Als wäre nichts geschehen - Walther von Hollander - E-Book

Als wäre nichts geschehen E-Book

Walther von Hollander

3,0

Beschreibung

In seinem Roman "Als wäre nichts geschehen" erzählt der Autor von einem Arztehepaar, das über viele Missverständnisse hinweg wieder zueinanderfindet. Conrad ist aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Sie hat den vormals erfolgreichen Psychologen und Psychiater verändert. Bezeichnenderweise ist er zunächst bei seinen Freunden Hilla und Hannes in Blankenese untergekommen. Erst nach drei Monaten rafft er sich auf, seiner Frau Ilse, ebenfalls Ärztin, in ihrer Praxis in Wandsbek aufzusuchen. Als ein Missverständnis, das er bereits hinter sich hat, sieht er seine Ehe und trifft in hohem Maße desillusioniert wieder auf seine Frau. Hinzu kommt, dass er in diesen Tagen auf die junge Zeichnerin Christina trifft. Es sind alles in allem verworrene Verhältnisse, die Walther von Hollander vor dem Leser ausbreitet. Dieser fragt sich, wohin treibt es die Hauptfiguren diesen Romans: Schwarz oder Weiß oder vielleicht Grau?-

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Walther von Hollander

Als wäre nichts geschehen

Roman

Saga

Als wäre nichts geschehen

© 1951 Walther von Hollander

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711474495

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1

Gespräch im Obstgarten über Emmy

Es war ein Herbsttag, genau gesagt, der 9. September. Die Sonne schien warm in den etwas verwilderten Garten der Hohmanns draußen in Blankenese. Die Äpfel waren bunt und gut geraten. Die Birnen an den schlechtgeschnittenen, kleinen Bäumen hingen rissig und borkig im üppigen Laub. Violette Herbstastern und gelbe Goldraute blühten in großen wuchernden Büschen. Im Hintergrund des Gartens, dicht vor dem baumbestandenen Abhang, der zum Fluß hinabging, sah man ein paar verunkrautete Erbsenbeete und eine noch grüne Wand von Stangenbohnen mit handlangen, fingerdicken Schoten. Unten von der Elbe her hörte man die Dampfer tuten. Aber man sah den Fluß nicht. Denn es lag ein leichter Nebelschleier über dem Wasser.

Hilla, die Frau des Architekten Hannes Hohmann, Ende Dreißig, schwarzhaarig, mit einem weißen kühnen Streifen durch das Haar, mit einem nicht besonders geschmackvollen grünen Sommerkleid, strumpflos, Sandalen an den Füßen, Hilla Hohmann saß in einem der Liegestühle und schnippelte unaufmerksam Bohnen in eine etwas angeschlagene Emailleschüssel. Ab und zu blickte sie zu Conrad Brederopp hinüber, der in dem anderen Liegestuhl lag, eine Illustrierte vor der Nase. Er trug ein blaues Leinenhemd mit aufgekrempelten Ärmeln und zu weitem offenem Kragen. Auch die Hose war aufgekrempelt und viel zu weit. Es waren nicht seine eigenen Sachen. Hannes Hohmann hatte sie ihm gepumpt. Brederopp warf die Illustrierte ärgerlich fort. Man konnte sein Gesicht sehen. Es mußte einmal sehr hübsch gewesen sein. Aber jetzt war es ungesund gedunsen. Aufgeschwemmt. Schweißperlen standen auf der schön gewölbten Stirn. Die sehr hellen Augen hatten einen Schleier. Das Haar des Vierzigjährigen war eisengrau, eigenwillig gelockt, mit einem Scheitel, der nur mühsam durch das Gewirr gezogen war.

Brederopp gähnte gewaltig: „Schön ist es bei euch. Märchenhaft schön.“

Hilla Hohmann lächelte: „Nur verdammt langweilig, nicht wahr?“

Brederopp sah sie erstaunt an. „Für euch muß es allerdings verdammt langweilig sein“, sagte er etwas spitz, „ein aufgedunsener Plenni, der sich in der Sonne herumräkelt, ein Psychiater a. D., der mit der eignen Psyche nicht fertig wird. Da habt ihr euch was Schönes aufgeladen.“

„Mit Erbitterung kommen Sie bei mir nicht weiter, Conrad“, sagte Hilla ruhig, „ich bin froh, daß Sie da sind, und Hannes ist es auch.“

Ein Apfel polterte vom Baum. Brederopp erhob sich schwerfällig, betrachtete die bunte Frucht und legte sie auf die geschnippelten Bohnen. „Dann ist es ja gut“, sagte er und wandte sich dem Hause zu. „Setzen Sie sich wieder her“, sagte Hilla friedlich, „ich muß endlich mit Ihnen reden.“ Mit einem Seufzer setzte sich Conrad. Er holte aus seiner Hosentasche ein primitiv gehämmertes Messingbüchschen, schaute bekümmert hinein, weil nur noch wenig Tabak drin war, drehte sich mit fixen Fingern eine Zigarette und begann das Zigarettenbüchschen auf einem Finger zu balancieren. Er entwickelte dabei eine beachtliche Geschicklichkeit. „Also bitte“, sagte er, scheinbar in sein Spiel vertieft, und da Hilla schweigend ihre Bohnen weiterschnippelte: „Sie wollen wissen, warum ich hier bei euch herumsitze. Sechs Wochen sind es bald. Und die Tätigkeit eines Rauchers ausübe, eines Schläfers zur Not noch und eines Fressers.“

„Essen können Sie ruhig mehr“, stellte Hilla sachlich fest, „das täte Ihnen bestimmt gut.“

„Ich mag nicht“, brummelte Conrad und wirbelte das Büchschen immer schneller, bis es hinfiel und der spärliche Tabakrest sich auf dem Rasen verstreute.

„Ich mag auch keine Bohnen schnippeln“, sagte Hilla ärgerlich, „ich bin nämlich eine miserable Hausfrau. Mich langweilt alles, was mit dem trauten Heim zusammenhängt. Von Natur aus bin ich Frauenrechtlerin, damit Sie es endlich wissen.“

„Gräßlich“, seufzte Conrad, „alle Frauenrechtlerinnen sind borniert, hochnäsig und verbittert, außer Ihnen natürlich. Übrigens, warum haben Sie dann geheiratet?“

Hilla lachte: „Kein Mensch weiß, warum er heiratet. Bestenfalls weiß er, warum er verheiratet bleibt.“

Conrad schielte mißtrauisch zu Hilla hinüber. „Sie sind ein listiger Indianer, Hilla“, sagte er anerkennend, „aber Sie brauchen gar nicht auf Schleichpfaden heranzukriechen.“

„Also kurz und direkt: Warum gehen Sie nicht einmal zu Ihrer Frau?“

„Ich war ja da“, sagte Brederopp, „tatsächlich. Sie wohnt in Wandsbek. Eine greuliche Backsteinstraße ist das, eingequetschte Gärtchen hinter Eisenzäunen, wissen Sie: Zäunchen aus lauter stumpfen Lanzen zusammengeschweißt. Kümmerliche Obstbäumchen, Beerensträucher, verregnete Astern und stabile Gerüste zum Teppichklopfen und dahinter putzig verzierte Häuschen, zweistöckig, aus roten und gelben Backsteinen. Stück für Stück der Traum eines Krankenkassenangestellten. Mittlere Laufbahn. Samtportieren vor den Fenstern mit Troddeln ...“

„Ich kenne Wandsbek“, unterbrach Hilla ungeduldig.

„Na ja ... und in einem solchen Haus wohnt Dr. med. Ilse Brederopp. Sprechstunden 9 bis 10 und 16 bis 17 Uhr. Erste Etage, Geranien in Blumenkästen vor den Fenstern. Ich mag Geranien nicht. Sie stinken, finde ich.“

„Und warum sind Sie nicht hinaufgegangen?“ fragte Hilla hellsichtig.

