Als wäre alles das letzte Mal - Wilhelm von Sternburg - E-Book

Als wäre alles das letzte Mal E-Book

Wilhelm von Sternburg

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Beschreibung

Ein Kosmopolit, ein Liebender, ein leidenschaftlicher Kritiker seiner Zeit -Die große Biographie Remarques Erich Maria Remarque hat mit seinen Romanen, ähnlich wie Emile Zola, ein gewaltiges Sittengemälde seiner Zeit geschaffen, einer Epoche, die durch Krieg, Terror, Vertreibung, Gewalt und Lüge beherrscht war und in der menschliche Werte und Qualitäten, Liebe und Freundschaft, stets bedroht blieben. Remarques Leben war geprägt von den politischen Umständen, aber auch von Reichtum, zahllosen Affairen – z.B. mit Marlene Dietrich, Greta Garbo, Elisabeth Bergner – und vom Alkohol. Der renommierte Publizist und Buchautor Wilhelm von Sternburg hat die erste umfassende Biographie dieses Autors vorgelegt, dessen Bücher Millionenauflagen erreicht haben und vielfach verfilmt wurden und über dessen schillerndes, ebenso mondänes wie schwieriges, engagiertes wie zerrissenes Leben dennoch so genau und kenntnisreich bislang nie Auskunft gegeben wurde. Sternburgs Biographie, brillant und anschaulich geschrieben, verknüpft das Lebensbild Remarques mit der Werk- und Zeitgeschichte, wobei der Autor auf viele bislang nicht breit zugängliche Materialien, wie Briefe und Tagebücher, zurückgreifen konnte.

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Seitenzahl: 702

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Wilhelm von Sternburg

»Als wäre alles das letzte Mal«

Eine Biographie

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Wilhelm von Sternburg

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungKapitel 1 »Ich will mich bemühen, die Wahrheit zu schreiben!«Kapitel 2 »Man konnte sich keine andere Zukunft vorstellen …« (1898–1917)Kapitel 3 »Das Leben ist alles« (1917–1924)Die TraumbudeGamKapitel 4 »Ich habe keine Lehre zu verkünden« (1925–1928)Station am HorizontIm Westen nichts NeuesKapitel 5 »Ich flüchte vor den Menschen« (1929–1931)Der Weg zurückKapitel 6 »Wann geht Europa zugrunde?« (1932–1939)Drei KameradenKapitel 7 »Man braucht ein starkes Herz« (1940–1948)Liebe Deinen NächstenArc de TriompheKapitel 8 »Die Aussichtslosigkeit der Vernunft« (1948–1955)Der Funke LebenZeit zu leben und Zeit zu sterbenKapitel 9 »Die große Berührung mit dem Tod« (1955–1970)Der schwarze ObeliskDer Himmel kennt keine GünstlingeDie Nacht von LissabonDas gelobte LandEpilogDanksagungAuswahlbibliographieWerke Erich Maria RemarquesAnmerkungenÜber Erich Maria RemarqueBildnachweis
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Für Inga und Judith, Dodo, Maxi

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Kapitel 1»Ich will mich bemühen, die Wahrheit zu schreiben!«

 

 

 

 

Er neigte dazu, sein Leben zu einer Legende zu stilisieren. Schon bevor ihn der Ruhm sozusagen über Nacht einholte, gab er seiner Existenz etwas Schillerndes. Den zweifellos nüchternen Geburtsnamen Erich Paul Remark »verschönerte« er, indem er Paul durch Maria ersetzte, und – legitimiert durch den französischen Ursprung seiner Vorfahren – aus Remark wurde Remarque. Als Kriegsheimkehrer in den wirren frühen Jahren der ersten deutschen Republik zierte er sich mit der ihm nicht zustehenden Leutnantsuniform, mit Monokel, Reitpeitsche und Schäferhund, um den Provinzlern im heimischen Osnabrück zu imponieren. Später im tosenden Berlin – die »Golden Twenties« überdeckten noch den Verfall des politischen und wirtschaftlichen Systems – spielte er den Rennfahrer, den schlachtenerprobten Soldaten, den eleganten Dandy, kaufte sich der Sproß aus dem westfälischen Kleinbürgertum einen Adelstitel – Freiherr von Buchwald –, was eigentlich nur noch komisch wirkte. Jahrzehnte später notierte er einmal in seinem Tagebuch: »Das Trinken; das Lügen über Autorennen; die Kriegssachen; die Buchwalddinge, der ganze verschobene und falsche Aufbau …«[1]

Dann schrieb er den Roman seines Zeitalters, ein Buch, das innerhalb weniger Monate zum internationalen Bestseller wurde, seinen Namen um die Welt trug und ihm einen Platz in der Literaturgeschichte des Jahrhunderts sicherte. In seinem aus den Fugen geratenen Geburtsland ließ ihn »Im Westen nichts Neues« zum wohl politisch umstrittensten Autor werden. Es begann für ihn ein Leben der Widersprüche. Er wurde eine »öffentliche« Person, und er drohte daran zu zerbrechen. Er war ein Autor, der sich jede Zeile abrang, den künstlerische Selbstzweifel plagten, der fast immer auf der Flucht vor dem Schreibtisch war und dem doch praktisch jedes seiner Bücher zu einem neuerlichen Triumph geriet. Ein ungemein genauer Beobachter seiner Zeit wurde er, ein radikaler, aber unideologischer Deuter der Politik, ein Menschenfreund, der auf Distanz blieb. Er arbeitete langsam und mit großen zeitlichen Unterbrechungen, recherchierte seine Themen genau, alle Romane wurden erst nach mehreren Manuskriptfassungen an die Verlage geschickt. Ein sorgfältiger, ernster Arbeiterwar er sein Leben lang. Selten erfüllte ihn das Glück der Zufriedenheit mit dem Veröffentlichten.

Die Welt fordert bald von ihm Interviews, politische Stellungnahmen, später, wenn er an der Seite der großen Divas Hollywoods zu sehen sein wird, füllt sein Name nicht mehr nur die Feuilletons und Literaturzeitschriften, sondern auch die Klatschspalten der Regenbogenpresse. Die Selbstzweifel, die immer wieder schubweise auftretenden Depressionen, seine Unfähigkeit zu einer tiefen Bindung an einen anderen Menschen aber lassen Remarque zunehmend in seinem äußerlich rauschhaften Reise-, Liebes- und Trinkerleben innerlich vereinsamen. Auf den »Rummel« um seine Person reagiert er mit Verunsicherung, er verweigert öffentliche Äußerungen über private Angelegenheiten, ist recht einsilbig – jedenfalls gemessen an der Auskunftsfreudigkeit der meisten seiner Kollegen – bei Nachfragen über sein Werk oder zum Weltgeschehen. Wenn die Photographenmeute hinter seinen berühmten Begleiterinnen herjagt, um sie bei ihren öffentlichen Auftritten abzulichten, wendet er das Gesicht ab oder verdeckt es mit der Hand. Noch im März 1948 klagt die »Offenbach Post« in einer Bildunterschrift: »Vierzehn Telefonanrufe und fünf Briefe mußten seitens der Redaktion gestartet werden, um in den Besitz eines Fotos von Erich Maria Remarque zu kommen …«[2]

Aber er braucht Menschen um sich, vor allem die Nähe von Frauen, das Alleinsein löst Ängste aus, die er als existentiellen Schrecken empfindet. »Alleinsein – richtig Alleinsein, ohne jede Illusion –, das kommt kurz vor Wahnsinn und Selbstmord.«[3] Er entflieht in Cafés, Bars, noble Restaurants, in mehr oder weniger dunkle Kneipen und Bordelle. Er ist sinnlich, sexuelle Kontakte bedeuten ihm bis in die Altersjahre hinein viel, aber es ist wohl auch bei Frauen vor allem Freundschaft, Vertrauen und Gespräch, nach dem er sucht. Selbst seine Bordellbesuche dienen weniger der sexuellen Befriedigung als vielmehr der Flucht vor der Einsamkeit in seinen vielen, langen und durch den Alkoholgenuß seelisch noch stärker verdunkelten Nachtstunden. Später wohnt er über lange Perioden hinweg in Hotelappartements, die Wochen oder Monate in seinem Haus über dem Lago Maggiore – das zeigen zahllose Briefe und Tagebuchnotizen – erscheinen ihm schon nach kurzer Zeit als eine Art »Gefängnisaufenthalt«. »Ich muß allein sein. Es wird mir nicht gefallen«,[4] notiert er einmal in seinem Tagebuch, als erwählen muß zwischen der Arbeit an einem neuen Roman (»Arc de Triomphe«) oder dem Leben in der Nähe seiner damaligen Geliebten Marlene Dietrich. Ein ruheloses Dasein wird es. Während der einsamen Schaffensmonate sehnt er sich nach dem Wirbel des Lebens und der Frau, die ihn gerade fasziniert. Hält er sich in Paris, New York oder Los Angeles auf, plagt ihn seine »Faulheit«, kommentiert er die als oberflächlich empfundenen Monate, Tage und Stunden mit Selbstanklagen. Diese Gefühlsschwankungen haben nur wenig zu tun mit den politischen Zeitumständen, die ihn hinaustreiben in die Welt.

Das überraschende Glück des Reichtums macht es möglich, daß Remarque vielen Wünschen rücksichtslos nachgeben kann. Großzügig beschenkt er die schönen, ebenfalls oft reichen Frauen in seiner Umgebung. Erpflegt seine Liebe zu wertvollen Kunstwerken, erwirbt berühmte Originale derfranzösischen Impressionisten, kostbare Orientteppiche, chinesische, griechische und römische Terrakottafiguren. Er hat keine Probleme, die Ortswechsel zu finanzieren, die seinen Lebensrhythmus bestimmen. Davos, St. Moritz, die Riviera, Rom, Paris, New York, Hollywood – ersucht die mondäne Welt, genießt lebensneugierig, was sie zu bieten hat. Ihre Juweliere, bei denen seine Begleiterinnen prächtigen und teuren Schmuck aussuchen; ihre Gourmet-Lokale, wo er bei Champagner und ausgewählten Weinen lebenszugewandt tafelt, aber auch das Leiden an dem gerade entstehenden Roman zu vergessen sucht; ihre Großstadtatmosphäre, deren Nachtwelt die so oft empfundene Leere absurd übertönt; ihre Galerien und Museen, in denen der Kunstliebhaber viele Stunden zubringt. Und doch bleibt Remarque ein Einzelgänger. Ein Zechkumpan, der sich burschikos, manchmal sogar vulgär gibt, und ein hilfreicher, kluger Lebensfreund und Ratgeber für die, die ihn nicht enttäuschen. Denn er ist höchst empfindsam, Kränkungen vergißt er nie, kann sehr ironisch, manchmal zynisch werden. Er lacht gerne, argumentiert witzig und selbstsicher, liebt »fröhliche« Plaudereien und den Klatsch, der in der Welt der Hollywoodstars, in den Emigrantenkreisen New Yorks, aber auch im kleinen Ascona, wo sich zeitweise viel Prominenz aufhält, reichlich blüht. Das intellektuelle Gespräch mit den ebenfalls berühmten Schriftstellerkollegen meidet er häufig, fühlt sich wohl beiden »normalen« Menschen, mit denen er, freigebig und trinkfest, bis in die Morgendämmerung hinein lacht, redet, vergißt. Und er hat ein nahezu manisches Verhältnis zu Blumen, mit denen er die Frauen überschüttet und die seine diversen Wohnräume an den verschiedensten Orten füllen. Hunde und Katzen liebt er, sie werden Haus und Garten in Porto Ronco bevölkern.

