Joseph Roth - Wilhelm von Sternburg - E-Book

Joseph Roth E-Book

Wilhelm von Sternburg

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Beschreibung

Ein zerrissenes, leidenschaftliches und erschütterndes Leben brillant erzählt: die große Joseph-Roth-Biographie! Welch ein Leben: Vom jüdischen Außenseiter aus Ostgalizien zum Wiener Studenten und Weltkriegssoldaten, vom Starjournalisten der Weimarer Republik und Reisereporter zum österreichischen Literaten mit Weltruhm, der als verlorener Trinker im Pariser Exil stirbt. 70 Jahre nach Roths Tod wird sein Leben nun in dieser Biographie packend und kenntnisreich erzählt. Joseph Roth – bekennender Ostjude mit Neigung zum Katholizismus, Pazifist und Einjährig-Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, zeitweise engagierter Sozialist und bald Propagandist einer erneuerten Habsburgmonarchie, analytischer Journalist und Legendenerzähler des eigenen Lebens, weitherziger Moralist und begnadeter Polemiker: Kaum ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts war so widersprüchlich, kaum einer war so geschickt und souverän darin, seine Biographie und seine Haltung zur Welt ständig neu zu erfinden. Der renommierte Publizist und Buchautor Wilhelm von Sternburg bringt Licht in das von Mythen durchwirkte Selbstbild Roths. Er legt die Wurzeln im Ostjudentum und die Motive für Roths Habsburgsehnsucht frei, er spürt der melancholischen Ironie und dem heiteren Pessimismus des stets neu enttäuschten Humanisten nach. Anschaulich erzählt er von Roths Aufstieg, den bitteren Jahren der Emigration, Roths unbeirrtem publizistischen Kampf gegen die Nazi-Barbarei, vom Wahnsinn der Ehefrau und von Roths körperlichem Verfall. Erhellend sind die Bezüge zu Kleist, Hölderlin, Heine oder Kafka und die Deutungen zu Roths Romanen, seiner Heimatlosigkeit und der lebenslangen Fluchtbewegung. Diese große Roth-Biographie ist eine faktenreiche und fesselnd erzählte Lebensbeschreibung und zugleich ein tiefenscharfes Zeitbild. Sprachlich brillant und mit großem psychologischem und historischem Wissen verknüpft Wilhelm von Sternburg das Lebensbild Joseph Roths mit der Werk- und Zeitgeschichte. Ein Buch, das Lust macht, wieder Joseph Roth zu lesen – und zwar alles von Roth!

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Seitenzahl: 871

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» Impressum

 

 

 

 

Für Inga

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Inhalt

Kapitel 1

»Ich bin eine Art Hochstapler«

Annäherung

an ein romanhaftes Leben

 

Kapitel 2

»Der Wind, der über Galizien weht,

ist bereits der Wind der Steppen«

Herkunft und Jugend in Galizien

(1894–1913)

 

Kapitel 3

»Ich fühle es, ich habe Talent«

Studien- und Soldatenjahre

in Lemberg und Wien

(1913–1918)

 

Kapitel 4

»Ist die Welt nicht ein Tollhaus?«

Journalistische Anfänge in Wien

(1918–1920)

 

Kapitel 5

»Die Menschen lieben das ›Nationale‹

und meinen das Schießgewehr«

Karriere als Journalist

und die Geburt eines Schriftstellers

(1920–1925)

 

Kapitel 6

»Wo immer ich schreibe, wird es radikal«

Reisereporter und Erfolgsautor

(1925–1932)

 

Kapitel 7

»Ich gebe keinen Heller mehr

für unser Leben«

Exil und Untergang

(1933–1939)

 

Danksagung

 

Anmerkungen

 

Bibliographie

 

Lebensdaten

 

Karte

 

Bildnachweis

 

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Kapitel 1

»Ich bin eine Art Hochstapler«

 

Annäherung

an ein romanhaftes Leben

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Es geht ihm schon lange nicht mehr gut. Die Spuren des körperlichen Verfalls sind unübersehbar. Der Alkohol hat ihn zerstört. Schon 1932 liest Annette Kolb die bitteren Briefzeilen: »Heute habe ich Unglück hinter und neben mir, graue Haare, eine kranke Leber und bin unheilbarer Alkoholiker.«1 Im gleichen Jahr schreibt der trinkende Joseph Roth an Alfred Ehrenstein: »Eine beginnende Leber-Zirrhose ist da – und ich kann sie höchstens aufhalten.«2

Ein Dichter säuft sich systematisch zu Tode. Die langen Nachtstunden werden zum Albtraum. »Ich habe keine Nächte mehr. Ich sitze bis 3h morgens herum, ich lege mich angezogen um 4h hin, ich erwache um 5h und wandere irr durch’s Zimmer. Ich bin seit 2 Wochen nicht aus den Kleidern gekommen.«3 Geschwollene Füße, Hämorrhoiden, die ihm zeitweise das Sitzen zur Qual werden lassen, die sich unter der Jacke sichtbar wölbende Leber, Nierenkoliken, Schlaflosigkeit und das nächtliche Erbrechen, über Wochen ein durch den Alkohol verursachtes Augenleiden, das schmerzende Herz. Der Schriftsteller Soma Morgenstern – er hat den Freund drei Jahre nicht mehr gesehen – zeichnet ein bedrückendes Bild aus dem Spätsommer 1937: »Die Veränderung im Gesicht und in der Gestalt erschütterte mich. Er war damals weniger als dreiundvierzig Jahre alt, und …: – er sah aus wie ein sechzigjähriger Säufer. Sein Gesicht mit deutlichen Backenknochen, zu kurzem Kinn, einst von stets wacher Schaugier belebt, war jetzt gedunsen und schlaff, die Nase gerötet, die blauen Augen voll Blutwasser in den Winkeln, das Haar am Kopf stellenweise wie ausgerupft, der Mund von einem dunkelroten, slowakisch herabhängenden Schnurrbart völlig verdeckt.«4 In einem Brief aus dem gleichen Jahr klagt Stefan Zweig über einen gemeinsamen Abend in Salzburg: »… abends der grässlich versoffene Roth …«5 Klaus Mann, der Joseph Roth im Pariser Exil häufig begegnet ist, wird später in seinen Erinnerungen festhalten: »Der Dichter Roth beging langsamen Selbstmord, trank sich mählich zu Tod, inmitten der Bewunderer und Kollegen.«6

Und dazu die Weltereignisse. Bereits im Oktober 1930 erreichen Stefan Zweig die pessimistischen Zeilen: »Sie haben Recht, Europa begeht Selbstmord, und die langsame und grausame Art dieses Selbstmordes kommt daher, daß es eine Leiche ist, die Selbstmord begeht. … Der Teufel regiert wirklich die Welt.«7 Seit Januar 1933 sind dann in dem Land, dessen Zeitungen und Verlage seine Artikel, Reiseberichte, Glossen, Rezensionen, Essays und Romane veröffentlicht haben, die Nationalsozialisten an der Macht. Als Jude und viel gelesener liberaler Journalist hat er jetzt in Deutschland Schreibverbot. Fanatisierte Studenten und Professoren werfen am 10. Mai 1933 auch seine Bücher in die Flammen. »Aus Berlin schreckliche Nachrichten. Ich bin ganz erledigt«, schreibt er schon nach dem Reichstagsbrand Ende Februar an einen französischen Freund.8 Wenige Tage später heißt es: »Die Welt ist sehr, sehr dumm, bestialisch. Ein Ochsenstall ist klüger.«9 Sein Urteil ist kompromisslos: »Diese ›nationale Erneuerung‹ geht bis zum äußersten Wahnsinn. Es ist genau die Form der in der Psychiatrie bekannten Manischen-Depressiven. So ist dieses Volk.«10

Im März 1938 marschiert die deutsche Wehrmacht in Österreich ein. Auf dem Wiener Heldenplatz jubeln Hunderttausende dem neuen Heilsbringer und einstigen Landsmann Adolf Hitler zu. Der im Österreich der Habsburger geborene Autor ist jetzt endgültig zum Exildasein verdammt.

Krank, von ständigen Geldsorgen getrieben, deprimiert über den kulturellen und zivilisatorischen Untergang Westeuropas grübelnd, sitzt er dennoch Tag für Tag am Tisch eines seiner geliebten Kaffeehäuser in Paris, Marseille, Nizza, Amsterdam oder Ostende und schreibt. Die wachsende Zahl der Untertassen vor den sich mit seiner kleinen, so zart anmutenden Handschrift füllenden weißen Blättern dokumentiert den maßlosen Cognac- oder Schnapskonsum. Angesichts des körperlichen Verfalls und der schwierigen, persönlich als hoffnungslos empfundenen äußeren Umstände erscheint es wie ein Wunder, dass Roth in den etwas mehr als sechs Jahren seines Exils noch zwölf Romane und Erzählungen und etwa 160 Artikel verfasst.11 Franz Kafka offenbart sich 1912 in einem Brief an die spätere Verlobte Felice Bauer mit den Sätzen: »Mein Leben besteht und bestand im Grunde von jeher aus Versuchen zu schreiben … Schrieb ich aber nicht, dann lag ich auch schon auf dem Boden, wert hinausgekehrt zu werden.«12 Ähnlich wird sich der Schriftsteller Joseph Roth 1936 gegenüber dem Kollegen Stefan Zweig äußern, wenngleich ihm Schreibhemmungen fremd geblieben sind: »Ich kenne, glaube ich, die Welt nur, wenn ich schreibe, und, wenn ich die Feder weglege, bin ich verloren.«13

Auch der Briefschreiber Roth verstummt nicht. Seine Freunde, seine Exilverlage, seine in Paris lebende Übersetzerin oder die Mitarbeiter der Zeitungsredaktionen, die ihm noch offenstehen, erreichen materielle Hilferufe, verzweifelte Anmerkungen zur politischen Lage oder spöttische Selbstbespiegelungen.