„Wegen Emmy“, sagte Conrad heiter, „tatsächlich wegen Emmy.“

„Wer ist denn Emmy?“

„Das habe ich mich auch gefragt“, seufzte Conrad. Er begann wieder seine Kunststücke mit dem Messingbüchschen, warf es von den Fingerspitzen auf die Handfläche, von der Handfläche auf die Fingerspitzen. Scheinbar völlig in das Spiel vertieft. Dabei begann er endlich zu erzählen, schnell und tonlos, eine Geschichte also, die er sich selbst schon oft erzählt hatte: „Sie müssen sich das einmal vorstellen, Hilla, ein Waldlager in der Ukraine; irgendein freier Fleck mitten in einer Waldwüste. Das ist nämlich auch Wüste, wenn man nichts zu sehen bekommt als Bäume, Bäume, Bäume. Und natürlich Stacheldraht rings ums Lager und ein paar Wachttürme mit Azetylenscheinwerfern, ein paar Baracken, ein paar Pritschen drin, ein Tisch und gräßlich viele marode, dreckige, hungrige, überanstrengte Männer. Drei Fragen gibt es da nur: Hältst du das aus? Was gibt es zu essen? Was macht die Frau zu Hause? Was für prächtige samtene Venusse diese ausgemergelten Kerls zu Hause hatten, wundervolle Wesen. Ich kannte sie alle: Käthe, Maria, Anna, Hermine. Sogar eine Fritzi hatten wir, eine Langblondine in Maulwurfspelz und, soweit man das auf der zerknitterten Fotografie erkennen konnte, ein gieriges Biest. Aber auch sie eine gütige Venus von Herz und Humor. Und alle schrieben sie. Die meisten: Ich warte auf Dich. Einige auch: Lieber Walther oder Karl oder Emil: ich habe einen anderen und ein Kind. Und Emil — oder war es Karl? — schlich sich während der Frühstückspause weg und hängte sich an einem Baum auf. Aus Liebe. Es gab ja genug Bäume.“

„Ihr werdet auch keine Engel gewesen sein“, sagte Hilla merkwürdig hart, „und wenn Ilse ...“

„Wenn es das gewesen wäre“, lachte Conrad böse. „Ich sehe es durchaus nicht ein, warum eine Frau drei oder fünf Jahre warten soll, ob sie ihr Wrack von Mann vom lieben Staat gütigst wieder franko Haus zurückgeliefert bekommt.“

„Sie soll warten, das gehört sich so“, unterbrach Hilla heftig. „Aber wenn es das nicht war ...“

„Stellen Sie sich einmal vor: alle bekommen ihre Post, Johann und Hermann, Krischan und selbst der schielende und O-beinige Otto. Nur einer nicht, den sie Doktor nennen. Doktor Conni. Und er malt immer wieder in Blockbuchstaben auf die schmierigen Postkarten die gleiche Adresse: Dr. Ilse Brederopp, Berlin-Wilmersdorf, Kaiserallee 12. Aber er bekommt keine Antwort. Frauen haben eben keine Phantasie. Und wenn sie gekränkt sind, werden sie grausam, dumm, blind und taub. Über die Schwerhörigkeit des Herzens hat der junge Brederopp mal einen glänzenden Artikel geschrieben. Stimmte großartig.“

Hilla lachte freundlich. Und Brederopp winkte ab: „Lassen wir doch den alten Kohl. Kapusta auf russisch. Er ist längst gegessen, verdaut, vergessen.“

Jetzt wurde Hilla ärgerlich: „Ich denke, Sie sind ein Psychologe? Nichts haben Sie vergessen und gar nichts verdaut. Also reden Sie schon. Eines Tages bekamen Sie doch einen Brief. Und was stand drin?“

„Blödsinn“, fauchte Conrad.

„Genauer: Was für ein Blödsinn?“

„Lieber Conrad, ich gebe Dich frei für Emmy. Deine Ilse.“ Und ich habe ihr geantwortet, postwendend sozusagen, d. h. nach vierzehn Tagen: „Sehr liebenswürdig. Leider geben mich die Russen nicht frei. Übrigens: Wer ist Emmy?“

„Na, und wer war Emmy?“ fragte Hilla lächelnd.

„Das habe ich mich auch gefragt“, murrte Conrad, „man hat ja dort Zeit. Man kann sich immer wieder die gleichen blödsinnigen Fragen stellen. Wenn man die Äste von den Bäumen schlägt. Wenn man die Säge hin- und hergleiten läßt. Wissen Sie: zuerst habe ich immer auf die Säge gedrückt, bis ich Schwielen hatte. Aber dann habe ich es gelernt, sie elegant anzufassen, ganz zart wie ein leichtes Mädchen. Macht eigentlich Spaß, wenn die Zähne sich durchs Holz fressen. Nur ein bißchen sinnlos. Hat man ein Ende abgesägt, ist das nächste Ende dran und nach dem nächsten wieder das nächste. Zehn Stunden, zwölf Stunden, bis das ständig wachsende Soll erfüllt ist. Und zum Lohn aufgewärmte Kohlsuppe abends. Kapusta in Wasser. Oder Kascha: eine Grütze, die den Hals auszementierte. Beim Sägen: Wer ist Emmy? Beim Stämmeschleppen: Wer ist Emmy? Beim Essen: Wer ist Emmy? Wenn man nicht schlafen kann, weil die anderen schnarchen oder träumen: Wer ist Emmy?“

„Herrgott ... das mußte doch rauszukriegen sein, wer Emmy ist“, sagte Hilla ungeduldig, „oder haben Sie die Damen bundweise verzehrt wie die Spargel?“

„Spargel bekommen wir nicht“, lachte Conrad knabenhaft, „ich habe empfindliche Nieren. Aber schließlich habe ich’s doch rausgekriegt. Emmy war eine Patientin von mir. Eine ansehnliche Dame. Ungemein blondlockig, stupsnasig, mit flinken Mausaugen, von jenem Alter, wo’s Alter unbestimmt wird. Eine, die ungeheuer viel reden mußte. Sie konnte es sich leisten, eine Stunde, zwei Stunden im Sprechzimmer bei mir zu sitzen. Der Herr Gemahl fabrizierte Zahnpasta und zahlte gern jede Rechnung. War froh, daß er das alles nicht anhören mußte. Außerdem schrieb sie viele Briefe. Erst höfliche, dann ausführliche, dann abgründige, dann Liebesbriefe. Gehört zu meinem Beruf. Ich habe sie nachher nicht mehr gelesen. Gehört auch zu meinem Beruf. Ich denke mir, so einen Brief hat Ilse gefunden. Sie ist sehr ordentlich, und meine Anzüge wurden alle vier Wochen geklopft. Da hat der Teppichklopfer wahrscheinlich den Brief herausgeklopft. Das ist alles. Oder ich müßte im Traum mit ihr geschlafen haben.“

Er stand mit einem Ruck auf. Er trat auf Hilla zu. „Sagen Sie selbst: ist das verzeihlich? Wegen so einem Dreck einem Mann hinter Stacheldraht so was zu schreiben?“ Damit drehte er sich um und ging ins Haus. Seufzend sah Hilla ihm nach. Verständlich ist es, dachte sie. Aber nicht verzeihlich. Und nach einer Weile: Nein, es ist auch nicht verständlich. Warum gehen die Menschen so schauderhaft miteinander um?

In diesem Augenblick schlug die Standuhr oben im Wohnzimmer elf. Aus dem großen Atelier, abseits des Hauses, kamen Hohmanns Angestellte, von ihm „die Sklaven“ genannt. Bruhn, der erste Assistent, klein, langlockig, schmallippig, mit jenem hochmütigen Zug, den die ersten Mitarbeiter so oft haben, weil sie mehr zu können meinen als die Chefs und weil es ihnen bestimmt ist, nie ein Chef zu werden. Dahinter, klein, breit und pummelig, mit bronzebraun geschminktem Gesicht und rubinroten Lippen, Carla Pfeiffer, die Sekretärin schon aus Berliner Tagen, die unentbehrliche Kraft, kaltschnäuzig, warmherzig, unbedenklich in Worten und Taten, frech und tüchtig. Dann drei technische Zeichner ohne Gesicht und eigentlich auch ohne Namen, tüchtige, schlechtbezahlte junge Männer in weißen Kitteln, und schließlich, nur zögernd in die Sonne tretend, „die Neue“: Christina Keller, eine Gutsbesitzerstochter aus Mecklenburg, die sich hier ihr Geld zum Studium an der Kunstakademie verdiente, eine zierliche hochbeinige Frau, nein, ein Mädchen, in dessen helles, schmales Gesicht dunkle Erfahrungen eingezeichnet waren. Oder schien es Hilla nur so, weil Hannes, ihr Mann, von den trüben Kriegserlebnissen Christinas erzählt hatte? Nun — er erzählte immer etwas übertrieben. Er machte sich gern ein dramatisches Bild von Menschen, vor allem von Frauen. Hilla sah zu Christina hinüber. Sie stand abseits von den anderen, die lärmend und fröhlich schwätzten, halb abgewandt, beide Arme auf den Zaun gestützt, und starrte unbewegt auf die Baumwipfel am Abhang. Ein hübsches Bild, dachte Hilla, aber kein fröhliches.