Remarque sah blendend aus und kleidete sich stets mit konservativer Eleganz. »Niedersächsischer junger Bauernkopf, hart geschnitten, zerfurcht, blond mit blauen Augen und blonden Augenbrauen«, notierte Harry Graf Kessler nach einem Besuch des gerade zum Erfolgsautor aufgestiegenen Schriftstellers in seinem Tagebuch. »Fester, manchmal etwas ins Lyrische abschweifender Ausdruck.«[5] Er hatte wohl das, was Frauen lieben. »Remarque was very elegant«, schwärmt Marta Feuchtwanger von dem Mann, der ihr und Lion Feuchtwanger in Berlin, in der Schweiz und im amerikanischen Exil begegnet war. »He was very much an homme à femmes: the ladies liked him; he liked the ladies.«[6] Ruth Marton, mit der ihn eine jahrzehntelange Beziehung verband und die er bei seinen Aufenthalten in New York und Los Angeles gerne aufsuchte, schildert in ihrem liebevollen Erinnerungsbuch an ihren »Freund Boni« die erste Begegnung der beiden im Jahre 1939, und der Leser ahnt, welche Faszination er auf Frauen ausüben konnte: »Berühmte Männer sind im allgemeinen nicht auch noch attraktiv, aber ich fand Remarque in seinem stillen, sonnendurchfluteten Wohnzimmer wahnsinnig gut aussehend und nicht so grüblerisch wie auf den Schutzumschlägen seiner Bücher. Er schien weicher und menschlicher mit seinen wilden Brauen über blauen Augen, die gerne lachten. In seinem Sporthemd, mit einem Halstuch, passend zur Farbe der Augen, und Hosen in nur wenig gedämpfterem Blau wirkte er wie ein Mann, dem die Lebensweise in Kalifornien zusagte, ähnlich wie die der Côte d’Azur, woher er, wie ich hörte, erst vor kurzem gekommen war. Er war voller Charme, kenntnisreich auf vielen Gebieten und außerdem liebenswürdig und rücksichtsvoll. Ich mochte ihn sofort unendlich gern.«[7] Auch Alma Mahler-Werfel, die in ihm trotz einer ausgeprägten Sammelleidenschaft für berühmte Männer lediglich einen wackeren Trinkgenossen fand, ist von dem Schriftsteller kaum weniger beeindruckt: »Erich Maria Remarque hat ein wunderschönes Gesicht, ist groß und schlank … und hat ein ungeheuer bewegtes Mienenspiel. Seine linke Augenbraue, die dick und schwarz ist, zieht sich hinauf und gibt seinem Lächeln und Lachen einen diabolischen Ausdruck. Er spricht wenig, aber mit schöner Handgestikulation.«[8]

Er spielte nicht mit den Frauen, die sein Leben begleiteten, er brauchte sie: im Bett, beim Diner, beim Frühstück (das für ihn meist erst um die Mittagszeit stattfand) nach einer Alkoholnacht, als Gesprächspartnerinnen seiner unzähligen von Melancholie und Depressionen heimgesuchten Stunden, als praktische Ratgeberinnen des Alltags, als Spiegel der eigenen männlichen Vergewisserung. Sein Charme war überwältigend, er konnte in guten Stunden ausgelassen und weltumarmend sein und »oft versteckte er seine Güte hinter äußerlicher Schroffheit«.[9] Die im starken Alkoholgenuß auftretenden Persönlichkeitsverluste waren nicht ohne Peinlichkeit und nachfolgende moralische Selbstkasteiung. Als Marlene Dietrich ihn davon zu überzeugen versuchte, nicht an »Liebe Deinen Nächsten« weiterzuschreiben, sondern die Arbeit an dem Roman »Arc de Triomphe« fortzusetzen, notierte er in düsterer Stimmung im Tagebuch: »Ganz wenig angefangen zu arbeiten. Thema vielleicht zu dünn. Es hilft nichts; – man muß dem Druck von außen den Druck von innen entgegensetzen. Arbeit. Eine Welt gegen die andere. Aber ist es für mich nicht schon zu spät? Endlos viel versäumt. Viele Spannungen zerflossen. Im Brei von Faulheit, Passivität und Abseitsstehen.«[10]

So nahmen die Frauen in seinem Leben stets Hauptrollen ein. Schon als Jüngling vertraute er seinem Tagebuch an: »Ich halte das, was ich unter Liebe verstehe, nicht ausreichend und nicht dauernd für eine Ehe.«[11] Dreimal war er verheiratet (zweimal mit der gleichen Partnerin), aber immer gab es viele. Und berühmte. Marlene Dietrich, die ihn über Jahre fesselte, liebte, quälte und eine anhaltende Schaffenskrise auslöste, Greta Garbo, die bewunderte »Göttliche«, Lupe Velez, die in Hollywood Selbstmord beging, oder Natascha Paley, Mannequin, Schauspielerin und Nichte von Zar Alexander III., mit der Remarque in den vierziger Jahren berauscht und leidend liiert war. Und in den letzten beiden Lebensjahrzehnten Paulette Goddard, amerikanischer Filmstar, einst Ehefrau von Charlie Chaplin. Andere, die nicht im öffentlichen Rampenlicht standen, fühlten sich oft über Jahre zu Remarque hingezogen, er tauchte bei ihnen auf, verschwand wieder, vergaß sie nicht und litt gelegentlich heftig. Seine Briefe an die Geliebten, die Gefährtinnen, die Trösterinnen spiegeln vieles wider von seiner Sehnsucht nach Nähe und Gemeinsamkeit, seiner Neigung zur Eifersucht, seiner Hilfsbereitschaft. Sie sind väterlich, offen, witzig, werbend und auch in kokette Wehleidigkeit getaucht. »Ich meine oft, ich sei im Besitze einer Teufelskunst: Weibern den Kopf zu verdrehen.«[12] Diese Kunst nutzte er gelegentlich auch, die ihm Zugeneigten gegeneinander auszuspielen.

Männliche Freundschaften erreichten auch nicht annähernd eine solche Dimension. Als er berühmt wurde, traf er die ebenfalls Berühmten. Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Emil Ludwig, Bruno Frank, Carl Zuckmayer oder die Leinwandhelden, die großen Regisseure und Produzenten aus Hollywood. Er hielt zu den meisten Abstand. Freundschaft verband ihn mit den Schriftstellern Friedrich Torberg und Hans Habe, mit dem Journalisten (und Romanautor) Heinz Liepman und vor allem mit dem Kunsthändler Walter Feilchenfeldt, auch mit Franz Werfel war er gerne zusammen. Die Einsamkeit und der Kampf gegen sie war jedoch eine Grundkonstante seines Lebens. »Ebbe- und Flutmenschen, – nie ganz glücklich, – aber auch nie ganz unglücklich –. Man kann auch jenseits der Verzweiflung sein …, jenseits des Geschreis, jenseits der blöden Einsamkeit, die sich so nennt, weil irgendein Geliebtes nicht da ist, fort ist, verschwunden ist. Da, wo selbst ein Spiegel schrecklich ist.«[13] Er war abergläubisch, verkündete das Horoskop »böse« Tage, verließ er den Schreibtisch, floh in die Nächte, trank.

Unter der Oberfläche des eleganten Weltbürgers, des höchst aktiven Liebhabers, Partygastes, Restaurantbegleiters oder plaudernden Trinkers lauert stets und unbesiegbar die Trauer. Überwältigt hat sie ihn nicht, der Lebenswille ist stärker (und die Todesangst). »Danke Gott, daß Du lebst, Bruder.«[14] Hier und nicht in seinen »Lebemann«-Eskapaden liegt die – um es ein wenig pathetisch zu formulieren – wirkliche Tapferkeit dieses Schriftstellerlebens. Er hat nicht aufgegeben, zäh und unter heftigen Schöpferschmerzen – in den letzten Jahren ein physisch angeschlagener Mann – schreibt er Roman für Roman.

Seine Lebensdroge war der Alkohol. Ein Trinker, der sich zwar schließlich gesundheitlich ruinierte (zumal er auch ein starker Raucherwar), der aber weder sozial noch psychisch an seinem Lebenselexier zugrunde ging. Nachdrücklich hatte er sich nur für kurze Zeitabschnitte gegen die Sucht gewehrt. »Dritten Tag nicht getrunken, nicht geraucht. Erträglich, aber langweilig. Werde diese Abstinenz irgendwann wieder aufgeben.«[15] Ernsthafter geschah dies erst, als in den späteren Jahren schwere Herzattacken seine Todesfurcht verstärkten. Joseph Roth, dieser wunderbare jüdisch-galizische Erzähler, begegnete seiner Sehnsucht nach der verlorenen Welt des untergegangenen Habsburg-Reiches, seiner wachsenden Lebensunlust mit einem ausufernden Alkohol-Konsum und betrieb damit im Pariser Exil systematisch Selbstmord. Für seinen vier Jahre jüngeren Zeitgenossen galt dies nicht. Remarque trank regelmäßig und genußvoll, über Tage oder Wochen auch exzessiv, aber ersuchte nicht den Untergang. Vergessen vielleicht. Die Angst vor der Stille, vor dem Versiegen der künstlerischen Kräfte, vor dem Alter, vor dem Todtrieb ihn in Spelunken, snobistische Bars und laszive Orte der Subkultur an die Seite von Schwätzern und intellektuell wenig reizvollen Trinkgenossen. Fast nie unternahm er solche Ausflüge in Begleitung der Frauen, die ihm gerade nahestanden. Und er trank auch in Porto Ronco, wo er einen gut bestückten Weinkeller besaß, oder in den Hotelzimmern, Restaurants und Cafés, die er auf seinen Reisen und langen Aufenthalten mit der Dietrich, der Paley oder auch Jutta Zambona aufsuchte. Ein Gesellschaftstrinkerwarer, keinzitternder »Schnapsbruder«, dersichgierig über sein Glas stürzte. Nach einem Abend bei Emil Ludwig notierte er: »Ich trank vor Schreck fast eine Pulle Kirsch leer.«[16] Oder im Februar 1938, nach dem Hören deprimierender Radionachrichten über die englische Politik gegenüber Hitlers Ansprüchen in Europa: »Abends eine Flasche Wormser Liebfrauen Stiftswein 1934. Notwendig.«[17] Ein Romantikerwarer, der der oft als Schrecken empfundenen Wirklichkeit im Nebel des Alkohols entwich.