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Der Monarchist

Sein politisches Denken verliert sich in diesen Jahren immer mehr in monarchistischen Illusionen. Er schwärmt von der Wiederauferstehung der Habsburg-Dynastie und wird Legitimist. »Ich konnte mit Ihnen in diesen Tagen nicht zusammenkommen, weil jetzt der Jahrestag der Eroberung Österreichs ist und ich seit 3 Tagen in 6 Versammlungen der Österreicher spreche«, heißt es in einem Brief vom März 1939.14 Er glaubt allen Ernstes, dass der Kaisersohn Otto von Habsburg der Retter seines Heimatlandes sein könnte. »Der Monarch, der Monarch allein verhütet den Usurpator. … Es kann auf die Dauer keine wirkliche Selbstkontrolle geben ohne ein Vorbild. Dieses Vorbild ist der Monarch, der Nicht-Gewählte, sondern der Gesalbte. … Wenn das österreichische Volk keinen Diktator will, so rufe es von jetzt ab: ›Es lebe Kaiser Otto‹.«15So fern solche Wertungen der Wirklichkeit der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts sind, Roth steht mit dieser Haltung keineswegs allein. Leo Perutz, in Prag geboren und bis 1933 ein viel gelesener jüdischer Autor spannender und raffinierter Romane, lässt den Freund, Reiseschriftsteller und Journalisten Richard A. Bermann 1939 wissen: »Aber was den Legitimismus betrifft, so ist und bleibt es meine Überzeugung, daß nur durch ihn übernationale Staaten möglich werden. Nationalstaaten in diesem Europa bedeuten immer Krieg. Übernationale monarchistische Staaten sind die einzig wirkliche Friedensgarantie.«16 Auch der ebenfalls aus Prag stammende Franz Werfel hegt große Sympathien für den österreichischen Legitimismus. Und noch 1947 – Europa liegt nach einem Weltkrieg in Trümmern – liest der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers ein spätes Echo auf den Niedergang der europäischen Monarchien in einem Brief des Historikers Golo Mann: »Die konstitutionelle Monarchie ist die beste Regierungsform für Europa und das sicherste Bollwerk der Rechte des Einzelnen gegen totalitäre Tyrannei.«17

Die Niederlage der europäischen Republiken und der Sieg der diktatorischen Regime in zahlreichen Staaten löst in den 30er-Jahren im Kreise der linken und der demokratisch-bürgerlichen Intellektuellen einen Schock aus. Die allerorts einsetzende Menschenjagd auf Andersdenkende und jüdische Mitbürger und der sich immer deutlicher abzeichnende Weg in den Krieg lässt nicht wenige unter ihnen von der monarchistischen Vergangenheit schwärmen – nicht nur, aber vor allem in Österreich. Stefan Zweig deutet in seinen von Nostalgie und Verzweiflung über den Ersten Weltkrieg geprägten Erinnerungen an, warum gerade so viele noch im 19. Jahrhundert geborene Österreicher Monarchisten geblieben sind: »›Der Kaiser‹, dieses Wort war für uns der Inbegriff aller Macht, allen Reichtums gewesen, das Symbol von Österreichs Dauer, und man hatte von Kind an gelernt, diese zwei Silben mit Ehrfurcht auszusprechen.«18 Roth hält 1929 in seinem Roman »Der stumme Prophet« verklärend fest: »Und doch war zu meinen Zeiten, als noch der Mensch wichtiger war als seine Nationalität, die Möglichkeit vorhanden, aus der alten Monarchie eine Heimat aller zu machen.«19 Fast 70 Jahre nach Roths Tod meint der ungarische Literatur-Nobelpreisträger und Roth-Übersetzer Imre Kertész: »… Joseph Roth hat vielleicht am schärfsten unter den Schriftstellern verstanden, was der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie bedeutete: Die Wurzel des Nazismus, das Leichengift liegt hier. Es wurden kleine Nationalstaaten gegründet, deren Nationalismus berechtigt erschien. Das führte schließlich zum Nazismus und zum Zweiten Weltkrieg.«20

Die Melancholie, diese späthabsburgische Krankheit, die sich in nahezu allen Werken der österreichischen Roman- und Theaterliteratur seit den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts zu Wort meldet, ist im letzten Lebensjahrzehnt auch in Roths Romanen, Artikeln und Briefen nicht zu übersehen. Es ist eine Flucht aus der Geschichte. »Wie jeder Österreicher jener Zeit liebte Morstin das Bleibende im unaufhörlich Wandelbaren«, heißt es in der Novelle »Die Büste des Kaisers«, »das Gewohnte im Wechsel und das Vertraute inmitten des Ungewohnten. So wurde ihm das Fremde heimisch, ohne seine Farbe zu verlieren, und so hatte die Heimat den ewigen Zauber der Fremde.«21

Im August 1914 nimmt die europäische Katastrophe ihren Anfang. In den folgenden dreißig Jahren erlebt Europa einen kontinentalen Bürgerkrieg von unvorstellbarem Ausmaß. Er wird den Kulturpessimismus Roths bestimmen, der sein Denken in den späteren 20er- und 30er-Jahren immer stärker beeinflusst.

Roths nostalgischer, die Moderne und ihre Abwendung von der Religion voller Skepsis betrachtender Blick schlägt sich auch in seinem Romanwerk nieder. »Im Grunde hat Roth in allen seinen 15 Romanen einen einzigen Roman geschrieben, den Roman des Mannes (und immer sind seine Hauptfiguren Männer), der zur Modernität, zum Leben in der Gegenwart verdammt ist, der diese Wirklichkeit aber nicht erträgt, sondern flieht, in die Einsamkeit, in die Revolution, in die Vergangenheit.«22

Im »Radetzkymarsch« lässt Roth eine der Figuren die eigene Haltung formulieren: »Die Welt, in der es sich noch lohnte zu leben, war zum Untergang verurteilt. Die Welt, die ihr folgen sollte, verdiente keinen anständigen Bewohner mehr. Es hatte also keinen Sinn, dauerhaft zu lieben, zu heiraten und etwa Nachkommen zu zeugen.«23

Das Ende des Vielvölkerreiches der Habsburger bleibt für Joseph Roth weit mehr als nur ein politisches Ereignis. Er empfindet es als einen unwiederbringlichen kulturellen und geistigen Verlust. Denn das Reich der Habsburger »versank im Meer der Zeiten, das große Reich mit seiner gesamten bewaffneten Macht … so vollkommen, so für immer, wie die armselige mit dem Imperium nicht zu vergleichende Kindheit eines Untertanen. Aber in der Erinnerung, in der das Große klein und das Geringe mächtig werden kann, identifiziert sich der kleine Teil einer Kindheit mit einem kolossalen Reich …«24 Diese Sätze schreibt Joseph Roth in einem Artikel für die »Frankfurter Zeitung« im Juni 1929.

Als schließlich die Stunde der Barbaren schlägt und in Deutschland, in Italien, in Spanien, in Portugal, in Rumänien, in Polen, in Ungarn und auch in Österreich autoritäre, faschistische oder nationalsozialistische Regime triumphieren, wächst die Welt der Habsburger auch für Roth endgültig zur unauslöschlichen Sehnsucht heran. Sie wird ihm zum Gegenpol einer moralisch und politisch verfallenden Gegenwart. 1932 macht er in einem Brief die Bemerkung: »Mein stärkstes Erlebnis war der Krieg und der Untergang meines Vaterlandes, des einzigen, das ich je besessen: der österreichisch-ungarischen Monarchie.«25 In seiner Novelle »Die Büste des Kaisers«, geschrieben in den depressiven Exiljahren, resigniert auch der »alte, verbrauchte«, nach dem Zusammenbruch Österreichs an der Riviera lebende Protagonist Graf Morstin: »Meine alte Heimat, die Monarchie, allein war ein großes Haus mit vielen Türen und vielen Zimmern, für viele Arten von Menschen. Man hat das Haus verteilt, gespalten, zertrümmert. Ich habe dort nichts mehr zu suchen.«26 Der 13 Jahre ältere Freund Stefan Zweig wird in seiner Autobiographie ganz im Sinne Roths Abschied von der »Welt von Gestern« nehmen: »Wenn ich versuche für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit.«27

Roth und Zweig schlagen das große Thema nahezu aller österreichischen Schriftsteller an, deren frühe Jahre noch in die Zeit der Monarchie gefallen sind. So fern uns Heutigen die zahlreichen wehmütigen Rückblicke auf das Gestern der österreichischen Monarchie erscheinen mögen, ist es nicht tatsächlich so, dass nach den Habsburgern der mitteleuropäische Nationalismus eine für seine Völker verhängnisvolle Rolle zu spielen beginnt? Der »Ruhe« des Franz-Joseph-Zeitalters folgen jedenfalls für die Ukrainer, Tschechen, Ungarn, Rumänen, Serben oder Polen nach 1914 Jahrzehnte des Kriegsmordens, der zivilisatorischen Zerstörung und einer langen kommunistischen Zwangsherrschaft. Roths legitimistische Hoffnungen – in den letzten Lebensjahren vom Alkohol und von wachsenden Verfolgungsängsten verstärkt – sind aus seiner Sicht keine Traumgespinste. Sicher, da kokettiert und provoziert einer im Kreis der Exilanten, die aufgeregt und ratlos die immer düsterer werdende politische Lage diskutieren. Auch aus intellektuellem Trotz will er dem vielfach linken Zeitgeist Paroli bieten. Aber Roth glaubt letztlich wohl ernsthaft, dass die Wiedererrichtung der österreichischen Monarchie Europa retten könnte. Jedenfalls lassen sich seine öffentlichen Bekenntnisse in den Jahren nach 1935 kaum anders deuten. So versteigt er sich etwa in einem Vortrag von 1938 zu der pathetischen Formulierung: »In der Tat bin ich ein österreichischer Legitimist, den Kaiser Otto unglücklicherweise zu früh von seinem Eid entbunden hat.«28 Zwar kennt das 20. Jahrhundert keinen Habsburger »Kaiser Otto«, aber viele der Zuhörer, überwiegend aus ihrer Heimat geflohene Österreicher, wissen Roths Worte zweifellos richtig einzuordnen. Auch für sie ist der Neffe des legendären Franz Joseph der legitime Inhaber des Habsburger Thrones. Der Freund und Schriftstellerkollege Hans Natonek schreibt in seinem Nachruf auf Roth die nicht unsentimentalen, aber den »Legitimisten« doch liebevoll charakterisierenden Sätze: »Als echter Romantiker hat er rückwärts gelebt, à la recherche du temps perdu; er marschierte, taumelte in eine bessere Vergangenheit zurück …; er beschwor den Schatten Vorkriegsösterreichs und seines Kaisers und hielt ihm in kindlicher Sohnesliebe die Treue. … Er träumte die Wiederherstellung eines menschenwürdigen Reichs, in dem die Idee Österreich, die übernational, humanistisch und katholisch sein wird, sich entfalten kann, und in dem, nicht zu übersehen, der Dichter Joseph Roth leben kann, reich an den ihm gebührenden Ehren und Gütern und so frei, wie ein Dichter sein muß, um atmen und schaffen zu können.«29

