Das fiebernde Haus - Walther von Hollander - E-Book

Das fiebernde Haus E-Book

Walther von Hollander

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Beschreibung

Manfred Urk, Dr. med. und Dr. jur., ist aus der Provinz nach Berlin zurückgekehrt. Drei Jahre hat er dort zurückgezogen gelebt und am Ende seine Frau beerdigen müssen. Drei Jahre des Stillstandes nach zuvor drei Jahren des Erfolges. Jetzt, 36-jährig, kehrt er vorsichtig nach Berlin zurück. Natürlich geht das nicht ohne eine Unterkunft. Nach einigen vergeblichen Versuchen kommt er in einem typischen Berliner Mietshaus im Westen der Stadt unter. Es ist ein eigenartiges Haus, dessen Bau eine Generation zuvor beinahe gescheitert wäre. Es scheint seinen Menschen Unglück zu bringen. Die Leben, an denen Urk hier unweigerlich teilnimmt, sind nicht von der Art, Licht und Freude in sein Leben zu bringen. Dennoch führen gerade sie ihn ins Leben zurück. ",Lasst uns das Leben erlernen', sagte Urk. Er atmete tief auf, denn der Wind hatte wieder eine Welle von Düften mitgebracht. Viel Erde war darunter, nach der Urk sich sehnte. Aber zunächst musste er hier bleiben."-

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Walther von Hollander

Das fiebernde Haus

Saga

Das fiebernde Haus

© 1926 Walther von Hollander

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711474525

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I

Gerade als Manfred Urk, von der Kurfürstenstrasse kommend, in die Lutherstrasse einbog, verkroch sich die Märzsonne hinter einer dunklen, tiefziehenden Wolke. Vor dem Wolkenschatten lief ein staubiger Windstoss einher, wirbelte ein paar Papierfetzen und Apfelsinenschalen auf und klappte einige lose eingehakte Fenster lärmend zu. Mit zusammengekniffenen Augen, die breiten Lippen, die meist blässlich aus dem Bartgestrüpp leuchteten, ganz nach innen gezogen, die Hände tief in die Taschen gestopft, blieb Urk stehen und drehte dem Staub langsam den Rücken zu. Eigentlich, dachte er und sperrte seine Nase gegen Staub und Gestank zu, sollte ich das als Vorbedeutung nehmen und umkehren.

Er sah sich um. Ein paar Bäume standen wohl da, eine Kastanie zeigte sogar springbereite Knospen. Sonst aber sah die Strasse recht trostlos aus. Aber würde es anderswo besser sein? Seufzend kramte er den Zettel heraus, den er auf dem Zimmernachweis bekommen hatte. An sieben Stellen war er bereits gewesen, drei waren noch zu erledigen.

Urk redete sich gut zu. Diese eine Adresse wenigstens noch. Gut, ja, dann wolle er Schluss machen. Es sei gewiss halb fünf. Vier Stunden Pflaster treten und sieben teils devoten, teils unverschämten, immer aber indiskreten Vermieterinnen davonlaufen — natürlich sei das zuviel für einen Nachmittag.

Urk gab sich einen Ruck und ging weiter. Da das rote Ziegelhaus? Himmel, wie ungewaschen! Ach nein — das war es ja gar nicht. Das gelbgraue Haus, dieses gewöhnliche Berliner Westen-Haus aus rohen Ziegeln mit einem Mörtelverputz, der wie Sandstein aussehen sollte.

Urk klingelte und musste warten. Er klingelte nochmals. Endlich sprang die Tür auf. Eine grobe Männerstimme fragte brüllend, wohin er wolle. Er konnte nicht entdecken, woher die Stimme kam, und blieb deshalb belustigt stehen. Rechts und links waren glatte Wände aus grauem Marmorersatz, dann kamen grosse Spiegel, deren Scheiben durch erstaunliche Messingwürmer unterbrochen wurden. Hinter Spiegel und Wand konnte kaum der Schreier hausen. Endlich lenkte neues Gebrüll seine Augen richtig. In einer Treppenstufe war ein winziges Spiegelfenster angebracht, und durch dieses Fenster konnte der Pförtner den Eintretenden unauffällig beobachten oder auffällig anschreien.

Diese etwas hinterlistigen Einrichtungen, stellte Urk treppensteigend fest, machen das Haus nicht sympathischer. Er war überzeugt, dass er nicht mieten würde, klingelte aber doch bei Bermanns im dritten Stock.

Natürlich kam es dann anders. Die Zimmer waren in ihren Ausmassen angenehm. Das Arbeitszimmer weit und hoch mit einem Erker der Strasse zu, das Schlafzimmer ziemlich klein und einfenstrig mit einem Blick in einen nicht ganz baumlosen Hof. Nun, man würde alles umstellen, Schlaf- und Arbeitsgelegenheit tauschen. Die Wände waren blau und bronzebraun gestrichen, zwei Farben, denen Urk zugeneigt war, und dass die Möbel mit sinnlosen Auswüchsen, Aufsätzen und Geschwülsten, mit Gesimsen und Gestellchen geschmückt waren, das war nichts Besonderes, das musste man als möblierter Herr mit in Kauf nehmen, dem konnte man ebensowenig entgehen wie den Menschen der Generation, die diese Möbel ersann, kaufte und um sich aufstellte.

Bestechend für Urk war die Tatsache, dass zu den Zimmern ein besonderes Badezimmer gehörte (natürlich mit dem in Berlin üblichen eingebauten W. C.). Vor allem aber wurde er durch die Unterhaltung mit Frau Bermann gewonnen.