Schwule, Lesben, Huren, Zuhälter – das unbürgerliche Gegenleben fesselte seine Phantasien (und wurde zum menschlichen Studienobjekt). Das war auch die Welt seiner berühmten Begleiterinnen, die sich in der homosexuellen Szene von Paris, New York oder Los Angeles bewegten und die Liebe zu gleichgeschlechtlichen Partnerinnen genossen.

Vierzehn Romane schrieb er (der letzte davon blieb unvollendet), mindestens drei Theaterstücke, einige Drehbücher, Hunderte Kurzgeschichten, Gedichte und journalistische Artikel und Reportagen. Die ersten drei umfangreicheren Prosawerke (»Die Traumbude«, »Gam« und »Station am Horizont«) empfand er später als »Jugendsünden«, sein Opus 1 war für die literarische und politische Öffentlichkeit »Im Westen nichts Neues«. Seine Bücher wurden in mindestens 55 Sprachen veröffentlicht, bis heute erscheinen immer wieder Neuauflagen und Neuübersetzungen. Die spannenden, sentimentalen, realistischen, von tiefer Lebensskepsis und einem ungebrochenen Humanismus geprägten Geschichten, die er erzählt, boten den Stoff, den Hollywoods Studiobosse begierig aufgriffen. Seine Romane wurden so auch ein Stück Filmgeschichte. Berühmte Regisseure, Drehbuchautoren und Leinwandstars nahmen sich ihrer an, schufen mehr oder weniger gelungene Filme, die Remarques Namen und das, was von seinem Werk in diesen Kinoversionen noch erkennbar geblieben ist, um die Welt trugen.

Liebe und Tod – die zentralen und existentiellen Punkte menschlichen Seins – waren die Themen dieses Autors. Daß seine Bücher darüber hinaus eminent politisch sind, der Mikrokosmos individueller Schicksale eingebettet und bestimmt bleibt vom Makrokosmos der Zeitgeschichte, das übersahen viele seiner Rezensenten. Mit scheelem Blick verfolgte die deutsche Literaturkritik die außergewöhnlichen Erfolge eines Schriftstellers, der sich nicht im metaphysischen Dunkel deutscher Erlösungs- und Innenweltmystik verlor, sondern von den Opfern einermörderischen Zeit erzählte, den Frontsoldaten, den Kriegsheimkehrern, den Illusionslosen, den Emigranten, den Verlorenen, den auch in der Liebe Scheiternden. Über seinen Geschichten, deren Ende von der Melancholie der Trennung, des Todes und des »Alleinseins« bestimmtwird, aberliegt »der notwendige Optimismus des Pessimisten«. Vielleicht ist auch dies das Geheimnis des bis heute anhaltenden Erfolges seiner Bücher. Der Leser begegnet sich selbst in ihnen, empfindet die fiktiven Figuren als eine Spiegelung eigener Träume, ZweifelundÄngste. Dieserim Grunde so deutsche Romantiker hat sich als Schriftsteller der Wirklichkeit – vor allem auch der politischen – gestellt und am Ende seines Lebens sein Credo des »Trotzdem« einmal in die Sätze gefaßt: »Denn was bleibt, wenn wir nicht daran glauben, daß ein Fortschritt möglich ist, was bleibt? Es ist manchmal sehr schwer, daran zu glauben, das gebe ich zu, aber man muß daran glauben, und man muß auch dafür arbeiten. Ich würde sogar eher auf das Künstlerische ein wenig verzichten, wenn man damit noch mehr Erfolg haben würde für den Fortschritt.«[18]

Er trug selbst ein beachtliches Stück dazu bei, daß das Politische in seinem Werk so leichtfertig beiseite geschoben wurde. Er sei unpolitisch, betonte er nach der Veröffentlichung von »Im Westen nichts Neues«. Das blieb hängen, auch wenn er sich dann in den fünfziger und sechziger Jahren sehr pointiert zum Zeitgeschehen äußerte. Ein korrektes Mißverständnis, das seine Schriftstellerkarriere vom ersten triumphalen Beginn an begleitete. »Dies Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein«, setzt er vor den Beginn seiner Geschichte über Paul Bäumer und eine Generation, »die vom Krieg zerstört wurde«.[19] Seine Kritiker nahmen das ernst, stempelten ihn zum literarischen Leichtgewicht ab, spotteten über den »Erfolgsschriftsteller« und übersahen geflissentlich die zeitgeschichtlichen Dimensionen und die politischen Anliegen, die er in seinen Büchern engagiert aufgreift. Von den elf Romanen, die nach den Frühwerken erschienen, spielen zehn ganz unmittelbar vor einem historischen Hintergrund, der bestimmend für die Handlung ist. Der Autor arbeitet die großen Themen und umwälzenden Ereignisse ein, die die Gesellschaft seiner Zeit bewegen: den Ersten Weltkrieg (»Im Westen nichts Neues«), das Drama der Weimarer Republik (»Der Weg zurück«, »Drei Kameraden«, »Der schwarze Obelisk«), die Emigration (»Liebe Deinen Nächsten«, »Arc de Triomphe«, »Die Nacht von Lissabon«, »Schatten im Paradies«), die Wirklichkeit im nationalsozialistischen Deutschland (»Der Funke Leben«, »Zeit zu leben und Zeit zu sterben«).

Er schrieb Zeitromane. Selbst dort, wo er zurückblickt, ist es die Gegenwart, die er anspricht. »Im Westen nichts Neues« etwa, dessen Geschehen zehn Jahre vor der Niederschrift angesiedelt ist, konnte vor allem deshalb ein so ungewöhnlicher Erfolg werden, weil Remarque das Empfinden, den Zeitgeist Deutschlands in der Spätphase der Weimarer Republik traf. Nicht der lange zurückliegende Krieg, sondern seine massenpsychologischen Folgen, die erst mit dem Aufstieg der radikalen Republikfeinde und dem Niedergang der deutschen Demokratie in das Bewußtsein der Menschen traten, sind das eigentliche Anliegen des Buches. »Und ich weiß«, heißt es an einer Stelle in diesem Roman, »all das, was jetzt, solange wir im Kriege sind, versackt in uns wie ein Stein, wird nach dem Kriege wieder aufwachen, und dann beginnt erst die Auseinandersetzung auf Leben und Tod.«[20] »Der Funke Leben« oder »Zeit zu leben und Zeit zu sterben« greifen in der restaurativen Frühzeit der Bundesrepublik zwei Themen auf – das entsetzliche Schicksal der KZ-Häftlinge und die Verbrechen der Wehrmacht an der Ostfront –, die zur Zeit ihrer Veröffentlichung im Adenauer-Staat verdrängt und verleugnet wurden. Erst viel später, als die Historiker ernsthaft damit begannen, die Hintergründe der Katastrophen der deutschen und der europäischen Geschichte unseres Jahrhunderts ohne ideologische Scheuklappen darzustellen, die schuldhaften Verstrickungen der deutschen Gesellschaft in dieser Epoche offenzulegen, zeigte sich, mit welch sicherem Gespür Remarque das Elend seiner Zeit, die jämmerlichen Verdrängungen der Täter, das kaum vorstellbare Leiden der Opfer in seinen Büchern erfaßt, es unerbittlich und unerschrocken aus dem Dunkel der Lüge herausgehoben hatte. Dies und die von deutscher »Tiefe« freie Ästhetik seines Werkes haben ihn zu Recht zu einem der wenigen deutschsprachigen Autoren seiner Zeit werden lassen, deren Romane sehr rasch auch international erfolgreich waren. Ein Weltbürger war er und auch ein Weltschriftsteller.

Er selbst wollte am Ende seines Lebens sein Werk in die Tradition eines Émile Zola gestellt sehen. Der französische Romancier hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seiner Epik ein gewaltiges Sittengemälde der Zeit geschaffen. Remarque empfand es zweifellos als persönliche, künstlerische Tragödie, daß Kollegen und Kritiker seinem Werk nie einen ähnlichen Stellenwert zumessen wollten. Und doch ist es so: Seine Romane lassen das gesellschaftliche Panorama einer Epoche auferstehen, die vergangen ist, aber deren Folgen das Heute immer noch bestimmen.[21]

Remarque litt darunter, daß er später nur an dem Sensationserfolg von »Im Westen nichts Neues« gemessen wurde, die folgenden Romane ungerechterweise im Schatten dieses Buches standen. Allerdings, auch Goethe ärgerte sich zeitlebens, daß in der Öffentlichkeit an erster Stelle fast immer der »Werther« genannt wurde, wenn von seinem Werk die Rede war. Thomas Mann reagierte empört und beleidigt, als ihm 28 Jahre nach der Erstveröffentlichung der Literaturnobelpreis ausdrücklich für die »Buddenbrooks« und nicht für den wenige Jahre vor der hohen Würdigung erschienenen Roman »Der Zauberberg« verliehen wurde, den sein Autor künstlerisch erheblich höher bewertete. Diese literaturgeschichtlichen Fußnoten werden Remarque jedoch nur wenig getröstet haben.