Oben vom Balkon rief Hannes Hohmann nach ihr. Da stand er: riesig, breit, vergnügt. Sein rötlicher Assyrerbart glänzte in der Sonne. Er trug seine neuen schokoladenfarbenen Hosen, ein silbergraues Jackett aus grobem Stoff, ein mädchenhaft-rosa Seidenhemd und ein grasgrünes Schmetterlingsschleifchen davor. Wie immer war er zu bunt, zu lustig, zu auffällig angezogen für einen Mann von fünfundvierzig Jahren, und wie immer rief er mit seiner lustigen, zu hellen Stimme: „Ich fahr’ in die Stadt, Hillachen. Nicht warten. Weiß der Deibel, wie lange es dauert. Was mitzubringen?“

Und Hilla, die Schüssel mit den Bohnen unter dem Arm, den schönen Kopf über dem häßlichen Sommerkleid zum Balkon erhoben, antwortete: „Danke schön. Ich brauch’ nix, und beeil dich nicht mehr als nötig.“

Hohmann beugte sich über das Balkongeländer. Er schrie ärgerlich: „Warum du wohl nie Wünsche hast? Wenn ich dir wenigstens ’n kleenen Mohren besorgen dürfte, der die Zimmer aufräumt und die blödsinnigen Bohnen schnippelt.“ Hilla lachte: „Ach ... dann hätte ich nichts mehr zu tun. Wäre gräßlich.“ In diesem Augenblick fiel es ihr ein, daß die meisten Männer unentschlossene Geschöpfe sind und daß man sie zuweilen stupsen muß, damit sie das tun, was sie sollten. Sie rief: „Du kannst doch was für mich tun. Nimm Conrad mit hinein. Du fährst doch über Wandsbek?“

„Über Wandsbek? Nanu, was will er denn in Wandsbek?“

„Seine Frau besuchen.“

„Was? So plötzlich eheliche Absichten?“

„Ja, aber ganz genau weiß er’s noch nicht. Also nimm ihn untern Arm und setz ihn in Wandsbek ab!“

„Gemacht“, sagte Hannes, „du bist eine tolle Frau.“

Damit verschwand er vom Balkon. Hilla hörte seine Elefantenschritte die Treppe hinunterstampfen, hörte ihn nach Conrad rufen, hörte das aufgeregte Murmeln der beiden Männer, das dröhnende Gelächter Hohmanns, hörte das Auto anspringen. Sie lief ums Haus und sah, durch den Taxusbaum verdeckt, wie das Auto abfuhr. Conrad saß steif und ablehnend neben Hannes. Hannes redete eifrig auf ihn ein.

2

Wandsbeker Wiedersehen

Unmittelbar neben dem Arztschild „Dr. med. Ilse Brederopp“ hielt das Auto. Conrad stieg aus und sah zu den Geranien hinauf, die in der Herbstsonne hellrot leuchteten. Hannes beugte sich zum Wagen hinaus. Er sagte mit gedämpfter Stimme, so berlinerisch, wie er immer sprach, wenn er erzieherisch wirken wollte: „Also, Mensch, Kopp klar, Nacken steif. Und gleich, wenn de reinkommst, dreimal mit de Faust ornlich aufn Tisch jekloppt, daß de Bleistifte aus der Schale hüppen und de wohljeordneten ärztlichen Bestecke det Klappern kriegen. Männlich, männlich. Det allein imponiert den Damens.“

Dann schnurrte das Auto davon. Conrad ging schnell ins Haus. Er wußte, daß er umkehren würde, wenn er auch nur einen Augenblick nachdachte. Denn es war doch offensichtlicher Blödsinn, was er jetzt machte. Seit Wochen schrieb er schon an einem Brief für Ilse. Einem feinabgewogenen, objektiven, außerordentlich kühlen Brief, in dem er ihr klarlegte, daß sie eigentlich nie zusammengepaßt hätten und daß „jenes fürchterliche Mißverständnis“ mit der unbekannten Emmy die natürliche Folge einer tiefen Fremdheit gewesen sei und ein Treuebruch von Ilses Seite, ein seelischer Ehebruch, schlimmer als jeder körperliche, für den er weit eher Verständnis aufgebracht hätte. Er versuchte sich einige „famose“ Wendungen und Spitzen aus dem ungeschriebenen Brief für die kommende Unterredung einzuprägen. Dabei tappte er langsam die schmale Holztreppe hinauf, an einem grünlichen Jugendstilmuster aus Schwertlilien und Seerosen vorbei, das oberhalb eines frischgelackten Paneels die Flurwände zierte. Was wollte er sagen? Alle feinen Bemerkungen und spitzen Beweise waren ihm entfallen. Warum hatte er Ilse nicht wenigstens antelefoniert? Wenn sie sich nun zu Tode erschrak? Oder wenn sie ihm in ihrer heftigen, kalten Art die Tür wies? Oder wenn sie ihm gar — das war doch schließlich auch möglich bei so einer Rückkehr aus der Hölle —, wenn sie ihm gar weinend um den Hals fiel und gegen alle Erwartung plötzlich alles gut war? Das wäre ... Ja, was wäre es? Schrecklich? Schön?

Wienczierczig, Amtmann, las er. Er war oben. Wienczierczig? Ulkiger Name. Und Amtmann dazu? Ach, das war die linke Wohnung, und rechts drüben hing das weiße Emailleschild: Dr. med. Ilse Brederopp. Weinend würde sie ihm übrigens nicht um den Hals fallen. Sie weinte niemals in Gegenwart anderer Menschen. Vielleicht, wenn sie allein war? Nein — wahrscheinlich auch nicht. Schrecklich, wenn eine Frau nie weinen kann. Ich bin doch sehr böse auf sie, stellte er erstaunt fest. Es hat also keinen Sinn, daß ich hineingehe. Außerdem wird sie mir nie verzeihen, daß ich schon zwölf Wochen hier bin. Besser, ich kehre um. Und in dieser Sekunde klingelte er.

Die Tür wurde sofort geöffnet. Ein paar kalte, grünlich schimmernde Augen blickten ihm entgegen. Sie gehörten einer zierlichen, blondgelockten Frau mit spitzer Nase, die anscheinend als Sprechstundenhilfe fungierte. „Ich möchte Frau Doktor Brederopp sprechen“, sagte Conrad, „ich bin ...“ Die Sprechstundenhilfe hatte schon die Tür zum Sprechzimmer geöffnet und sagte mit etwas heiserer Stimme: „Bitte Platz zu nehmen!“ Und indem sie die Tür hinter dem eintretenden Conrad schon wieder schloß: „Es sind heute nur wenige Patienten. Sie haben Glück gehabt.“

Glück? dachte Conrad und setzte sich auf einen der knarrenden Strohstühle. Er wischte sich den kalten Schweiß vom Gesicht. Sehr unangenehm: bei der kleinsten Gemütsbewegung dieses entsetzliche Schwitzen. Oder vielleicht war es auch gut. Das Wasser mußte ja aus dem gedunsenen Körper heraus. Also nur recht viel Gemütsgymnastik! Vorzüglich. Es war nur noch eine Patientin vor ihm, eine ungewöhnlich dicke, asthmatische Dame mit einem zu kleinen Federhütchen auf dem großen, grauhaarigen Rundkopf. Ein Duett der Aufgeschwemmten, dachte Conrad und versuchte, seinen heftigen Atem zu beruhigen. Die Dame blätterte mit pfeifenden Lungen in einem Modejournal. Conrad nahm sich auch eine der zerfledderten, verschmutzten Zeitschriften. Wenn Ilse hereinkam, mußte er sich verstecken. Ein Wiedersehen in Gegenwart der Asthmatischen ... das ging unter keinen Umständen. Die Zeitschrift hieß „Heimchen am Herd“. Die Nummer war schon sehr alt. Sie enthielt noch R-Mark-Rezepte unter reichlicher Anwendung von Aromen. Anweisungen — unter der Rubrik „Am Feierabend“ —, wie der hilfreiche Gatte aus krummen und verrosteten Nägeln nahezu neuwertige herstellen könnte. Conrad las diese Ausführungen mit Interesse und Sachverständnis. Beim Barackenbau im ukrainischen Waldlager hatten sie immer nur krumme und rostige Nägel gehabt. Die Anweisungen im „Heimchen“ zeugten von Sachkenntnis.

Conrad hob jetzt die Zeitung mit einem Ruck vor sein Gesicht und ließ sie wieder sinken. In der Tür war die Spitznasige erschienen und winkte der Asthmatischen. Nur für eine Sekunde wurde Ilse sichtbar. Genug Zeit, um zu erkennen, daß sie immer noch in der Sprechstunde ihr „Amtsgesicht“ trug. Die Stirn wichtig gekraust, die randlose Brille adrett auf der kleinen Nase. Wie früher hielt sie sich etwas zu gerade und hatte beide Hände in die Kitteltaschen gestopft. Ein bißchen dicker, schien’s, war sie geworden.