Da war nicht das vermaledeite Wirtinnengetue: „Wir vermieten zum Spass.“ Da war nicht die Frage nach Beruf und Länge des Aufenthalts (Fragen, die Urk gar nicht beantworten konnte). Da war vor allem nicht das freche oder lüsterne Gespräch über „verbotenen Damenbesuch“. Kaum, dass Urk dazu kam, seine Wünsche präzis zu äussern. Sie sei zwar Provinzlerin von Geburt, sagte Frau Bermann ruhig und setzte sich etwas zaghaft auf einen Stuhl, sicherlich seien auch ihre Überzeugungen provinzlerisch, aber sie verlange nicht von ihren Mietern provinziellen Lebenszuschnitt. Selbstverständlich sei es nicht ihre Sache, wer in den Räumen des Herrn ein- und ausgehe. Auch könne sie keine bestimmten Tageszeiten als unsittlich empfinden. Lärm allerdings könne sie nicht vertragen. Auch werde Herr Urk sicherlich gerne dem Rechnung tragen, dass sie eine fünfzehnjährige Tochter habe, und alles das mit Vorsicht tun, was ein so junges Mädchen besser nicht beobachten solle. Die Tochter käme allerdings erst in vier Wochen, aber schon heute müsse man sich natürlich über diese Dinge einigen. Im übrigen sei ja im vorderen Teil der Wohnung nur noch das meist unbenutzte Berliner Zimmer. Ja gewiss, das Dienstmädchen werde ihn mitversorgen. Der Preis sei hoch — da man von der Vermietung der Zimmer die Gesamtmiete der Wohnung bestreiten wolle. Er würde auch mit den kommenden Mietserhöhungen steigen.

„Im ganzen“, und hierbei hob sich die monotone Stimme der Frau ein wenig, und sie lächelte Urk liebenswürdig an, „betrachte ich die Vermietung als ein Geschäft, bei dem Sie zufriedengestellt werden wollen, von dem ich aber so wenig wie möglich merken möchte. Unser Verkehr wird im wesentlichen durch das Dienstmädchen vermittelt werden.“

Mit diesen Worten stand Frau Bermann auf und blieb mit sanft gekreuzten Armen vor Urk stehen. Urk mietete sofort. Kaum, dass er sich zwingen konnte, vor Abschluss des Vertrages einige Forderungen zu stellen. „Manchmal singe ich, gnädige Frau“, sagte er und errötete bis tief in seinen Spitzbart hinein. „Ich singe zwar nicht sehr laut, aber auch nicht vollkommen. Über meine Gitarre brauchen Sie nicht zu erschrecken. Die wird augenblicklich nicht benutzt. Die Zimmer wünsche ich völlig umzustellen, Teppiche und Bilder zu entfernen. Beides bringe ich in ausreichender Menge mit. Ich koche für mich selbst und habe alle elektrischen Vorrichtungen dafür. Notwendige Anschlüsse richte ich ein. Hilfe gebrauche ich nur zum Geschirrspülen. Das Bett“, und er legte sich vorsichtig mit heraushängenden Beinen hinein, „ist zu klein für mich; ich werde einen Diwan kaufen.“

Frau Bermann nickte gleichmütig und ohne ihren neuen Mieter anzusehen. „Das alles ist natürlich leicht zu machen.“ Ein paar Sekunden standen sie unschlüssig voreinander. „Übrigens“, schloss Frau Bermann die Unterhandlungen, „mache ich Sie darauf aufmerksam, dass mein Mann und ich in diesem Hause sehr verhasst sind. Wir wohnen seit zehn Jahren hier (unser Geschäft ist zwei Strassen weiter) und haben uns um die anderen Mieter nicht gekümmert. Manche kennen wir kaum beim Namen, obwohl die Parteien ja nicht wechseln konnten. Nun ja ...“ Sie brach den Satz mit einer kleinen, mutlosen Bewegung der Schulter ab. „Es ist kein angenehmes Haus“, fügte sie noch leise hinzu.

Dann geleitete sie Urk zur Tür. Es sei doch nichts weiter zu besprechen, fragte Urk. Frau Bermann schluckte ein wenig, Urk wartete höflich. „Ich habe noch eine Tochter, die verrückt ist“, sagte sie ein wenig heiser und öffnete die Tür zum Flur. „Sie werden nicht viel davon merken, aber es kommt doch wohl in jedem Monat einmal vor, dass sie Krämpfe bekommt und schreit.“ Urk nahm den braunen Velourhut, den er bereits aufgesetzt hatte, noch einmal ab. „Sie werden kaum je etwas hören“, sagte Frau Bermann noch einmal, und Urk schien es, als sei eine Bitte in ihren Worten. „Ich wollte es Ihnen nur sagen, vielleicht hätten Sie es gespürt.“

Diese Äusserung überwand Urk vollends. Es schien ihm, als müsse es nun bei seiner Abmachung bleiben, obgleich es ihm unheimlich war, mit einer Verrückten die gleiche Wohnung zu haben. Er setzte seinen Hut auf, reichte Frau Bermann die Hand und ging langsam, nach seiner Gewohnheit etwas in den Knien wippend, die Treppe hinunter.

Kurz vor der Dämmerung zog Urk dann ein. Er kam zu Fuss hinter einem kleinen Rollwagen her, der von zwei Dienstmännern gezogen wurde. Einmal blieb er noch stehen und horchte auf das Schmettern eines Stares, der im Gipfel der Riesenulme winzig und mit geblähter Kehle ein Singspiel trieb. Das Gesicht Urks löschte bei diesem aufmerksamen Zuhören langsam nach innen aus. Bleich und undurchsichtig schimmerte die Haut aus der Bartwildnis, aber die Augen leuchteten hellgrau, ja fast weisslich in der Farbe von Wolke, durch die gleich Sonne brechen wird.

Mit einem kleinen Seufzer wandte sich Urk schliesslich ab und lief hinter den Gepäckträgern her, die bereits leise fluchend auf dem Gestänge des Wagens vor dem Hause warteten.

Auch der Portier hatte sich eingefunden, ein wenig vertrauenerweckender Mann von etwa vierzig Jahren. Karl Querfurth sei sein Name, murmelte er, und es blieb unklar, ob diese Vorstellung der Hohn eines Heruntergekommenen oder der unsichere Versuch eines Heraufwollenden war. Auch an der Kleidung konnte man das nicht sehen. Hatte er die graukarierten Hosen vor langem gekauft oder vor kurzem geschenkt bekommen? War der speckige blaue Rock von anderen abgelegt oder von Querfurth abgetragen? Erst die stumpfen Spatenhände mit den abbröckelnden oder abgekauten Nägeln und den knolligen Fingergelenken beseitigten jeden Zweifel über sein Herkommen, und der speckige Hals, die feisten bleichen Backen, die wässrigen Schweinsaugen und der gepflegte Schnurrbart zeigten klar seine Zugehörigkeit zu der Klasse der Herumsteher, Schnüffler, Gelegenheitsarbeiter, Gelegenheitsdiebe und Zuhälter.

