Der Seemann und die Tänzerin - Hagen Deecke - E-Book

Der Seemann und die Tänzerin E-Book

Hagen Deecke

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Beschreibung

Sie lieben sich – und müssen sich doch trennen. Eine finanzielle Schieflage zwingt ihn zurück in ein Leben, in das er nie mehr hatte zurückkehren wollen. Für elf Monate heuert er als Kapitän auf einem Bohrinselversorger an. Sein Logbuch an Bord bezeugt, wie sehr ihn das belastet. Katrin, seine geliebte Frau, harrt aus in der großen Hansestadt, unterrichtet Ballett, Jazz und Modern Dance und ist für die Kinder da. Annähernd fünfzig Briefe verschleiern die Einsamkeit der beiden nur wenig – vielmehr drücken sie aus, wie verlassen sie ohne den anderen wirklich sind – hier wie dort. Dann endlich feiern sie das Leben und ihre Liebe, feiern ihre goldenen und silbernen Jahre. Bis ein Blitz aus drei Worten alles zerstört: Katrin hat Krebs. Tapfer stehen sie jeden Tag durch; zwei, die nicht fassen können, was ihnen widerfährt. Immer wieder gibt es Anlass zu Hoffnung und doch muss er zusehen, wie Katrin von ihm geht. Im Tagebuch verarbeitet er den schweren Weg und versucht, Beistand zu leisten, Abschied zu nehmen und sich dabei selbst nicht zu verlieren. Später kehrt er an den Ort zurück, den beide liebten.

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HAGEN DEECKE

DER SEEMANN UND DIE TÄNZERIN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte liegen beim Autor.

Lektorat: Barbara Lösel, Nürnberg, www.wortvergnügen.de

Layout und Cover: Andrea Neuhaus, Jörg Lapczuk, Hamburg

Fotos: S. 233 unten und S. 234 oben: Wolfgang Steche, Visum; alle weiteren: privat.

Transkription: Isabelle Begier

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

Inhalt

Teil

Das Jahr der Seefahrt

Teil

Unser letztes Jahr – Logbuch einer Zerstörung

Epilog

Für Max und Moritz

Teil 1

Das Jahr der Seefahrt

PROLOG

Was müssen wir tun, um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden? Die beiden saßen am langen Küchentisch ihrer Hamburger Wohnung und hatten ihre Hände aufeinandergelegt. So war es leichter, über beschwerliche Dinge zu reden, schließlich mussten sie es einmal besprechen. Sie brauchten eine Entscheidung, bei aller Liebe! Ihre Kinder waren sieben und zwanzig Monate alt.

Sie war es, die das Gespräch herbeigeführt hatte, sie wollte den Druck seiner Schulden nicht länger hinnehmen. Ihn hingegen belasteten seine Finanzen nicht sonderlich – die Bank hielt doch weiterhin schön still, nur einmal hatte sein Kundenberater, der servile Herr Kröger, gequengelt: Da müssen wir mal was tun – ohne aber je wieder darauf zurückzukommen. Trotz allem, es musste etwas geschehen.

Vor ihrer gemeinsamen Zeit war er vierzehn Jahre zur See gefahren, zuletzt als Kapitän mit großem Patent1, er hatte unter liberianischer Flagge sehr gut verdient. Schließlich aber hatte er bekennen müssen, dass aus dem Leben auf See nicht das ersehnte Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit erwachsen war, das er als junger Mann einmal herbeigeträumt hatte. Er fühlte sich von der Seefahrt getäuscht und hatte den Dienst quittiert, ohne freilich eine Vorstellung zu haben, wie sein Leben an Land aussehen sollte.

Was machen wir denn jetzt?, fragte sie, als die beiden alle Varianten durchgesprochen, jedoch keine schmerzfreie Lösung gefunden hatten. Beiden war klar, dass sie bei den Kindern zu Hause bleiben müsste, um zusammen mit ihrer Mutter die Ballettschule an der Hamburger Hochallee weiterzuführen. Es würde also an ihm sein, den Schlamassel zu beheben. Ich muss also wieder los …, sagte er bitter und konnte es nicht glauben. Er stand vom Küchentisch auf, ging ans Fenster und stand dort lange ohne ein einziges Wort. Tags darauf telefonierte er mit Kapitän Haase von der Reederei. Nur wenige Tage später ging er an Bord – wohin er nie mehr hatte zurückkehren wollen.

Während der acht Monate, die er auf bulligen Bohrinselversorgern in der nördlichen Nordsee und vor Westafrika verbrachte, schrieben sie sich sechsundvierzig Briefe, Briefe von See und von Land. Sie sprachen darin alles an, was sie bewegte. Außerdem schrieb er Tagebuch, ein privates Logbuch, das Erlebnisse, Gedanken und Träume festhielt. Auszüge davon legte er seinen Briefen bei. In diesem Jahr der Seefahrt entstanden Dokumente der Zeit- und Seefahrtsgeschichte und am Rande auch ein Spiegelbild dieser noch jungen Hamburger Familie.

Hier sind sie, die Briefe, Notizen und Tagebücher des Seemanns und der Tänzerin.

1Staatliches Befähigungszeugnis für nautische und technische Schiffsoffiziere

1

Entfernungsschilder stehen fast überall auf der Welt. In Feuerland und auf Vancouver Island, in Kapstadt und Panama. Zu den bekanntesten in Nordeuropa gehört die Distanzbake von Longyearbyen. Am Flughafen von Spitzbergen zeigt sie an, dass es von der norwegischen Inselgruppe in der Grönlandsee genau 1.309 Kilometer bis zum Nordpol sind und in welche Richtung man loslaufen muss – Kurs Nord und immer schön geradeaus. Rechts entlang, gen Osten, sind es bis Tokio 6.830 Kilometer und nach unten, Richtung Süden, noch 2.743 Kilometer bis Hamburg.

Ob hier oben in Longyearbyen oder auf der Reise durch ihr Leben – Menschen entscheiden über ihre Ziele und Kurse immer wieder neu. Aufgrund neuer Erkenntnisse wollen sie ihren einmal eingeschlagenen Kurs ändern und Ziele neu bestimmen. Ihr bisheriges Lebensziel erachten sie nicht länger als erstrebenswert. Genau darum ging es auch mir: Ich wollte nicht noch weitere Jahre zur See fahren, denn die Seefahrt fühlte sich für mich inzwischen als falsch an, sie hatte ihre Versprechen nicht gehalten. Was aber in Gottes Namen konnte ich an Land Sinnvolles tun, verstand ich doch lediglich etwas von Schiffen, von der Seefahrt und vom Meer? Ich suchte in mir nach Fingerzeigen wie die auf Longyearbyen, doch die zeigten sich nicht.

An Land orientieren sich die Menschen an Wegmarken und Meilensteinen. Seeleute bestimmen ihren Standort selbst und legen, sobald sie ihn aufgrund von Beobachtungen festgestellt haben, ihren Kurs selber fest. Aber wenn du nicht weißt, wo dein Schiff gerade steht, darfst du auch keine Kursänderung vornehmen, hatte mich mein kluger Kapitän Friedrich Toller einmal gewarnt und mir damit eine seiner tiefen Einsichten ans Herz gelegt. Doch als ich nach vierzehn Jahren Seefahrt Mitte der siebziger Jahre zurück an Land ging, war ich genau in dieser Situation. Ich ignorierte die Erkenntnisse des Kapitäns und änderte meinen Lebenskurs, ohne weder meinen Standort noch ein Ziel zu kennen. Ändere deinen Kurs nur, wenn du auch sicher weißt, wo dein Schiff gerade steht, hatte er gewarnt, sonst knallst du auf die Rocks. Ich hielt mich nicht an seine Maxime und knallte auf die Rocks, auf die harten Tatsachen des Lebens. Bis ich aus dem Off schließlich einen Hinweis erhielt – ein einziges Wort nur – ein Zauberwort, nach dem ich unbewusst schon länger verlangt hatte. Als ich es endlich kannte, gab es meinem Leben eine radikal neue Richtung und einen tiefen Sinn. Schifffahrtsjournalist, so hieß das Wort, das ich gesucht hatte.

2

Das Sesam-öffne-dich-Wort Schifffahrtsjournalist hatte mich elektrisiert, hatte Funken geschlagen. Mit neuer Energie aufgeladen, ging ich umgehend daran, mir Kontakte in der mir völlig unbekannten Welt des Journalismus zu suchen. Ich wollte erfahren, wie Journalismus geht, wie er sich anfühlt, und staunte selbst ein wenig darüber, was ich mir zutraute. Bisher hatte ich kein einziges Wort veröffentlicht. Ich wollte vor allem wissen, ob es in meinem Fachgebiet überhaupt eine Chance gab oder doch nicht. Musste ich Voraussetzungen mitbringen? Keine, hörte ich, wenn du schreiben kannst, wäre das von Vorteil, wenn nicht, fliegst du sowieso gleich wieder raus. Keine Minute kam in mir nur ein einziger Gedanke an lästige Kontostände hoch. Schwarze Zahlen oder rote, das war mir in diesen Tagen völlig egal, sie lenkten nur ab.