Parallel zur verstärkten Habsburg-Sehnsucht wird Roths Blick auf Deutschland mit den Jahren bitterer: »Ich glaube nicht, daß ich am Saupreußen sterben werde. Ich habe es immer verachtet. Ebert oder Hitler ist mir Wurscht und Scheiße. Für mich war dieses Dreckland das, was Kalifornien einem Goldgräber ist.«30 Die intellektuelle Linke, die nach 1933 im Kampf gegen den Faschismus alle Hoffnung auf die Bildung einer Volksfront setzt, belegt er mit Hohn, nicht selten sucht er sie gar mit heftigem, in der Sache ungerechtem Zorn heim. »Solange wir verbannt sind, keine Gemeinsamkeit mit den ›Linken‹: Feuchtwanger, A(rnold) Zweig, Weltbühne. Sie sind mitschuldig an unserm Schicksal.«31 Völlig entgleist er in seiner »grausamen« Wut auf die einstige Linke Weimars in einem Brief an Stefan Zweig vom 26. August 1936: »… ich bedaure nicht, daß z. B. Ossietzky im Konzentrationslager ist. Wieviel Schaden würde er anrichten, wenn er draußen wäre!«32 Sätze, die möglicherweise in schwerer Trunkenheit geschrieben worden sind, denn als Zweig diese Zeilen erreichen, liegt der ehemalige Chefredakteur der »Weltbühne« vom Tode gezeichnet in einem Berliner Polizeikrankenhaus. Drei Jahre Folterqualen im Konzentrationslager Esterwege haben seinen Körper zerstört. Wenige Monate nach Roths Brief ehrt die Welt Carl von Ossietzkys Martyrium – dem er im Februar 1938 erliegt – mit der Verleihung des Friedensnobelpreises. Das Exil feiert diese Entscheidung des Osloer Komitees als Triumph gegenüber dem Hitler-Regime, während Roth im »Neuen Tage-Buch« distanziert anmerkt, die Auszeichnung sei »dem abstrakten Ossietzky zuteil geworden … will sagen: dem Begriff des gemarterten deutschen Schriftstellers im Dritten Reich, nicht aber dem leibhaftigen …«33

 

Sein letztes belletristisches Werk, beendet wenige Wochen vor seinem Tod, wird »Die Legende vom Heiligen Trinker« sein. Diese zu seinen Meisterwerken zählende Novelle, an deren Schluss der Clochard Andreas an einer Pariser Bistrotheke ein rasches, sanftes Sterben erfährt, schließt mit dem Satz: »Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!«34 Roth selbst, dem hoffnungslosen Alkoholiker und so begnadeten Schriftsteller, sollte dies nicht vergönnt sein.

Denn sein Tod im Mai 1939 ist schrecklich. Als ihn die Nachricht vom Selbstmord des Schriftstellers Ernst Toller, der sich in seinem New Yorker Hotelzimmer erhängt hat, bei einer trinkfreudigen Tischrunde erreicht, bricht er zusammen. Wenig später wird er in ein Pariser Armenhospital eingeliefert. Das schon lange anfällige Herz ist schwach. Eine schwere Bronchitis bricht aus, die Ärzte und Schwestern verweigern ihm jeden Alkohol und lassen den immer lauter danach Verlangenden mit Riemen ans Bett fesseln. Ein Besucher überliefert den Aufschrei: »Ich muß weg hier.«35 Delirium tremens schüttelt ihn, eine Lungenentzündung und hohes Fieber kommen hinzu. Vier Tage nach seiner Einlieferung in den Gemeinschaftssaal des Hôpital Necker stirbt er. Ein Arzt, der Roth in den letzten Lebensmonaten kannte: »Im Neckerspital war die Behandlung alles andere als gut.«36 Die ehemalige Geliebte Andrea Manga Bell schreibt 30 Jahre später: »Wenn man Herrn Walter Landauer und mich rechtzeitig benachrichtigt hätte, wäre Roth in das amerikanische Krankenhaus nach Neuilly gebracht worden, und gestorben wäre er dann bestimmt nicht … Roths Tod ist ein Skandal, Trägheit des Herzens für Sensationslüsterne, denn ein Dichter gehört gefälligst ins Armenhospital. Das gehört zum Dekorum und der Nachwelt.«37 Vielleicht, aber Roths Körper ist längst zerstört und der Geist resigniert.

Am Grab auf dem Cimetière Thiais versammeln sich katholische Christen, jüdische Emigranten, deutsche Sozialdemokraten, Kommunisten, Liberale und österreichische Legitimisten. Jeder ihrer Sprecher reklamiert den toten Dichter für die eigene Religion, die eigene Ideologie. Es kommt zu lautstarkem Streit und Handgreiflichkeiten. Eine Szene, als wäre sie von ihm erdichtet.

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Der Außenseiter und Grenzgänger

Der Schriftsteller Joseph Roth, über dessen Leben hier berichtet wird, bleibt in vielfacher Hinsicht ein Außenseiter und Grenzgänger. Und das hat sein Schicksal bestimmt. Er ist Jude, er stammt aus einer östlichen Grenzregion Europas, er wächst vaterlos auf, und er ist Künstler. Seit seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg führt er ein Vagabundenleben. »Ich habe keine Heimat, wenn ich von der Tatsache absehe, daß ich in mir selbst zu Hause bin und mich bei mir heimisch fühle.«38 Als Journalist arbeitet er in den 20er-Jahren stets nur für wenige Wochen in den Zeitungshäusern seiner Auftraggeber. Der in der Medienwelt der Weimarer Republik viel beachtete Autor sendet seine Artikel bald aus den verschiedensten Ecken des Kontinents, wohin ihn die Heimatredaktionen geschickt haben. »Also lernte er die Verlorenheit in fremden Städten kennen, die ziellosen Wanderungen durch den ersten Dämmer der Abende, in denen die silbernen Laternen aufleuchten und dem Körper eines Verlassenen den Schmerz von tausend plötzlichen Nadelstichen bereiten. Er ging durch verregnete Straßen über den schimmernden Asphalt der weiten Plätze, die an steinerne Seen erinnern, den Mantelkragen hochgeschlagen, von außen zugemacht und vor sich nur seinen Blick, der ihn durch die Fremde steuerte.«39 Diese Passage aus Roths Roman »Der stumme Prophet« spiegelt autobiographische Empfindungen des Dichters wider, der sich seit 1925 – unterbrochen von einigen Besuchen – überwiegend jenseits der deutschen und der österreichischen Grenze aufhält.

Ein ruheloses Leben. »Wir sind alle Bruchstücke, weil wir die Heimat verloren haben.«40 Sein Zuhause werden die Hotels, Cafés und Bars in Europas Metropolen oder in den kümmerlichen Provinzstädten Frankreichs, Polens, Russlands, Albaniens und Italiens, in denen er sich über Wochen während seiner Recherchereisen und dann als aus Deutschland Vertriebener aufhält. »Seit meinem achtzehnten Lebensjahr habe ich in keiner Privatwohnung gelebt, höchstens eine Woche als Gast bei Freunden. Alles was ich besitze sind 3 Koffer. Und das erscheint mir gar nicht merkwürdig. Sondern merkwürdig und sogar ›romantisch‹ kommt mir ein Haus vor, mit Bildern u so weiter.«41 Der »Hotelbürger« führt kein bürgerliches Leben, mit Eigenheim und Familie, mit Berufskarriere und Bankkonto, mit Rentenanspruch, Theaterabonnement und Kegelclub. Er ist Betrachter und nicht Handelnder, beredsam im Freundesgespräch und natürlich beim Trinken, sonst gilt: »Große Angst vor der Annäherung nicht Zugehöriger«.42

Joseph Roth wächst in einer Grenzregion auf. Die ersten 18 Jahre verlebt er im östlichsten Zipfel der Habsburg-Monarchie, in Galizien. Die Grenze zu Russland liegt nur zehn Kilometer hinter seinem Geburtsort Brody. Schmuggler und Deserteure, vor den russischen Pogromen nach Westen flüchtende Juden und plündernde Kosakenscharen, Schankwirte, Korallenhändler, Rabbis und Spekulanten, unterdrückte ruthenische Bauern, herrische polnische Adlige und vom fernen Wien träumende österreichische Offiziere – die Welt des jungen Joseph Roth ist bevölkert mit geheimnisvollen Gestalten, deren Überlebenskampf und Leiden, deren Aufstieg und Fall, deren Glaubenszweifel und Leidenschaft bald die Seiten seiner Romane und Erzählungen füllen werden. »Diese Grenze zwischen zwei verschiedenen Welten lockte ihn, die geheimnisvollen Menschen an der Grenze zogen ihn an … und zwar so, als ob es die Grenze sei zwischen Leben und Tod.«43

Menschen, die um 1900 in den europäischen Grenzregionen der modernen Nationalstaaten leben, reagieren häufig sensibler auf die nie nachlassende Gefahr nationalistischer Gewaltausbrüche. Das gilt für das Galizien der Wende zum 20. Jahrhundert nicht weniger als für das Elsass, die polnisch-deutschen Landschaften Schlesiens oder Südtirol. Joseph Roth, der im galizischen Völkergemisch aufwächst, wird in den 20er-Jahren immer mehr zum Kosmopoliten. »Nationale und sprachliche Einheit kann eine Stärke sein, nationale und sprachliche Vielfältigkeit ist es immer.«44 Roths Heimatlosigkeit, seine »Fluchten« treiben ihn immer wieder über die Grenzen Österreichs und Deutschlands. Schon vor der Emigration besuchte er die »weißen Städte« Frankreichs, reist er für seine Zeitungsredaktion kreuz und quer durch Europa. Ein Grenzgänger bleibt dieser Schriftsteller zeit seines Lebens. Zu seinen frühesten Erfahrungen zählt die Völker- und Religionsvielfalt, die sich am östlichen Rande Europas in einem sich über Jahrhunderte hinziehenden Wanderungsprozess herausgebildet hat. Als Bewohner einer Grenzregion, in der sich Deutsch- und Slawentum kreuzen, die konkurrierenden Nationalbewegungen ihre Bewohner zunehmend trennen, bekennt er sich als junger Gymnasiast und baldiger Wiener Student aber mit besonderem Nachdruck zur deutsch-österreichischen Kultur.