So — zu Bermanns ziehe der Herr. Es sei zweifelhaft, ob sie überhaupt das Recht hätten, zu vermieten. Im allgemeinen sei das im Vorderhaus verboten.

Urk reichte ihm schweigend einen Fünfmarkschein. „Sie werden etwaige Schwierigkeiten dem Hauswirt gegenüber beseitigen“, sagte er obenhin. Querfurth verstand sofort, öffnete eilfertig die Tür und half sogar, die Sachen hinauftragen. Es waren das zwei Schliesskörbe, von denen der eine mit Büchern gefüllt schien, während der andere wohl die gewöhnlichen Sachen enthielt. Dazu zwei Riesenrollen von Teppichen, eine Schreibmaschine, ein Fahrrad und mehrere Bilder. Diese Bilder, die sorgfältig in Lappen eingeschlagen und in Holzgestelle eingebaut waren, nahm Urk selbst unter den Arm und trug sie vorsichtig in seine neue Wohnung.

Obgleich er sehr erschöpft war, ging er doch noch an das erste Umräumen. Das Hausmädchen Elise half ihm dabei und suchte seine Aufmerksamkeit durch Übereifer und einige tiefsinnige Bemerkungen über Bücher und Bilder zu erregen. Aber Urk bemerkte die Bemühungen nicht. Das bisschen Spannkraft, das er noch hatte, war ganz beansprucht vom Hinauswerfen der entbehrlichen Möbelstücke. Er murmelte fortwährend vor sich hin, prüfte kurz, packte zu und entwickelte eine so staunenswerte Gewandtheit, dass bei Elise das naive Lachen des Landmädchens oft und öfter durch das noch nicht gut sitzende Kokottenlächeln durchbrach.

Der Schrank sei leider nötig — aber im anderen Zimmer. Urk hob, schob, wirbelte ihn mit einigen wenigen Griffen über den Flur weg in das grosse Zimmer. Das Bett? Aha — es sei auseinanderzuschrauben. Ganz recht, ohne Schraubenzieher nicht zu machen. Aber man könne es zum Beispiel im Erker ganz gut aufstellen. Zu laut? Auch hinten im Zimmer schlafe man nicht auf den Ohren, dagegen könne man im Sommer leicht Durchzug haben. Das Bücherregal gehöre ins kleine Zimmer. Die fremden Bücher könne er nicht brauchen. Die Linoleumteppiche solle sie nur auch gleich mitnehmen. Nein, der sandfarbene Buchara gehöre ins Schlafzimmer. Drauf? Nichts sei draufzustellen. Der runde Tisch müsse auch heraus. Urk öffnete die Tür zum Berliner Zimmer, ein Schatten hob sich von der jenseitigen Wand, stand abwehrend. Ein Mädchen schob sich in seltsamem Watschelgang aus der Tür.

Urk besann sich. Richtig — die Verrückte! Er rollte den Tisch noch etwas vor, liess ihn stehen und ging leise zurück.

Ach, wie müde er war! Nein, nun könne er nicht mehr. Gut, die Teppiche noch für das kleine Zimmer. Zwei dunkelrote Kelims und ein blauer seidener Gebetsteppich kamen zum Vorschein. Elise solle nur alles stehen lassen. Er werde im kleinen Zimmer auf dem Diwan schlafen. Er holte aus dem Korb noch eine Daunendecke, zwei Laken und mehrere Kissen. So, das solle sie nun aufdecken. Einen Tee? Ja, das wäre eine famose Idee.

Urk stand inmitten seiner Habseligkeiten still. Dann trat er in den Erker und sah hinaus. Es war draussen ganz dunkel geworden zwischen spärlich entflammten Laternen. Ein paar verspätete Kinder lärmten grell. Ab und zu kamen ein paar Menschen den Gehsteig entlang, gerieten wenige Meter vor dem Erker ins Helle einer Gasflamme und verschwanden dann unter Urks Füssen wie in einem Tunnel. Den Mond, der im ersten Viertel über einer hässlichen Hausdecke hing, sah er nicht. Wie es denn überhaupt seine Gewohnheit war, mehr mit gesenktem Kopf vor sich hinzustarren. Das mochte von seiner Grösse kommen, vielleicht aber auch von seiner Neigung zu Melancholie und Grübelei.

Urk setzte sich ein wenig auf die rote Matratze seines Bettes und wäre beinahe eingeschlafen. Aber da kam Elise, meldete, dass der Tee serviert sei und hatte den Telephonapparat unter dem Arm. „Eine Dame“, sagte sie hochachtungsvoll, stöpselte ein und ging. Hinter der Tür blieb sie stehen und horchte. Das schien also bereits die Freundin zu sein. Urk sprach aber nicht, sondern betrachtete den Apparat erst misstrauisch, dann lächelnd. Schliesslich schlich er auf den Zehenspitzen zum Hörer, ergriff ihn vorsichtig mit zwei Fingern und legte ihn wieder auf die Gabel des Apparates. Nein, er war nicht von Leschkas ausgerückt, um sich wieder einfangen zu lassen. Hatten sie ihn bereits ausspioniert, so würde er doch nicht eher mit ihnen sprechen, als ihm beliebte.

Er ging dann schnell ins kleine Zimmer herüber, der Tee stand auf dem kleinen Tischchen am Fenster, ein Lehnsessel davor. Urk setzte sich und goss sich umständlich eine Tasse Tee ein. Die rechte Mischung wollte nicht gelingen. Abwechselnd war er zu stark und zu schwach. Schliesslich trank er ihn, ohne recht zu schmecken.

Seine Aufmerksamkeit war ganz auf den Hof gerichtet. Jetzt am Abend sah man zwar zunächst nur den viereckigen Schacht, sah die scharfen Kanten des Gartenhauses, die von den weichen Linien der Bäume aufgenommen wurden, und sah vor allem einen fast schwarzen Nachthimmel in ruhiger Rundung Dach und Schornsteine des Nebenhauses überwölben. Er stellte fest, dass es in dem Bild drei verschiedene Schwarz gab. Stein, Baum und Himmel gaben die Dunkelheit dreifach wider.