Eine nette und hübsche Frau, dachte Conrad. Das Ordentliche, das Saubere, das Tüchtige hatte ihn damals angezogen. Er selbst war unordentlich, ungleichmäßig, bald faul, bald übermäßig fleißig, manchmal die ganze Welt heiter umarmend, dann wieder gelangweilt in einer trockenen, sinnlosen Melancholie verharrend. Sie hatte ihn erst zu einem gleichmäßig arbeitenden, tüchtigen Psychiater gemacht. Er verdankte ihr viel. Und sie hatten doch auch manches Schöne zusammen erlebt! Es war keineswegs so, daß sie sich allzu oft gestritten hatten, die drei Ehejahre lang. Allerdings die Härte, die Schärfe, mit der Ilse die meisten Menschen verurteilte, hatte ihn immer gestört. „Verurteilen ist nicht unsere Sache“, hatte er ihr immer gesagt. „Das überlaß den Staatsanwälten, die aus allem das Böse rausklauben müssen.“ Er hatte sie dann „Herr Staatsanwalt“ genannt, und Ilse lachend: „Der Staatsanwalt soll gar nicht die Leute reinlegen und verurteilen. Er soll nur die Wahrheit rauskriegen.“ Conrads beinahe fröhliches Gesicht verfinsterte sich jetzt wieder. Die Wahrheit! Immer wieder die Wahrheit! Ja, die war das Kreuz ihrer Ehe gewesen. Das Schema des Gespräches war etwa so: Conrad: „Die Wahrheit sieht bei jedem Menschen anders aus. Außerdem ist sie nicht mitteilbar.“ Und Ilse: „Aber die Ehrlichkeit ist mitteilbar, und die sieht bei jedem Menschen gleich aus.“

Conrad stand auf. Es hatte keinen Zweck. Nur schnell fort, ehe Ilse mit der Asthmatischen fertig war. (Übrigens ein typisch psychogenes, seelisch bedingtes Asthma. Ilse, die Schulmedizingläubige, würde nie damit fertig werden.) Also: schleunigst fort. Verschwinden! Nie wieder auftauchen!

Natürlich wurde in diesem Augenblick die Sprechzimmertür geöffnet, und Ilse, die Hände in den Kitteltaschen, stand im Türrahmen. „Darf ich bitten“, sagte sie tonlos und ohne „den Patienten“ anzusehen Er interessierte sie nicht als Mensch, sondern nur als Kranker, also erst, wenn er die Schwelle zum Untersuchungszimmer überschritten hatte. So kam es, daß Conrad dicht an sie herantreten mußte, ehe sie ihn erkannte.

„Tag, Ilse“, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.

„Tag, Conrad“, antwortete sie und wurde erst rot und dann sehr blaß. Und beinahe hätte sie wie bei allen neuen Patienten ihre alte Redensart angewandt: „Was führt Sie zu mir?“ Sie musterte ihn verstohlen. Conrad? Dieser aufgedunsene ältere Herr mit den grauen Haaren, mit dem starren Lächeln, den zu weiten, aufgekrempelten Hosen, dem zu engen Röckchen konnte doch nicht Conrad sein! Sie faßte, ihn am Arm und führte ihn ins Zimmer. „Komm, setz dich, dir ist sicher nicht besonders. Das verdammte Hungerwasser. Ich habe drei, nein, vier solche Fälle in meiner Praxis.“

Conrad setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Ilse stand an der anderen Seite des Schreibtisches. „Wie geht es denn deinen drei, vier anderen Fällen?“ fragte Conrad. Und Ilse, die Hände schon wieder in den Taschen des Kittels, stotterte sachlich: „Ach danke ... es geht langsam, zu langsam. Du wirst es schneller überwinden. Hattest du nicht ein ziemlich robustes Herz?“

„Ja ... ziemlich robust. Das war mal“, sagte Conrad.

Ilse lächelte verlegen. War einmal, dachte sie schnell. War einmal. Vergangenheit! Vorbei! Vielleicht war nicht nur das Schöne von früher vorbei, sondern auch das Schreckliche. Aber nein ... er war ja nicht mit der Pelzmütze gekommen, mit der wattierten, schmutzigen Jacke, mit dem armseligen Bündel in der Hand, wie die anderen Rußland-Heimkehrer. Er war nicht gleich zu ihr gekommen, sondern ... Sie kniff die Lippen zusammen, die harte Falte zwischen Nasenwurzel und Mundwinkel war wieder da, und sie fragte, was sie gar nicht fragen wollte und was Conrad erwartet hatte: „Wie lange bis du schon da?“

Wenn’s nicht die Wahrheit sein kann, dachte Conrad, daß ich eigentlich täglich habe herkommen wollen und es nur nicht konnte, weil der saudumme Emmy-Brief zwischen uns stand, dann soll’s wenigstens mit Ehrlichkeit beantwortet werden: „Zwölf Wochen und vier Tage“, sagte er schnell, „du warst doch immer für Genauigkeit. Und ich wohne seit sechs Wochen bei Hannes Hohmann. Erinnerst du dich an ihn? Nein, richtig ... ich war immer nur zu Männerabenden bei ihm. Hannes Hohmann, der Architekt, ich erzählte dir. Der Werkmeisterssohn, der so stolz ist auf seine proletarische Abkunft und auf seine adlige Frau. Erinnerst du dich?“

„Ich glaube, ich erinnere mich“, sagte Ilse. Aber sie erinnerte sich nicht.

Sie kam jetzt auf die andere Seite des Schreibtisches. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Sie wollte endlich sagen, wie sehr sie sich freute, daß er wieder da war, daß er den Weg zu ihr gefunden hatte. Aber da waren diese zwölf Wochen und vier Tage. Über die konnte sie nicht wegspringen. Sie war nicht so leichtfüßig, so leichtsinnig wie ... nun wie die meisten anderen Frauen, und so sagte sie nur, mit einem rührenden Klein-Mädchen-Lächeln: „Schön, daß du entkommen bist. Es war wohl sehr schwer ... alles?“

„Ja, ich bin entkommen“, sagte Conrad und zog Ilse vorsichtig an sich. Er küßte sie leicht auf die Wange, mit einem Jungmädchenkuß, wie er ihrem Lächeln entsprach. Einen kurzen Augenblick lehnte sich Ilse an ihn. Er legte seinen Arm um ihre Schulter. Sie paßten in der Größe gut zusammen. Sie hatten oft darüber gescherzt, daß sie wenigstens in dieser Beziehung füreinander geschaffen waren. Aber dann machte sich Ilse verwirrt wieder los. Sie trat zwei Schritte zurück. Sie betrachtete ihn forschend, mit gekrauster Stirn.

„Sehr elegant bist du gerade nicht“, tadelte sie.

„Nein ... das ist eine Hose von Hannes, und das Hemd ist auch von ihm, und den Rock hat mir Bruhn, der erste Assistent, geschenkt. So was tragen Herren nicht, die einen Beruf haben.“

Ilse wollte sagen: Wenn du wegen der Sachen gekommen bist ... Aber Gott sei Dank, das schluckte sie im letzten Augenblick noch herunter. Ganz gegen ihre Gewohnheit. Denn eigentlich „muß“ man doch ehrlich seine Meinung sagen. Sie sagte vielmehr: „Das Schlimme ist ... es ist alles verbrannt. Ich weiß nicht, ob ich dir das schrieb.“

Nein, du schriebst es nicht, natürlich schriebst du es nicht. Du hast überhaupt nicht geschrieben, wollte nun Conrad sagen. Aber er war es von seinem Beruf her gewöhnt, vorsichtig zu sprechen, und so sagte er: „Ich dachte es mir. Ich habe mit nichts gerechnet.“

Ilse setzte sich auf die Ecke des Schreibtisches, die Beine leicht übergeschlagen, die Hände um die Fessel des rechten Fußes. Merkwürdig, dachte Conrad, sie hat immer noch dieselben Bewegungen, dieselbe Art zu sitzen. Mit wie wenig Gesten kommt der Mensch sein Leben lang aus!

„Es war nämlich so“, erzählte Ilse, „ich hatte alle deine Sachen in zwei Koffern verstaut. Luftschutzgepäck. Und meine Sachen in zwei andere. Aber auf die Dauer war das zu schwer. Dies Geschleppe. Drei Treppen rauf, drei Treppen runter. Zweimal, dreimal die Nacht. Wir schafften das einfach nicht.“

„Wer ist denn wir?“ fragte Conrad.