Ich hatte von einer Akademie für Publizistik in der Magdalenenstraße in Hamburg gehört und rief dort umgehend an.

Zwei Plätze wären noch frei, Sie müssen sich beeilen, sagte die Sekretärin.

Einen nehme ich. Sofort buchte ich den auf sechs Wochen angelegten Kursus.

Kurt Maschmann, Leiter der Akademie und Chefredakteur der Hamburger Morgenpost, begrüßte mich sieben Tage später zu Lehrgangsbeginn. Einen Seemann hatten wir noch nie hier, sagte er und wünschte mir eine gute Zeit. Wir lernten, was Cicero bedeutet – eine Schriftgröße; wir erfuhren, was eine Meldung ist, wie sie verfasst wird und was sie von einem Kommentar unterscheidet. Wir lernten, wie eine Redaktion aufgebaut ist, was eine Redaktionskonferenz ist und was dort entschieden wird, was ein Chef vom Dienst zu tun hat und was Artikel 5 des Grundgesetzes über Meinungsfreiheit sagt. Ich war begeistert.

Spiegel-Redakteur Hellmuth Karasek brachte uns in seinen unterhaltsamen Vorlesungen bei, wie man ein Interview führt und Texte aufbaut; er ermunterte uns, sprachlich kreativ zu sein. Als Beispiel gab er eine seiner neuen Kreationen zum Besten: etwas zu verhollywoodsen, wenn man etwas versüßen will. Auch andere Edelfedern von der ZEIT und vom stern gaben ihr Wissen und ihre Erfahrungen an uns weiter. Der Journalismus erlebte gerade eine goldene Phase, die Auflagen der Zeitungen und Magazine stiegen und stiegen, sie stürmten dem Himmel entgegen.

Während des Lehrgangs bewarb ich mich bei Werner Titzrath, Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, um eine Anstellung. Gleich morgen können Sie anfangen, sagte er nach einem halbstündigen Gespräch und stellte mich als Volontär ein, danach sehen wir weiter. Ich beendete zuerst noch den Lehrgang an der Akademie und volontierte dann in allen Ressorts: Politik, Kultur und Lokales, Wirtschaft, Sport und Panorama. Siebenhundert Mark brutto verdiente ich im Monat, ein Bruchteil dessen, was ich zuletzt an Bord bekommen hatte. Nach einem Jahr Volontariat gab Werner Titzrath mir einen unbefristeten Redakteursvertrag.

Meinen Lebensstandard schränkte ich nicht ein. Das Leben war schön. Ich lernte Katrin kennen. Mit jeder Reportage wurde es schöner. Ich schrieb über verdächtige Frachter im Hafen, über das gerade im Aufbau befindliche Wrackmuseum Cuxhaven, einen Schlickschlittenfahrer im Nordseewatt, über Verhandlungen vor dem Seeamt, über Reedereien, Kapitäne und Matrosen.

Mein Minuskonto allerdings schwoll Monat für Monat weiter an wie eine bedrohlich steigende Flut, bis der Geldautomat streikte. Die Gespräche mit Herrn Kröger von der Sparkasse – (Wann kommt denn wieder was rein?) – wurden zur Belastung. Bis schließlich nichts mehr ging und die Rückkehr auf einen Dampfer unausweichlich wurde.

3

Als Katrin und ich die Entscheidung getroffen hatten, mir einen neuen Dampfer zu suchen, war mir das Bild der Distanzbake von Longyearbyen in den Kopf gekommen. Mein Ziel kannte ich nun: schuldenfrei werden und meine Familie zuverlässig versorgen können. Nun galt es, diese drei Schlussfolgerungen zu ziehen: Schätze ein, wie weit der Weg zum Ziel noch ist. Mache deutlich, was dich daran hindert, es zu erreichen. Und stelle dich auf die Widerstände ein, die dich davon abhalten wollen, deiner Bestimmung zu folgen.

Katrin und ich hatten in vielen, oft hochgehenden Diskussionen unsere Position – also unsere familiäre Standortbestimmung – vorgenommen und aufgrund meines zu erwartenden Verdienstes auf See überschlagen, dass ich vielleicht acht, allenfalls zehn Monate zur See fahren müsste, um meine finanzielle Stabilität wiederzuerlangen. Und – als Gegenprobe – was schlimmstenfalls passieren würde, wenn ich nicht wieder losfahren, weiter immer nur ins Blaue hoffen und mein Verhalten nicht ändern würde: Ich werde auf die bitterharten Felsen des Lebens knallen. Zuerst würde ich persönlich auf die abschüssige Bahn geraten, in deren Folge finanziell stranden und meine Familie mit hinunterziehen. Ich würde den Respekt vor mir selbst verlieren und gesellschaftlich ins Abseits geraten.

Wir würden scheitern, wenn ich nicht aufhören wollte, mit Ausflüchten und Spitzfindigkeiten zu jonglieren, ich hatte meine Lage lange genug beschönigt. Ich musste mich – Herrgott noch mal – an meine ureigenen Einsichten halten und endlich auch das umsetzen, was ich selbst lange für richtig erachtet hatte! Doch trotz aller Vorkehrungen, die ich traf, um wieder loszufahren, konnte ich meine heimliche Hoffnung auf eine Möglichkeit nicht länger verheimlichen: eine wirkliche Big Story auszugraben. Und wenn sie dann geschrieben wäre, würde ich sie für Big Money an ein Magazin verkaufen und aller Sorgen ledig sein. Fantasien eines Unverbesserlichen, der alles darum geben würde, bei Frau und Kindern bleiben zu können. Eines Mannes, der nicht wieder in ein schmuddeliges Bordmilieu zurückfallen wollte.

Ungeachtet unserer Entscheidung sah es zunächst noch so aus, als könnte ich tatsächlich zu Hause bleiben, und ich glaubte kurz, nicht wieder loszumüssen. Drei Alternativen hatte ich herausgefunden und daraufhin bewertet, ob sie meine finanziellen Probleme lösen könnten: Die Festanstellung als Wirtschaftsredakteur bei einer Tageszeitung war die eine reale Option. In diesem Bereich kannte ich mich aus, hatte ich doch schon einmal beim Hamburger Abendblatt als Redakteur gearbeitet. Eine weitere Chance sah ich darin, mich als Nautischer Inspektor bei einer Reederei zu bewerben, deren Schiffe zu betreuen oder als Ladungsoffizier – als sogenannter Supercargo – Verantwortung zu übernehmen. Eine dritte, allerdings eher vage Chance sah ich darin, mich als Lotse im Hamburger Hafen, auf der Elbe oder auf der Außenelbe zu verdingen. Ich kannte Klaus Petersen ganz gut, den Ältermann2 der Hamburger Elblotsen, und sprach ihn an.

Wir sehen uns fortwährend nach Neueinsteigern um, hatte er wohlüberlegt geantwortet, mit dem großen Kapitänspatent bringst du ja die Voraussetzungen mit, aber du müsstest erst einmal für zwei Jahre als Lotsenanwärter mitfahren und langsam in die Lotserei hineinwachsen.

Mit anderen Worten: In zwei Jahren erst hätte ich mich über die dann allerdings sehr stattliche Lotsenheuer freuen können. Bis dahin wollte und konnte ich allerdings nicht warten, weil ich meinen Ausflug aufs Meer zeitlich begrenzen und weitaus früher hinter mich bringen wollte.

Als ich zudem noch erfahren hatte, was ich in den drei ins Auge gefassten Berufen verdienen würde, kehrte ich enttäuscht an den Küchentisch zurück. Katrin teilte meine Auffassung. Das habe ich mir ganz anders vorgestellt, sagte sie abgekühlt, ich dachte, diese Berufe würden bedeutend besser bezahlt werden.

Geht mir genauso, stimmte ich zu.

Die Gegenprobe hatte ergeben, dass ich als Erster Offizier auf einem Versorger in der Ölbranche weit mehr als das Doppelte rein netto verdienen würde; meine Aussichten auf eine gepflegte Seemannsheuer stand also, verglichen mit den Einkommen an Land, weitaus besser da.

Warum die Verdienste an Land und auf See so bemerkenswert voneinander abwichen, liegt an der 183-Tage-Regelung. Wer seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik abmeldet und sich länger als ein halbes Jahr, also 183 Tage, im Ausland aufhält, muss keine Steuern entrichten! Und meine Schiffe – das wusste ich längst – würden unter Liberiaflagge segeln, unter dem Hoheitszeichen des westafrikanischen Landes Liberia. Insbesondere seine steuergesetzlichen Vorzüge sollten wesentlich dazu beitragen, mir die Entscheidung um einiges geschmeidiger zu machen.