Immer mehr Lichter flammten dann dem Hof zu auf. Die grellen Vierecke fielen auf das Pflaster und verscheuchten die Dämmerung. Manchmal bewegten sich Schatten in den hellen Gardinen der Fenster, schwächere Schatten in den Vierecken auf dem Hofpflaster. Die Stimmen aus den Stockwerken schwollen an. Heimkehrende und Fortgehende überquerten den Hof, Zank, Musik, Telephonschrillen und zuweilen ein Lachen durchdrangen die Mauern. Aus einem offenen Fenster pfiff ein Junge das Ehrhardtlied, und aus dem Heizraum im Keller dröhnte das Schaufeln von Kohlen.

Urk hörte eine Weile aufmerksam zu. Er versuchte, die Geräusche nach Ausgangspunkt und Sinn zu bestimmen. Für ihn, der nach drei Jahren Landleben zum erstenmal sich in der Stadt eingewöhnen sollte, waren sie nicht selbstverständlich. Sie mussten einen Sinn haben. Aber es war ihm alles schwer begreiflich. Der Kopf brannte. Was für ein Monstrum, so ein Haus, dachte er noch. Dann schlief er auf seinem Stuhl ein, um erst um zwei Uhr davon aufzuwachen, dass ein Betrunkener seinen Hauseingang nicht finden konnte und randalierte. Ein paar Fenster wurden blank, Stimmen, die sich die Störung verbaten, vergrösserten den Lärm. Urk sah den Betrunkenen auf- und abwanken, er hörte ihn fluchen, und er verstand ihn gut. Wie sollte man sich in einem dunklen Haus zurechtfinden. Fluchend und wankend suchte er selbst seine Lagerstatt auf.

II

Mit diesem Haus in der Lutherstrasse hatte es eine Bewandtnis, die so recht etwas für alte Klatschbasen gewesen wäre. Aber im alten Westen gab es durch Krieg und Nachkrieg zu viele Schicksalsänderungen innen und aussen. Von den Mietern der alten vornehmen Wohnungen sass ein grosser Teil schon auf dem Aussterbeetat. Sie würden nach Aufhebung der Zwangswirtschaft ihre Wohnungen aus Geldgründen nicht halten können. Sie teilten sie jetzt schon vielfach, durch die Behörde oder die Not gezwungen, mit allerlei Eindringlingen, und manche Wohnung war bereits durch die Neureichen ganz und gar bewohnt, die in ihrem Gebaren sehr an die Väter der nun verarmten Bürgerschichten erinnerten. Eine seltsame Gerechtigkeit: die durch Weltkrieg und Revolution reich Gewordenen nahmen den Kindern der durch 1870 reich Gewordenen die letzten Besitztümer ab.

Die einen im Kommen, die anderen im Gehen. Dazu die unheimliche Ausdehnung der Geschäftsstadt, die dem Westen immer mehr den reinen Wohncharakter nahm — das alles bewirkte, dass die Gespenster- und Flüstertradition, die lokalmündliche Berichterstattung nicht aufkam, dass sich kaum jemand mehr der Vorfälle erinnerte, die mit dem Bau des Hauses zusammenhingen. Nur Fräulein v. Meyer vom dritten Stock des Gartenhauses, eine sechzigjährige berufslose Dame, die sich mit Mühe und Not von Weissnähen und Vermieten ernährte, nur Fräulein v. Meyer wusste bis ins einzelne Bescheid. Aber einmal gab sie doch nur zuweilen und unter Freunden „ihre düstersten Erinnerungen preis“, und dann hatten die meisten Menschen ja gar nicht soviel Zeit, um die mit vielen Seufzern, Tränen und Redeblumen verzierten Ausführungen anzuhören. Die ganz charakteristischen Tatsachen waren kurz folgende: Kommerzienrat v. Meyer, ein 1888 geadelter reicher Baumaterialienhändler, hatte, durch unglückliche Spekulationen zurückgekommen, sich im Jahre 1902 auf das Bauen verlegt. Seine Bauten sollen sich (was Fräulein v. Meyer verschwieg) durch eine bedeutende „Windigkeit“ ausgezeichnet haben. Trotzdem ging das Baugeschäft leidlich, bis Meyer den Bau des Hauses in der Lutherstrasse begann. Da folgte Unglück auf Unglück. Beim Zuschütten des Brunnens fiel ein Arbeiter in den alten Schacht und wurde von Gasen erstickt. Einige Wochen später brach eine bis zum dritten Stock aufgeführte Wand ein, schlug drei Arbeiter zu Tode und fünf zu Krüppeln. Der Bau blieb darauf ein Vierteljahr halbfertig liegen und „frass Zinsen“ (das „frass Zinsen“ pflegte Fräulein v. Meyer sehr plastisch durch Kinnbackenmahlen darzustellen). Als man wieder beginnen wollte, zeigte es sich, dass infolge Grundwassers sich die Mauern gesenkt hatten. Man musste alles wieder abreissen, bedeutende Fundamentierungen vornehmen und von vorn anfangen. Schliesslich stürzte noch das Malergerüst zusammen, wobei allerdings nur ein Lehrling das Schlüsselbein brach. Aber dieser Einsturz hatte zur Folge, dass die Firma v. Meyer wegen Ausserachtlassen aller Vorsichtsmassregeln vier Wochen bestreikt wurde. Fast wäre ihr sogar noch die Baukonzession entzogen worden. Als das Haus dann endlich fertig war — es hatte das Dreifache des Voranschlags gekostet — wollten sich keine Mieter für das „Unglückshaus“ finden. Die Gasquelle des Brunnens könne wieder aufbrechen, meinten die einen. Die toten Bauarbeiter zögen die ersten Mieter nach, tuschelten die andern. Sehr solide werde wohl nicht gebaut, wo so viel Malheur geschehe, sagten die dritten. Kurzum, der grösste Teil des Hauses blieb jahrelang leer, das Vermögen des Herrn v. Meyer schrumpfte, er musste schliesslich sein Haus in Nikolassee verkaufen, die bescheidene Gartenhausetage in der Lutherstrasse beziehen und bald darauf sterben. Fräulein v. Meyer lebte dann von der geringen Differenz zwischen den Mietseinkünften und den Hypothekenzinsen, hungerte sich durch die Revolutionsjahre und verkaufte zur schlechtesten Zeit ihr Haus für ein paar Dollar an eine amerikanische Gesellschaft, um weiter zu hungern. Seit der Mitte des Krieges war natürlich alles vermietet, man war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Viele lernten auch Fräulein v. Meyer und die Schicksale des Hauses erst kennen, als nichts mehr zu ändern war, und manche lernten sie überhaupt nicht kennen. Man hatte mehr über die dünnen Wände zu klagen als über Gespenster, und die dünnen Wände spielten sogar in einigen Prozessen, die die Mieter miteinander führten, eine Rolle. Der Gerichtshof hatte bei Lokalterminen immer feststellen müssen, dass die Verständigung von Wohnung zu Wohnung ganz mühelos geschah. Klar, dass solche Verständigungsmöglichkeit zu Kleinkriegen führte.