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Der skeptische Jude

Als Jude gehört Joseph Roth zu einer diskriminierten, immer wieder verfolgten Minderheit in der europäischen Staatenwelt. Obwohl er seiner äußeren Lebensweise nach assimiliert ist, sich ganz dem deutsch-österreichischen Sprach- und Kulturraum zugehörig fühlt und seit Mitte der 20er-Jahre vom Katholizismus angezogen wird, bleibt das Werk von seinem Judentum entscheidend geprägt. Und doch ist es ein Leben zwischen den Religionen und Kulturen. »Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard«, umschreibt der Prager Jude Franz Kafka einmal seine Situation, »und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie Zionisten.«45 Für Roth gilt dies ebenfalls.

Er betont vielfach sowohl Distanz als auch Selbstbewusstsein gegenüber seiner jüdischen Herkunft: »Mein Judentum ist mir nie anders, als eine akzidentelle Eigenschaft erschienen, etwa wie mein blonder Schnurrbart (er hätte auch schwarz sein können). Ich habe nie darunter gelitten, ich war nie darauf stolz.«46 Sicherlich ist dies eine mehr verhüllende als offenbarende Selbstdeutung. Mit ähnlichen Worten hat sich auch Stefan Zweig einmal in einem Brief an Martin Buber geäußert: »Es belastet das Judesein mich nicht, es begeistert mich nicht, es quält mich nicht und sondert mich nicht, ich fühle es ebenso wie ich meinen Herzschlag fühle, wenn ich daran denke, und ihn nicht fühle, wenn ich nicht daran denke.«47

In den 20er-Jahren veröffentlicht Roth seinen großen Essay über die »Juden auf Wanderschaft«. In ihm stimmt er das Hohelied des Ostjudentums an, dem er selbst entstammt. Nicht ohne Ironie und feuilletonistische Übertreibung, aber doch mit Zuneigung und sehnsuchtsvoller Rückbesinnung: »Ich sehe, daß man nicht umsonst 4000 Jahre Jude gewesen ist, nichts als Jude. Man hat ein altes Schicksal, ein altes, gleichsam erfahrenes Blut. Man ist ein geistiger Mensch. Man gehört einem Volk an, das seit 2000 Jahren keinen einzigen Analphabeten gehabt hat, einem Volk mit mehr Zeitschriften als Zeitungen, einem Volk, wahrscheinlich dem einzigen der Welt, dessen Zeitschriften eine weit höhere Auflage haben als seine Zeitungen. Während ringsum die andern Bauern erst mühselig zu schreiben und zu lesen anfangen, wälzt der Jude hinter dem Pflug die Probleme der Relativitätstheorie in seinem Hirn.«48 Ähnlich wird in diesen Jahren Roths Schriftstellerkollege, der in München geborene Jude Lion Feuchtwanger, argumentieren: »Nächst den Chinesen sind die Juden wohl das literarischste Volk der Welt. Ihre Gruppe war seit zwei Jahrtausenden nicht mehr zusammengehalten durch ein staatliches Gebilde, auch der Begriff Rasse war ihnen fremd, sie waren zusammengehalten nur durch ein Buch, durch die Bibel.«49 Und auch Arnold Zweig, aus dem niederschlesischen Glogau stammender Jude, schwärmt mit vergleichbaren Worten: »Und der Jude mit dem Buch: das ist erst der eigentliche Jude. Hier sind Gefilde ausgebreitet, die seine eigentliche heimatliche Ebene sind, endlos bis zum Horizont des Unwißbaren.«50 Schon der Emigrant und getaufte Jude Heinrich Heine weiß, was den in der Diaspora lebenden Juden auszeichnet. In seiner Polemik gegen Ludwig Börne heißt es: »Ein Buch ist ihr Vaterland, ihr Besitz, ihr Herrscher, ihr Glück und ihr Unglück. Sie leben in den umfriedeten Marken dieses Buches, hier üben sie ihr unveräußerliches Bürgerrecht, hier kann man sie nicht verjagen, nicht verachten, hier sind sie stark und bewunderungswürdig. Versenkt in die Lektüre dieses Buches, merkten sie wenig von den Veränderungen, die um sie her in der wirklichen Welt vorfielen.«51

Roth steht also mit seiner ironisch-selbstbewussten Haltung unter den assimilierten, in Deutschland lebenden Juden nicht allein. Feuchtwanger schreibt 1929: »Ich gebe ohne weiteres zu: mein Hirn denkt kosmopolitisch, mein Herz schlägt jüdisch.«52

Es gibt unter den deutschen Juden natürlich auch andere, am neu entflammten Antisemitismus Verzweifelnde. Jakob Wassermann, ein in den Weimarer Jahren berühmter und sich leidenschaftlich zu Deutschland bekennender Autor, formuliert 1921 die niederschmetternden Sätze: »Was bleibt? Selbstvernichtung? Ein Leben in Dämmerung, Beklommenheit und Unfreude … Es ist besser, nicht daran zu denken.«53

Bei Roth finden sich, vor allem in seinen späteren Jahren, scharf ablehnende Bemerkungen über das Judentum. Im Zusammenhang mit Arnold Zweigs Palästina-Roman »De Vriendt kehrt heim« – er erscheint 1932 zeitgleich mit Roths »Radetzkymarsch« im Verlag Gustav Kiepenheuer – lässt er Stefan Zweig wissen: »Die Juden sind sehr dumm. Nur die noch dümmeren Antisemiten können glauben, die Juden seien gefährlich klug. Nach zweitausend Jahren gelingt es ihnen nicht, sympathisch zu werden – und ihre Köpfe sind so töricht, sich und das Judentum für den Mittelpunkt der Welt zu halten … ich bin, zu meinem Bedauern, nicht mehr in der Lage, mich zu diesem, sich selbst fortwährend desavouierenden Judentum zu bekennen.«54 Manch ähnliche Briefstelle ließe sich da noch zitieren. Meist sind es spontane Reaktionen, in denen Roth seinem Ärger Luft macht – über jüdische Kollegen, über ihre Bücher, über ihr politisches Verhalten. Es werden dabei auch tiefere Schichten berührt. »Roth war ein nichtassimilierter Ostjude, der gerne den assimilierten Juden Österreichs mimte.«55 Das Verhältnis zu seinem Judentum bleibt kompliziert, häufig sehr widersprüchlich. Aber das gilt im Grunde für viele seiner Bindungen. Kaum hat er einen Gedanken geäußert, eine Position verteidigt, da folgt nicht selten schon im nächsten Brief ein den Adressaten verblüffender Meinungswechsel. Roth ist kein Opportunist, sondern ein Intellektueller, dem jedes persönliche Erlebnis, jedes politische Ereignis sofort ins Grundsätzliche gerät.

Seine Romane und Novellen sind bevölkert mit jüdischen Neben- und mehrfach auch mit jüdischen Hauptfiguren. Der Welt des sich schon um die Jahrhundertwende auflösenden Ostjudentums gehört seine Liebe. »Seit Jahrhunderten wandert dieses Volk der Ostjuden, der armen Bauern, westwärts, Heimat verlassend, Heimat suchend. Eine große Traurigkeit geht von ihnen aus, ihren grauen Bärten, ihren zerfurchten Gesichtern, ihren rührenden, unbeholfenen Bündeln.«56 Entscheidend für diesen verstehenden Blick wird seine Russland-Reise im Jahre 1926. Es wird eine Fahrt in die eigene Vergangenheit, zurück zu den Wurzeln seiner Herkunft. Im Alltagsleben der Menschen in den jüdischen Kleinstädten (Schtetl) – »kleine Handwerker, Arbeiter, Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogendiener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Tallesweber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und verschämte Arme, … Totengräber, Beschneider und Grabsteinhauer«57 –, im Wirken der Wunderrabbis, »der Mittler zwischen Mensch und Gott«, im ernsten Studium der Talmudschüler, im lebensfrohen, frommen Chassidismus glaubt Roth die im Zuge der westlichen Moderne verloren gegangene Humanität, das auf naive Gläubigkeit ausgerichtete Leben mit Gott zu entdecken. »… der Mensch des Ostens ist stärker als jeder andere.«58 Heinrich Böll schreibt 1956 über Roth: »… alle Weisheit des Judentums war in ihm, dessen Humor, dessen bitterer Realismus; alle Trauer Galiziens, alle Grazie und Melancholie Austrias …«59

Dem Zionismus, zunächst noch eine kleine Bewegung innerhalb des Judentums, steht Roth zeitlebens zwiespältig gegenüber. Rigorose Ablehnung wechselt mit skeptischer Zuneigung. Theodor Herzl, der Prophet der zionistischen Idee, hatte 1896 den europäischen Juden aufwühlende Sätze zugerufen: »Wir sind ein Volk. Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man läßt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwengliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften, ihren Reichtum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In unseren Vaterländern werden wir als Fremdlinge angeschrien … Wenn man uns in Ruhe ließe … Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen.«60 Roth wird diese Gedanken in seinem großen Essay über das Judentum wieder aufgreifen: »Sie haben kein ›Vaterland‹, die Juden, aber jedes Land, in dem sie wohnen und Steuern zahlen, verlangt von ihnen Patriotismus und Heldentod und wirft ihnen vor, daß sie nicht gerne sterben. In dieser Lage ist der Zionismus wirklich noch der einzige Ausweg: wenn schon Patriotismus, dann lieber einen für das eigene Land.«61 Aber an anderer Stelle heißt es dann wieder: »Der Zionismus ist nur eine Teillösung der Judenfrage.«62