2Sprecher einer Lotsenbrüderschaft

4

Du kannst nicht einfach so deinen Seesack packen und mich hier alleinlassen, sagte Katrin am folgenden Morgen, die neue Situation, die kriege ich nicht einfach mal so hin, wie soll das denn gehen? Auf einmal bin ich dann mit allem allein. Und sie zählte auf, was da alles zusammenkommen würde, mit zwei Kleinkindern, mit Haushalt und Einkauf, mit den ganzen Tanzschülerinnen, wie soll das alles zusammengehen? Und fügte gleich hinzu: Auch mit den Freunden und der Freizeit, wie soll das denn alles gehen, ganz allein?

Katrin hatte ohnehin weitaus mehr zu tun als ich und nun sollte mein Anteil an Hausarbeit und Kinderbetreuung auch noch ganz wegfallen und von ihr zusätzlich geleistet werden müssen.

Unser neues Leben würde in etwa so aussehen: Ich würde zwei Monate ununterbrochen auf See sein und danach sechs Wochen meinen Urlaub zu Hause verbringen. Der neue Rhythmus, zwei Monate auf See und sechs Wochen bei der Familie, würde unseren Alltag bestimmen. Diese Perspektive, die noch am Tag nach der Entscheidung mit uns durch die Wohnung lief, hatte uns beunruhigt, uns den Schlaf geraubt. Ganz schlecht geträumt, muffelten wir, schwarze Träume gehabt, doch unsere Gereiztheit sollte kein Dauerzustand bleiben. Wir machten uns Mut, denn wenn wir das Problem erst einmal aufgegriffen und umgesetzt haben würden, wäre es auch schon beinahe geschafft. Unser harmonisches Familienleben würde beträchtlich gestört und völlig anders verlaufen; es würde uns emotional verunsichern, und nichts würde mehr so sein, wie wir es liebten. Denn eigentlich ging es zu Hause nicht ohne mich. Gleichwohl hatten wir so entschieden.

Schon wegen der Kinder mussten wir uns von außen Beistand holen; die beiden sollten behütet und versorgt werden, während Katrin montags bis donnerstags Ballettunterricht gab. Stina, unsere junge schwedische Bekannte, hatte schon öfter bei uns eingehütet und war mit den Kindern vertraut, sie würde gewiss öfter einspringen können. Auch Thoda, die herzenswarme Italienerin aus Milano, die seit Jahren in Hamburg lebte und gut Deutsch sprach, müssten wir noch fragen, ob sie öfter und regelmäßiger kommen könnte. Vielleicht könnte auch Staschi aus Hamburg-St. Georg für ein paar Stunden aushelfen. Durch unseren allgemeinen Umgang mit den infrage kommenden Kindermädchen wussten wir sie einzuschätzen und konnten ihnen vertrauen.

5

Katrin sah bekümmert aus und übernächtigt. Ihre Stimme klang dennoch ausgeruht, klaglos und von Überlegungen geleitet, wie denn all die Tage und Wochenenden auch ohne mich gehen könnten. Sie passte sich trotz ihrer Vorbehalte, wie sie das alles schaffen sollte, der neuen Lage schneller an als ich, was wohl auch daran lag, dass ich in Gedanken bereits an Bord war und die Tage und Nächte dort schon einmal durchspielte. Du wirkst bedrückt, bemerkte sie, aber vielleicht ist ja alles weniger krass als erwartet. Vielleicht, sagte ich mir daraufhin, vielleicht hatte sie ja recht und die Seeleute auf Versorgern würden, wenn es gut läuft, zivilisierter sein als jene auf den Frachtern in der großen Fahrt3. Auf Dampfern, Massengutschiffen, die Erz und Getreide transportierten, und Öltankern hatte ich so manches Jahr auf See verbracht, doch an meine Erfahrungen von damals wollte ich wirklich nicht anknüpfen, ich hatte genug davon.

Katrins pragmatisches Verhalten in dieser völlig neuen Lage war kennzeichnend für sie. Das Organisieren lag ihr, etwas zu gestalten, das gehörte zu ihren Talenten, und sie war auch bereit, diese Herausforderung anzunehmen. Wenn ich auch den Unterton einer leisen Vorhaltung in meine Richtung aus ihren Worten herauszuhören glaubte: dass ich ihr, den Kindern, ihren Eltern im Haus und unseren Freunden diese sauere Suppe vorgesetzt hatte. Aber so war es ja.

An diesem Sonnabend frühstückten wir im Bett, hörten Tom Jones‘ Delilah und Darlin und Hey Jude von den Beatles und fielen mit Ringo und George, mit John und Paul in ihren nicht enden wollenden Glücksrefrain Na-na-na, na, hey Jude ein. Taumelnd vor Glück und selbstvergessen fielen wir in Trance und mochten gar nicht mehr damit aufhören. Wir vergaßen unsere Beschwernisse, doch endlich, endlich mussten wir hinnehmen, dass selbst der beste Song irgendwann einmal zu Ende war. Und schon bald glaubten wir wieder daran, es schaffen zu können: unser Leben an den Hörnern zu packen und in unsere Richtung zu ziehen.

Marlene, gerade einmal zwanzig Monate alt, zuckelte mit ihrem Neng-Neng zwischen den Fingern, einem weichen Baumwolltuch gegen alle Unbilden der Welt, und einem Daumen im Mund, in unser Schlafzimmer. Schuschu, nuschelte sie, sie wollte kuscheln. Ich trug Maximilian ins extrabreite Elternlager, er strahlte und strampelte vor Vergnügen, als gäbe es kein Morgen für unseren sechs Monate alten Pamperspunker. Auf seinem Blondkopf ragten kräftige Haare wie bei einem Punk strahlenförmig in die Luft, als hätte er einen Finger in die Steckdose gesteckt. Manchmal riefen wir ihn aus Spaß so, unseren Pamperspunker.

Dieses lange Wochenende Ende Januar 1982 verbrachten wir in Nachthemd und Bademantel, stromerten durch die Wohnung, breiteten uns auf dem Wuschelteppich im großen Wohnzimmer unter dem Oberlicht aus, tranken Tee und Sekt und Saft und Milch aus der Flasche, hörten Lieder von Konstantin Wecker und Reinhard Mey, sangen laut mit. Lasen die kleine Raupe Nimmersatt vor und kritzelten weiße Blätter mit bunten Stiften voll. Bett- und Pralinentage nannten wir diese kollektive Leichtigkeit, wenn uns rein gar nichts aus unserer warmen Viersamkeit herauszulösen vermochte. Uns Eltern geisterte die bevorstehende Trennung in Herz und Kopf herum, wir wollten Liebe und Familienwärme auf Vorrat speichern, das war alles, was wir brauchten.

3 Befähigungszeugnisse, die für alle Ozeane und Meere zugelassen sind

6

Ein nasskalter, böiger Sturmwind vor der Haustür trieb abgebrochene Äste, schmutzige Papiertüten und Gemüsereste vom Isemarkt durch unsere Hochallee, an der wir an der Ecke zum Jungfrauenthal lebten – Sturm fuhr auch durch die Rothenbaumchaussee, über den Klosterstern und in den Eppendorfer Baum hinein, allesamt Straßen und Plätze aus dem alten Hamburger Klosterviertel. Katrin und ich waren zuversichtlich, richtig entschieden zu haben. Wenn alles vorbei ist, springen wir vor Freude an die Decke, ermutigten wir uns, wir verdrängen das Unvermeidliche und tun so, als wäre unser Leben nie anders gewesen. Wir redeten davon, dass uns das sonst so gewogene Lebensglück eine gewisse Besinnung zukommen lassen wollte, bis meine Verbindlichkeiten abgetragen sein würden. Wenn wir zusammenhalten, ist dieser Spuk schon bald vorbei, beschworen wir uns. Zumal wir wussten, für wen wir so entschieden und dass wir es aus eigener Erkenntnis heraus getan hatten.

Ursache für meine prekäre Finanzsituation war Leichtsinn, nichts anderes, gepaart mit Sorglosigkeit und Freude am Leben. Mein freiberufliches journalistisches Einkommen glich dem Up-and-Down einer Achterbahn, wenn es auch häufiger runter als rauf ging. Nur äußerst selten flossen stolze achttausend Mark vom stern auf mein Konto, wenn ich dort eine Reportage veröffentlicht hatte. Manchmal kamen zweitausend Mark für eine Story in der Bunten oder anderen Blättern, öfter tröpfelten nur wenige Hunderter im ganzen Monat für Beiträge in Tageszeitungen oder maritimen Fachzeitschriften – wirklich keine finanzielle Erfolgsgeschichte. Ein einziges Mal kam eine Reportage für den Spiegel hinzu. Der ohne Namenskürzel veröffentlichte und wie immer stark redigierte Text in dem Magazin munterte zwar mein journalistisches Ego auf, finanziell aber war es ein Fehlschlag.