Übel nahm man ihm oft, daß er sich nicht einordnen ließ in die parteilichen Flügelkämpfe, die seine Zeit und viele der Intellektuellen so fatal beherrschten. Er schwieg außerhalb des Werkes lange, blieb den endlosen Streitereien im Lager der deutschen Exilanten fern, unterschrieb nur höchst selten politische Resolutionen, entzog sich den zahllosen Veranstaltungen, in denen leidenschaftlich und nicht immer sehr niveauvoll über Krieg und Frieden, Demokratie und Diktatur, Kommunismus und Volksfront, Spanienkrieg und Faschismus, Moskauer Prozesse und die Nachkriegsordnung debattiert wurde. Thomas, Heinrich und Klaus Mann, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig, Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Franz Werfel, Leonhard Frank, Arthur Koestler, Gustav Regler, Ludwig Marcuse oder die sich zum Kommunismus bekennenden Schriftsteller Anna Seghers, Ludwig Renn, Johannes R. Becher, Friedrich Wolf schrieben mehr oder weniger intensiv politische Essays und griffen mit Zeitungsartikeln in die öffentliche Debatte ein. Er nicht. In seinen Romanen stehe alles, was er zu sagen habe, ließ Remarque die aufgeregten Meinungsforderer wissen. Erst am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren bundesdeutscher Verdrängungsakrobatik gab er sein Zögern auf. Dann meldete er sich mit kritischen Formulierungen öffentlich zu Wort, klagte die Erinnerungsunfähigkeit der deutschen Gesellschaft an, warnte angesichts der Ost-West-Konfrontation vor einer neuerlichen, weltumspannenden militärischen Auseinandersetzung.

Wo er weltanschaulich stand, war aber nie zu übersehen. Auf der Seite des mißbrauchten Menschen, der Opfer von Krieg, Diktatur und Verelendung. Nicht agitatorisch oder im oberflächlichen Kanon seines ideologischen Zeitalters läßt er seine Figuren leben, handeln und argumentieren, sondern als wissende, resignierende und doch nie ganz aufgebende Menschen. Das Leben hat ihnen seine bitteren Lektionen erteilt, und sie ahnen etwas von der Vergeblichkeit der Liebe und der Freundschaft, sie spotten über die Ideale, mit der sich eine bürgerliche Gesellschaft schmückt, um der Realität den Schein des Normalen zu geben. Sein Thema ist die Verlorenheit des Menschen, und er findet sie in allen Lagern, unter den Frontsoldaten und Inflationsgebeutelten, den Emigranten und den Mondänen, den Faschisten und den Kommunisten, den Trinkern und den Liebenden, den Armen und den Reichen. »Letzten Endes ist man doch immer einsam«, notiert der 20-jährige im Tagebuch und setzt damit ein Leitmotiv seines eigenen Lebens und seines Werkes.[22]

Remarques Geschichten sind nicht schlicht autobiographisch zu übersetzen. Sie spielen an Orten, an denen er gelebt hat (in Osnabrück, Berlin, Paris, Davos, an der Riviera, in New York oder Kalifornien), viele Details, mit denen er seine Gestalten umgibt, weisen auf eigene Erlebnisse und Erfahrungen hin: Er erzählt von Kriegsteilnehmern, von Heimkehrern in eine durch die Niederlage veränderte gesellschaftliche Realität, von Lehrern, Grabsteinverkäufern, ehemaligen Journalisten, Freunden schneller Autos und von Emigranten, von Erlebnissen mit Frauen und Alkohol, vom Leben in der schillernden Atmosphäre Hollywoods. Seine weiblichen Figuren besitzen manche Ähnlichkeit mit seiner Frau Jutta Zambona, mit Marlene Dietrich, Natascha Paley und anderen Geliebten und Freundinnen. Aber das alles bildet nur das Gerüst für einen farbigen Erzählrahmen, um einen realitätsnahen, von ihm künstlerisch beherrschbaren Handlungsablauf zu schaffen, seine Figuren glaubwürdig und für den Leser nachvollziehbar zu gestalten. Wie jedoch Thomas Mann kein geborener Herr Buddenbrook war, Arnold Zweig nicht die Grischa-Tragödie während seiner Soldatenzeit an der Ostfront persönlich miterlebt hatte, Heinrich Mann sich zwar leidenschaftlich der Schauspielerin Trude Hesterberg hingab, aber die Tragödie des Professor Unrat nicht erlitt, so verlief das Leben des Erich Maria Remarque nicht so wie das Schicksal der Menschen in seinen Romanen.

Das biographische Element in seinen Geschichten besitzt allerdings von einem ganz anderen Blickwinkel aus gesehen für seine Themen und seine Ästhetik einen hohen Stellenwert. Ohne das grauenhafte Geschehen an der Front gesehen zu haben, wäre er nicht fähig gewesen, seinen »Kriegsroman« so zu schreiben, wie er es dann zehn Jahre später tat. Remarque hat die Inflationsjahre Weimars, das Leben in der Emigration hautnah erlebt, und was er gesehen hatte, wurde zum literarischen Grundstoff seiner Romane. Autobiographisch interessant ist so auch das Denken und Empfinden seiner männlichen Protagonisten – Paul Bäumer, Ernst Birkholz, Robert Lohkamp, Josef Steiner, Ravic, Ludwig Bodmer oder Robert Ross. In ihnen spiegelt sich in der Tat die geistige Welt- und Menschendeutung ihres Schöpfers wider: die Verlorenheit des Individuums, der Kampf um die Erhaltung der eigenen Würde in einem Zeitalter, das den Menschen massenhaft entwürdigt, die unerfüllbare Sehnsucht nach Freundschaft und haltbarem Liebesglück, der resignative Rückzug in das Schweigen und in den Rausch, das Wissen um das Unabwendbare, denn »der Tod ist nicht zu verstehn«.

Hier – und nicht in den vielen hübschen Legenden, die er über sich zu verbreiten wußte, oder in den für seine Romane aus dem eigenen Leben entnommenen, leicht austauschbaren Gestaltungshintergründen – kann der Leser ein Stück Innenwelt seines Autors entdecken. Künstlerisch überhöht und beispielhaft für den Teil seiner Generation, dem er sich verbunden fühlt, schreibt er über seine Antihelden, ihr Handeln, Empfinden und Denken. Sie – in Grenzsituationen geworfen – stehen für Remarques Humanismus, mit dem dieser lebensfrohe und übersensible Pessimist seinen Glauben an das Dennoch verkündet. »Ich habe gestern mein Lebens-Credo auf 3 Worte zusammengestellt: Unabhängigkeit – Toleranz u.Humor. …«[23] Der Mensch ist erst dann verloren, wenn er sich selbst aufgibt – »Solange man sich nicht ergibt, ist man mehr als das Schicksal«[24] –, lautet eine seiner zentralen Botschaften, und der steinerollende Sisyphos des Albert Camus hätte da gut in seinen Geschichten auftreten können. Es sind aber keine Tatsachenreportagen, die er geschrieben hat, sondern Romane, die literarische Beschreibung seiner Zeit und ihrer verlorenen Menschen. Weil er jedoch in seinen Figuren die eigene Innenwelt öffnet, wir uns wiedererkennen in seinen liebenden, trinkenden, hurenden, spottenden, reflektierenden, vertriebenen, leidenden, also in seinen um die Rettung ihrer Identität als Individuum kämpfenden und daran sterbenden Menschen, haben die Romane eine so überwältigend große Lesergemeinde gefunden.

Die wenigen Bücher, die angesichts seines weltweit gelesenen Werkes in ihrer Zahl recht bescheidenen Aufsätze, die über diesen Schriftsteller in den vergangenen Jahrzehnten veröffentlicht wurden, neigen jedoch dazu, die Romane zum Leitfaden seines Lebens werden zu lassen. Da er sich weigerte, über sich zu sprechen, er scheu abwehrte, über das rein Literarische hinaus Einblicke zu gewähren, ließen die Autoren sich verführen und schlossen vom Fiktiven auf die Wirklichkeit. Er selbst war ein Spurenvernichter. Immer wieder verbrannte er Briefe – und er war ein gewaltiger Korrespondent –, spielte in ihnen mit verschlüsselten Namen, sandte sie ohne Datum ab. Die Tagebücher blieben bis zu seinem Tod unter Verschluß und sind bis heute unveröffentlicht, und bei Anfragen hielt Remarque fest an den Geschichten, die er schon immer über sich erzählt hatte, und die verbargen nun einmal mehr, als sie erhellten.

Es dürfte ihn wenig interessiert haben, denn dieser so erfolgreiche, selbstquälerische und keineswegs uneitle Autor hielt zeitlebens eine sympathische Distanz zu sich selbst. Im April 1969 ließ er einen Jugendfreund, der um biographische Hinweise über seine Jugendjahre bat, wissen: »Zum Thema ›Remarque und Osnabrück‹ kann ich Dir wenig helfen, da ich eine Abneigung gegen alles Autobiographische und auch gegen Biographien habe. Sie erscheinen mir immer noch als eine Überbewertung der eigenen Wichtigkeit und somit als indirekter Egoismus, verbrämt mit einer Spur von Eitelkeit. Manche Schriftsteller wollen gerne über sich und ihr Leben sprechen, andere möchten lieber, daß nur ihre Arbeiten gewertet werden. Ich gehöre zu den letzteren … Was ich in meinem Leben gelernt habe, habe ich ohnehin in meinen Büchern verwandt, und der Rest ist privat und ohne Belang für die Arbeit.«[25] Hinzu kam, daß er das, was er die wirklich große Kunst nannte, liebte und kannte. Nicht nur das eigene Metier, die Literatur, sondern auch die Musik, die ihn, der Klavier und Orgel spielte, zeitlebens begleitete und erfüllte, und die Malerei, mit deren Meisterwerken er sich, wo immer er wohnte, umgab, von ihrer zeitlosen Schönheit gebannt. So stand er dem eigenen Werk mit außerordentlicher und wohl auch kluger Bescheidenheit gegenüber. Er verachtete seine Verlage und fast alle seine Lektoren, Kritik machte ihn depressiv, die künstlerischen Selbstzweifel blieben bis zum Lebensende, keine noch so hohe Verkaufszahl konnte sie endgültig vertreiben. »Schlechtere Kritiken angekommen. Nicht viel. Aber genug, um mich zu überzeugen.«[26]