So vielfältig und auch widersprüchlich Roths Anmerkungen zum Judentum generell sind, er bleibt auch in dieser Frage ein intellektueller Außenseiter: »Ich bin mit Wonne ein Abtrünniger, von Deutschen und Juden und bin stolz darauf.«63 Zum 50. Geburtstag seines Verlegers Gustav Kiepenheuer schreibt er 1930: »Er (Kiepenheuer – WvS) liebt die Juden, ich nicht.«64 Die Schriftstellerin Irmgard Keun, in den Exiljahren für einige Zeit Roths Trink- und Bettgenossin, meint später, er habe »seine« Juden zugleich geliebt und gehasst.65

Jener viel zitierte und meist sehr oberflächlich beurteilte »jüdische Selbsthass«, den manche Kritiker und Biographen bei Autoren wie Karl Marx, Karl Kraus, oder Kurt Tucholsky zu erkennen glauben, findet sich bei Joseph Roth jedoch nicht. Die Lust des Intellektuellen, sich mit dem eigenen Volk, mit der eigenen Glaubensgemeinschaft, mit der Gesellschaft, in der er lebt, kritisch auseinanderzusetzen, hat zudem weniger mit »Selbsthass« als vielmehr mit dem unbesiegbaren Hang zum Widerspruch zu tun, der in jedem seine familiäre und gesellschaftliche Herkunft reflektierenden Menschen wohnt. Jüdische Intellektuelle reagieren häufig besonders hellhörig auf Missstände in den Gesellschaften, in denen sie leben. Ihr Blick auf das hohle Pathos der Politik und deren Propagandisten ist misstrauischer als der vieler ihrer christlichen Nachbarn. Verständlicherweise, denn er ist geschärft von der Jahrhunderte alten Erfahrung persönlicher Diskriminierung und Verfolgung. Imre Kertész, ein Auschwitz-Überlebender, schreibt in einer autobiographischen »Ermittlung«, er sei eher in ein Judentum »hineinbefohlen, als von seiner Notwendigkeit überzeugt worden. … Ich glaube übrigens, daß auf diese Weise jene psychischen Konflikte entstehen, die dann in der Form jüdischen Selbsthasses kulminieren …«66 Franz Kafka stellt lapidar fest: »Wir erleiden die Geschichte.«67

Habsburg und das jüdische Schtetl – für Roth werden sie zum Symbol einer untergegangenen Zeit. Sie wird von einer Moderne verdrängt, die in der Tat ein Morden heraufbeschwört, wie es Europa bis dahin noch nicht gekannt hat. Roth entweicht dieser zunehmend mit der Rückbesinnung auf seine galizische Jugend und das Wien seiner Studentenzeit, den Ort seiner ersten journalistischen Arbeiten, die Stadt, in der er heiratet.

»Ich gehe heute in den alten Hafen für die Nacht«, schreibt er 1925 aus Marseille. »Da ist die Welt, in der ich eigentlich zu Hause bin. Meine Urväter mütterlicherseits leben dort. Alle verwandt. Jeder Zwiebelhändler mein Onkel.«68 Heimat ist für diesen modernen Ahasver schon 1921 nur noch ein Ort der Erinnerung: »Wie war Heimat einst traulicher Inbegriff sentimental-herzlicher Werte: ein Gäßchen bog sich in lyrischer Krümmung, und ein Brunnen sang Vierzeiler. Es war ein integrierender Bestandteil aller Poesie. Grenze und Ziel einer Sehnsucht. Wurzel der Leidenschaften und ihr Angelpunkt.«69 In einem seiner Reiseartikel für die »Frankfurter Zeitung« heißt es einmal: »Ich bin fremd in dieser Stadt. Deshalb war ich hier so heimisch.«70

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Der Vaterlose

Joseph Roth wächst vaterlos auf. Schon vor seiner Geburt ist der westgalizische Handelsvertreter und Kaufmann Nachum Roth aus dem Lebenskreis seiner Familie verschwunden. Der Sohn wird ihn immer vermissen. Sein Roman »Zipper und sein Vater«, veröffentlicht 1927, beginnt mit den Sätzen: »Ich hatte keinen Vater – das heißt: Ich habe meinen Vater nie gekannt –, Zipper aber besaß einen. Das verlieh meinem Freund ein besonderes Ansehen, als wenn er einen Papagei oder einen Bernhardiner gehabt hätte. Wenn Arnold sagte: Ich gehe mit meinem Vater … – so wünschte ich mir, auch einen Vater zu haben.«71 An anderer Stelle dieses Romans heißt es: »Hätte ich einen Vater gehabt, ich hätte ihm keinen Vorwurf gemacht.«72

Später wird er – Hinweis auf lebenslange Leerstellen – häufig erfundene Geschichten über seine Herkunft, seine Kriegserlebnisse und auch den imaginären Vater erzählen. »Mein Vater war ein Offizier, der in jeder Garnison eine andere Frau hatte.«73 Ein Graf sei er gewesen, heißt es ein andermal. Dann wieder im Interview mit einer französischen Zeitung die Version: »Mein Vater (war) ein Finanzbeamter, ein Wiener von echtem Schrot und Korn, ein Kunstliebhaber, der auch selbst malte.«74 Auch vom Wunderrabbi ist die Rede. Nicht nur in vielen Briefen, sondern auch in Zeitungsgesprächen und in Passanträgen oder der Heiratsurkunde vom März 1922 gibt Roth als Geburtsort »Schwaby Bezirk Brody« an, was nicht stimmt, aber eine »deutsche« Herkunft suggerieren soll. Verschiedentlich erzählt er geheimnisvoll von einer unehelichen Tochter, die er gerade besucht habe. Reserveoffizier sei er, lässt er Freunde, Verleger und Reporter wissen. Auch das ist nicht Wirklichkeit, sondern Phantasie. Ein sozialer Aufsteiger wirft da biographische Nebelkerzen. Die Entfremdung vom Ich, die lebenslange Selbstwertkrise und Identitätssuche dieses in seiner Kunst doch so sicheren Dichters, sie lassen sich nicht nur in den täglichen Alkoholexzessen erkennen, sondern auch in den vielen Legenden, mit denen er seinen familiären Hintergrund und seine frühe Jugend umrankt. Wobei andererseits gewiss auch gilt, was Sigmund Freud einmal über die dichterische Phantasie im Allgemeinen anmerkt: »Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir sagen: Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann unrecht zu meinen, es nähme die Welt nicht ernst; im Gegenteil, es nimmt sein Spiel sehr ernst, es wendet große Affektbeträge darauf. … Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d. h. mit großen Affektbeträgen ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert.«75 Die Kreativität des Schriftstellers ist eng mit dessen Fähigkeit verbunden, zu lügen. Für diese Behauptung bietet die Literaturgeschichte unzählige Beispiele – sie reichen von Rabelais bis zum »Baron Münchhausen«, von William Faulkner bis Joseph Roth.

Für jeden Heranwachsenden ist es wichtig, dass er sich von der regelsetzenden Verbotsinstanz, die der Vater repräsentiert, emanzipiert. In Roths Leben fehlt diese konfliktreiche, aber notwendige Auseinandersetzung. Nie wird er bürgerliche Familienverhältnisse kennen, eigene Kinder haben und nur wenige Jahre mit seiner – bald in psychiatrischen Anstalten dahindämmernden – Ehefrau zusammenleben. Harsch wird Roth einmal formulieren: »Ich habe keinen Vater gekannt, ich werde auch keinen Sohn haben.«76

Die Rolle des Vaters spielt im Judentum bekanntlich eine zentrale Rolle. In der väterlichen Autorität spiegelt sich das göttliche Gesetz wider. Sigmund Freud deutet dieses Gesetz in seiner Religionskritik als väterliches Gebot. Der Westjude Franz Kafka spricht in seinem langen, nie abgeschickten Brief an den Vater von dem »grenzenlosen Schuldbewußtsein«, das dieser in ihm hervorgerufen habe. »Ich sage ja natürlich nicht«, schreibt er, »daß ich das, was ich bin, nur durch deine Einwirkung geworden bin. … Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich.«77 Wo Roths Leben vom Vaterverlust mitbestimmt wird, ist der Vater bei Kafka überrepräsentiert: »Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein solches Nichts für ihn war.«78 Die machtpolitische Rolle des Vaters ist über zwei Jahrtausende auch für die patriarchalisch-christliche Kultur von großer Bedeutung. Für die jüdischen Söhne bleibt sie vielfach eine nie endende Herausforderung.

Franz Kafka »floh (alles), was nur von der Ferne an Dich erinnerte«.79 Joseph Roth ist dagegen ein lebenslanger Vatersucher geblieben: Der greise Kaiser Franz Joseph wird dabei ebenso zum Ersatzvater wie dessen Neffe Otto von Habsburg, dem sich der Legitimist Roth in den 30er-Jahren andient.

Über den übersensiblen, an der Lebenswirklichkeit scheiternden Friedrich Hölderlin, dessen Lyrik zum Schönsten zählt, was in deutscher Sprache je geschrieben worden ist, urteilt Stefan Zweig: »Sanfte Natur hegt ihn ein, sanfte Frauen ziehen ihn auf: kein Vater ist (verhängnisvollerweise) da, ihn Zucht und Härte zu lehren, ihm die Muskeln des Gefühls gegen seinen ewigen Feind, gegen das Leben, zu härten.«80 Einem anderen, der aus der Welt geht, weil er sie nicht mehr ertragen will, Heinrich von Kleist, stirbt der Vater, als er 11 Jahre alt ist. Und auch Roth, erzogen von einer ihr Wirken ganz auf das einzige Kind ausrichtenden Mutter, zerbricht schließlich am Leben. Hölderlin flieht in den Wahnsinn, Kleist in den Freitod und Roth in den Alkohol.