„Gerda und ich. Ach, richtig, die kennst du auch nicht, das heißt, du hast sie gesehen. Eben.“

„Deine Sprechstundenhilfe?“

„Meine Freundin. Wir haben alles zusammen durchgemacht. Na ja: es ging nicht mehr mit dem Geschleppe. Da haben wir deine Koffer unten gelassen. Viele haben das gemacht. Eigentlich alle.“

„Und da kam eine Bombe ... und heidiwitzka ... weg alles!“

Ilse seufzte: „Viel dümmer noch. Eines Tages habe ich die Koffer raufgeschleppt ...“

„Um die Sachen zu lüften und auszuklopfen“, sagte Conrad ganz ernst. Ilse sah ihn erstaunt an: „Woher weißt du das?“

„Fernsehen“, nickte Conrad freundlich, „ich kenne doch meine ordentliche Ilse.“ Er sagte wirklich „meine“ Ilse. Sie errötete wieder. Dann erzählte sie wichtig weiter: „Und an diesem Tage kamen die Flieger viel früher als sonst. Es war knapp dämmerig, und alle deine Sachen hingen noch auf dem Balkon. Der Alarm kam viel zu spät. Wir konnten nur noch unsere Koffer nehmen und runterrasen. Und ausgerechnet an dem Abend fielen die Brandbomben auf unser Haus.“

„Muß hübsch ausgesehen haben, wie meine Anzüge brannten“, lachte Conrad, „der blaue, der graue, der Reitanzug mit den Pepitahosen. Du nanntest mich Pepi, wenn ich ihn anzog. Der Smoking. Und einen Frack hatte ich ja wohl auch?“

„Ja, einen Frack hattest du auch“, sagte Ilse eifrig, „und am meisten leid tut es mir um den braunen Flanellanzug. Weißt du, warum?“

Conrad erinnerte sich nicht. Ein Schatten ging über Ilses Gesicht. Sie flüsterte: „Ist ja auch egal. Ist eben alles weg.“

„Gräm dich nicht“, sagte Conrad herzlich, zu herzlich, fand er plötzlich, und deshalb konnte er auch den dummen Witz nicht unterdrücken, der ihm jetzt einfiel: „Hoffentlich ist der Teppichklopfer auch mit verbrannt.“ Ilse sah ihn verständnislos an. „Der Teppichklopfer? Natürlich. Hattest du ihn besonders in dein Herz geschlossen?“

„Ich nicht“, sagte Conrad bockig. Aber Ilse verstand ihn auch jetzt nicht. Bei Witzen leitete sie langsam. Morgen oder übermorgen würde sie verstehen, wohin diese Frage zielte. Mit dem Teppichklopfer hatte sie doch natürlich den verfluchten Emmy-Brief herausgeklopft. „Jedenfalls war’s sehr nett von dir, daß du dich so lange um meine Anzüge gekümmert hast“, sagte er freundlich.

„Ach, es hat alles keinen Zweck“, seufzte Ilse, „ausgerechnet an diesem Tage mußten die Anzüge oben hängen! Aus dem Keller hätten wir sie noch herausgekriegt.“

„Ach, Ilse“, neckte Conrad, „Ordnung muß doch bekanntlich sein. Nur: die Ordentlichen werden nie belohnt.“

„Unsinn“, widersprach Ilse ernst, „nur weil ich ordentlich bin, habe ich meine paar Sachen gerettet. Und auch ein klein bißchen von dir. Das rohseidene Hemd, weißt du, und die silbergraue Flanellhose.“

„Eine silbergraue Flanellhose hatte ich?“ staunte Conrad, „war ich so fein?“

„Sehr fein warst du“, sagte Ilse ernst, „warte, ich hol’ gleich die Sachen. Du bleibst doch zu Tisch, nicht war?“

„Natürlich“, sagte Conrad, „wenn es euch recht ist.“

Ilse stand schon an der Tür: „Euch? Ach ja, ich muß es Gerda erzählen, daß du da bist.“ Und damit war sie draußen.

Conrad sah ihr lächelnd nach. So wild ist es also doch nicht mit der Gerda, dachte er. In der Aufregung hatte sie die Freundin vergessen. Ilse neigte früher zu heftigen Frauenfreundschaften. Frauen sind verläßlicher, pflegte sie angreiferisch zu behaupten. Er hörte Ilse draußen aufgeregt reden. Gerda schien leise zu antworten oder gar nicht. Conrad schaute blicklos vor sich hin. Dann plötzlich entdeckte er etwas Erstaunliches: Da neben den Rezeptblöcken stand im Silberrahmen sein Bild. Ach — so hatte er einmal ausgesehen? Er schaute in den Spiegel. „Erbarmungswürdig“, flüsterte er. Und berlinerisch: „Nee ... nee ... wat haben se bloß mit dir jemacht, Conni.“ Er sah wieder das Bild an. Unten in den Rahmen war ein gepreßtes Stiefmütterchen geklebt. Was bedeutete denn das? Und der Anzug mußte der braune Flanellanzug sein. Dr. Conrad Brederopp, der feine Herr von 1938, saß am Tisch eines Ausflugslokals. Dahinter ein Stückchen Wasser. Richtig: Schildhorn. Ein lustiger Vormittag. Sie waren zusammen aus der Praxis ausgerückt. Sie hatten draußen gefrühstückt. Sie hatten aus einer gackernden Blechhenne ein buntes Blechei gezogen mit scheußlichen Zuckerbonbons. Und nachher hatte Conrad ein paar Stiefmütterchen aus dem Beet des Restaurants gestohlen. „Weil das Schicksal dich immer so stiefmütterlich behandelt“, hatte er gesagt, als er ihr das Sträußchen reichte. Und Ilse: „Wenn es mit uns so bleibt, Conrad, will ich mich nie mehr stiefmütterlich behandelt fühlen.“ Und Conrad gerührt: „Ach, Ilseken ... man darf dem Schicksal keine Bedingungen stellen. Da wird es leicht böse.“ Merkwürdig. Er konnte dieses Gespräch wörtlich wiederholen. Eine seltsame Sache, das Gedächtnis. Was man so vergaß und was man behielt: den etwas fauligen Geruch der Havel bei Schildhorn, die alberne Blechhenne, die gestohlenen Stiefmütterchen und Ilses glückliches Lächeln.

Er wandte sich um, Ilse war wieder eingetreten. Er hielt den Rahmen hoch: „War mal ein netter junger Mensch.“

„Ja“, sagte Ilse streng, nahm ihm das Bild aus der Hand und stellte es mit einem Ruck auf den Schreibtisch zurück. Aha, dachte Conrad, Gerda, die spitznäsige, hat Ilse daran erinnert, was ich ihr „angetan“ habe. Verstehe. Wenn auch der gedunsene Mensch hier mit dem heiteren Herrn auf dem Bild nichts zu tun hat: die Schulden des heiteren Herrn muß er doch bezahlen. Und in der Erinnerung bleibt nur das Böse. Das Gute wird vergessen. Wenigstens zwischen Ehepaaren. Psychologische Grundgesetze der Ehe ... darüber hatte Dr. Conrad Brederopp, jener Herr im Silberrahmen, einen vorzüglichen Aufsatz geschrieben.

„Meine ungesammelten Werke sind wohl auch verbrannt?“ fragte er. Ilse nickte. Er streichelte ihr tröstend über das glatte Haar des Hinterkopfes (vorn trug Ilse konservativ zwei Büschel von Locken, mühsam gepflegte, und sie hatte es nicht gern, wenn man über diese Locken strich). „Schadet nichts. Die Aufsätze stimmen, trotzdem sie verbrannt sind. Leider.“ Ilse sah ihn verständnislos an: „Das Rätselreden hast du dir immer noch nicht abgewöhnt“, tadelte sie. Und Conrad: „Ich dachte an einen Aufsatz, den Titel weiß ich nicht mehr: Aber das Motiv war aus Julius Cäsar, Rede des Mark Anton, erinnerst du dich?“ Ilse schüttelte den Kopf.

„Was Menschen Übles tun, das überlebt sie,Das Gute wird mit ihnen oft begraben.“

„Das Essen ist gleich fertig“, sagte Ilse.

„Fein“, antwortete Conrad.

3

Zwei Bilanzen

Eine Stunde später trat Conrad aus der Tür des Backsteinhäuschens. Er trug über dem Arm eine gutgebügelte Flanellhose und, in Seidenpapier gewickelt, mit Stecknadeln zugesteckt, das rohseidene Hemd. Das Hemd hätte ihm übrigens noch gepaßt. Denn am Hals war er nicht dick geworden. Aber die Flanellhose war über seinem aufgeschwemmten Bauch nicht zuzuknöpfen. „Puh“, seufzte Conrad und begann die Straße hinunterzumarschieren. Ein prachtvoller Abschied an der Wohnungstür! Conrad: „Werden wir uns wiedersehen?“ Ilse, mit nachdenklich gekrauster Stirn, während ihre Hände vergeblich nach den Taschen des Arztkittels suchten: „Natürlich ... ich muß mich ja um dich kümmern.“ Und Conrad: „Reizend von dir, aber ich komme schon durch.“ Das hätte er nämlich nicht sagen sollen. Aber wenn er irgend etwas haßte, so war es Ilses treudeutsches Pflichtbewußtsein. „Ich muß mich um dich kümmern.“ Das hieß, ich kann dich nicht verkommen lassen. Wenn du allein bist, machst du Dummheiten. Vielen Dank, nein.