Thomas Mann, der vielleicht berühmteste seiner schreibenden Zeitgenossen, hält am 28. Mai 1939 – nach einem abendlichen Gespräch im Familienkreis – in seinem Tagebuch fest: »Über die Schriftsteller Zweig, Ludwig, Feuchtwanger u.Remarque. Welchem die Palme der Minderwertigkeit zu reichen.«[27] Ein Urteil, das zwar gespeist ist von persönlichen Animositäten, ja Neidgefühlen gegen den so überaus erfolgreichen Berufskollegen (»Remarque und die Dietrich, minderwertig«, notiert der bürgerliche Repräsentant einmal nach einem Lunch in den Studios der Warner Brothers[28]), aber das sich ähnlich ablehnend und hochmütig in manchen Anmerkungen, Erinnerungen oder Briefen seiner literarischen Weggefährten wiederfindet. Hermann Kesten spricht nicht ohne Ironie vom »Berliner Volksschriftsteller«[29], Klaus Mann nennt in einer privaten Aufzeichnung den Roman »Drei Kameraden« »ungebildet, charmelos, ordinär« und klagt über die »ewige Sauferei«.[30] Heinrich Mann erkennt in den frühen dreißiger Jahren im Erfolg eines solchen Autors, so jedenfalls zitiert ihn einer seiner Biographen, einen »dominierenden diffusen Publikumsgeschmack«[31], und in Brechts Arbeitsjournal taucht Remarques Name nur einmal und zwar ganz unliterarisch auf: »sylvesterabend bei Bergner. Granach, Feuchtwangers. hereintropft Remarque mit einem mexikanischen Hollywoodstar, lupe vellesz. r(emarque) ist im Smoking, sieht aus wie Hanns-Heinz Rewers, und irgendetwas fehlt mir an seinem Gesicht, wahrscheinlich ein Monokel.«[32] Harry Graf Kessler berichtet amüsiert von einem Abendessen im August 1929, das in einem größerem Kreis stattfand und an dem auch Arnold Zweig teilnahm. Er war der Autor des 1927 erschienenen, seinen Schriftstellerruhm begründenden »Kriegsromans« über das Schicksal des Sergeanten Grischa, der allerdings zu seinem großen Mißvergnügen längst nicht die Auflagen von »Im Westen nichts Neues« erreicht hatte. »Zweig destillierte unter Rosen Gift gegen Remarque«, vertraut Kessler seinem Tagebuch an. »Als ob jemand Remarque angriffe, obwohl alle ihn lobten, meinte er: ›Nein, nein, das Buch ist gut (›gut‹ mit herablassender Färbung); Renn und Remarque sind zwei ›gute‹ Dilettanten-Romane. Remarque hätte aus seinem Buch sogar einen großen Roman machen können; aber das ist das Dilettantische daran, daß erden Punkt, von dem aus erihn hätte komponieren sollen, nicht gesehen hat, obwohl er ihn gefunden hatte.‹«[33]

Nicht sehr viel souveräner erinnert sich sein späterer Nachbar in der Schweiz, Robert Neumann, an die Begegnungen mit Autor und Werk: »Da war immer wieder eine grobschlächtige, aber stupende Erzählerbegabung, da war immer ein solider realistischer Hintergrund, aber immer wieder wurde diese Leistung kompromittiert durch Knalleffekte, die gar nicht für den Roman, die schon fürs Kintopp geschrieben waren – ein Verlust an literarischer Integrität …«[34] Ein Urteil, das zumindest auf seinen berühmtesten Roman nicht zutrifft. Denn als der völlig unbekannte Remarque »Im Westen nichts Neues« schrieb, konnte er auch im Traum nicht daran denken, sein Buch würde einmal die Vorlage für einen Film bieten.

Nach Remarques Tod schrieb Neumann in einer (kritischen) Rezension über den nachgelassenen Roman »Schatten im Paradies« allerdings die schönen treffenden Sätze: »Ein mutiger Mann und kompromißloser Charakter. Ein einsamer Mann. Kein glücklicher Mann. Aber daß er glücklich sei, habe ich nie geglaubt.«[35] Joseph Roth läßt seinen feuilletonistischen »Selbstverriss«, den er im November 1929 in »Die literarische Welt« veröffentlicht, mit dem spöttischen Satz enden: »Messe ich diese Zahlen (gemeint ist die zweite Auflage seines Romans ›Rechts und Links‹ – WS) an meinen schriftstellerischen Mängeln, so überkommt mich in stillen Stunden der törichte Wahn, ich sei der kleine Remarque von Deutschland.«[36] Carl Zuckmayer schließlich, der in der »Berliner Illustrirte« eine begeisterte Rezension über »Im Westen nichts Neues« veröffentlicht hatte, schrieb in seinem Lebensrückblick kaum etwas über das Werk, aber dafür um so ausführlicher von den langen amerikanischen Exil-Nächten, in denen sie »Rum oder Wodka (tranken) und taten, als säßen wir bei Herrn Waizenbluth im alten ›Neva Grill‹ am Berliner Wittenbergplatz oder in Henry Benders Künstler-Club«.[37]

Remarques Erfolg machte neidisch. Vor allem natürlich in den Jahren, in denen nahezu alle deutschschreibenden Exilanten ihre Leser verloren hatten, sie sich recht jämmerlich in der erzwungenen Fremde durchschlagen mußten, ihre Bücher – wenn überhaupt – nur in kleinen Auflagen in einem der Exilverlage erschienen. Man lese nur nach, wie manche von ihnen über die viel übersetzten Autoren Remarque, Lion Feuchtwanger und Stefan Zweig, aber auch über Thomas Mann lästerten, schimpften und diese »Großschriftsteller« hämisch kritisierten. Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Robert Musil, Joseph Roth, Heinrich Mann – sie und viele andere saßen verloren, ohne Leser und Geld in der Fremde, der materielle Überlebenskampf machte sie von Spenden und Hilfeleistungen der Flüchtlingskomitees oder der wohlhabenden Kollegen abhängig. In Hollywoods Studios grübelten viele einst berühmte und nun frustrierte deutsche Schriftsteller über Drehbüchern, die sie nie zu Ende schrieben. Remarque blieb auch in diesen Jahren reich, seine Bücher erschienen weiterhin mit hohen Verkaufszahlen, wurden verfilmt und in der internationalen Medienwelt besprochen. Da half es wenig, daß er – ebenso wie Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig oder Thomas Mann – Hilferufe mit großzügigen Geldzahlungen beantwortete und sich für die Werke der nun so erfolglosen Kollegen einsetzte, die lebensrettenden Einreisevisa organisierte oder Flüchtlinge bei sich beherbergte. Den »Glücklichen« liebt man nicht, vor allem, wenn das Unglück im eigenen Leben Einzug gehalten hat.

Trivialliteratur, Unterhaltungsprosa, Kolportage, Kitsch gar, mit diesen Bewertungen wurde und wird sein Werk vielerorts abgefertigt und verdammt. So könne man sich nicht mit dem Krieg, dem wirtschaftlichen Elend der Weimarer Republik oder den Menschen im Konzentrationslager auseinandersetzen, echote es vielfach aus den deutschen Feuilletons. Sentimental schreibe er, Kunstfiguren füllten die Personengalerie seiner Romane, unglaubwürdig sei da vieles, wirklichkeitsfremd. Urteile, die ohne intensivere eigene Beschäftigung mit dem Werk übernommen, weitergetragen wurden und sich auch in den Literaturseminaren – insoweit sich die Germanistik überhaupt mit diesem Autor beschäftigt hat – niederschlugen. Wobei im Hintergrund zweifellos immer die politische Auseinandersetzung mit ihm, seinen Themen und seinem Pazifismus mitschwang. So kritisiert beispielsweise Ludwig Marcuse in seinen Memoiren, als der inzwischen amerikanischer Staatsbürger gewordene Bestsellerautor Remarque in einem Interview entschieden erklärt hatte, »I am no more German for I do not think German or feel German or talk German«: »Ein deutscher Schriftsteller sollte zu stolz sein, um sich vor dem besudelten deutschen Namen zu fürchten. Er sollte den Mut haben zu seiner lebenslänglichen Sprache.«[38]

Remarques Prosa ist einfach, seine Geschichten sind geradlinig und unterhaltsam. Es sind realistisch erzählte Romane, keine Experi-mentalliteratur. Die psychologische Differenziertheit und sprachliche Vielfalt ist gegenüber dem Werk eines Thomas Mann zweifellos begrenzt. Remarque hat sehr gute und nicht so herausragende Bücher geschrieben. Aber kann man von Trivialliteratur oder Kolportage sprechen, wenn ein Autor in präzisen, die Zeit schonungslos darstellenden Romanen vom Erleben junger Menschen im Krieg, von den um ihre individuelle Würde ringenden Insassen eines Konzentrationslagers oder den Verbrechen an der Ostfront des Zweiten Weltkrieges erzählt? Remarque braucht keine Verteidiger, seine Bücher sprechen für sich. Sie müssen nur auch von denen genau und unvoreingenommen gelesen werden, die darüber ihre öffentlichen Pauschalurteile fällen.

Dem Weltbild eines bürgerlichen Kritikers oder Hochschullehrers entspricht es zudem zweifellos ganz und gar nicht, daß einer ein ernstzunehmender Schriftsteller sein soll, der sich im Kreise von Filmstars zeigt, Autos liebt, über »Das Mixen kostbarer Schnäpse« räsoniert oder in seinen Anfangsjahren Werbetexte über Autoreifen reimt (»Warum in die Ferne schweifen, fahre lieber Conti-Reifen«) und als Sportjournalist die Berliner Arenen besucht. Wenn schon Weiber und Alkohol, dann bitte schön auch verkanntes Genie.