Über Sigmund Freuds Anmerkung, dass er kein »ähnlich starkes Bedürfnis aus der Kindheit wie das nach dem Vaterschutz … anzugeben (wüßte)«, gilt es jedenfalls mit Blick auf Joseph Roth nachzudenken. Zumindest dann, wenn Freuds These stimmt, dass »die Erhaltung des Vergangenen im Seelenleben eher Regel als befremdliche Ausnahme ist«.81

Paul Matussek wiederum weist in einer psychoanalytischen Untersuchung über Suchtstrukturen auf eine Verbindung zwischen Suchtkranken und der Familienkonstellation hin, in der sie aufgewachsen sind: »Auf der einen Seite handelt es sich um einen Vater, der eine Identifizierung künftig Süchtiger erschwert, sei es wegen seines frühen Todes, zu häufiger Abwesenheit, zu geringer Beteiligung am Familienleben oder auf Grund von Charaktereigenschaften, die das Männliche abstoßend und wenig begehrenswert erscheinen lassen.«82 Die Mutter dagegen werde eher als verwöhnend denn als hart und abweisend beschrieben. Mit Blick auf den Alkoholiker Roth eine zweifellos interessante These.

Roth bleibt bindungsunfähig. Der Mutter, die seine Kindheit dominiert, wird er die letzten vier Jahre vor ihrem Tod nicht eine Briefzeile schreiben, sie erst am Sterbebett wiedersehen. Die Frauen, die Redaktions- und Schriftstellerkollegen, die Freunde seines Lebens – es bleibt trotz aller Leichtigkeit mancher Briefzeile, trotz des vom Alkohol mitgetragenen Gelächters in der Kaffeehausrunde, trotz der schier unerschöpflichen Erzähllust, von der seine vielen Trinkgenossen und nächtlichen Begleiter in ihren Erinnerungen zu berichten wissen, immer eine innere Distanz. Selten nur überschreitet er die emotionale Schwelle und gewährt Einblicke in sein Inneres. Der charmante Plauderer ist mit Blick auf die tieferen Dimensionen des eigenen Ich ein großer Schweiger.

»… daß es uns«, schreibt Heinrich von Kleist einmal an die Schwester, »an einem Mittel zur Mitteilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt, sind nur zerrissene Bruchstücke. Deshalb habe ich jedes Mal eine Empfindung wie ein Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll.«83 Dieses »Grauen« davor, sich gegenüber anderen Menschen zu offenbaren, ist auch Roth nicht unbekannt geblieben. »Aber Sie irren sich, wenn Sie glauben, ich hätte eine ›Umgebung‹«, erfährt der Schriftsteller Gotthard Jedlicka. »Ich treffe Den und Jenen, wie man einen Stein oder einen Baum am Wege trifft.«84 Viele Briefe, vor allem auch die an den großzügigen Geldgeber Stefan Zweig, sind von Selbstmitleid getränkt. Aber die Verzweiflung, die in ihnen anklingt, ist unüberhörbar. »Ihr laßt mich Alle sitzen, Ihr seid so weltlich, so klug, und ich mache so viel ›Dummheiten‹. Ich habe so viel Menschen geholfen, ich bleibe so allein. Ich war so nett zu den Menschen, sie sind so böse.«85

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Der Starjournalist

Vor allem natürlich ist Joseph Roth Künstler. Auch dies lässt ihn zum gesellschaftlichen Außenseiter werden. Vordergründig betrachtet führt er das Leben eines Bohemiens. Mit einer sich auf Wochen beschränkenden Ausnahme wird er nie eine eigene Wohnung mieten. Seit er sich als 19-jähriger Student in den Universitäten von Lemberg und Wien eingeschrieben hat, lebt er zur Untermiete, in Pensionen und Hotels oder gelegentlich bei Freunden – bis zu seinem Tod. »Wie andere Männer zu Heim und Herd, zu Weib und Kind heimkehren, so komme ich zurück zu Licht und Halle, Zimmermädchen und Portier – und es gelingt mir immer, die Zeremonie der Heimkehr so vollendet abrollen zu lassen, daß die einer förmlichen Einkehr ins Hotel gar nicht beginnen kann. Der Blick, mit dem mich der Portier begrüßt, ist mehr als eine väterliche Umarmung.«86 Stefan Zweig nennt die ruhelosen Wanderer unter den Künstlern »nomadische Naturen, Vaganten in der Welt«. Denn »weder Kleist noch Hölderlin noch Nietzsche haben jemals ein eigenes Bett gehabt, nichts ist ihnen zu eigen, sie sitzen auf gemietetem Sessel und schreiben an gemietetem Tisch und wandern von einem fremden Zimmer in ein anderes. Nirgends sind sie verwurzelt …«87

Roths Werkbank ist der Kaffeehaustisch. Er schreibt im Lärm der Öffentlichkeit, Tag für Tag, Stunde um Stunde, Seite für Seite. Den um ein Treffen bittenden Schweizer Schriftsteller Carl Seelig – Vormund und Biograph von Robert Walser – erreichen im Oktober 1933 die Zeilen: »Kommen Sie nur bitte an einem beliebigen Tag her, auch wenn ich schreibe, stört es mich nicht. Gute Gesellschaft fördert mich höchstens.«88 Wie anders entstehen da im fernen Prag die Erzählungen und Romanfragmente Franz Kafkas. »Ich brauche zu meinem Schreiben Abgeschiedenheit«, schreibt dieser im Juli 1913 an seine Verlobte, »nicht ›wie ein Einsiedler‹, das wäre nicht genug, sondern wie ein Toter. Schreiben in diesem Sinne ist ein tieferer Schlaf, also Tod, und so wie man einen Toten nicht aus seinem Grabe ziehen wird und kann, so auch mich nicht vom Schreibtisch in der Nacht.«89

Roths Welt dagegen sind die Cafés, Bistros und Bars. Hier entstehen die Bücher des Erzählers und die Kolumnen des Journalisten. Fast 1500 Zeitungsartikel sind bislang als Veröffentlichungen aus Roths Feder nachgewiesen. Noch immer tauchen in den Zeitungsarchiven verschollene Texte auf. Er wird 16 Romane, 19 Novellen und Erzählungen schreiben. Einiges bleibt Fragment oder Entwurf, anderes erscheint erst nach seinem Tod. Das ist angesichts der kurzen Lebenszeit, die ihm geschenkt ist, und der eigentlich nur die Jahre von 1919 bis 1939 umfassenden Schaffenszeit ein auch quantitativ gewaltiges Werk.

 

»Ich wurde eines Tages Journalist aus Verzweiflung über die vollkommene Unfähigkeit aller Berufe, mich auszufüllen«, schreibt er 1925 in koketter Untertreibung.90 Denn er ist in Wirklichkeit bis zu der Zeit, in der sein schriftstellerisches Werk ganz in den Vordergrund rückt, ein leidenschaftlicher Journalist. In den Weimarer Jahren gehört Joseph Roth bald zu den bekanntesten Zeitungskolumnisten im deutschen Sprachraum. Der erste kleine Artikel erscheint 1915 in »Österreichs Illustrierte Zeitung«, einem belletristischen, bürgerlichen Familienblatt. Ab 1919 veröffentlicht er zunächst regelmäßig im Wiener »Der Neue Tag« und gelegentlich im »Prager Tagblatt«. Dann wird er in Berlin für die »Neue Berliner Zeitung – 12-Uhr-Blatt« tätig, bald auch für den »Berliner Börsen-Courier« und ab 1922 unter anderem für den sozialdemokratischen »Vorwärts«. Höhepunkt seiner Zeitungskarriere sind die Jahre, in denen er als Berliner Korrespondent und Reisereporter für die »Frankfurter Zeitung« arbeitet.

Linke und liberale Blätter sind es also in erster Linie, die Roths Texte in den 20er-Jahren veröffentlichen. Der kurzfristige Ausflug in die rechtsbürgerlichen »Münchner Neuesten Nachrichten« 1930 bleibt eine Ausnahme. Vielfach werden seine Artikel von weiteren Zeitungen und Zeitschriften nachgedruckt. Ein Agent, der Roths journalistische Arbeiten in den späten Weimarer Jahren den verschiedensten Redaktionen anbietet, wird später berichten, dass er »öfters zehn Feuilletons oder Kurzgeschichten in einer Woche« an 30 verschiedene Zeitungen verkauft hat.91 Sicher eine übertriebene Darstellung, aber keine Frage: Roth wird einer der Starjournalisten in der Medienwelt der Weimarer Republik.

Als Zeitungsschreiber passt er sich dem Grundtenor des jeweiligen Blattes an. Der Wille beruflich aufzusteigen und die Notwendigkeit, als Journalist ausreichend Geld zu verdienen, lassen ihn sehr genau registrieren, für welche Zeitung er schreibt. Politisch links im »Neuen Tag«, im sozialdemokratischen »Vorwärts« und in den Satirezeitschriften »Drache« und »Lachen links«. Sehr viel feuilletonistischer und »unpolitischer« klingt es dann schon in der bürgerlichen »Frankfurter Zeitung«. Liest man heute seine Texte, wird deutlich, dass er sich dabei nichts vergibt, Grenzüberschreitungen ins Opportunistische nicht erkennbar werden. Der junge aufstrebende Joseph Roth will als Journalist Erfolg haben, und ideologische Barrieren bleiben ihm lange fremd.

Nicht selten erscheinen seine Artikel unter einem Pseudonym. Im »Neuen Tag«, im »Vorwärts« oder in »Lachen links« – also dort, wo er sich betont politisch gibt – zeichnet er gerne mit »Josephus« oder gar als »roter Joseph«. Da ist nicht nur der eigene Vorname erkennbar, sondern auch der Hinweis auf den jüdischen Historiker Flavius Josephus. In Jerusalem geboren, nimmt dieser auf der Seite der Römer am jüdischen Krieg teil, dessen Geschichte er später schreiben wird und der im Jahre 70 n. Chr. zur Zerstörung des Tempels geführt hat. Mit dem späteren Kaiser Titus zieht Flavius Josephus nach Rom und assimiliert sich in der römischen Gesellschaft. Für den in den 20er-Jahren ebenfalls um Assimilation ringenden Roth besitzt der Weg dieses Außenseiters, der von den Römern als Jude, von den Juden als Römer empfunden wird, auch hohe biographische Bedeutung. Roths Kollege Lion Feuchtwanger schreibt in diesen Jahren eine sehr gelungene Romantrilogie, die das Leben des Flavius Josephus erzählt.