Conrad bemerkte, daß er in die falsche Richtung gegangen war. Seufzend drehte er um. Er hob einen Stock auf und ratschte über die gußeisernen stumpfen Lanzen der Zäune. Zu komisch, daß diese wehrhaften Zäune nicht eingeschmolzen sind, diese sinnlosen Palisaden, über die selbst greise Einbrecher im Schlußsprung hätten herüberhüpfen können. Der zäheste Teil jedes Volkes sind die Kleinbürger. Kein Weltuntergang kann sie vernichten. Conrad bog jetzt in eine Seitenstraße ein. Jetzt noch mal an dem Haus vorbeigehen? Nein, vielen Dank. „Komm doch gelegentlich vorbei“, hatte Ilse gesagt. „Gelegentlich.“ Nun, vielleicht würde sich eine Gelegenheit finden. Vielleicht auch nicht. Dann war diese Gerda schuld. Wie sie dagesessen hatte! Jeder Zoll diskretes Schweigen. Mißtrauisches Hin- und Hergucken. Ilses glückliche Augen ... strafender Blick Gerdas. Und ganz fix erlosch das Leuchten wieder. Dabei war es ganz lustig und vergnügt gewesen. Warum? Sie hatten doch nur von schrecklichen Dingen gesprochen. Na ja ... wieder mal Goethe: „Ausgestandenes Ungemach hat einen eigentümlichen Reiz.“ Von weitem gesehen, war es doch ziemlich komisch, daß Conrad Holzfällen gelernt hatte, Bäume sägen und Baracken bauen. Mit rostigen, verbogenen Nägeln, wie der brave Hausherr aus „Heimchen am Herd“. Und die Theatergruppe im Lager 7. „Sommernachtstraum“ mit dem O-beinigen Otto als Thisbe. Und wie die Plennis nach den zerlumpten Weiberkleidern der Thisbe geschaut hatten. Und wie sie das Frühlingsfest gefeiert hatten, die ganze Baracke voll Anemonen und Krokus. Und Gerhart, der Gymnasiast, hatte Rilke rezitiert mit rollenden Rs. Und Fritz, der Schauermann aus Hamburg, hatte gerufen: „Schnall dir mal deine verdammten Rs als Rrrollschuh unter die S-tiefel und verschwinde.“ Komische Geschichten das alles. Heitere Erinnerungen. Und Ilse hatte auch heitere Erinnerungen beigesteuert.

Ilse mit Feuerwehrhelm und Trainingsanzug, mit rußgeschwärztem Gesicht, nachdem sie bei einem Angriff das Feuer im Dachstuhl gelöscht hatte, toderschöpft als Brandwache auf dem lädierten Boden des Hauses schlafend und als Kopfkissen den dicken Bauch des Herrn Grigowski, des Hausbesitzers, benutzend, der gleichfalls friedlich schnarchte, während der Novemberregen durch das offene Dach auf die beiden herabrieselte. War das etwa nicht zum Lachen? Oder die kleinen Festlichkeiten, wenn die Angriffe vorüber waren? Unten im Atelier des Bildhauers Plehn (du kennst ihn doch noch? Ein schöner Mensch, wurde leider von seinen Statuen bei dem großen Angriff erschlagen). Aber die Feste in der Morgendämmerung waren von albernster Lustigkeit erfüllt. Eine kleine Spanne Leben war wieder allen geschenkt, eine makabre Heiterkeit. „Nie habe ich Ilse so übermütig gesehen wie damals“, berichtete Gerda. Und die Flucht: Ende April 1945. Auf Fahrrädern, die Koffer hinten drauf, quer durch die mecklenburgischen Wälder, quer durch den Krieg. Eine seltsame Nacht irgendwo in einem Tannendickicht an einem kleinen Holzfeuer mit Versprengten zusammen. Zerlumpten, gefährlich aussehenden Burschen, die vielstimmige Heimatlieder sangen. Und die Ankunft in Hamburg zwei Tage vor der Kapitulation. Zwei dreckige, erschöpfte, hungrige Frauen. Pummlich — denn jede hatte unter dem Trainingsanzug vier Sommerkleider angezogen. Und die ersten Wochen in einem Trümmerkeller. „Zu zweit ist eben alles zu ertragen“, schloß Gerda und empfahl sich diskret. Und Ilse lachte hinter ihr drein, ihr herzliches Lachen, ihr Friedenslachen von damals. „Schön, wie du lachen kannst“, sagte Conrad. Und da war sie sofort ernst. Abweisend. „Da sind wir ja beide ganz hübsch durch die Mühle gedreht“, versuchte er, „und nachher wieder zusammengesetzt, nicht wahr?“ Das war der Augenblick, in dem Ilse nur die Hand auszustrecken brauchte. Sie saß ihm gegenüber. Sie brauchte nur zu sagen: Ja ... ganz neu zusammengesetzt, und wenn in den Bränden auch viel Gutes verbrannt sein mag ... das Schlechte ist bestimmt ganz ausgebrannt, zerschmolzen, nicht mehr zu erkennen. Sie sagte aber: „Dann fängt man wieder neu an, und nach einer Weile sieht man: wir sind doch alle dieselben geblieben.“

„So ... du bist geblieben, wie du warst?“ fragte Conrad schon ziemlich böse. Und Ilse höchst töricht: „Innen natürlich. Warum sollten solche Dinge den Menschen in seinem Kern berühren?“

„Vorzüglich“, sagte Conrad, und er wollte hinzusetzen: Die Vorzüglichen brauchen sich ja auch nicht zu ändern. Aber lieber stand er auf und sagte, daß er gehen müsse.

Conrad blieb jetzt an einer Haltestelle stehen, gleich mußte die Bahn kommen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Eine fast angenehme Ohnmacht. Wäre ganz schön, wenn es noch ein bißchen dunkler würde und ganz dunkel bliebe, dachte er. Aber weil gerade die Bahn heranschepperte, gab er sich einen Ruck. Es wurde wieder hell. Es war wieder ein sonniger Frühherbsttag. Er stieg ein. Er setzte sich schwerfällig. Nee, dachte er, wenn man dem Stacheldraht entkommen ist, wird man ja wohl auch darüber wegkommen, daß eine Frau albern und hartherzig ist und vorzüglich. Ach, wie vorzüglich!

*

Ilse, die vorzügliche, saß noch am unabgeräumten Mittagstisch. Die spitznasige Gerda neben ihr hatte den Arm zärtlich um sie gelegt und flüsterte eindringlich: „Ich verstehe natürlich, daß du weinst. Weine nur ruhig, obwohl man um Männer nie weinen soll.“

„Du hast nicht gesehen, wie traurig er aussah“, seufzte Ilse, „armselig und hilfsbedürftig.“

„Wer sagt dir denn, daß du ihm nicht helfen sollst?“ flüsterte Gerda weiter. „Natürlich wirst du. Ich kenne doch dein gutes Herz. Ein zu gutes Herz, Ilse.“

„Er ist krank, Gerda, schlimmer als Polisch und Grasemann. Und ich weiß noch nicht, ob ich Grasemann durchkriege, und eigentlich hätte ich ihm sagen müssen ...“

Gerda stand etwas brüsk auf. Sie strich den braunen Faltenrock zurecht, eine Geste, mit der sie Zorn und Verachtung auszudrücken pflegte. Sie begann, die Arme untergeschlagen, auf und ab zu gehen mit kleinen zierlichen, wiegenden Schritten. Sie sagte kalt: „Herzlichen Dank hättest du sagen müssen, daß du dich überhaupt noch daran erinnerst, mit wem du verheiratet bist. Wirklich reizend von dir nach zwölf Wochen. Darum wollen wir auch schnell alles vergessen.“ Und indem sie sich blitzschnell umwandte: „Ich will dir was sagen. Ich habe mir das genau überlegt. Ich nehme mir ein Zimmer und suche mir eine andere Stellung.“

Ilse blickte erstaunt auf. Sie sah in das wildentschlossene, hübsche Gesicht ihrer Freundin: „Du? Warum willst du denn wegziehen?“

Gerda blaffte: „Hat er dir nun endlich diese Geschichte mit der verliebten Emmy erklärt? Natürlich — kein Wort. Ist ja nicht nötig. Mein geliebter Conrad ... in Ewigkeit Deine Emmy. Da braucht man ja auch nichts zu erklären. Darüber kann man mit einem kleinen, traulichen Lächeln hinweggehen. Man ist ja krank. Man hat so viel durchgemacht. Herzlich willkommen!“

Ilse lächelte: „Du — beinahe hätte ich das wirklich gesagt. Aber es wäre wohl dumm gewesen. Wie?“

Gerda blieb mit einem Ruck vor Ilse stehen. Sie sah in diesem Augenblick wunderhübsch aus, schlank, schmal, sehnig in ihrem kaffeebraunen Rock mit dem heliotropfarbenen Pullover. Sie lachte herrisch und herzlich zugleich: „Warum sollte das dumm gewesen sein? Du bist ja fest entschlossen nachzugeben. Schwamm drüber! Die Männer haben viel mitgemacht. Und wir gar nichts. Da muß man ihnen doch verzeihen. Da muß man an der gleichen Stelle wieder anfangen, an der man aufgehört hat. Ich verstehe gar nicht, warum du ihn nicht gleich dabehalten hast. Doch nicht etwa meinetwegen? Ich bitte dich dringend, auf mich keine Rücksicht zu nehmen. Männergeschichten gehen immer vor. Das ist doch selbstverständlich.“

Damit lief sie aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Sie knallte auch die Flurtür ins Schloß. Sie raste die Treppen hinunter. Ilse beugte sich aus dem Fenster und rief ihr nach. Aber Gerda winkte ärgerlich ab, lief hinter der gerade anfahrenden Straßenbahn her, schwang sich hinauf und war verschwunden.

