dann die Südstaatenhäfen entlang westwärts bis nach Corpus Christi in Texas. Ich empfand mich als kleines, nützliches Rad im großen Seefahrtsgetriebe; ich verstand zwar viele Zusammenhänge nicht, aber ich spürte, dass ich dazugehörte. Ich war Teil einer Gemeinschaft, die Freude an ihrer Arbeit und ihren Abenteuern hatte. Ein Kollektiv, das es aufregend fand, durch die Welt zu stromern, in vielen Häfen und Kulturen anzuklopfen, eingelassen zu werden und wieder zu verschwinden; wir gehörten nirgendwo hin, wir gehörten nirgendwo dazu. Mir fehlte zwar mit diesem Typ Männern, mit denen ich hier lebte, jegliche Erfahrung, aber ihr Biotop lernte ich jetzt kennen – vor allem die Enge und Isolation, den Umgang miteinander, die Gepflogenheiten und den Alltag, der jetzt auch mein Alltag war.

Auch die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs kam mir gelegen. Ich hatte gerade die Mittelschule mit einer schwachen Drei geschafft und stand jetzt am untersten Ende einer Hierarchie von zweiundfünfzig Männern. Ich war nur Schiffsjunge und musste lernen, mich einzuordnen, wollte mich aber nicht unterordnen; ich wollte Augenhöhe, mich nicht verleugnen und meine Selbstachtung bewahren.

»An Bord machen sie dich fertig«, war ich an Land gewarnt worden. Dazu wollte ich es nicht kommen lassen. Und so begann mein Alltag an Bord: Gleich zu Beginn der nächtlichen Hundewache forderte mich der wachhabende Steuermann Dietmar Schwarz auf, das Ruder zu übernehmen und das Schiff zu steuern. Die Gelegenheit sei günstig, »nur auf hoher See kann man unbefangen das Steuern lernen, wenn andere Schiffe und alle Untiefen weit weg sind.« Ausreden seien zwecklos, auch das Steuern eines Schiffes gehöre zur Ausbildung. Ich aber hatte Skrupel, ein so großes Schiff schon allein zu lenken und sperrte mich.

»Stell dich hin und mach einfach, was dir dein Wachmatrose sagt. Dann lernst du es in ein paar Tagen.«

Mein Wachmatrose hieß Michael Cramer von Laue und galt als erfahrener Rudergänger. Er war ein freundlicher Typ, eher von kleiner Statur und blitzgescheit, niemanden an Bord nahm er so richtig ernst, alle mochten ihn. Michael überließ mir das Steuerrad, blieb aber an meiner Seite. Für mich kam jetzt alles darauf an, das Schiff auf Kurs und die aktuellen achtzig Grad auf dem Kreiselkompass gut im Auge zu behalten. Das klappte soweit auch ganz gut. Wir rauschten durch eine helle Septembernacht, und ich steuerte zum ersten Mal ein großes Schiff auf hoher See! Aufpasser Michael schärfte mir ein, den Ruderlagenanzeiger nur wenige Grade auf die jeweilige Seite zu legen und rechtzeitig gegenzuhalten, wenn das Schiff heftiger reagierte als vorgesehen. Auch solle ich große Ruderausschläge vermeiden, die machten das Schiff nur nervös. Ich fühlte mich mit diesen ganzen Anweisungen sehr schnell überfordert, und mich peinigten plötzlich auch noch Versagensängste, ich bekam Schweißausbrüche, meine Handflächen wurden nass. Ich trat nervös von einem Bein aufs andere und suchte mit verzweifelten Blicken Hilfe bei meinem Wachmatrosen. Der aber reagierte nicht. Ich wurde immer hektischer, versuchte Kurs zu halten, vergaß aber dabei, das Ruder rechtzeitig zurück auf Mittschiffs zu legen. Sekunden später hielt die Goldenfels auf die spanische Küste zu. Da aber wollten wir nicht hin. Als ich deshalb mit »Hart Steuerbord« die Gegenmaßnahme einleitete, schoss das Schiff wiederum weit über das Ziel hinaus und der Steven zeigte nun in Richtung Nordafrika. Auch dort wollten wir nicht hin, unser Ziel hieß Marseille! Es wollte mir einfach nicht gelingen, das Schiff einzufangen, es lief mir sprichwörtlich aus dem Ruder. Mir war die ganze Situation unendlich peinlich, denn jeder konnte an den Schlangenlinien der mäandernden Hecksee erkennen, dass hier ein Greenhorn am Ruder stand. Michael aber blieb die Ruhe selbst, löste mich endlich ab und brachte die Goldenfels wieder auf Kurs.