Die Gespenstergläubigen wieder konnten alles Unglück, von dem in diesen erregten Zeitläufen wohl jeder genügend abbekam, auf das Haus schieben. „Wirklich Schlag auf Schlag,“ pflegte zum Beispiel Exzellenz Rabe (Vorderhaus, I links) mit hohlem Husten zu stöhnen, „zwei Söhne gefallen, meine Frau gestorben, meine Tochter mit einem Juden durchgegangen (sie war in Wirklichkeit die Frau eines angesehenen Bankiers in Frankfurt am Main), mein Vermögen durch die Republik gestohlen, alles, seitdem ich in dem Haus sitze.“

Auch die Termahlens (vorn, II rechts) hatten alles verloren. In der Wohnung sass das Unglück ganz besonders fest und überfiel pünktlich sogar alle Untermieter. Da hatte, um nur einiges zu nennen, eine junge Dame sich zwei Tage nach ihrem Einzug vergiftet, da war der völkische Defraudant G. „aus dem Bett heraus“ (die schlimmste Vorstellung für alle polizeifremden Gemüter) verhaftet, da waren an einer Grippe die beiden Schwestern Möckel gestorben.

Und bei Bresch? Solange der alte Geheimrat Bresch noch lebte (ganz recht, der sogenannte „Kultus-Bresch“, in dem man allgemein den Urheber der Lex Heinze sah), solange der würdige kaiserwilhelmbärtige Herr noch zweimal die Woche mit Exzellenz Rabe zum Skat ging, war alles in Ordnung. Aber er überlebte die Monarchie nur um wenige Monate, und bald nach seinem Tode ging die Wirtschaft los! Der junge Bresch wechselte die Freundinnen, wie man Anzüge an- und auszieht, verdächtige Gestalten aller Art, radikale Politiker aller Schattierungen, Literaten, Schieber, Schauspieler und kleine Verschwörer gingen da aus und ein, und manche Nacht hindurch hörte der Lärm überhaupt nicht mehr auf. Also auch bei Bresch, der 1923 eine Frau aus gutem jüdischem Haus heiratete, gab es mehr Unglück als Glück, ging es finanziell heftig drunter und drüber, und obgleich man es ihm gönnte, denn er hatte es ja verdient, so musste man sich doch zuweilen wundern, dass hier, da und dort, bei Jungen und bei Alten, bei Tüchtigen und bei Faulen die Malheure sich immer wieder häuften und kaum bei jemandem von Glück gesprochen werden konnte.

Und das, was man wusste und erfuhr, war ja immer nur ein Teil von dem, was den Leuten tatsächlich zustiess. Die Wirklichkeit, die da in engen Stuben in den meist überfüllten Wohnungen, zwischen entnervten, zermürbten, halb und ganz toten Menschen sich abspielte, die nur zuweilen die Wände einer Wohnung sprengte oder durch die Fenster mit üblen Geräuschen und Gerüchen ins Freie drang, diese graue abscheuliche Wirklichkeit, die wie ein Fieber aus der Luft, aus den Mauern auf die hilflosen Menschen eindrang, war um vieles schlimmer, als die Aussenstehenden ahnten und die Beteiligten wussten.

Und es ist sehr zweifelhaft, ob das nur für unser Haus gilt. Seine Bewohnerschaft schien zwar merkwürdig zusammengewürfelt. Aber dieses bunte Durcheinander entsprach der Struktur eines Zeitalters, das sich vorgenommen zu haben scheint, durch Zusammenkoppelung des Nichtzusammenpassenden, durch Durchsetzung jedes Organismus mit Fremdstoffen einen letzten Kampf herauszufordern, der von nahem das merkwürdige Bild wimmelnder Lebendigkeit gibt. Der Fernerstehende freilich wird schliesslich erkennen, dass ein Gewimmel von Maden nicht die Lebendigkeit des Kadavers anzeigt, sondern seine Verwesung.

*

Urk war in den ersten Tagen sehr zufrieden über seine neue Wohnung. Die Atmosphäre des Hauses war noch nicht zu ihm vorgedrungen, die Bakterien der Zersetzung mochten vielleicht schon in seinem Körper rumoren, aber zunächst blieb er noch von dem Fieber, das aus den Steinen strömt, verschont.

Die Luft in seinem Zimmer war gut. Er erfuhr, dass Frau F., ein geschätztes Mitglied der Reinhardt-Theater, sie zuletzt bewohnt hatte, dieselbe Frau F., deren zarte Kraft er vor kurzem auf der Bühne bewundert hatte.

Nun standen die Räume, wie Elise berichtete, schon ein halbes Jahr leer. Frau Bermann sei so heikel beim Vermieten. Sie habe schon viele Mietlustige weggeschickt.

Am meisten Freude machte es ihm, dass nichts Unnützes in den Zimmern geblieben war. Im Schlafzimmer standen ausser dem Bett nur noch ein Kleiderschrank, eine Wäschekommode und der Kochapparat. Im Arbeitszimmer der Schreibtisch mit Stuhl, der Diwan, der Lehnsessel und das Bücherregal. Dreiviertel Tag schien die Sonne herein (wenn sie schien), und der Ausblick in den Hof war zwar rings eng begrenzt, aber doch ausgesprochen mannigfaltig.