Seufzend ging Ilse ins Sprechzimmer. Sie griff nach dem Silberrahmen auf dem Schreibtisch und starrte die Fotografie Conrads an. Wie hatte Conrad gesagt? Ein netter junger Mann. Ganz falsch. Ein hübscher, ein sehr hübscher junger Mann war er gewesen. Aber nett? Ilses Mutter, die Pastorin Kempe, die so gar nicht pastörlich und salbaderisch dachte, hatte ihr gleich gesagt: „Er ist reizend. Aber du wirst viel Schmerzen um ihn haben.“ Ilse hatte sie gefragt: „Würdest du ihn heiraten, Mutter?“ Und die Pastorin lachend: „Es ist ungehörig, eine solche Frage an eine fünfundsechzigjährige Pastorin zu richten. Denn wenn ich ihn liebte, müßte ich ihn doch anstandshalber heiraten.“ Hierauf Ilse wieder „Das heißt also ... da ich keine fünfundsechzigjährige Pastorin bin: ich soll ihn lieben und nicht heiraten.“ Die Pastorin Kempe schlug mit einer Zeitung nach ihr: „Wie kannst du deiner Mutter solche Ratschläge zumuten?“ Ja ... das war die listige Art der Pastorin Kempe, ein Urteil abzugeben und gleichzeitig das Urteil abzulehnen. Aus dem Kempischen ins Deutsche übertragen, hieß der Ratschlag natürlich: Tu dich mit ihm zusammen. Aber heirate nicht.

Ich sollte zu Mutter fahren, dachte Ilse, aber dann wußte sie schon, was die Mutter sagen würde: „Du hast doch gewußt, wen du heiratetest, und nun bist du verheiratet.“ „Man muß also dann alles ertragen?“ fragte Ilse über die Ferne weg. Und sie hörte die Antwort der heiteren, alten Frau: „Alles nicht. Aber wenn man das Gute eines Menschen nimmt ... ach, wir haben alle unsere Schattenseiten.“

Ilse stellte endlich das Bild Conrads wieder weg. Sie liebte wohl ihre Mutter. Aber sie stimmte mit ihren Lebensanschauungen, mit dieser hemmungslosen Liberalität, mit diesem „Alleszumbestenkehren“ nicht überein. Mit dem Versuch, in ihrer Ehe alles zum Besten zu kehren, war sie, Ilse, ja elend gescheitert. Wieviel hatte sie immer wieder übersehen! Diese Schar der verehrenden Patientinnen, diese ewig himmelnden Frauenzimmer, diese stundenlangen psychologischen Beratungen über erotische Sonderbarkeiten. Ekelhaft! Nicht einen Augenblick hatte sie sich Conrads sicher gefühlt, nicht einen Augenblick durfte sie in seiner Liebe ausruhen. Immer war diese Luft einer parfümierten Begehrlichkeit um ihn. „Das gehört nun mal zu meinem Beruf“, hatte Conrad gesagt, und Ilse hatte geantwortet: „Und warum hast du kaum männliche Patienten, wenn ich fragen darf?“ Und Conrad spöttisch: „Aus Gründen der natürlichen Anziehung der verschiedenen Geschlechter.“ Und Ilse: „Dir ist dein Beruf eben nicht ernst. Immer diese Spielerei. Bis das Malheur da ist.“

Und dieses war’s, was sie am meisten erschreckte, was sie hinderte, die Hand auszustrecken, in dem Augenblick, in dem es nötig war: das Spielerische, das Spöttische, das ihr so viel Kummer gemacht, das ihre Ehe so unglücklich gemacht hatte, das war aus seinem Wesen nicht ausgelöscht. Nicht durch alles Unglück, nicht durch alle Trennung verbrannt und verbannt. Und er wußte nicht einmal, was er ihr angetan hatte. Es war doch nicht nur dieser anbeterische Brief von Emmy. Es war, daß er sie nie verstanden, nie geliebt hatte. Und jetzt war sie gut genug, ihn wieder aufzunehmen. Ihn gesund zu pflegen, und alles würde so weiter gehen wie früher. Seine Zerstreutheit, seine Lieblosigkeit, seine Unaufmerksamkeit ... und die Scharen der flüsternden Damen mit den feuchten, begehrlichen Augen in seinem Sprechzimmer. Und dann plötzlich seine überströmende Herzlichkeit, seine Nettigkeit, wenn es ihm gerade einfiel und recht war. Nein, danke. Sie war kein Gegenstand, den man sich nahm und wieder wegstellte. Sie brauchte gleichmäßige Wärme, Sicherheit. Schrecklich, sich vorzustellen, daß die vier Ehejahre sich noch einmal wiederholen sollten, ins Unendliche verlängert.

Es klingelte. Sie mußte zur Tür gehen und öffnen. Es waren sicher schon die ersten Patienten der Nachmittagssprechstunde. Sie lief hinaus. Aber nein ... Gerda war zurückgekehrt. In ihrem gutgeschnittenen, schneeweißen Kittel öffnete sie und ließ die Patientin eintreten. Gerda, die zuverlässige. Ilse lief auf sie zu. Sie umarmte die Widerstrebende. Sie sagte zärtlich: „Ja — auf dich kann man sich verlassen. Du bist da, wenn man dich braucht.“ Gerda lächelte wehmütig: „Die Verläßlichen werden eigentlich nie gebraucht. Unverläßlich muß man sein ... wie ein Mann.“

Beide lachten. „Weißt du“, sagte Ilse eifrig, „es war nur im ersten Augenblick so merkwürdig. Er war so verändert. Du weißt ja, im Grunde ist er begabt und bedeutend, und ich dachte: Wenn man geliebt hat, kann man vielleicht wieder lieben.“

„Liebe ist eine unheilbare Krankheit“, seufzte Gerda, „aber es nützt nichts, zu lieben. Man muß geliebt werden.“

Merkwürdig, dachte Ilse, das habe ich auch immer gedacht. Aber ich glaube, so wie Gerda das sagt, ist es nicht richtig. Sie kann nur nicht lieben, die Arme. Und ich? Ich könnte wohl lieben, aber ich kann auch nicht. Es hat keinen Sinn. Sie sagte aber: „Du hast recht, Gerda, man darf nicht sentimental sein. Sonst wird man untergebuttert, und, nicht wahr, du bleibt bei mir? Oder willst du mir auch untreu werden?“

Gerda sah ihre Freundin mit einem kalten, prüfenden Blick an. Sie sagte: „Sei nicht leichtsinnig. Überlege dir genau, was du sagst. Versprich nicht, was du nicht halten kannst. Wenigstens unter Frauen muß Verläßlichkeit herrschen.“

„Nein, nein“, wiederholte Ilse, „ich weiß schon, was ich sage: Du sollst bei mir bleiben, das andere ist vorbei. Endgültig vorbei.“

„Tut es dir leid?“ fragte Gerda. Ilse starrte vor sich hin. Ja, es tat ihr leid. Es tat ihr weh. Aber es war ja nicht zu ändern. Und darum schüttelte sie den Kopf und sagte: „Nein — es tut mir nicht leid. Es war nur aufregend. Das verstehst du doch?“

„Ich verstehe alles“, sagte Gerda, „außer wenn Frauen den Männern nachlaufen. Das gehört sich nicht.“

Ilse wollte noch etwas erwidern. Aber es klingelte gerade wieder. Eine neue Patientin kam, wurde herzlich begrüßt und ins Wartezimmer geführt, und Gerda sagte mahnend: „Na, los ... tun wir was. Das ist immer das Beste.“

4

Begegnung nach dem Kino

Hilla Hohmann und Conrad kamen aus einem Kino. Es war schon Anfang Oktober. Vollmond. In dem silbrigen Schein leuchteten gedämpft die Herbstblätter der Alleebäume, der Linden, Platanen und Kastanien, die viel zu groß geworden waren für die kleinen Vorgärten, zu groß für die Häuser, die hinter den breiten Stämmen verschwunden waren. „War das wieder ein Blödsinn!“ seufzte Conrad, „anderthalb Stunden Augen verdrehen, seufzen, Tränen ... um was? Um gar nichts.“ Hilla hakte ihn vertraulich unter. Sie sagte: „Wirklich saublöd. Aber immerhin ging’s um das wichtigste Thema dieser Welt: um das Mißverständnis!“

„Für euch ist es vielleicht noch wichtig“, brummelte Conrad, „ich hab’s hinter mir.“

„Sicherlich“, sagte Hilla geduldig, „aber wir anderen armen Erdenbürger müssen zuweilen daran erinnert werden, daß die Hälfte alles Leides aus dem Mißverständnis kommt.“

Conrad sah sie von der Seite an. Was für ein schönes, gradliniges Profil! Was für eine kluge, faltenlose Stirn! Und die ruhig glänzenden, großen, braunen Augen, die gewohnt waren, alles Schöne dieser Welt aufzunehmen und selbst daß Häßliche in Harmonie zu verwandeln.