Solche Urteile und Vorurteile haben die Leser nie verschreckt, aber die Rezeption der »Berufskritik« entschieden mitgefärbt. Blättert man jedoch in den Rezensionen oder Briefen vielbeachteter Feuilletonisten oder Schriftsteller aus den Jahren, in denen seine Romane veröffentlicht wurden, zeigt sich doch auch ein sehr differenziertes, von Respekt für die Person und sein literarisches Werk getragenes Bild. »Remarque erzählt meisterlich«, schwärmt Alfred Polgar in seiner Rezension über den Roman »Drei Kameraden«, »in einer gedrängten, kleinplastischen, den Dingen ganz nah an den Leib rückenden, unmittelbaren Sprache. Der Atem des Augenblicks ist in sie eingefangen.«[39] Alfred Kerr schrieb 1929 nach einem Besuch des von Carl Zuckmayer übersetzten und am Broadway erfolgreich aufgeführten und leidenschaftlich diskutierten Anti-Kriegsdramas »What Price Glory?« (deutscher Titel: »Rivalen«) von Maxwell Anderson im Berliner Theater an der Königgrätzerstraße: »Ist wirklich das Drama stärkstes Ausdrucksmittel? Das epische Buch von Remarque ist stärker als dieses Drama.«[40] Kurt Tucholsky, keineswegs ohne skeptische Anmerkungen über die in den Weimarer Jahren erschienenen Romane, schreibt nach der Veröffentlichung von »Der Weg zurück«: »Es ist saubere, einfache und klare Epik.«[41] Carl von Ossietzky, seit 1926 Leiter der berühmten »Weltbühne«, hatte nach dem Sturm der politischen Rechten auf den Autor von »Im Westen nichts Neues« in mehreren Artikeln zu den Auseinandersetzungen um das Buch und seine Verfilmung Stellung bezogen. Er verteidigte den Schriftsteller und sein Werk vehement und sah vor allem sehr genau, welche politische Bedeutung es besaß. Als Weimar seinem Untergang zuschritt, schrieb Ossietzky etwas wehmütig: »Ist es nicht ein Jahrhundert her, daß uns der Triumph des Kriegsbuches von Remarque als eine spontane Wandlung zum Friedensgeist gedeutet wurde? Wir haben dem damals bei aller Anerkennung der Qualitäten des gutmeinenden Autors widersprochen. Die Friedensgesinnung ist dahin wie der Schnee vom vorigen Jahr.«[42] Stefan Zweig ließ am 28. Juni 1929 seinen Briefpartner Romain Rolland wissen: »In Deutschland sind die Nationalisten am Verzweifeln. Das Buch von Remarque ›Im Westen nichts Neues‹ – Auflage 600.000 in 12 Wochen, und es geht auf die Million zu – hat sie umgeworfen. Dieses schlichte und wahre Buch hat mehr ausgerichtet als alle pazifistische Propaganda in zehn Jahren …«[43] Rudolf Krämer-Badoni formulierte in seiner sehr positiven Kritik über den Roman »Der Funke Leben« im September 1952: »Erich Maria Remarque ist ein hochgescheiter Mann. Dabei geht ihm das Diplomatische oder Opportunistische, das gescheite Leute leicht an sich haben, gänzlich ab. Er wählt zum Beispiel zwischen Bolschewismus und Faschismus, zwischen Kommunismus und Nazismus auf keinen Fall das sogenannte kleinere Übel.«[44] Joachim Kaiser schreibt einmal die geradezu euphorischen Sätze: »Remarque kann erzählen. Mehr als das, er kann Szenen komponieren, Dialoge abrunden, Episoden so formen, daß sie eine Pointe haben und dem Ganzen ebenso entsprechen wie dem Stil des Details. Zudem hat Remarque selbst eine so unwiderlegbare psychologische Süffisanz, zudem weiß Remarque so haarsträubend genau Bescheid darüber, wie man sich fühlt, wenn die Abgründe ringsum gähnen.«[45]

Die junge amerikanische Literatur – Hemingway, Faulkner, Fitzgerald, Wolfe, Sinclair Lewis –, die begann, eine neue Sprache hinüberzutragen in das alte, einst als Vorbild empfundene Europa, bewunderte den neuen Stern am Himmel der Literatur. Ernest Hemingway, der selbst gerade einen Roman über den Ersten Weltkrieg – »In einem anderen Land« – veröffentlicht hatte und den überwältigenden Erfolg des deutschen Kollegen in den Vereinigten Staaten mit einigen Wettbewerbssorgen beobachtete, teilte seinem Briefpartner F. Scott Fitzgerald im September 1929 mit: »Es war komisch, daß ich zuerst nicht in ›Im Westen‹ usw. reinkommen konnte, aber als ich einmal drin war, fand ich es ungeheuer gut …«[46] William Faulkner, dessen Bücher Remarque mit großer Bewunderung las, veröffentlichte 1929 seinen Roman »The Sound and the Fury« und blieb damit erfolglos. Er empfand es aber als sehr tröstlich, daß auf der Bestsellerliste der Saison »Im Westen nichts Neues« stand. Es war ihm ein ermutigender Beweis dafür, daß auch gute Romane kommerziell erfolgreich sein konnten.[47] Francis Scott Fitzgerald schrieb in Hollywood eine (nicht verwendete) Drehbuchfassung zu Remarques Roman »Drei Kameraden«, und er äußerte sich begeistert über die Vorlage und ihren Autor. Der englische Autor Herbert George Wells meinte, »it is a wonderful book«.[48]

Remarque stand immer zwischen den Fronten der Kritik, Verdammung und Lobpreisung begleiteten alle seine Romane. Es ist wohl so, wie es Tucholsky einmal sehr nüchtern und im Zusammenhang mit der Diskussion um »Im Westen nichts Neues« ausdrückte: »Literarische Erfolge beweisen zunächst nicht viel für den Wert eines Werkes. Überschreiten sie aber ein gewisses Maß, so zeigen sie etwas an: nämlich nicht so sehr die Qualität des Buches als den Geisteszustand einer Masse. Und es gibt – von Thomas Mann bis herunter auf die Courths-Mahler – keine unverdienten Erfolge.«[49] Der Verleger und Lektor Fritz Landshoff, der zwischen 1934 und dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Holland die deutschsprachige Abteilung im Amsterdamer Querido-Verlag leitete und 1938 »Drei Kameraden« veröffentlichte, formuliert es ähnlich, wenn er in seinen Erinnerungen über seine Zusammenarbeit mit Remarque nachsinnt: »Es besteht zu oft die Neigung, die literarische Qualität eines erfolgreichen Autors zu unterschätzen und die Erfolglosigkeit eines Werkes bereits als Zeichen des literarischen Wertes zu beurteilen. Ebenso ist es gerade unter deutschen Kritikern oft die Gewohnheit, einen schwer verständlichen Autor, der selbst einfache Gedanken kompliziert auszudrücken versteht, höher zu werten als den Autor, der komplizierte Gedanken in verständlicher Form zu formulieren weiß.«[50] Kurt Weill, Komponist der weltberühmten »Dreigroschenoper« und der Geschichte über den »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« (beide Texte schrieb Bertolt Brecht), bemerkte einmal in den vierziger Jahren, als er am Broadway große Erfolge mit seinen Musicals feierte, einem Journalisten gegenüber: »Ich habe niemals den Unterschied zwischen ›ernster‹ und ›leichter‹ Musik anerkannt. Es gibt nur gute und schlechte Musik.«[51]

Wie nahezu jeder Autor, dessen Werk einen gewissen Umfang angenommen hat, hat auch Remarque stärkere und schwächere Romane geschrieben. Würde man, ohne den Namen des Verfassers zu kennen, Thomas Manns Roman »Königliche Hoheit« oder seine Erzählung »Die Betrogene« wirklich zu den Meisterwerken der deutschen Literatur zählen? Ist sein »Felix Krull« über das Heiter-Ironische hinaus nicht auch ein wenig belanglos (was sein Schöpfer selbst sehr genau sah)? Hat nicht Arnold Zweig nach seinen großen Romanen über den Krieg und seine gesellschaftlichen Wirkungen ein sehr schwaches Alterswerk hinterlassen? Wissen wir nicht, daß unter Heinrich Manns so herausragender Epik auch Titel zu finden sind, die das Niveau von »Die kleine Stadt«, von »Der Untertan« oder der »Henri Quatre«-Romane auch nicht annähernd halten können? Gibt es vom »Meister des historischen Romans«, von Lion Feuchtwanger, nicht auch literarische Nebenwerke? Sind die Prosatexte des Dramatikers Gerhart Hauptmann nicht längst mit Recht vergessen? Oder Alfred Döblins Gesamtwerk: Sind in einigen seiner Romane nicht deutliche künstlerische Schwächen sichtbar?

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele der wichtigen deutschsprachigen Autoren, die im Exil das Ende des Dritten Reiches abwarteten, von den bundesdeutschen Verlagen und damit bald auch von den Lesern übersehen und vergessen. Zumal sie im anderen Deutschland, in der DDR, schon sehr früh gedruckt, geehrt (und auch ein Stück mißbraucht) wurden. Für Erich Maria Remarque galt dies nicht. Auch seine Bücher wurden zwar zunächst nur zögerlich in die westdeutschen Verlagsprogramme aufgenommen, aber der Name des Autors von »Im Westen nichts Neues«, der inzwischen auch mit seinen anderen Romanen längst zu einem international gelesenen Schriftsteller geworden war, besaß nach wie vor beim Publikum einen hohen Stellenwert. Sein Werk – zumal nach dem Welterfolg von »Arc de Triomphe« (Erstveröffentlichung 1945) – mußte nicht »wiederentdeckt« werden.

Künstlerische Gerechtigkeit aber verweigerten ihm auch die Germanisten, Kritiker und sonstigen Beweger des Literaturbetriebes in der zweiten deutschen Demokratie. Im Verhältnis zu anderen berühmten und vielgelesenen Autoren seiner Zeit blieb die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten über sein Werk äußerst schmal. Einige Monographien aus der Feder angelsächsischer Germanisten, wenige Dissertationen, Magisterarbeiten oder literaturästhetische Texte – die sich fast ausschließlich mit »Im Westen nichts Neues« beschäftigen – aus dem deutschen Wissenschaftsbereich. Eine Biographie fehlt bis heute. Ein kleines Bändchen über ihn von Franz Baumer, sympathisch in der Absicht, aber voller Lücken und Fehlinformationen, gibt es, und eine Ende der siebziger Jahre in der DDR erschienene schmale Monographie in der ideologisch stramm ausgerichteten Reihe »Schriftsteller der Gegenwart« von Alfred Antkowiak. Im untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaat wurde Remarques Werk in Auswahl gedruckt und gelesen, er zählte für die Kulturbürokraten zu den »bürgerlichen Sympathisanten« des realexistierenden Sozialismus. Wobei seine scharfe Kritik am Stalinismus, am kommunistischen Regime in Ostdeutschland und am Bau der Berliner Mauer geflissentlich unter den Tisch gekehrt wurde. »Remarque bewies stets seine humanistische Gesinnung. Seine subjektivistische Weltsicht hinderte ihn jedoch, die historischen Prozesse und die progressiven Kräfte unserer Zeit zu erkennen … Remarque begnügt sich nach wie vor mit der Rolle eines kritischen Beobachters.«[52]