Bei aller beruflichen Mühsal blieben meine monatlichen Kosten hoch – die Miete und das Auto, die Kleidung, die Versicherungen, der Urlaub. Zuallererst aber wollte der Kühlschrank gefüllt sein, und die Freude am Leben, was immer darunter angeführt werden mochte, sollte auch nicht zu kurz kommen. Eins kam zum anderen, nichts davon mochte ich missen, nichts von diesen Annehmlichkeiten mochten wir streichen.

Komm, wir gucken einmal bei Fischmeyers vorbei und holen uns für den Abend was Nettes, schlug Katrin vor; ich ging gern auch zu Schlachtermeister Beisser und ließ mir dort etwas von Herrn Krinke empfehlen. Wenn wir Herrn Quak vom Weinhaus Gröhl anliefen, um bei ihm Sekt und Sherry zu erstehen, kehrten wir entspannt nach Hause zurück. Allerdings nicht, ohne noch bei Frau Martens vorbeizuschauen, der legendären Eppendorferin mit ihrem einzigartigen Obst- und Gemüseladen am Klosterstern. Im Modehaus Klopsch ließ Katrin sich sportlich-elegante Hosen und Topps zeigen. Und ein paar Schritte weiter in der Buchhandlung Heymann empfahl uns Frau Lalowski ein gutes Buch. Allesamt altvertraute Geschäfte an der dörflichen Meile Eppendorfer Baum, deren Inhaber und Personal wir kannten und schätzten und die uns kannten und schätzten.

Mit ihrer seit Langem gut eingeführten Ballettschule erzielte Katrin ein ehrliches Einkommen, ohne das das alles nicht gegangen wäre. Ihre Mutter Gila hatte sie 1950 in der Isestraße gegründet und sie auf ein überdurchschnittliches Niveau in Hamburg gebracht, wie Zeitungen schrieben. Nun führten Mutter und Tochter die Schule gemeinsam. Ich dagegen verstand rein gar nichts von klassischem, Stepp- oder Jazztanz. Woher auch? Ich bewunderte die Tänzerinnen jeden Tag aufs Neue, wenn sie lächelnd und scheinbar schwerelos körperliche Mühsal auf sich nahmen und dabei ihre graziösen Bewegungen aussehen ließen, als wären ihre Körper leicht wie Musik oder Blumen, als wären menschliche Körper allein dafür gemacht, mühelos durch hohe Räume zu schweben. Mir erschlossen sich Ballett und Tanz als eine anmutige und hohe Form der Kunst, mit der ich, bevor ich Katrin kannte, auch nicht nur einen Tag in Berührung gekommen war.

7

Im Kontrast zu meinen Tagen an Bord stellte sich mir das Hamburger Großstadtleben in mancherlei Hinsicht wie ein wilder Galopp dar. Ein ständiger, wenn auch fein austarierter ziviler Wettstreit in den Redaktionen, in denen festangestellte Redakteure untereinander und mit freien Journalisten auf gesittete Art und Weise darum rangelten, ihre jeweils eigenen Stücke – Texte und Fotos – ins Blatt zu heben, bestimmten den Redaktionsalltag. Zurückhaltender verhielt sich die Konkurrenz bei Kleidung, Automarken und Reisen in angesagte Urlaubsregionen: im Sommer ans Meer, im Februar/März in den Schnee. Und nicht zuletzt verglich man sich bei Partnern und Partnerinnen: Wer fesselte den begehrtesten und sportlichsten Typ, wer band die attraktivste und erfolgreichste Frau an seine Seite? Einer derart wetteifernden, wenn auch nicht offen ausgetragenen Gangart war ich zuvor nicht begegnet, hatte allerdings auch niemals zuvor selbstbestimmt an Land – geschweige denn in einer Metropole – gelebt.

Gleich nach dem Schulabschluss hatte ich auf einem Schwergutfrachter angemustert, direkt aus dem Klassenzimmer weg. Die Hände noch weich vom Bleistifthalten, das bartlose Gesicht noch ohne jede Furche. Ich war zur See gefahren, okay, aber das war’s auch schon. Vom Leben und Zusammenleben an Land verstand ich gar nichts, die meisten hatten mir da einiges voraus. Das gesellschaftliche Miteinander in der Stadt – der Sport und die Partys, die Kino-, Bar- und Kneipengänge, die Restaurantbesuche und geselligen Abende und Wochenenden, aber auch der berufliche Alltag mit seiner Fülle an Überwachung und Fremdbestimmung – nichts davon hatte ich erproben können. In abgeschotteten Bordgesellschaften allerdings, da kannte ich mich gut aus: mit Enge und Zwängen, mit Konflikten und Unfreiheiten. Aber ich war eben nicht länger an Bord, das musste ich mir klarmachen! In der urbanen Unrast Hamburgs mit seinen offenen und verborgenen Abhängigkeiten zurechtzukommen, überforderte mich. Ich fremdelte. Und musste erst noch lernen, die wettbewerbserprobten und so selbstsicheren Großstädter zu nehmen, wie sie waren, und wollte mich ihnen gegenüber doch auch behaupten.

8

Mangels Erfahrung und belegt mit einer Portion Sorglosigkeit, war ich aufgrund von Druck und Anspannung sanft in eine finanzielle Schieflage gerutscht. Meinen Herrn Kröger von der Sparkasse konnte ich für meinen laxen Umgang mit Geld keine Schuld geben, natürlich nicht. Aus meiner heiklen finanziellen Lage wieder herauszufinden, da kam es allein auf mich an, auf wen denn sonst? Eine zwar einfache, aber späte Erkenntnis mit herben Folgen.

Meine behutsame Anfrage bei Kapitän Hans Haase, dem Personalinspektor der Reederei VTG Vereinigte Tanklager Gesellschaft in Bremen, ob ich eventuell mit einer Anstellung rechnen könne, hatte dieser positiv beschieden und mich vorsorglich schon einmal als Ersten Offizier auf einem sogenannten Versorger vorgemerkt. Das internationale Ölgeschäft florierte. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie einsteigen wollen, warb er, ich suche immer Nautiker mit großem Patent. Versorger sind rund hundert Meter lange, PS-starke und wendige Schiffe, die auf dem Meer stationierte Ölbohrinseln, sogenannte Rigs, mit Ersatzteilen, Baryt, Trinkwasser und Proviant versorgen. Nach Vertragsabschluss würde ich, wie es üblich war, in das nordschottische Aberdeen fliegen, erläuterte er, und auf einen dort stationierten Versorger einsteigen. Doch ganz so weit war ich noch nicht. Immerhin, sagte ich mir, konnte ich doch froh sein, überhaupt eine wirklich anständig bezahlte Arbeit in Aussicht zu haben. Wenn auch in einem Umfeld, in das ich nie mehr zurückfallen wollte und – das war das schwer Erträgliche daran – das mich von meiner Frau und unseren beiden Kindern fernhielt.

Ein ebenso unangenehmer wie folgenschwerer Vorfall einige Wochen zuvor hatte mich auf meine kritische Finanzlage hingewiesen und mich in aller Deutlichkeit – ich muss es so drastisch sagen – vorgeführt. Dieser Vorfall erst hatte mich mit Haase telefonieren lassen. In meiner Sparkassenfiliale hatte ich den Geldautomaten damit beauftragt, mir 200 Mark herauszugeben; mehr sollten es heute nicht sein, es handelte sich um meinen gerade anfallenden Anteil für den Lebensunterhalt meiner Familie. Der Automat aber schüttelte sein elektronisches Haupt, weigerte sich, mir die verdienten Scheine herauszugeben und rührte sich nicht. No money, no honey, so nannten wir in der Seefahrt eine solche Situation. Kein Geld, keine Freude. Einen Augenblick lang wusste ich das freche Verhalten der Geldmaschine nicht zu deuten. Nur wenige Schritte brachten mich zu Herrn Kröger, meinem Kundenberater in der Kaiser-Wilhelm-Straße/Ecke Große Bleichen.

Können Sie mir das bitte erklären? Da muss was kaputt sein, beklagte ich mich.

Will mal nachsehen, was da los ist. Wie immer reagierte er verbindlich und ein bisschen trauerumflort, als ich vor seinem Filialtresen stand. War er nur bei mir so? War sein beflissenes Bankerleben so kummervoll, dass schon seine nach vorne fallenden Schultern Sorge und Resignation bekundeten und seine Sprache stockte, sobald er auf Kleinkunden wie mich traf? Da, da, nee, da is nichts kaputt da, nee. Er räusperte seine Stimme frei, als er wieder vor mir stand und es vermied, mich anzusehen. Ich kann keine Eingänge finden, Sie sind am Limit, ganz oben, das wird schwer. Ganz oben? Am Limit? Ein hässlicher Tag.

Aber da kommt was, ganz bestimmt, sagte ich vielleicht doch zu hastig.

Wie viel, was meinen Sie?

Runde 800. Von der Bunten, ist fest zugesagt.

Die Zeitschrift ist mir bekannt. Ich komme gleich wieder, bitte, sein Mundwinkel zuckte, er verschwand hinter der angelehnten Tür des Filialleiters. Es dauerte recht lange, das Gespräch meines Herrn Kröger mit seinem Chef. Was brauchen Sie denn?, fragte er, als er wieder vor mir stand.