„Ein Schmarren ist ein Schmarren“, sagte er heftig, „und man kann daraus nicht tiefsinnige Gedanken ziehen.“

„Warum eigentlich nicht?“

„Warum nicht, warum nicht“, wütete Conrad, „ich kann es jedenfalls nicht. Ich sehe einfach rot. Ein vernünftiges Wort von einem der beiden zur rechten Zeit gesprochen ... und die Sache wäre in Ordnung, der Film zu Ende.“

„Hm“, resignierte Hilla. Es hatte also nichts genützt, daß sie Conrad in diesen langweiligen Film geschleppt hatte. Er sah nicht, daß er ihn etwas anging. Daß er dieses eine Wort sprechen sollte, sprechen mußte, um seinen „Film des Mißverständnisses“ zu beenden. Höchst merkwürdig, daß die Menschen aus ähnlichen Fällen nichts lernen können! Bei ihnen liegt „ja alles ganz anders“. Oder gar durch die Schmerzen anderer belehrt werden? Nein — sie wollen ihre eignen Schmerzen, ihr sinnloses Leid tragen.

„Außerdem sind Sie für Mißverständnisse gar nicht zuständig“, sagte Conrad jetzt herzlich, „Sie verstehen alles.“

Hilla nickte: „Ich bin auch so glücklich, wie man es auf dieser unverständlichen Erde sein kann und darf.“

„Also doch nicht ganz glücklich“, stellte Conrad befriedigt fest.

„Nein ..., Sie Kindskopf, ich habe nämlich die Welt nicht gemacht. Nach meinen Plänen gebaut, würde sie anders aussehen.“

Sie waren vor dem Hohmannschen Hause angekommen. Hilla blickte zu ihren Zimmern hinauf. Es war alles dunkel, und ein Schatten zog über ihr Gesicht. „Hannes ist noch nicht zu Hause“, stellte Conrad fest. Hilla nickte: „Da kann ich noch den Kindern schreiben. Wenn Hannes da ist, darf ich nämlich nichts tun.“ Er sah sie erstaunt an: „Dürfen? Dürfen? Ich denke, Sie sind ein freier Mensch?“

Hilla lachte: „Wer hat Ihnen denn so was Blödsinniges erzählt? Ich ... bin verheiratet.“

„Und Hannes?“

Sie streckte ihm herzlich die Hand entgegen: „Ich hätte Lust, mit Ihnen noch einen Tee zu trinken. Aber die Kinder müssen jeden Mittwoch ihren Brief haben, sonst sind sie enttäuscht. Und Kinder darf man nicht enttäuschen. Schlafen Sie gut.“

„Ich werde noch ein bißchen im Atelier auf und ab gehen und über das Mißverständnis nachdenken“, sagte Conrad, und Hilla: „Aufundabgehen ist gut. Aber nachdenken? Ich weiß nicht, was dabei herauskommen sollte. Ihr Herz weiß ja Bescheid.“

„Weiß nicht, ob ich ein Herz habe“, wehrte Conrad ab, „aber ich weiß, daß die Menschen nichts gelernt haben und so dumm sind wie vorher.“ Er wandte sich zum Gehen, aber Hilla hielt ihn am Arm fest:

„Die Menschen sind gar nicht so dumm, Conrad. Sie zum Beispiel bestimmt nicht, und Ihre Ilse auch nicht. Es verlangt nur jeder vom anderen die Vollkommenheit. Und kein Mensch ist vollkommen.“

„Doch ... Sie sind vollkommen, Hilla. Sie ... ja.“

„Sehr ehrenvoll, Conradin. Aber wenn Sie jetzt im Atelier auf und ab gehen, versuchen Sie den Vollkommenheitswahn loszuwerden. Das ist vernünftiger, als über das Mißverständnis zu grübeln. Gute Nacht!“ Damit ging sie ins Haus.

Conrad bummelte, die Hände in den Hosentaschen, durch den mondhellen Garten. Es war kühl. Unten im Flußtal stand der Nebel wie eine dicke Wand. Die Dampfer heulten. Er betrachtete die vom Mondlicht gepuderten Dahlien. Eine große, dunkelrote brach er ab und steckte sie in den Aufschlag seines schäbigen Jacketts. Sie sah aus wie ein roter, zerfranster Luftballon. Ihn fröstelte. Die Frage des Wintermantels wurde allmählich dringend. Wie bitte? Dringend? In Rußland hatte er bei dreißig Grad Kälte nur seinen zerlumpten Soldatenmantel, und hier bei vier Grad, sieben Grad Wärme dachte er an einen Wintermantel. Albern. An einen Wintermantel war nicht zu denken. Basta. Aber an einen Dahlienstrauß. Genießerisch wählte er die Farben. Wenn ich weniger rauche, dachte er, könnte ich mir einen Tuschkasten kaufen und ein bißchen vor mich hinpinseln. Als Student hatte er einmal Malstunden genommen. Seine Lehrerin, ein blondes, zwitscherndes Fräulein, hatte ihn für ein Talent erklärt. Warum also jetzt nicht ein paar Blumen tuschen? „Na, warum wohl nicht?“ brummelte er nach Art der Einsamen vor sich hin. „Weil du deine dreizehn Mark achtzig verqualmst und niemals die drei Mark achtzig für einen Tuschkasten aufbringen wirst. Sehr einfach. Du hast keine Energie mehr, mein Bester, keinen Funken. Und nur Wasser in den Adern. Wasser. Wasser.“

Mit einem Ruck stieß er die Tür zum Atelier auf. Er blieb unwillig stehen. Auch das noch! An einem der großen Arbeitstische saß jemand. Die gebogene, silberne Arbeitslampe warf einen grellen Schein auf den Tisch. Nicht zu erkennen, wer da zeichnete.

„Guten Abend“, sagte Conrad, „bitte, sich nicht stören zu lassen.“ Er durchquerte schnell den Raum. Hinter der Lampe erhob sich die junge Zeichnerin Christina Keller. Er kannte sie flüchtig. Er kannte durch die Geschwätzigkeit von Hannes ihr Schicksal ziemlich genau. Gutsbesitzerstochter aus Mecklenburg. Familie totgeschlagen. Russen. „Hoffentlich störe ich Sie nicht“, sagte Christina von ihrem Tisch her, „ich habe noch ein bißchen nachzuarbeiten.“

„Zeichnen macht ja keinen Lärm“, sagte Conrad nett. Er legte die rote Dahlie aus seinem Knopfloch auf ihren Tisch. „Ich habe gestohlen, und davon sollen Sie was abhaben.“

„Danke“, sagte Christina, „was für eine schöne Dahlie.“

In der Lampendämmerung erschien ihm ihr Gesicht madonnenhaft lieblich. Nein: das Gesicht war zu groß für eine Madonna. Langgestreckt, pferdeähnlich, mit Schatten, die von innen kamen. Viel zu lange hatte Conrad sie schon angeschaut. Er wandte sich schnell: „Von mir aus können Sie auch singen oder pfeifen, mich stört es nicht. Ich habe nämlich nichts zu tun.“

„Vielen Dank“, sagte sie, „ich pfeife nicht.“

„Dann ist ja alles in bester Ordnung“, schloß Conrad, betrat sein Zimmer und machte die Tür mit einem ärgerlichen Ruck hinter sich zu. Ja — er war ärgerlich. Was sollte dieses indiskrete Geschwätz? Nur weil er ihr Schicksal kannte, nur weil sie ihm leid tat, hatte er ihr die Dahlie geschenkt. „Man muß nett mit ihr sein“, hatte Hannes großmütig gesagt. Gut! Gut! Aber mußte er nett sein? Sie hatte schlimm bezahlen müssen. Er auch. Jeder mit dem, was er hat, dachte er zynisch. Ich mit meiner Gesundheit und wahrscheinlich mit meiner Existenz und sie ... na ja. Kein Grund, miteinander zu schwätzen oder Blumen zu verschenken. Außerdem war es lästig, daß sie im Atelier saß. Nun war er in seiner engen Kammer eingesperrt.