Das Haus bildete mit seinen beiden Seitenflügeln ein nach dem Hof zu offenes Sechseck. Wenn Urk hinten im Zimmer in seiner Ofenecke sass, so fiel sein Blick auf eine glatte graue Hauswand, die nur von den kleinen Fenstern der Speisekammern durchbrochen in einem winzigen Stückchen Himmel endigte. Aber wenn man am Schreibtisch sass, so sah man zunächst den Gipfel einer riesengrossen Edeltanne. Weiter hinten kam dann ein Gebüsch von Stachelbeeren, eine kleine Kastanie, ein Vogelbeerbaum und schliesslich der mächtige Stamm einer Platane. Hinter der Platane stand dann die Rückwand eines anderen Hauses.

Von dieser Rückwand, die ursprünglich wohl auch das gleichmässige Mörtelgrau der übrigen Wände gezeigt hatte, war der Verputz in grossen Flächen und Sprüngen abgefallen. Der Platanenstamm mit den weissen und grauen Flächen seiner Rinde ähnelte so sehr dem zermürbenden Mauerwerk, die Mauer glich so sehr dem Holz der Platane, dass man zwischen dem Lebendigen und dem Toten, dem Gewachsenen und dem Gefügten nur schwer unterscheiden konnte. Mauer und Baum schienen eine erschreckende Ehe, ein gleichmachendes Zusammenleben von Ungleichartigem eingegangen zu sein. An den linken Seitenflügel war kulissenartig das Gartenhaus angepasst. Urk musste sich sehr nach rechts drehen, um diese dreistöckige schmalbrüstige Mischung aus Landhaus und Hinterhaus noch zu sehen. In den niedrigen Nordzimmern dieses Anbaus zu wohnen, musste eine Qual sein. Höchstens den einen breiten Balkon im dritten Stock, der von einem Ast der Platane überdacht wurde, und der morgens und abends ein wenig Sonne erwischte, hätte er haben mögen. Das schwarze alte Fräulein, das da mit den Blumenkästen und Töpfen wie mit Handarbeiten hantierte (es war Fräulein v. Meyer), hatte sicher keine Verwendung für diese Terrasse. Denn sonst hätte sie doch wenigstens einen Teil den Blicken der Hinterhäusler entzogen.

Sehr unangenehm war es für Urk, dass er gerade in der Zeit der Frühlingsreinigung eingezogen war. Während sonst nur zu bestimmten Stunden unter schrecklichem Klopfen und Klatschen Staubwolken in dem engen Hof aufgewirbelt werden durften, war der Platz in dieser Woche ganz den Reinigungswütigen freigegeben. Und vom Morgen bis zur Dämmerung hallte der Hof von Schlägen und Echos der Schläge, zog der Winterstaub und Dreck in dünnen Wolken über den Hof und begann das Grün der eben aufspringenden Stachelbeerblätter mit zähem Schmutz, Haaren und Federn zu beziehen. Der Regen, der in diesen Tagen reichlich fiel, konnte die Schicht nicht abspülen; höchstens, dass er die Frauen manchmal in die Häuser trieb und so eine angenehme Ruhepause für die Ohren schuf.

Manchmal, wenn die Schläge gar zu heftig wurden, trat Urk ans Fenster. Lärm, dessen Verfertiger man sieht, ist ja nicht ganz so schlimm wie verborgener Lärm. Was er da an Frauen sah, das gehörte alles dem gleichen Hennentyp an, in der Flattrigkeit der Bewegungen, der Eilfertigkeit ihres Kopfnickens, der staubaufwirbelnden Emsigkeit ihres Tuns. Die Jungen unterschieden sich von den Älteren eigentlich nur durch die Art, die vor Staub schützenden Kopftücher zu knüpfen und vielleicht durch das betonte Drehen in den Hüften. Für die Alten lohnte das Drehen und Wackeln mit dem Gesäss nicht mehr. Wer mit fünfzig Jahren noch Teppiche klopft, wird sie klopfen müssen, solange die Kräfte reichen.

Einmal wurde Urk durch ein sachliches, derbes Klopfen aus seinen Gedanken geweckt. Das konnte keine Frau sein. Und das, was er von oben sah, weckte seine Neugierde so sehr, dass er hinunter ging und zweimal den Hof überquerte, um diesen komischen Menschen anzusehen.

Es war ein Mann mit ausgeprägt slawischen Backenknochen — wie sich herausstellte, ein Russe — das Gesicht war wie von einem Schatten von einem Bart umgeben, der weich und flaumig, stellenweise auch in kleinen Locken spriessend, sichtlich niemals rasiert oder geschnitten wurde. In einem Umkreis von drei Zentimetern um den Mund herum hörte der Bart auf. So war das ganz schmale haardünne Lippenrot mitten in einen kalkweissen Kreis gezeichnet. Die Stirn bog sich von der Mitte aus stark zurück, sehr weit vorn begannen die Kopfhaare, die tabakgelb und borstig den Kopf starr bestanden. Schwarze Augen, blank und klein wie Schuhknöpfe blitzten aus dem Gesicht, das unleugbar einem hässlichen Menschen zugehörte.

„Es ist merkwürdig,“ dachte Urk, „dieser Kopf soll ein Menschenkopf sein. Als Menschenkopf finde ich ihn hässlich, ja abscheulich. Aber wenn ich ihn als Tierkopf ansehen dürfte, Kopf eines Tieres, das mir unbekannt war, so könnte ich ihn sehr schön finden. Und wie der Kopf gar auf den Schultern sitzt, wie spielend leicht und flügelartig die Arme aus den Schultern wachsen, das ist herrlich.“

Urk stellte sich in den Hausflur so, dass er in der Glasscheibe ungestört den Mann beobachten konnte. Der komische Mensch, dessen aschengelber, geflickter Anzug sicherlich die ehemalige Uniform eines russischen Soldaten war, und dessen nackte schmale Füsse in Holzpantinen steckten, führte mit seinem Teppich eine Pantomime auf. Bevor er wieder zu klopfen anfing, streichelte und striegelte er ihn wie ein Pferd. Dann sprang er zwei Schritte zurück, und mit einem tänzerischen Wiegen in den Knien schaukelte er seinen Körper vor und zurück, zurück und vor, wirbelte den Teppichklopfer wie einen Säbel, sauste kunstgerecht und heftig mit schnellen kleinen Schlägen auf und ab.