Ein Humanist ist der Journalist Roth, flirtet bis Mitte der 20er-Jahre mit dem Sozialismus und weiß eindrucksvoll, häufig ergreifend von der wirtschaftlichen und seelischen Not einer Nachkriegsgesellschaft zu berichten. Seine Sympathien gehören den Kriegsversehrten und Kriegswitwen, den vom Grauen der Schlachten seelisch zerstörten Heimkehrern, den Arbeitslosen und Außenseitern. Seine Helden leben im Schatten einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft. »Die Schauspieler, die auf den Bühnen viele geistreiche Sätze sprechen, ehe sie ihr Leid dargelegt haben, und viele prachtvolle Bewegungen vollführen, Pfauenräder mit Armen und Augen schlagen, müßten in den Abteilen für Reisende mit Traglasten fahren, um zu lernen, daß eine leise gekrümmte Hand das ganze Elend aller Zeit fassen kann und das Zucken einer Augenwimper stärker erschüttern als ein Abend mit Tränenbächen.«92

Kriegsgewinnler und Spekulanten, Hakenkreuzler und Spießbürger überzieht Roth mit feiner Ironie und gnadenlosem Spott. »Der Sohn dieser Zeit ist Raffke, der Große, der Ahnherr kommender Adelsgeschlechter, kein Raubritter wie sein Vorgänger in den Jahrhunderten des Schwerts, sondern ein Raff-Ritter in dem Jahrhundert des Merkantilismus. Er kommt aus kleinen Verhältnissen in große Paläste, er vernichtet die Degenerierten, gibt Todeskandidaten den Gnadenstoß, zertritt die Armen und Schwachen, die auf dem Weg seines Triumphes liegen. Er besitzt keine geistigen Talente, aber den klugen Instinkt der Raubtiere … Seine Erfolge verdankt er seinen unverbrauchten Sinnen, seinem Hunger nach Macht …«93

Auch wenn er immer von Geldsorgen getrieben wird, Schulden bei Verlegern und Freunden zum ständigen Begleiter werden und er häufig nicht weiß, wie er die nächsten Tage materiell überleben soll: Joseph Roth gehört zu den bestbezahlten Journalisten seiner Zeit. Die »Frankfurter Zeitung« beispielsweise zahlt ihm (nach der Überwindung der Hyperinflation von 1923) eine Mark pro Zeile. Ab 1927 garantiert ihm die Chefredaktion ein monatliches Mindesteinkommen von 1000 Mark. Davon können die meisten seiner frei schreibenden Kollegen nur träumen. Aber sein Leben ist kostspielig. Das Hoteldasein und der hohe Alkoholkonsum, der Hang zu extravaganter Kleidung, die Großzügigkeit gegenüber Freunden, Trinkkumpanen und Kollegen, die Sanatoriums- und Klinikkosten für die depressive Ehefrau Friedl – nie reichen die Zeitungs- oder Buchhonorare. Im Exil wird dann seine Lage katastrophal. »Er brauchte immer Geld, man mußte ihm immer etwas leihen«, erzählt der in Paris lebende Schriftsteller und häufige nächtliche Begleiter Roths, Joseph Breitbach.94 »Herr von Trotta hatte immer darauf gehalten, reicher zu erscheinen, als er war«, heißt es im »Radetzkymarsch«. »Er hatte die Instinkte eines wahren Herrn. Und es gab um jene Zeit (und es gibt vielleicht auch heute noch) keine kostspieligeren Instinkte. Die Menschen, die mit derlei Flüchen begnadet sind, wissen weder, wieviel sie besitzen, noch, wieviel sie ausgeben. Sie schöpfen aus einem unsichtbaren Quell. Sie rechnen nicht. Sie sind der Meinung, ihr Besitz könne nicht geringer sein als ihre Großmut.«95 Ein »wahrer Herr« will Roth immer sein, und so hat er, als er diese Zeilen schreibt, möglicherweise auch etwas von sich selbst preisgegeben.

Die Jagd nach Geld bestimmt seit Mitte der 20er-Jahre Roths Arbeitsrhythmus, denn Verleger und Zeitungsredaktionen weisen immer nachdrücklicher auf die gezahlten Vorschüsse hin. Da schreibt ein Gehetzter. Vor allem gilt dies für die gelegentlich mit hochmütigen Formulierungen überdeckten Notschreie, die Stefan Zweig nach 1933 erreichen. »Was soll ich tun? Ich habe nichts zu essen, nicht einmal mehr zu trinken.«96 – »Sie verlassen Europa, mein einziger wirklicher Freund. … Versprechen Sie mir Folgendes: daß Sie mir für 1 Jahr 12.000 Mark versorgen (sic!) können, bevor Sie abreisen.«97 – »Wenn mir Huebsch (Roths amerikanischer Verleger – WvS) das Geld nicht geschickt hätte, hätte ich … Selbstmord begehen müssen.«98 Materiell durchlebt er ein leider nicht seltenes Künstlerschicksal. 130 Jahre vor Roths Hilferufen schreibt Heinrich von Kleist, der sein finanzielles Fiasko ebenfalls durch journalistische Veröffentlichungen zu überwinden versucht, an seinen Verleger Georg Andreas Reimer: »Honorar überlasse ich Ihnen, wenn es nur gleich bezahlt wird.«99 An anderer Stelle: »Die Zeiten sind schlecht, ich weiß, daß Sie nicht viel geben können, geben Sie, was Sie wollen, ich bin mit Allem zufrieden, nur geben Sie es gleich.«100 Wegen der »Dürftigkeit seiner Wohnung«, so berichtete Friedrich Wilhelm Gubitz, habe Kleist über Monate seine Texte meist »in einem Gasthofe« geschrieben.101 Für Roth allerdings hat der Arbeitsplatz im »Gasthof« weniger mit seiner finanziellen Lage als vielmehr mit seiner ruhelosen Lebensweise zu tun.

Roth ist ein glänzender Feuilletonist. Ein Journalist der Wiener Schule, zu der die großen Stilisten und Sprachartisten Anton Kuh und Peter Altenberg, Karl Kraus und Alfred Polgar zählen. Auch im bis 1918 habsburgisch regierten Prag – Roth schreibt wie erwähnt verschiedentlich für das »Prager Tagblatt« – brillieren nicht wenige deutschsprachige Feuilletonisten, darunter Egon Erwin Kisch, Richard A. Bermann (alias Arnold Höllriegel), Max Brod und Ludwig Winder. Wenn Roth nach Berlin kommt, diskutieren dort die gehobenen Leserschichten über die Rezensionen, Theaterkritiken, Glossen oder Polemiken von Maximilian Harden, Alfred Kerr, Herbert Ihering, Siegfried Jacobsohn oder Kurt Tucholsky. Die 20er-Jahre sind die große Zeit des Zeitungsfeuilletons und der journalistischen Hahnenkämpfe. Da werden die Messer gewetzt, und ein spöttisches Augenzwinkern vernichtet mal so nebenbei den Gegner im Konkurrenzblatt. Heute werden die Autoren, Schauspieler, Dirigenten, Sänger oder Regisseure unter Bergen von Lorbeerkränzen fast erstickt, morgen herrscht schon wieder Meuchelmordstimmung in den Kulturredaktionen. Die Besten unter den Feuilletonisten können schreiben, dass ihren Lesern die Tränen kommen. Und sie wissen nicht immer genau, ob es Lachen oder Empörung ist, was ihnen die Wangen nass werden lässt.

All diese Essayisten, Reporter, Theater- und Gesellschaftskritiker faszinieren und amüsieren ihre überwiegend bürgerlichen Leser. Als liebevoller, häufig spöttischer, aber auch nicht selten sarkastischer und überaus wacher Beobachter »der kleinen Dinge« des Lebens wandelt Joseph Roth vor allem auf den Spuren seines großen Vorbildes Alfred Polgar. Er, so charakterisiert der Bewunderer Polgars Texte, »schreibt kleine Geschichten ohne Fabel und Betrachtungen ohne Resümee. Er bedarf keines eigentlichen ›Inhalts‹, weil jedes seiner meisterlich gemundhabten Worte voller Inhalt ist. Kein Anlaß ist ihm zu gering. Gerade an den geringen Anlässen zeigt er seine Meisterschaft. Er poliert das Alltägliche so lange, bis es ungewöhnlich wird.«102

Was Roth 1925 über Polgar sagt, ist auch ein journalistisches Selbstbekenntnis. Es sind selten die weltbewegenden politischen Fragen, die ihn in seinen journalistischen Jahren vor 1933 zum Schreiben anregen. Es ist vielmehr die Welt des einfachen Mannes, der einfachen Frau, die sich in seinen Artikeln widerspiegelt. Den Alltag in den Großstädten Wien, Berlin und dann auch Paris hält er in seinen Berichten und Glossen fest, oder das Leben in den Provinzstädten, die er auf seinen Reporterreisen besucht. »Ich habe die Arbeiter des Ruhrgebiets in ihren freien (und arbeitslosen) Stunden gesehn. … Nicht ihre Not, von der ich gewußt und die ich vorausgesetzt hatte, war erschütternd, sondern ihre Anspruchslosigkeit.«103

Im März 1924, die Rentenmark ist gerade eingeführt worden, lesen die Abonnenten der »Frankfurter Zeitung« einen nüchternen, aber gerade deswegen ergreifenden Bericht über einen »Zug der Fünftausend« in Berlin: »Wenn die Spitze des Zuges (den man täglich in der Frankfurter Allee in Berlin erschrocken und erschüttert sehen kann) die Fröbelstraße erreicht hat, ist es zwei Uhr nachmittags, und noch vier Stunden dauert es, bis die letzten der Fünftausend angelangt sind. Den Zug bilden die Elendesten, die Ärmsten, die Verworfensten dieser Stadt. … Das Ziel der Fünftausend ist das Obdachlosenasyl in der Fröbelstraße. In diesem befinden sich zwar 40 Schlafsäle, die knapp für 3200 Menschen berechnet sind. Dennoch schlafen in diesen 40 Sälen jede Nacht rund 5000 Obdachlose.«104