In den neunziger Jahren erschien eine Doppelbiographie Remarque/Paulette Goddard von der Amerikanerin Julie Gilbert, die zwar redlich zitiert, aber weder das Werk noch die Zeit, in der es entstand und die es so heftig beeinflußte, finden in ihrem auch ein wenig klatschsüchtigen Buch den notwendigen Raum.[53] Manches läßt sich finden über Remarque in den Erinnerungen von Menschen, die ihm begegnet waren, mehr oder weniger lange Strecken seines Lebens mit ihm durchschritten hatten. Ruth Martons schöner, sehr persönlicher Rückblick auf ihren »Freund Boni« gehört dazu. Auch in dem Buch von Maria Riva, in dem die Tochter das Leben von Marlene Dietrich schildert, finden sich viele Passagen, die Interessantes über Leben und Charakter Remarques bieten. Ebenso die Erinnerungen der Schauspielerin Brigitte Horney, deren Mutter, die Psychoanalytikerin Karen Horney, in seinen späteren Lebensjahren eine besondere Rolle spielte. Carl Zuckmayer, Alma Mahler-Werfel, Leni Riefenstahl, Ruth Liepman, Curt Riess und viele andere erzählen in ihren Memoiren von dem berühmten Mann, und nicht alles ist auf die Goldwaage zu legen, was sie über ihn zu berichten wissen.[54] Sein Name taucht in ungezählten Briefen und Tagebüchern seiner Zeitgenossen aus der Welt der Literatur auf. Es sind oftmals nur kleine Mosaiksteine, die hier knapp und verstreut zu finden sind, aber sie helfen, das Bild seines Lebens sichtbar zu machen. Und doch, die Remarque-Forschung steht im Grunde noch am Anfang.

Ein Meilenstein auf dem Weg zu einer breiteren, ernsthaften analytischen und biographischen Auseinandersetzung mit diesem Autor war 1989 die Gründung des Remarque-Archivs in seiner Geburtsstadt Osnabrück. Unter der Leitung von Tilman Westphalen und des Herausgebers der seit elf Jahren erscheinenden Remarque-Jahrbücher, Thomas Schneider, entstand eine Forschungsstätte, die für jeden, der sich mit dem Mann und seinen Büchern beschäftigt, unverzichtbar geworden ist. Inzwischen ist in Osnabrück die weltweit wichtigste Remarque-Archivsammlung entstanden. Tausende von Dokumenten – Originale oder Kopien – wurden gesammelt: Briefe, Manuskripte, Erstdrucke, wissenschaftliche Arbeiten, Bildmaterial. In den Jahrbüchern versammeln sich – zum Teil sehr informative – Texte aus der internationalen Remarque-Forschung, bibliographische Zusammenstellungen und biographische Neuentdeckungen. 1986 wurde die »Remarque Gesellschaft Osnabrück« gegründet, die die Herausgabe der Jahrbücher unterstützt, Vortragsreihen organisiert, sich ganz allgemein der Verbreitung und Erforschung des Werkes von Erich Maria Remarque verpflichtet fühlt.[55]

Auf den Arbeiten des Remarque-Archivs basieren auch die jüngsten Buchveröffentlichungen, die frühe Prosatexte, den bislang nie gedruckten zweiten Jugendroman »Gam« und eine Auswahl von Gedichten und Briefen enthalten. Die Korrespondenz mit Marlene Dietrich erschien im Jahr 2001. Das zentrale Werk, die elf Romane – und das ist natürlich das Wichtigste –, sind schon seit Jahren in preiswerten Ausgaben auf dem deutschen Buchmarkt vorhanden.

Vieles aber ist verstreut, manches wohl unauffindbar. Remarques Witwe vermachte der »New York University« den gesamten Nachlaß. Die Tagebücher gingen über den Atlantik, das Wohnhaus in Porto Ronco wurde vom Kanton Tessin versteigert, da Paulette Goddard eine Steuerschuld in Millionenhöhe hinterlassen hatte. Unzählige Briefe sind verschwunden, einige werden den Archiven zu horrenden Preisen angeboten.

Es bleiben also immer noch viele Lücken, die auch diese Lebensbeschreibung nicht wird schließen können. Sie nimmt zwar für sich in Anspruch, mit Sorgfalt das erreichbare Material berücksichtigt zu haben, Zeitzeugen wurden befragt, und die geschichtlichen Hintergründe, vor allem die Exilliteratur, haben den Verfasser schon bei vielen früheren Arbeiten intensiv beschäftigt. Aber er ist sich bewußt, daß ein großer Rest des Ungesagten bleibt. Eine Biographie ist generell niemals die letzte Wahrheit über ein Leben, sondern stets nur der Versuch einer Annäherung. Die äußerlichen Fakten bieten einen wichtigen und interessanten Leitfaden, sie sind im Falle Remarque für viele, längere Abschnitte seines Lebens immerhin einigermaßen gesichert und nachvollziehbar. Das Werk läßt zudem vieles erspüren vom Denken und Empfinden seines Schöpfers. Aber schon die Berichte der Zeitgenossen, ihre Erinnerungen und Urteile sind nicht frei von subjektiven Deutungen. Persönliche Sympathie oder Antipathie fließen mit ein, ebenso eigene politische, moralische oder ästhetische Ansichten. Selbst Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen des Porträtierten enthalten Verschleierungen oder sehr spontane, von Augenblicksstimmungen gelenkte Äußerungen. Die inneren Entwicklungen und Perspektiven der betrachteten Person sind also stets mit großer Zurückhaltung zu deuten. Auch der Biograph hat sein eigenes Bild über die Welt, die Geschichte, den Gegenstand seiner Betrachtung.

Was eine Biographie leisten kann, wird hier versucht: einen Menschen und sein Werk sichtbar zu machen, sein Leben nachzuerzählen und die Zeit in Erinnerung zu rufen, in der er wirkte. Geschrieben wird sie für den, der einen Roman Remarques zu Ende gelesen hat und nun gepackt, erschüttert, erregt, irritiert, nachdenklich fragt, wer dieser Schriftsteller war, wie einer gelebt hat, der solche Romane schrieb und dessen Name die Zeitgenossen empörte oder begeisterte. Wenn es gelungen ist, ihm Remarques aufregendes, unruhiges, reiches, erfolgreiches und vielfach von Zweifeln und Ängsten geplagtes Erdendasein sichtbar zu machen, dann hat dieser Bericht über einen der meistgelesenen Autoren unseres Jahrhunderts seinen Zweck erfüllt. Um einen Satz Remarques zu zitieren: »Ich will mich bemühen, die Wahrheit zu schreiben!«[56]

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Kapitel 2»Man konnte sich keine andere Zukunft vorstellen …« (1898–1917)

 

 

 

 

Es war ein regnerischer, grauer Monat Juli, als im Sachsenwald der Mann starb, von dem seine Landsleute glaubten, er habe ihr Reich geschaffen. Verbittert war er in den Jahren nach seinem Sturz durch den jungen, forschen Kaiser, denn die Macht war ihm alles gewesen. Ein nervöser Charakter, von wirklichen oder eingebildeten Krankheiten geplagt, in extremen Situationen zu Weinkrämpfen neigend, sich täglich mit scharf gewürzten, gewaltigen Mahlzeiten und Champagner vollstopfend, herrschte dieser Menschenverächter ein Vierteljahrhundert über Deutschland. Otto von Bismarcks Tod am 30. Juli 1898 war nicht ohne Symbolkraft. Denn auch wenn der erste Kanzler des Reiches alles andere als ein friedlicher Politiker war, er im Inneren durch die Sozialistengesetze die organisierte Arbeiterbewegung und durch den Kulturkampf die Katholiken zu gesellschaftlichen Außenseitern abstempelte, außenpolitisch wußte er nur zu genau, wie gefährdet seine Schöpfung stets war. In seinen immer wiederkehrenden Alpträumen sah dieser hochbegabte politische Schachspieler das Reich eingekreist von feindlichen Nachbarn, die nur darauf warteten, der neuen Macht in der Mitte des Kontinents ihre Grenzen aufzuzeigen.

Seine Nachfolger in der Reichsführung hatten jedoch in den Monaten zuvor begonnen, den politischen Kurs entschieden zu verändern, und forderten immer lauter und anmaßender einen deutschen »Platz an der Sonne«. Im Reichstag wurde in Bismarcks Todesjahr das Erste Flottengesetz angenommen und damit die Grundlage für den Bau einer deutschen Kriegsmarine gelegt, der die öffentlichen Haushalte in den nächsten Jahren erheblich überforderte und das mächtige Großbritannien immer mißtrauischer werden ließ. Im fernen China besetzte eine kaiserliche Truppe die Bucht von Kiautschou und erzwang mit diesem militärischen Coup einen 99 Jahre währenden Pachtvertrag. Im Spätherbst desselben Jahres reiste Wilhelm II. mit großem Pomp in den Orient und stellte – ohne von den Betroffenen darum gebeten worden zu sein – die muslimischen Völker unter die besondere Schirmherrschaft des Reiches. Am Ende des Jahres erhielt eine Rankengruppe unter Führung der Deutschen Bank die Konzession für den Bau der Bagdadbahn. »Weltpolitik« war jetzt im Berliner Regierungsviertel angesagt. Schon im Frühjahr hatte der vielredende und sich so gerne kostümierende Kaiser verkündet, wohin unter seiner Herrschaft nun die Reise gehen werde: »Ich habe dieselbe Aufgabe, welche nach Heinrich I. seiner Zeit Otto dem Großen zufiel, nämlich das Reich nach außen fertig, stark, glanzvoll erscheinen zu lassen. Die Deutschen müssen jetzt den Wechsel auf das Reich ziehen.« Der aber sollte zwanzig Jahre später auf ruinöse Weise platzen, und der Mann, der ihn so leichtfertig und pathetisch ausgestellt hatte, mußte im November 1918 bei Nacht und Nebel über die holländische Grenze fliehen. Sein Reich war nach einem langen und opferreichen Krieg untergegangen.