Ein kleiner Junge von vielleicht vier Jahren schlängelte sich gaffend und vertraulich an den Teppichklopfenden heran. Er machte schliesslich in seiner Arbeit eine Pause, streichelte den Jungen, lachte laut und breit und kramte unter den Sachen, die er zu klopfen hatte, eine Diwandecke heraus. Die knüpfte er zu einer Schaukel, setzte den kleinen Kerl herein und fing an, ihn unter einem komischen Singsang zu schaukeln. „Feste, Kohlomann,“ schrie der Junge, „feste.“ Und Kohlomann steigerte gehorsam seine Anstrengungen, fing an, wie toll seine Schaukel zu stossen, klapperte in den Pausen zwischen den Stössen mit den Hacken auf dem Hofpflaster, schlug sich rasselnd auf die Schenkel und trällerte keuchend eine alte Reitermelodie: Bum, tada tata bum, bum tada tata bum, hoi hoi hepp, bum tatada.

An den Fenstern des Seitengebäudes tauchten Gesichter auf, ein paar griesgrämige schimpften über den Lärm, eine Mutter stimmte mit ihrem Baby in den Gesang Kohlomanns ein, und einige Dienstmädchen grinsten behaglich auf den schwitzenden Russen herab. Schliesslich machte der Portier Querfurth mit einer Flut von Schimpfworten dem Vergnügen ein Ende. Der Junge verschwand heulend, Kohlomann entknüpfte seine Schaukel zu einer Decke und machte sich, ohne dem Portier etwas zu erwidern, an seine Arbeit mit derselben Anmut und Vergnüglichkeit, die Urk gleich entzückt hatten.

Querfurth, der eine Minute darauf faul, pfeifend und kauend an Urk vorbeischlenderte, gab ungefragt die gewünschten Auskünfte. Kohlomann sei ein ehemaliger russischer Kriegsgefangener, der sich nicht zurückgefunden habe. Er schlafe in einem Verschlag im Kohlenkeller und sei von den Kindern, da er sehr oft schwarz von den Kohlen sei, Kohlomann getauft worden. Er ernähre sich von Gelegenheitsarbeit, sei ein bisschen ehä (Querfurth klopfte auf die Stirn), sonst aber gutmütig.

Urk hörte sich das an, griff mit zwei Fingern an den Hut und ging fort. Er bummelte den ganzen Tag herum, halb befangen und halb unschlüssig. Zuerst lief er eine Stunde im Tiergarten spazieren; aber die verschleierte Sonne dieses Märztages, die halb offenen Knospen der Ziergebüsche, die halb frühlingsmässig angezogenen, halb winterlich vermummten Menschen machten ihn missmutig. Dann ging er die ganze Potsdamer Strasse herunter, blieb Schaufenster bei Schaufenster stehen und schüttelte den Kopf. Er konnte zuerst keine Verbindung finden zwischen den schmierigen, verdösten Menschen auf der Strasse und den sauberen und verlockend gestapelten Waren hinter den Scheiben. Aber dann sah er eine Bluse, etwas verdreckt schon, an einem Tippmädchen, dann drängte sich eine dicke alte Frau im Persianermantel durch die enge Tür eines Modegeschäftes und betrachtete prüfend nochmal den eben erstandenen viel zu koketten Hut, dann lief ein schmaler langer Mann mit ganz knöchelkurzen Hosen vor ihm her, und ein kleines Mädchen strich sich halb beschämt, halb stolz ein fürchterliches Pluderröckchen glatt, wie er es eben im Schaufenster gesehen. Die angebotenen Waren fanden also wirklich ihre Käufer, die Menschen enthüllten sich auch in den Schaufenstern. Ganz entmutigt kehrte Urk gegen sieben Uhr heim. Was sollte das werden? Wie sollte er es hier aushalten?

Aber er kam noch nicht zur Ruhe. Zunächst musste er im Badezimmer feststellen, dass durch irgendeine Röhre eine peinigende Schallverbindung zu der Hinterwohnung geschaffen war. Alles, was sich im Baderaum und im W. C. drüben abspielte, musste er so mithören, als geschehe es in seinem Badezimmer. Aber ausserdem schien man drüben die Tür fast immer offen zu lassen, so dass alle Gespräche, der Lärm und das Gezänk einer mehrköpfigen Familie genau zu verfolgen waren. Etwas ferner gerückt, immerhin aber auch noch deutlich vernehmbar, waren die Geräusche aus dem zweiten und vierten Stock. Man stand also — wirklich sehr ärgerlich — in dem Badezimmer geradezu im Mittelpunkt eines unzerreissbaren Spinnetzes von Tönen.

Urk war zuerst ganz entsetzt. Dann aber schüttelte ihn ein heftiges, dröhnendes Lachen, ein Pferdswiehern beinahe. Einsam zwischen den Menschen stehen, hatte er das jetzt nicht gewollt? Es war nicht das erstemal, dass das Schicksal tückisch wie ein Orakel oder ein aufdringlicher Witzbold seine Wünsche erfüllte.

Gegen acht Uhr kam noch Elise mit dem Anmeldezettel. Es müsse nun sein, meinte sie wichtig, sonst wäre eine Polizeistrafe fällig. Ob sie gleich warten könne? Morgen früh schlafe der Herr ja doch noch. Urk setzte sich seufzend an den Schreibtisch und begann auszufüllen. Manfred Urk, geboren 15. August 1889 in Berlin, Dr. med. et jur., berufslos, konfessionslos, frauenlos. Er hielt inne, strich das Wort „frauenlos“ und malte sorgfältig „Witwer“. „Witwer“, sagte er und wandte sich zu Elise um, die, mit übereinandergeschlagenen, weit aus dem Rock herausragenden Beinen, in einem Sessel Platz genommen hatte, „Witwer ist man doch, wenn einem die Frau gestorben ist?“ Elise gackerte wie ein kleines Mädchen. „Still,“ zischte Urk plötzlich, mehr böse auf sich als auf das Mädchen, „still, ich bin Witwer.“

Und als müsse er das verwirrte und errötete Mädchen entschädigen, ging er auf eines der noch eingewickelten Bilder los, packte es aus und stellte es vor Elise hin. „Das ist sie“, sagte er ganz sanft. Elise sah das Bild an und seufzte. „So jung, mein Gott.“

Aber Urk hörte nicht mehr. Sollte er bei „letzter Wohnort“ Kolonie Schönfliess bei Dorf Kreuth am Ammersee schreiben? Das kam ihm wie eine Indiskretion vor. Ausserdem war er ja zuletzt bei Leschkas gemeldet. Er schrieb also: Würzburger Strasse 12IV bei Leschka, löschte die Tinte ab, reichte Elise den Zettel und schob sie hinaus. Dann nahm er das Bild seiner Frau und betrachtete es lange. Da, unter dem Mund hatte sich Staub angesetzt. Er wischte leise mit dem feuchten Taschentuch darüber und packte das Bild wieder ein.