100 Mark, bitte, mehr nicht, sagte ich ein bisschen zu devot. Ich war genervt, wollte eigentlich 200 sagen, knickte aber ein, aus Angst, er würde mit einem Nein zurückkommen, die Schultern kurz hochziehen und sich auf seinen Chef berufen.

Das geht durch, bestätigte er mit einem flinken Kopfnicker und reichte mir fünf Zwanziger, direkt in die ausgestreckte Hand, so über den Tresen hinweg. Wie beschämend. Wie oberpeinlich. Ich drehte mich weg, bekam gerade noch ein Danke heraus und verschwand ins Wochenende.

Gespräche dieser Art peinigten mich, nie mehr hatte ich ihnen ausgesetzt sein wollen, nie mehr. Und jetzt das. In diesem verdrießlichen Moment war ich wehrlos gewesen wie der Fisch am Haken und angewiesen auf das Wohlwollen des sanften Herrn Kröger. Eine Woche später: noch einmal dieser Jammer. Meine finanzielle Lage war nicht länger zu halten, deutlicher konnte ich nicht ermahnt werden. Und schon erinnerte mich meine innere Stimme, sozusagen als letzte Rettung im vorletzten Augenblick, an Kapitän Haases Worte: Ich suche immer Nautiker, und an die Seefahrt mit ihren finanziellen Verlockungen, die immer güldener am Horizont glänzten.

9

Katrins Tanzwoche begann mit der beliebten Montagsstunde. Zu Wochenbeginn probten die Schülerinnen das Musical Vier Teufel tanzen um die Welt, das Katrins Ballettschule im Herbst auf die Bühne des Hamburger Ernst-Deutsch-Theaters bringen wollte. Gerade kamen die Schülerinnen die Außentreppe des stattlichen Hauses hoch, schüttelten die Nässe aus ihren Haaren, drückten den Klingelknopf und stießen die mächtige Eingangstür auf. Zurück blieb ein kalter Februarwind, der durch die nackten Äste der Rotbuche blies. Von ihrer Krone flossen Rinnsale zu den Wurzeln hinab, hinterließen dunkle Spuren auf heller Borke. Die Schülerinnen fanden sich zur Abendstunde in der holzgetäfelten Vorhalle mit dunkelgrüner Bodenauslage ein und begrüßten einander, beleuchtet vom warmen Licht eines Jugendstilfensters, auf dem ein Segler still seine Bahn zog. Messingfarbene Wandleuchter mit halbrunden Schirmen schmückten den Raum; um den stillgelegten Kamin standen Stühle gut verteilt. In einer offenen Nische mit vergittertem Fenster, Kabäuschen genannt, stand ein flacher Tisch mit zwei Hockern, hier konnte gewartet und geplaudert werden.

Nach persönlichen Fragen – Geht’s deiner kleinen Tochter besser? Was macht dein verstauchter Knöchel? Wie war euer Familientreffen? – gingen sie in die Garderobe und machten sich tanzfertig. An die Beine zogen sie schwarze Strumpfhosen, an die Füße weiße Schläppchen aus Ziegenleder. Diese Ausstattung folgte den üblichen Gepflogenheiten, bei denen der Körper nicht unter Kleidung versteckt werden sollte, damit die gesamte Haltung – Füße und Beine, Arme und Hände, Torso und Gesicht – einsehbar blieb und korrigiert werden konnte. Ihre Oberkörper hingegen kleideten die Frauen in Trikots, die Haare fassten sie zum Dutt oder Pferdeschwanz zusammen.

Diese sogenannten Montagsstunden waren gerade sehr angesagt, weil die Tänzerinnen nicht nur physisch gefordert wurden, sondern insbesondere tänzerisch, denn die von Katrin festgelegten Choreografien waren recht kompliziert. Als Catarina ins Foyer kam, oft die Letzte, ging sie geradewegs auf Katrin zu. Hast du nachher einen Moment?, fragte sie, das interessiert dich bestimmt und deinen Mann vielleicht noch viel mehr.

Mach’s nicht so spannend, was ist denn passiert?, hakte Katrin nach.

Kann ich nicht so schnell erzählen, dauert `nen Moment. Ich hab da gerade was im Radio gehört.

Was soll das, dachte Katrin, dann hätte sie ihre Sache gar nicht erst ankündigen sollen. Sie war beunruhigt.

Um in ihren Ballettsaal zu gelangen, musste Katrin von unserer Wohnung lediglich zwei Stockwerke die Treppen hinunterlaufen. Zusammen mit den Kindern lebten wir im zweiten Stock, Katrins Mutter Gila und Stiefvater Hugo im ersten. Im Hochparterre war der Ballettsaal untergebracht, mein Büro im Souterrain. Manchmal stand Katrin im Tanzdress noch am Herd, bevor sie zum Unterricht hinunterging. Du bist eine wirklich elegante Köchin, neckte ich sie, während sie die Kartoffeln abgoss oder Gemüse putzte. Die allermeiste Zeit unseres privaten und beruflichen Lebens verbrachten wir in dieser von uns so sehr geliebten und vertrauten Stadtvilla, für die wir Jahr um Jahr, Monat für Monat einen gehörigen Mietposten aufzubringen hatten.

Der weite Ballettsaal mit seinen hohen Spiegeln lag lang und breit wie ein Handtuch direkt neben dem Foyer. Eines der hohen und blickdichten Fenster – dort standen auch Flügel und Lautsprecher – wies zur Hochallee hinaus. Die andere Stirnseite des Raums stieß an die Verandatür, von der eine Treppe in den Garten führte. Der Boden des Saals war mit Schwingparkett ausgelegt, die Decken stuckverziert, an den langen Seiten verliefen Ballettstangen aus Walnussholz. Eine Zehnerreihe dicker, weißer Lampenkugeln hing von der hohen Decke herab, sie verlief mittig durch den Saal und warf weiches Licht auf die Tanzenden. Vor Beginn jeder Stunde wärmten die Schülerinnen Sehnen und Muskeln, standen an der Stange und machten Gleichgewichtsübungen, lauschten Hugos Musik, die vor Stundenbeginn auf dem Kassettenrecorder lief.

Wenn der Unterricht begann, kam Hugo selbst in den Saal und setzte sich als Korrepetitor an den Flügel. Die Frauen spürten den Rhythmus und die Dynamik seiner Musik, ihre Körper folgten dabei Katrins Beispiel, denn jeden Schritt, jede Drehung, jede Arm- und Kopfbewegung wurde von Katrin vorgetanzt. Die Frauen blickten nur auf ihre gestreckten Beine und elegant geformten Hände und richteten ihre eigenen Bewegungen entsprechend aus. Bei Katrin sah das Tanzen so einfach aus. Im klassischen Ballett achtet man auf bestimmte Körpereigenschaften, auf einen hohen Spann zum Beispiel oder eine bestimmte Hüftstellung, erklärte sie einmal Besucherinnen, die wissen wollten, ob sie selbst auch für den Tanz geeignet seien. Im Grunde seien körperliche Eigenschaften aber keine Voraussetzung, steppen konnte man immer schon, auch mit Plattfüßen, ergänzte sie lachend. Der Steppraum mit seinem extraharten Fußboden lag im Keller, die metallenen Steppplatten an den Schuhen hätten das Parkett im Ballettsaal schon bald zertrümmert.

Die Ballettgruppe probte an einer Szene der Vier Teufel tanzen um die Welt. An diesem Abend nun wurde ein Auftritt geprobt, in dem die vier Teufel in Amerika gelandet waren und dort den Jazztanz kennenlernen sollten, um ihn später nach Hamburg zu bringen. Wenn eine Tänzerin unsicher war und sich an Katrin wandte, um sich eine bestimmte Position noch einmal zeigen zu lassen, machte Katrin die Schritte vor und sagte dabei: Folge der Musik und deinem Körper, er sagt dir immer, ob du es richtig machst.

Alle einzelnen Bestandteile des Musicals kamen aus Katrins Familie: Hugo komponierte die Musik, Tante Marilies schrieb das Libretto, Katrin verantwortete Choreographie und Kostüme. Mutter Gila inszenierte die höchst aufwendige Darbietung mit den hundertdreißig Tänzerinnen – von der Vierjährigen bis zur reifen Erwachsenen. So waren die Wochentage der verschiedenen Tanzgruppen und Altersklassen ausgefüllt mit Vormittags-, Nachmittags- und Abendstunden, jeweils montags bis donnerstags, an denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihre Rollen einstudierten. Gila, Katrin und eine Freundin leiteten die Unterrichtseinheiten.

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Nach der Übungsstunde wartete Catarina bereits im Kabäuschen. Einige Frauen bezahlten noch ihre Monatsbeiträge, Katrin legte sie in den Kassatisch und ging dann zu ihrer Freundin hinüber.

Was ist denn bloß passiert, fragte sie, kann doch wohl so schlimm nicht sein.