Die genaue, reflektierende Beobachtung, das Wissen um unsere kleinen Schwächen und Träume ist es, was den Feuilletonisten Roth noch heute so lesenswert macht: »Gegenüber in der ersten Etage ist auch die blonde Frau wieder am Fenster zu sehen. Frauen am Fenster sind immer anziehend, es ist, als wollten sie jemanden erwarten – und wer kann wissen, ob sie nicht mich erwarten? Sie sehen aus wie Gefangene, und ich darf mir einbilden, daß ich sie vielleicht, ja wahrscheinlich befreien werde. Ich liebe Frauen am Fenster und insbesondere die blonden.«105

Natürlich ist manches auch journalistische Pflichtarbeit, solide, nichts für die Ewigkeit. Roth ist zudem nicht der tiefschürfende politische Leitartikler. »Sein politisches Vokabular hatte eine Einfachheit behalten«, erinnert sich Benno Reifenberg, sein ehemaliger Feuilleton-Chef bei der »Frankfurter Zeitung«, »einfach wie die Fibel der Kinder, und wie diese unterschied er gute und böse Menschen und irrte sich auch nicht, denn er gedachte nicht zu verstehen, da wo es zu urteilen galt.«106 Als es 1926 zur Krise in der Zusammenarbeit mit der »Frankfurter Zeitung« kommt, erreichen Reifenberg die Zeilen: »Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Das ist die Aufgabe einer großen Zeitung. Ich bin ein Journalist, kein Berichterstatter, ich bin ein Schriftsteller, kein Leitartikelschreiber.«107 Joseph Roths Artikel sind – nimmt man alles nur in allem – funkelnde, elegante Sprachsplitter und ironische Reflexionen, in der Regel knappe, gelegentlich bissige Theater- und Filmkritiken oder Buchrezensionen, psychologische Blicke auf die Sensationsprozesse, die die Menschen in den Weimarer Jahren erregen. »Die Vollbartmänner«, spottet er 1921 in einem Artikel mit der Überschrift »Feuilleton«, »die Ernstlinge und Würderiche, geringschätzen das Feuilleton.«108

Als schreibender Zeitzeuge bleibt der »politische« Joseph Roth trotz aller Einschränkungen ein akribischer Beobachter der gesellschaftlichen Verwerfungen der Republik. Mit Blick auf die demokratiefeindlichen und antisemitischen Auftritte der Rechtsradikalen und Völkischen wird er sehr früh zum Propheten des Scheiterns der Weimarer Republik. Mitleid mit den Armen, zornige Ausbrüche gegen ausbeutende Fabrikanten und Spekulanten, gegen Militaristen und Putschisten – das sind Leitmotive seiner politischen Einwürfe. Er erzählt vom Leben der unteren Klassen, von der Welt der Arbeiter, Dienstmädchen, Toilettenfrauen, Näherinnen oder kleinen Beamten – da werden die häufig mit lapidaren Sätzen geschilderten Ereignisse zu bitteren Anklagen gegen die gesellschaftlichen Zustände im Land: »Der Herr Oberstleutnant aus der Mommsenstraße warf sein Dienstmädchen, weil es aus Unachtsamkeit Geschirr zerbrochen hatte, über das Treppengeländer. Das Mädchen fiel auf den Rücken und ward so schwer verletzt, daß es dem zerbrochenen Geschirr zum Verwechseln ähnlich sah. Sie kam ins Krankenhaus, und es ist durchaus nicht sicher, daß man sie reparieren wird. Auch das Geschirr des Oberstleutnants ist für immer dahin. Zwischen einem Porzellanteller und einem Dienstmädchen ist der Unterschied auch dann nicht groß, wenn beide intakt sind. Der Oberstleutnant warf die Scherben zum Fenster hinaus …, das Dienstmädchen räumten er und seine beiden Söhne aus der Wohnung.«109

Erschütternde journalistische Dokumente über das Elend der Berg- und Stahlarbeiter sind seine »Briefe aus Deutschland«, in denen er im Spätherbst 1927 für die »Frankfurter Zeitung« aus dem Saarland berichtet. Er fährt unter Tage, besucht Stahlfabriken und Volksversammlungen, streift durch die grauen, staubigen Arbeiterstädte. Die Schilderung einer politischen Veranstaltung in Neunkirchen gerät zur expressionistisch getönten sozialen Anklage: »Die Frauen haben das unbestimmte Alter der Proletarierinnen zwischen fünfundzwanzig und sechzig. … Sie tragen keine Hüte. Sie tragen die Haare schütter und lang und bleich und farblos, in gleichgültigen, verlegenen Knoten zusammengebunden. Strähnen streifen sie mit harten Händen aus den Gesichtern. … Ihre Gesichter sind grau und zerfurcht, Physiognomien von männlichen Denkern. Die Sorgen machen Schnäbel aus Nasen, Spalten aus Mündern, kleine Lichtfünkchen aus Augen. Auf den Stirnen Landkarten aus Falten. Die Geographie des Kummers.«110 Und klingt es nicht höchst aktuell, wenn Roth das Fazit seiner Reise durch die Arbeiterstädte des Saarlands mit dem Satz zieht: »Wenn die ›Rentabilität‹ wichtig ist, kann die Humanität nicht bestehen. Das scheint mir unabhängig von Gesellschaftsordnung und Revolution.«111

Roth bleibt zeitlebens ein selbstbewusster Zeitungsschreiber. Er kann keinen Unterschied zwischen dem »hohen« Leben des Dichters und dem journalistischen Alltag des Artikelschreibens erkennen. »Hat Ihnen ein Verschmockter eingeredet, die ›Zeitung‹ wäre eines Dichters unwürdig? … Oder das ›Feuilleton‹ weniger als ein ›Roman‹?«112 Das Zeitungsfeuilleton besitzt für ihn als Autor immer einen besonderen Stellenwert. Als sich der Pariser Korrespondent der »Frankfurter Zeitung« 1926 von der Redaktion wieder einmal unter Wert behandelt fühlt, schreibt er an seinen Chef Reifenberg die wütenden Sätze: »Man kann Feuilletons nicht mit der linken Hand schreiben. Man darf nicht nebenbei Feuilletons schreiben.Es ist eine arge Unterschätzung des ganzen Fachs. Das Feuilleton ist für die Zeitung ebenso wichtig, wie die Politik und für den Leser noch wichtiger. … Die moderne Zeitung braucht den Reporter nötiger, als den Leitartikler. Ich bin nicht eine Zugabe, nicht eine Mehlspeise, sondern eine Hauptmahlzeit.«113

Schon 1925 veröffentlicht Roth einen im Ton ironischen, aber in der Sache doch grundsätzlichen Artikel über Bücher schreibende Journalisten. »Wenn deutsche Journalisten Bücher schreiben, bedürfen sie beinahe einer Entschuldigung. Wie kamen sie dazu? Wollen die Eintagsfliegen in den Rang höherer Insekten aufsteigen? Wollen sie, die dem Tag angehören, in die Ewigkeit eingehen? Professoren und Kritiker säumen den Weg, der in die Nachwelt führt. Dichter, die gleichsam schon von Geburt eingebunden waren, wollen manchmal eine genaue Grenze zwischen Journalistik und Literatur ziehen und im Reich der Ewigkeiten, den Numerus clausus für ›Tagesschriftsteller‹ einführen. … Ein Journalist aber kann, er soll ein Jahrhundertschriftsteller sein. Die echte Aktualität ist keineswegs auf 24 Stunden beschränkt. Sie ist zeit- und nicht tagesgemäß. Diese Aktualität ist eine Tugend, die nicht einmal einem Dichter schaden könnte, der niemals für die Zeitung schreibt. Ich wüßte nicht, weshalb ein ausgeprägter Sinn für die Atmosphäre der Gegenwart die Unsterblichkeit hindern soll. Ich wüßte nicht, weshalb Menschenkenntnis, Lebensklugheit, Orientierungsvermögen, die Gabe zu fesseln und andere solcher Schwächen, die man dem Journalisten vorwirft, die Genialität beeinträchtigen können. Das echte Genie erfreut sich sogar dieser Fehler. Das Genie ist nicht weltabgewandt. … Es ist nicht zeitfremd, sondern zeitnahe. Es erobert das Jahrtausend, weil es so ausgezeichnet das Jahrzehnt beherrscht.«114

Nicht häufig ist der Journalismus mit solchen Worten umschrieben worden wie in diesem Artikel der »Frankfurter Zeitung«. Der langjährige Kollege Soma Morgenstern schreibt zu Recht: »Roth war sehr gerne ein Journalist. Es gibt, und es gab schon immer, Schriftsteller, die sich ihrer journalistischen Vergangenheit schämten. Nicht so Roth. Er war stolz darauf. Und er ging soweit, bis in die letzte Zeit seines Lebens mir immer wieder zu wiederholen, daß er unter Journalisten bei weitem sympathischere, anständigere, ja ehrenwertere Männer gefunden hat als unter Schriftstellern.«115

1927 bittet »Die Neue Bücherschau« einige deutsche Schriftsteller aus Anlass des 25. Todestages die aktuelle Bedeutung des französischen Schriftstellers Émile Zola für die heutige junge Generation zu würdigen. Roth nutzt diese Umfrage, um seinen Standpunkt noch einmal zu präzisieren: »Zola war der erste europäische Schriftsteller ohne Schreibtisch als Instrument der Eingebung, der erste Romancier mit dem Notizbuch. Der erste Dichter auf der Lokomotive.«116 Polemisch fällt in dieser Zuschrift die Attacke auf die deutschen Kollegen aus: »Wer von den deutschen berühmten Schriftstellern hat sich um schwarze Reichswehr, massakrierte Arbeiter, bayrische Justiz, Pommern … gekümmert? Wie viele Dreyfus-Affären hatten wir seit 1918? Wer von den berühmten Männern hat schon einen Lokomotivführer angeschaut? Konstruiert haben sie sich manchmal einen.«117