»Wenn du ruhig bleibst und die Nerven behältst, kannst du den Dampfer führen wie einen Ochsen am Nasenring«, gab er mir nach Wachende morgens um vier noch mit auf den Weg. Wenn ich doch nur schon gewusst hätte, dass ich bereits wenige Wochen später diesen Ochsen mit sicherer Hand an der Leine führen konnte.

Der Zweite Steuermann, Dietmar Schwarz, war für mich das, was man unter einem feinen Kerl verstand. Standesdünkel und Offiziersgehabe waren ihm völlig fremd, wichtig war ihm allein, dass jeder Einsatz zeigte und seinen Job so gut erledigte, wie es ihm möglich war. Er wohnte im niedersächsischen Verden an der Aller, war unverheiratet und hatte mit seinen sechsundzwanzig Jahren bereits das große Kapitänspatent A6 in der Tasche. Er strahlte große Selbstsicherheit aus, ganz ohne arrogante Attitüde. Berechtigte Kritik steckte er mit einem Lächeln weg und machte es das nächste Mal besser, bot aber auch, wenn es denn einmal sein musste, dem meist schweigsamen Alten, Otto Mendel, die Stirn. Schwarz war schnell im Kopf und artikulierte druckreif. Ironie gehörte zum verbalen Waffenarsenal dieses virilen, knapp ein Meter neunzig großen Mannes mit dem braunen Wuschelkopf und der steilen Falte über der Nasenwurzel. In Uniform sahen wir ihn nie, er legte keinen Wert darauf. Mit Matrosen und Heizern trank er gern ein Bier oder auch mehr, konnte aber ärgerlich werden, wenn sie seine Wache durch Gleichgültigkeit ins Gerede brachten. An Bordpartys, die der Alte für Diplomaten, Reedereikunden und -agenten im Ausland gelegentlich gab, nahm er nicht teil. Größtes Bedauern empfand er, weil er für sein geliebtes Schachspiel, das ihm der Bäcker von Laboe in Rotterdam an Bord gebracht hatte, bisher keinen ernst zu nehmenden Gegner gefunden hatte. Seine Landgänge bereitete er gut vor. Wenn es sich ergab, besuchte er Theater oder reiste ins Landesinnere, wenn ihn während langer Hafenliegezeiten Plätze oder Orte besonders interessierten. Er fuhr nach Kandy ins Hochland von Ceylon, nach Johannesburg weit ins südafrikanische Binnenland hinein und nach Washington D. C. in die amerikanische Hauptstadt, um sich das politische Machtzentrum der Welt persönlich anzusehen. Er machte keinen Hehl daraus, so früh wie möglich ein eigenes Kommando anzustreben, obwohl er noch nicht einmal Erster Offizier war. Ansonsten wollte er das Leben genießen – an Bord und an Land, »in Freiheit und Ordnung«, wie er das nannte, wobei er vor allem die Freiheit meinte. Er stand am Beginn einer aussichtsreichen Karriere. Der sechzigjährige Alte dagegen hatte sein Ziel erreicht und nahm nach vierzig Jahren Seefahrt das Ende seiner Berufszeit in den Blick. Die beiden mochten sich nicht besonders, aber sie achteten und respektierten einander.

In der Schiffsjungenschule Elsfleth, 1962

Während der ersten langen Reise wuchsen uns Anfängern Seebeine. Wir gewöhnten uns an das wohlige Schaukeln, aber auch an das nervende Vibrieren des Schiffes, wir stellten unseren Gang über Deck und unsere Schlafgewohnheiten darauf ein. Wir lernten das neue Milieu mit seinen starren Regeln und festen Ritualen gründlich kennen und uns zu verantworten in allem, was wir taten. Das Meer diktierte unseren Tages- und Nachtrhythmus, und wir lernten, dass ein Schiff niemals schläft, nicht auf See und nicht im Hafen. Langsam gewöhnten wir uns an die Vorstellung, weit und breit nur von Wasser umgeben zu sein: vor und hinter uns, rechts und links neben uns. Vor allem über tausend Meter unter uns. Oft genug war das Wasser auch da, wo es nun wirklich nicht hingehörte, nämlich an Deck und mitten unter uns.