Catarina begann behutsam: Für euch nur indirekt, aber doch sehr tragisch: In der vergangenen Nacht ist eine Bohrinsel im Nordatlantik in akute Seenot geraten und gesunken.

Katrin hakte sofort nach: Was meinst du damit?

Dein Mann will doch vielleicht für so eine Bohrinsel arbeiten, hast du mir erzählt; ich will nur sagen, dass das ganz schön gefährlich sein kann. Catarina war Kulturredakteurin beim Norddeutschen Rundfunk und fasste zusammen, was sie gerade in ihrem Sender gehört hatte.

Katrin lief an die Kellertür und rief in mein Büro hinunter, ich lief zu ihr hoch. Hast du von dem Unglück gehört?, fragte sie, sichtlich irritiert. Ich wusste nichts davon.

Vor den Neufundlandbanks, das ergaben meine Recherchen, südöstlich der kanadischen Halbinsel St. John’s, hatten verheerende Wassergebirge eine Bohrinsel gerammt, sie verwüstet und in eine bedrohliche Schräglage versetzt. Bis zu zwanzig Meter hohe Kaventsmänner, Riesenwellen aus Nordwest, hatten sich in den eher flachen Neufundlandbanks zu Ungeheuern aufgebaut und das Rig4 Ocean Ranger tödlich getroffen. Über Funk hatte die Besatzung Rettung herbeigefleht, doch jede Hilfe kam zu spät. Während sich der Koloss – hunderttausend Tonnen schwer – weiter zur Seite neigte und bereits in die tobende See sackte, sprangen Ölarbeiter und Ingenieure, Nautiker, Seeleute und Techniker hoch oben von der Rehling in das brodelnde grün-weiße Atlantikwasser. Keiner überlebte, alle 84 Männer starben. Die Ocean Ranger hatte als unsinkbar gegolten, wie 1912 die Titanic.

Das in der Nähe stehende Begleitschiff Seaforth Highlander betreute die Ocean Ranger zu dieser Zeit, hatte aber wegen der gewaltigen Sturzseen nicht in den Todeskampf eingreifen können. Zu schnell kenterte der 122 Meter lange und 91 Meter breite Industriegigant in dem entfesselten Nordatlantik und kippte auf den Grund der achtzig Meter tiefen Grand Banks. Das hochseetüchtige Spezialschiff Seaforce Highlander selbst, höchst mobil und nordatlantikerprobt, ritt den Sturm souverän ab, bezog ordentlich Prügel, blieb aber unbeschädigt.

Katrin stellte unsere Pläne sofort auf den Prüfstand. Ich will nicht, dass du da rausfährst und dein Leben riskierst, das ist die ganze Sache nicht wert, dann schaffen wir das auch ohne Seefahrt. Die Seefahrt, sie war ihr so fremd wie den meisten Landleuten. Sie wollte mich schützen, weil ihr die hohe See fremd und bedrohlich erschien wie ein böses Insekt. Sie war ihr unheimlich, und die Risiken da draußen tauchten vor ihrem inneren Auge als Bedrohung ihrer Familie auf. So gut ich konnte, legte ich ihr dar, was den Männern der Ocean Ranger zugestoßen war und wie es zu dem Unglück gekommen sein musste.

Und auch das stimmte: Ich wollte diese Tragödie nicht als Vorwand dafür nehmen, meine Pläne aufzugeben, nur weil in meinem nahen privaten Umfeld niemand etwas von Seefahrt verstand. Ich wusste genau, wovon ich redete, und wollte mich deshalb nicht vor meiner Verantwortung drücken. Ich bat Katrin, mir einen Augenblick zuzuhören:

Wenn ich rausfahre, arbeite ich nicht auf einer Bohrinsel wie der Ocean Ranger, sondern auf einem hochseetüchtigen Seeschiff, wie die Seaforce Highlander eines ist, das speziell für diese Aufgabe konstruiert worden ist. Mein Schiff wird nicht fest verankert auf See liegen wie die Ocean Ranger, mein Schiff wird mobil sein. Es bleibt immer in der Nähe der Bohrinsel, fährt dort auf und ab, legt hin und wieder in einem Hafen an und fährt wieder raus. Es bewegt sich in der See und wir passen uns den verschiedenen Wetterverhältnissen höchst effektiv an.

Eine Weile noch blieb Katrins Blick fragend. Sie beobachtete mich genau, ob ich ihr etwas einreden wollte und ob es plausibel war, was ich ihr da berichtete.

Wir können Stürmen ausweichen oder sie abreiten, wie die Seaforth Highlander das gemacht hat. Und bei schwerem Wetter suchen wir ohnehin Schutz unter Land. Das entscheiden ausschließlich wir von der Schiffsführung selbst und sonst keiner.

Ich redete, als hätte ich Kapitän Haase schon zugesagt, als wollte ich bereits morgen losfahren. Dabei wartete ich weiterhin auf das Wunder, das mir das Abenteuer nördliche Nordsee noch abnehmen würde.

4Ölplattform auf hoher See

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Während Katrin weiter darüber nachdachte, wie sie ohne mich zurechtkommen könnte, spielte ich gedanklich einige Situationen an Bord durch und überlegte, was mich dort wohl erwarten würde. Vierzehn nicht unbedingt glückliche Jahre – so lange war ich vor unserer gemeinsamen Zeit auf See gewesen – war ich mit schrägen Vögeln und wilden Gesellen unterwegs gewesen: oft abstoßend berührt, manchmal ganz okay, seltener sehr schön. Gewiss, in jenen schon länger zurückliegenden Tagen auf See war ich allein auf mich gestellt, hatte keine eigene Familie zurückgelassen. Damals kannte ich Katrin noch nicht. Heute hätte ich viel darum gegeben, wenn ich den Kürzeren, dieses symbolische, verkürzte Stück Streichholz, nämlich wieder loszumüssen, nicht gezogen hätte. Ich befürchtete, dass jene hinter mir liegenden Jahre noch einmal wiederkehren könnten, genau das nämlich hatte ich unbedingt ausschließen wollen. Aber stets, wenn ich mir selbst Ausreden zurechtlegte und mich sogleich schlecht dabei fühlte, meldete sich meine innere Stimme: Du hattest es selbst in der Hand, Mann, dein Auskommen an Land zu finden, wärest du mit deinen Ersparnissen sorgsamer umgegangen.

Einerseits hatte es mich damals geradezu erfreut, wie zart und einfühlend meine Matrosen- und Maschinenjungs über jene Frauen reden konnten, die sie liebten und verehrten. Sie zeigten mir Fotos von ihnen, ließen mich ihre Briefe lesen und vertrauten mir ihre Glücksgefühle an. Sie wollten gern darüber reden und es am liebsten alle Welt wissen lassen, dass sie geliebt wurden, dass sie glücklich waren.

Wie hässlich aber doch und wie anhaltend böse fielen sie über genau diese plötzlich zu Weibern und Huren verwandelten Ex-Partnerinnen her, wenn diese sie verlassen wollten und ihnen das gerade per Brief hatten wissen lassen. Prompt hassten sie sie aus weiter Ferne, belegten sie mit hässlichen Worten und widerlichen Beleidigungen. Sie hat mich verraten und belogen, so fing es meistens an. Die widerwärtige Sprache von Seeleuten nun erneut hören zu müssen, das insbesondere quälte mich, wenn ich denn wirklich wieder losfahren müsste! Vor dieser ekelhaften Sprache hatte ich mich nicht schützen können und würde es abermals nicht schaffen, weil lange Seefahrten und die Enge eines Schiffes das nicht zuließen. Wegzulaufen aber war keine Option. Auch wenn ich zur Schiffsführung gehörte, würde ich mich nicht einfach auf mich selbst zurückziehen können.

In jenen fernen Tagen, bevor ich überhaupt ausgezogen war und mir mein erstes Schiff gesucht hatte, hatten mir Ideale und die Moral – wie sie der britische Schriftsteller und Kapitän Joseph Conrad seinem Protagonisten Lord Jim in seinem gleichnamigen Roman auf die edle Seele schrieb – den klaren Blick auf die tatsächlichen Bordverhältnisse verstellt. Und ich, der Debütant vom Dorfteich, der den Nordatlantik erobern wollte, hatte Jims Gesinnung vereinnahmt, weil sie meinem Naturell wohl recht nahe kam. Dass ich schwer arbeiten müsste, wusste ich, doch mit der von mir hochgehaltenen Moral eines Lord Jim sollte ich mit den Moralvorstellungen rauer Seeleute bald kollidieren. Die psychosoziale Wirklichkeit an Bord, die uns vom unmittelbaren Einfluss der Außenwelt abschirmte, und die Tatsache, dass wir nur in den Häfen freikamen wie weggesperrte wilde Tiere – das alles würde wohl auch jetzt wieder auf mich zukommen. Das wollte ich zwar nicht wahrhaben, aber viel anders konnte es doch wohl nicht werden.