Aber damals, im Jahre 1898, ahnten das nicht viele. Der Kaiser stand mit seinen aggressiven, hochmütigen und die Kraft des Reiches gefährlich überschätzenden Plänen keineswegs allein. Seine Untertanen jubelten ihm ziemlich begeistert zu, wenn er von deutscher Größe schwärmte, das Mittelalter des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation heraufbeschwor und seine Soldaten bei schmetternder Marschmusik durch die Straßen der Garnisonsstädte marschieren ließ. Die vaterländischen Vereine (Flottenverein, Kolonialverein, Alldeutsche, Bund der Landwirte) besaßen bald viele Millionen Mitglieder, deutsche Hochschulprofessoren und Oberstudienräte forderten von ihren Schülern germanisches Denken, heldisches Fühlen und deutsches Wesen. Der Offizier wurde zum Idealbild der Klein- und Großbürger, der protestantischen Pfarrer und der mehr oder weniger hübschen Dienstmädchen. In den wilhelminischen Elternhäusern, in den Schulen und Betrieben sprachen die Väter, Lehrer oder Vorgesetzten, als wären sie auf einem Kasernenhof. Schneidig war der deutsche Mann, und dem welschen Erbfeind oder dem verschwörerischen Juden galt es den Garaus zu machen, wie dem Drachen Fafner, dem der blonde Siegfried mit Hilfe seines Schwertes Notung erfolgreich an Leib und Leben ging. Überhaupt, Richard Wagners Opern waren so recht nach dem Geschmack der Deutschen (und bald hatte er auch in den Nachbarländern, vor allem in Frankreich, seine gläubigen Gemeinden): Da wurde aufgeräumt mit den zwergischen Nattern Alberich und Mime oder dem stammelnden Beckmesser, die alle so redeten und handelten, wie Wagner und die vielen anderen Antisemiten sich ihr verlogenes Bild vom Juden geformt hatten. Erlöst wurde ständig bei diesem Operntexter von all den Sünden der Lust und den unvaterländischen Verirrungen, was den zwar sehr erdnah nach Geld und Gut strebenden, aber doch immer das »Höhere« ehrfürchtig bewundernden Besuchern seiner musikalisch revolutionären Monumentalwerke äußerst behagte. Deutsches Land und deutsche Ehre, deutsche Kunst und deutsche Recken besangen die Tenöre und Bässe langatmig, und zum Bayreuther Weihetempel zog es die deutsche und europäische Bildungselite in jedem Sommer. Viel später erst sollte ein Mann namens Adolf Hitler die Schirmherrschaft über diese Institution übernehmen.

Aber nicht Götterdämmerungs-, sondern Aufbruchsstimmung herrschte 1898 im Land. Die Konjunktur war zu Beginn der neunziger Jahre so richtig in Schwung gekommen, und dabei blieb es, von kleinen Schwächemomenten abgesehen, bis zum Jahre 1913. Die Städte wuchsen in rasendem Tempo, die zweite Industrialisierungswelle überrollte Deutschland, überall entstanden neue Unternehmen, die Chemie-, Elektro- und Maschinenbauindustrien waren nicht nur Wachstumsbranchen, sondern sie veränderten die Alltagswelt. Eine mächtige Wanderungsbewegung vom ländlichen Osten in die sich herausbildenden industriellen Ballungszentren des Westens setzte ein. Die Deutschen wurden mobil, die herkömmlichen Familienstrukturen begannen sich aufzulösen, die Kirchen leerten sich, und der Gott der jungen Intellektuellengeneration hieß Friedrich Nietzsche.

Bald war Deutschland das mächtigste Reich in Europa, überspurtete im Welthandel die Franzosen und näherte sich in der Industrieproduktion der so neidvoll beäugten britischen Konkurrenz. Ein vergleichsweise moderner Staat wurde Deutschland, sein Sozial- und Bildungssystem rief bei den Nachbarn Bewunderung hervor, auf der Liste der Nobelpreisträger standen an herausragender Stelle deutsche Naturwissenschaftler, und seine Landarmee wurde in Zahl und Ausrüstung von keiner anderen europäischen Nation übertroffen. Es stiegen nicht nur die Gewinne, sondern auch, allerdings wesentlich geringer, die Löhne. In der sozialistischen Internationale spielte die deutsche Sozialdemokratie eine führende Rolle, und im Reichstag stellte sie schließlich die stärkste Fraktion, was an den Machtverhältnissen im Land allerdings nichts änderte. Politisch blieb das Reich rückständig. Nach Demokratie sehnten sich nicht viele Bürger, Kaiser, Adel und der Generalstab erst recht nicht. Ein »Reich zwischen den Zeiten« war es, unruhig und nervös, sprunghaft in seiner Außenpolitik, blockiert gegenüber den notwendigen Reformen im Innern. Armut der Vielen stand neben dem Reichtum der Wenigen, wirtschaftliche und technologische Modernisierung neben verfassungspolitischer Rückwendung.

Die Künstler und die Intellektuellen sahen in der Politik ein häßliches Treiben, wandten sich ab vom Alltag, verloren sich in Ästhetizismus und spätromantischer Schwärmerei. Schopenhauers Melancholie und Nietzsches Umwertung aller Werte, Wagners Partituren und Anton von Werners »nationale« Gemälde waren ihre Welt. Nicht ganz unbemerkt, aber noch längst nicht in seiner Bedeutung erkannt, starb 1898 Theodor Fontane, sieben Monate zuvor, an einem kalten Februartag, wurde in Augsburg Bertolt Brecht geboren. Max Liebermann gründete im gleichen Jahr die Berliner Sezession, und sein Mitstreiter Paul Cassirer eröffnete in der Nikolaistraße seinen Kunstsalon, von dem aus der französische Impressionismus nach langen Kämpfen gegen des Kaisers Kunstpostulate seinen Siegeszug in Deutschland antrat. Gustav Freytag war zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre tot, aber sein antisemitischer Roman »Soll und Haben« lag immer noch auf den Nachttischen des Bürgertums.

Neue Klänge in der Musik und ein anderer Ton in der Literatur sind schon zu ahnen. Arnold Schönberg schafft in diesem Jahr Liedkompositionen, die er später als Opus 1 und 2 anerkennt, Gustav Mahler, gerade Operndirektor in Wien geworden, komponiert »Das klagende Lied«, und Richard Strauss erlebt in Köln die Uraufführung seiner sinfonischen Dichtung »Don Quixote«. In Berlin kommt am 15. Mai erstmals ein Schauspiel von Hugo von Hofmannsthal auf die Bühne, drei Monate zuvor verblüfft Frank Wedekind das Leipziger Publikum in der Uraufführung von »Der Erdgeist«, Gerhart Hauptmann ist schon längst ein umstrittener und umjubelter Etablierter, als am 5. November im Deutschen Theater sein Stück »Fuhrmann Henschel« zum erstenmal gespielt wird. Thomas Mann arbeitet 1898 als Redakteur beim Münchner »Simplicissimus«, und es erscheint seine Novelle »Der kleine Herr Friedemann«, die bereits spüren läßt, welch ein Schriftsteller er vielleicht einmal werden kann. Franz Kafka ist noch Schüler im Altstätter Deutschen Staatsgymnasium zu Prag und Stefan Zweig im Wiener Maximiliangymnasium. Hermann Hesse leidet pubertierend und an seiner Zukunft verzweifelnd in Calw, Rainer Maria Rilke reist sonnen- und reimeselig durch Italien. Die später so leidenschaftlich diskutierten Abstrakten in der Malerei, Wassily Kandinsky und Paul Klee, arbeiten 1898 im Münchner Atelier von Franz Stuck, Kunstschüler noch und auf der Suche nach neuen Formen und Farben, die sie dann ab 1910 in ihren geometrischen Konstruktionen einer erstaunten Welt präsentieren. Friedrich Nietzsche aber, dessen Ruhm sich erst jetzt zu entfalten beginnt, lebt seit neun Jahren in der tosenden Welt seines Wahnsinns und wird zwei Jahre später in Weimar sterben. Der Naturalismus erlebt seine letzten Triumphe, es wartet schon das Neue, der Expressionismus. Grell und hart sprengt er die akademischen Kunstgrenzen.

Im kargen, landschaftlich so reizvollen Westfalen ging manches langsam voran, aber Stillstand gab es auch hier nicht. Die Modernisierungswelle schwappte in die Kleinstädte und Dörfer über. Noch beherrschte die Gasbeleuchtung Wohnungen, Straßen und Plätze. Aber Klein- und Mittelindustrie gründeten ihre Betriebe, häßliche Wohnsiedlungen für die massenhaft einwandernden Arbeiter wurden gebaut, Straßen erweitert, Warenhäuser entstanden, und die Repräsentanten des Bürgertums, die scheel und neidisch auf das bereits etwas schillernde Berlin blickten, wollten ihr Stadttheater und ein Bismarckdenkmal. Freudenhäuser gab es auch in der Provinz schon immer, jetzt aber wurde die Einrichtung erneuert, das Séparée gepolstert, die fuslig rote Petroleumslaterne durch glitzernde Glühbirnen ersetzt, und die Damen mußten sich einer regelmäßigen Gesundheitskontrolle unterziehen. Auch die Lust brauchte ein neues Ambiente, denn man war generell anspruchsvoller geworden in diesem Reich, dessen begüterte Bewohner glaubten, der Fortschritt und Deutschlands Aufstieg seien grenzenlos.

Osnabrück ist 1898 schon seit 32 Jahren preußisch. Sein altes Herrscherhaus, das Königreich Hannover, hatte sich – und da stand es unter den deutschen Duodezfürstentümern keinesfalls allein – 1866 politisch verspekuliert und auf die falsche, die österreichische Seite gesetzt. Moltkes Armee aber schlug in der Nähe der böhmischen Stadt Königgrätz die Habsburger Bataillone, und Bismarck nutzte die Gunst der Stunde und veränderte das politische Kräfteverhältnis in Deutschland nachdrücklich. Österreich, bis dahin die Vormacht im Deutschen Bund, mußte vor den preußischen Machtansprüchen weichen, und über die Zukunft der Deutschen wurde nun in Berlin entschieden. Die Hannoveraner verloren Thron und Land, darunter auch Osnabrück.

Eine Stadt zwischen den Zeiten. Mittelalterlich muten die engen, von vielen Fachwerkhäusern gesäumten Gassen an, der weite Marktplatz mit dem Renaissance-Rathaus und der gotischen Marienkirche. Überhaupt, Kirchtürme beherrschen das Stadtpanorama, Katholiken und Protestanten halten sich von alters her zahlenmäßig die Waage, einen richtigen Bischof gibt es wieder seit 1857, der Dom hat ohnehin alle politischen Wechselfälle überlebt. Hinter den letzten Häusern der Neustadt dehnen sich die weiten Wiesen- und Flußlandschaften, so wie die Romantiker sie einst malten und das Biedermeier sie genoß.