Mit der Folge, dass ich während meiner Matrosenzeit damals allmählich zum Spießgesellen meiner Bordgenossen geworden war – von mir selbst fast unbemerkt – und in der männerbrutalen Seefahrt zu einem von ihnen mutiert war. Ohne seelische Blessuren und Brüche waren die bis zu einem Jahr und darüber hinaus dauernden Seereisen in der nach Frauen gierenden Bordwelt einfach nicht durchzustehen. Einer Wiederholung dessen aber, wenn inzwischen auch als verheirateter Mann, wollte ich nach Kräften entgehen und nicht noch einmal in dieses Milieu zurückfallen. Meine einzige Hoffnung bestand darin, vielleicht ja doch einen zivilisierteren Umgang an Bord vorzufinden, als das vor Jahren noch der Fall gewesen war. Doch schätzte ich das auch richtig ein?

Als spätnachmittags das bordeauxrote Telefon im Flur klingelte, meldete ich mich mit einem verkniffenen, mit einem kleinlauten Ja.

Haase hier. Übermorgen geht’s los, nach Aberdeen, nördliche Nordsee. Sie sind bereit?

Wie besprochen, Kapitän. Danke.

Ihr Flugticket liegt am Schalter der Lufthansa. Und kommen Sie gesund wieder.

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VON LAND – KATRINS 1. BRIEF

Hamburg, Donnerstag, 11. Februar 1982, 23:30 Uhr

Geliebster, ich find mich richtig gut: kein einziges Mal geheult, Unterricht gut gemacht. Marlene und Maximilian kommen absolut zu ihrem Recht. Englein quängelt – oder schreibt man das mit e? – kaum noch; man hat das Gefühl, sie bewältigt die Situation mit dem Verstand einer 3-Jährigen. Ist natürlich Quatsch, aber es hat ein bisschen den Anschein.

Viel mehr kann ich Dir im Augenblick eigentlich nicht erzählen. Heute Abend war U. da. Sie fragte nach deiner Adresse. Die drei wollen Dir auch unbedingt schreiben. Geliebster, vielleicht ist ja morgen früh ein Brief von Dir da. Mich macht am meisten verrückt, dass ich mir einfach nichts über Dein augenblickliches Leben vorstellen kann. Und das als Deine Frau! So, nun geh‘ ich ins Bett, morgen früh gibt’s noch einen kleinen Gruß. Schlaf gut, ich träum von Dir …

Freitag, 12. Februar, 8:30 Uhr

Hier ist der kleine Gruß. Kinder sind gefüttert, Maximilian ist bei mir in der Wippe. Wir ziehen jetzt los. Ich küsse Dich, Dein Trinchen

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VON LAND – KATRINS 2. BRIEF

Hamburg, Sonntag, 14. Februar 1982, 20:55 Uhr

Geliebster, das Wochenende wäre überstanden! Es verlief eigentlich viel besser, als ich es erwartet hatte. Gestern haben wir drei die Spielplatzsaison eingeweiht. Ich muss schon sagen, Marlene war vom Vorjahr her noch recht bekannt. Ich wurde einige Male angesprochen, fand ich zu niedlich. Heute waren Catarina und Töchterchen Maria da. Köstlich! Inzwischen fangen Marlene und Maria an, miteinander zu spielen. Zum Beispiel: Englein im Puppenbett, Maria schiebt. Oder: Maximilian im selbigen, beide schieben. Das war am schönsten, wir haben sehr gelacht. Nächste Woche wollen wir Fotos machen. Soll ich sie Dir dann schicken? Oder wird es Dir zu schwer?

Geliebster Hagen, es gibt kaum fünf Minuten am Tag, an denen ich nicht an Dich denke. Christel sagte mir am Telefon, es wird leichter, wenn der Kontakt erst mal wieder hergestellt ist. Ich denke, sie hat recht. Ich warte so auf Deinen ersten Brief. Geht es Dir genauso? Vielleicht wäre für den Übergang ein kleines Telefonat doch ganz gut gewesen. Aber abgesehen von meiner Sehnsucht nach Dir, komme ich gut zurecht. Marlene quengelt nur noch sehr selten. Wir machen fast alles gemeinsam. Heute half sie mir beim Kohlputzen. Sie darf jetzt auch in die Küche, wenn ich dabei bin. Dadurch kann ich mehr machen, und sie fühlt sich nicht vernachlässigt.

Maximilian mag seine Wippe überhaupt nicht. Er ist ein bisschen schwierig. Das heißt, Wippe will er nicht; lässt man ihn krabbeln, was ja wichtig für ihn ist, spuckt er unwahrscheinlich viel. Ich find, es wird schlechter statt besser. Auch auf dem Arm ist er nicht immer zufrieden. Ich glaube, er hat Zahnschmerzen. Sein Oberkiefer fühlt sich auch sehr hart an. Nachts ist er bis jetzt ruhig. Mal sehen, wie’s weitergeht. Im Großen und Ganzen ist er aber zauberhaft. Alle beneiden mich um Deinen Sohn. Schön, nich? Geliebster, morgen geht’s weiter, nun muss ich los. Ich küsse Dich. Ich liebe Dich … Schlaf gut … Bim-Bam …

Dienstag, 16. Februar 14:30 Uhr

Geliebster, eben hörte ich Deine Stimme am Telefon. Du glaubst gar nicht, wie gut es mir getan hat zu hören, dass es Dir gut geht! Deine Stimme hörte sich so optimistisch an. Ich musste einfach einmal hören, wie’s Dir geht. Wie gesagt, so ein kleines Telefonat ab und zu ist, glaube ich, doch ganz gut. Mich freut auch zu hören, dass die Mannschaft in Ordnung ist. Nun lässt sich alles viel besser ertragen.

Ich hab jetzt strammen Dienstag, bin viele Stunden im Ballettsaal. Englein ist nach dem Mittagsschlaf schon wach und neben mir am Ausguck, am Fenster. Gerade zeigt sie auf diesen Brief und sagt: Papi, Papi. Also lass ich sie selber zu Wort kommen. Küsschen, morgen stecke ich den Brief ein.

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VON SEE – HAGENS 1. BRIEF

Montag, 15. Februar 1982 Aberdeen, Schottland Motorschiff FALDERNTOR

Liebstes Trinchen, hu, war das eine erste wilde Reise! Gleich in der ersten Nacht, von Montag auf Dienstag vor einer Woche, liefen wir aus Peterhead, das 50 Meilen nördlich vom schottischen Aberdeen liegt, Richtung Ölplattform aus. Die Plattform heißt Heather A und steht gut 16 Stunden Fahrzeit nördlich von Aberdeen, oben bei den Shetlandinseln, etwa 61 Grad Nord. Wir hatten ständig Sturm, das Schiff tanzte wie verrückt, an Schlaf war nicht zu denken, knallten doch die Brecher ständig wie ein Zehn-Tonnen-Lkw immer wieder gegen die Bordwand, als sei eine Belohnung dafür ausgesetzt worden, welche Welle am besten hämmern kann.

Gut, alles gut. In der Nacht zum Sonntag, morgens um halb vier, war der Fünf-Tage-Sturm beendet. Ergebnis für mich: Ich kann es noch! Plötzlich war mir, als wäre keine Zeit vergangen zwischen all den Jahren, als wäre alles wieder so, wie schon einmal gehabt. Die Ausdrucksweisen sind so geblieben wie immer, auf allen Schiffen riecht es irgendwie gleich, der ewige Bordrhythmus hat sich nicht geändert. Eines aber hat eine andere Bewertung bekommen: meine Einstellung dazu. Noch nie bin ich so ruhig, so verhalten an Bord gegangen wie dieses Mal. Weil wir beide zusammen sind, Liebste, deshalb hat mein Leben eine neue, große Dimension bekommen.

Ich bin so glücklich, wenn ich an Dich denke, und das tue ich fast immer. Irgendwo ist unsere Situation ja grotesk, trennen uns Welten, was mein Tun jetzt und unser Miteinander sonst angeht. Und das ist umso besser, weil ich dann, wenn die Zeit um ist, schnell wieder zu Dir schlüpfen kann und dieses Intermezzo hier abstreifen werde wie eine Schlange ihre Haut. Ständig stelle ich mir vor, was Du gerade machst, wo Du bist, wie Du bist. Und immer liebe ich Dich!

Der Taxifahrer, der mich zum Flughafen Fuhlsbüttel brachte, war Chinese, freundlich, hilfsbereit, ein guter Auftakt, nachdem ich Dich an der Tür hab stehen lassen müssen. Nach fünfzig Minuten landeten wir in Amsterdam, zwei Stunden blieben wir dort und flogen schließlich mit einem kleinen Flieger Marke F27 Friendship innerhalb von zwei Stunden nach Aberdeen. Keine einzige Frau an Bord, Männer in dieser rauen Ölstadt bleiben unter sich. Am Flughafen keiner, der mich abzuholen schien. Bis mich eine Ami-Mütze mit sechs Goldsternen auf langem Mützenschirm ansprach, weil aus meiner Manteltasche der Spiegel ragte, wie er das später begründete: Kapitän Fred Baumann von der Falderntor.

Abtasten, beschnüffeln, ein paar suchende Worte. Ergebnis: ein ruhiger, kleiner, zurückhaltender Mann, der im schottischen Aberdeen mit seiner Frau lebt – sie soll schon so manchen Matrosen unter den Tisch gesoffen haben. Während der ersten Reise, sein ganzes Verhalten hat das bestätigt, ließ er mir totale Freiheit, lässt mich das Schiff fahren; im Hafen ist er immer bei sich zu Hause. Selbstständiger geht‘s nicht. Und mit den Matrosen und den anderen geht es sowieso gut, was soll denn schon sein. Auch der Koch macht seinen Job prima. Wenn ich mir in der Messe5 meine Mahlzeiten abhole, sagt er: Jaja, ich weiß, kleine Portionen.

Liebste, und Du, schaffst Du denn alles, Marlene, Maximilian, Dich, das Tanzen und alles?? Ich weiß, wie viel das ist, aber Staschi ist ja Gott sei Dank da, und so mag denn alles so sein, wie es ist. Was sagen denn Giselchen und Hugo nun, nachdem die Situation jetzt da ist? Ja, die Lieben, sie tragen das Jahr und vieles andere, eigentlich alles, so sehr mit. Glücklich, wem es so ergeht. Und Marlene, was sagt sie? Papi abbeit? Oder weint sie?

Geliebste, die Zeit vergeht so schnell an Bord, weil wir ständig im Einsatz sind, morgen geht es wieder raus für jeweils vier bis fünf Tage. Auch wenn es dort sehr, sehr kalt wäre: Ich würde dir ohne Bedenken / Eine Kachel aus meinem Ofen schenken / Ich hab dich so lieb. (Marinedichter Joachim Ringelnatz)

Sei zärtlich geküsst von Deinem Mann aus einer anderen Welt, der Mann, der Dich liebt und zärtlich streichelt, geliebstes Trinchen!! Immer dein Hagen!

AUS DEM PRIVATEN LOGBUCH VON BORD

Von den Kindern

Eure Kinder sind nicht eure Kinder,

Sie sind die Söhne und Töchter der

Sehnsucht des Lebens nach sich selber.

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,

Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie

Euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber

Nicht eure Gedanken.

Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,

Aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.

Denn das Leben läuft nicht rückwärts,

Noch verweilt es im Gestern.

aus: Khalil Gibran, Der Prophet6

ANMERKUNG

Dieses Gedicht bedeutete uns viel, es hat uns Eltern über viele Jahre geleitet und uns dazu angehalten, unsere Kinder möglichst anspruchsfrei und ohne Besitzansprüche durch ihre Kindheit und Jugend zu lotsen und sie als eigenständige Persönlichkeiten und freie Menschen zu betrachten.

5Gemeinschafts- und Essraum

6Übersetzung von Karin Graf, Ausgabe Walter Verlag 1973

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Sie war meine Lebensliebe. Sie bedeutete mir alles. Was sie tat und wie sie dachte, war von Tanz, von Eleganz und Offenheit bestimmt. Während unseres ersten Treffens – wir begegneten uns bei Freunden zur Hamburger Aalsuppe7 – sah ich nicht gleich ihr besonderes Äußeres und ihre gute Figur. Zuerst fiel mein Blick auf ihre roten Schuhe. Rote Pumps. Stöckelschuhe in kräftigem Rot. Mit roten Schuhen verband ich Eleganz, sinnverwandt mit Schick und schönen Frauen. So lernten wir uns kennen, oder besser: Ich sprach sie an und redete belangloses Zeugs. Ihren anmutigen Gang nahm ich etwas später wahr, ihre auffallende Leichtigkeit zu gehen. Ich wusste nicht, dass eine Frau ein Wohnzimmer, einen Saal oder eine Straße so unbefangen und zugleich selbstsicher durchschreiten konnte. Mühelos und leicht.

Du gehst wie eine Massaikönigin, musste ich ihr später einfach einmal zurufen, etwas phrasenhaft und schal, das spürte ich durchaus, aber es stimmte ja! Wer diese großen und schlanken Frauen des äthiopischen Nomadenvolkes einmal hat gehen sehen, im Film zum Beispiel, der versteht, was ich meine. Mit meiner Bemerkung wollte ich einfach nur meine Bewunderung ausdrücken.

Immerhin eine Königin, schnippte sie ironisch zurück.

In meinem Heimatdorf laufen die Frauen irgendwie anders, sagte ich noch und dachte unfairerweise an Schützenfeste, bei denen Frauen mit ihren Männern bei Blasmusik im Gleichschritt durch unser Dorf liefen.

Kein Wunder, antwortete sie, aber die Frauen dort gehen eben so, wie man es ihnen vorgemacht hat.

In Lachendorf war ich geboren und aufgewachsen, einem niedersächsischen Bauern- und Fabrikarbeiterdorf in der Südheide. War dort nie einer Frau begegnet, die so ging wie Katrin und die folglich auch mit Tanz und Ballett und Theater – so sah ich das jedenfalls – nie in Berührung gekommen sein konnte.

Später, als wir uns besser kannten, liebte ich ihr offenes Lachen, ihre Zurückhaltung, ihr klares Gefühl für Gerechtigkeit – und ihr logisches Denken. Überrascht war ich aber auch von ihrem abrupten Schweigen, das plötzlich über sie hereinbrechen konnte wie eine Kaltfront. Es überfiel sie selten, dieses Schweigen, aber es geschah eben, als ob ihr irgendein Lump, der sich unter einer Tarnkappe versteckte, barsch den Mund verboten hätte. Anfangs kam ich damit gar nicht zurecht. Übergangslos kam es dann über sie, als würde ein bisher weit geöffnetes Fenster abrupt zugeschlagen werden; es überraschte mich jedes Mal wieder. Sie verstummte dann jäh, warnte mich aber doch im letzten Moment mit einer abwehrenden Handbewegung. Sie wandte sich dann ab, schloss die Augen, legte ihr Kinn auf beide Fäuste, und so verharrte sie für eine Weile. Ich blieb sitzen, wartete. Lass mich bitte einfach in Ruhe, bat sie mich einmal, damit ich sie nicht wieder mit meiner kindischen Frage, was denn nur passiert sei, behelligte.

Nach einer Weile, nicht länger als drei tiefe Atemzüge, legte sie mir eine Hand aufs Haar und flüsterte: alles wieder gut. Sie befreite sich stets selbst aus ihrem Schweigekäfig. Welche unbewussten Prozesse in ihr abliefen, blieb ihr Geheimnis. Ihr beklemmender Auftritt hatte mit ihrer Kindheit, mit ihrem Vater zu tun, offenbarte sie mir einmal, war aber nie deutlicher geworden. Was damals zwischen Tochter und Vater wirklich geschehen war, hat sie allzeit für sich behalten.

Die Schule ihrer Mutter Gila – Ballett, Jazztanz und musikalische Früherziehung – prägte Katrins frühe Kinderjahre; auch der Unterricht an der Albert-Schweitzer-Schule förderte ihre Lust an Musik und Darstellendem Spiel. Tag für Tag war ich von Tanz und Musik umgeben, da wäre es doch seltsam gewesen, wenn ich Juristin geworden wäre, sagte sie einmal. Frühzeitig bewarb sie sich an der renommierten Hochschule für Tanz und Musik in Hannover. Ihre Mutter hatte ihr dazu geraten, weil sie es doch gerne sah, dass die Tochter ihr nachfolgen könnte. Die Ausbildungsjahre in Hannover brachten sie ihrem Ziel, Operntänzerin zu werden, zunächst zwar näher, doch Katrins Tanzausbildung endete mit einem zutiefst deprimierenden Rückschlag.

7Norddeutscher Eintopf mit Aal, Gemüse, Kräutern und Mehlklößchen

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VON LAND – KATRINS 3. BRIEF

Hamburg, Freitag, 19. Februar 1982, 16:20 Uhr

Geliebster Hagen, Dein erster Brief ist da! Ich bin so glücklich, dass es so gut läuft. Es ist wirklich eine andere Welt, und ich muss mich sehr anstrengen, mir sie vorzustellen. Und Du mittendrin! Fast komisch. Heute war wieder Toom-Tag8. Souverän verpackte ich die Sachen im Kofferraum unserer Ente. Du wärst stolz auf mich gewesen!

Englein, vom Schaukelpferdsturz mit einem blauen Auge à la Bubi Scholz9 gezeichnet, hat heut Geburtstag – ein Jahr und neun Monate! Giselchen ließ die Chance nicht ungenutzt und griff ins Portemonnaie: einmal ein kleines Waschbecken – du erinnerst Dich, Du wolltest es so gern für die Kinder – und zum zweiten ein Dreirad! Große Aufregung im Hause.