Aus dem zweiten Stock kam Grammophonmusik, im vierten ging ein Mann stampfend und stapfend auf und ab, beinahe eine Stunde lang. Als er endlich Ruhe gab, fing im Hinterhaus ein wüstes Gezänk an. Das endete in Klatschen und Geheul. Täglich um Punkt elf prügelte der Ingenieur Strupp seine Frau.

III

Am 1. April wachte Urk früher als sonst auf. Ein Autobus stampfte vorüber und liess das Bett im Erker zittern und leise schwanken. Das wiederholte sich jeden Morgen kurz nach sechs, denn man hatte eine neue Autobuslinie eingerichtet, die durch die Lutherstrasse ging.

Urk wollte sich eigentlich an langes Schlafen gewöhnen. Das Stadtleben strengte ihn immer noch sehr an. Aber dieser erste Wagen schnitt mit seinem Stampfen jeden Schlaf durch. Die kurze Spätnachtstille der Grossstadt wurde damit beendet, und die Geräusche hörten dann nicht mehr auf. Urk mochte zuerst nichts hören und nichts sehen. Was ging ihn die Stadt, was ging ihn das Haus an? Aber erst waren es die Geräusche, denen er nachsann. Dann sah er schon den ersten Menschen nach, fing ihre Namen auf, wurde mit ihren Gewohnheiten und Beschäftigungen bekannt, und schon nach einer Woche hatte das Erwachen des Hauses keine Geheimnisse mehr für ihn. Er konnte bald die regelmässigen Geräusche von den unregelmässigen unterscheiden.

Da kam erst das dumpfe Poltern der Kohlen im Heizraum. Dann schrillten die ersten Wecker. Die Brötchenholer und Bäcker stapften über das Pflaster, und während die Proletarier unter den Arbeitern, die um sieben Uhr an der Arbeit sein mussten, das Haus verliessen, setzten die Wecker der besseren Arbeiter ein, der kleinen Bureauangestellten, begann Gähnen und Zank der Mittelständler, deren Arbeit um acht Uhr anfing. Sie gingen aus dem Haus, begleitet von den Schulkindern, die es arbeitsmässig so schwer hatten wie die Erwachsenen, die ihren eintönigen und bedrückenden Pflichten nachkommen mussten, ohne die Rechte der Erwachsenen zu haben. Zwischen halb neun und neun gingen die gehobenen Angestellten fort und die kleinen Beamten, eine ganze Kolonne von mittelmässigen Existenzen, um die es sich nicht viel Aufhebens lohnt, während die Selbständigen und die Prokuristen noch beim Kaffee sassen, einen Blick in die Zeitungen warfen und, zwischen den Zigarrensorten kramend, ein Sortiment für den Tag zusammenstellten. Sie fingen offiziell erst um zehn Uhr zu arbeiten an, obgleich manche schon eine viertel, ja eine halbe Stunde früher auf dem Posten waren.

Ministerialrat Garleb zum Beispiel verliess stets um 9 Uhr 8 Minuten das Haus. Er legte Wert darauf, den Wagen der Linie 60 zu erreichen, der um 9 Uhr 16 die Motzstrasse passierte und zwischen 9 Uhr 32 und 35 beim Ministerium eintraf. Um 9 Uhr 12 fuhr Direktor Wagenknecht von der D-Bank in seinem kleinen Auto fort. Kurz danach stürzte Fräulein Messerschmidt aus dem Haus, in der linken Hand eine Zigarette schwingend, während die rechte Hand die graue Kostümjacke über dem quellenden Busen zu schliessen suchte. Fräulein Messerschmidt hätte um 9 Uhr in ihrem Bureau sein müssen, und man kann sich denken, warum sie es sich erlauben durfte, beinahe täglich eine Stunde nach Arbeitsbeginn zu erscheinen.

Fräulein Messerschmidt auf den Fersen folgte Herr Pellmann jun., mit seinem Vater zusammen Inhaber des bekannten Antiquariats Pellmann Söhne, ein Mann, der mit erst vierzig Jahren bereits eine Autorität auf dem Autographenmarkte war. Pellmann jun. führte, obwohl seine Beine genügend gebogen waren, seinen Dackel Ecke mit sich (ein ungewöhnlicher Name, der sich von der Hundevorliebe des Dackels für Ecken herleitete und so recht den treffenden Witz Pellmanns illustriert). Hinter Pellmann jun. winkte mit reichlichem Juhu Frau Pellmann jun. her, während Pellmann sen. mit seiner Frau um 9 Uhr 45 ein kräftiges „Auf Wiedersehen“ wechselte.

Dass der Agent Knöter erst um 9 Uhr 50 schwer keuchend mit zwei Handtaschen das Tor passierte und seinen Tag begann, war weniger durch die Gehobenheit seiner Stellung bedingt als durch die Tatsache, dass die Chefs ja doch erst nach 10 Uhr zu sprechen waren. Um Punkt 10 Uhr beendete der Filmdirektor Hutscheer den Reigen der Regelmässigen, nachdem bereits eine Viertelstunde lang sein Chauffeur eine fürchterlich lärmende Mahnung gehupt hatte. Mit Hutscheer fuhr häufig seine dreizehnjährige Tochter, ein zierliches Mädchen mit einem ihrer verstorbenen Mutter nachgemachten lasterhaften Zug um die Lippen, ein frühreifes Geschöpf, das sich oft tagelang in den Filmateliers herumtrieb, und dessen Unterricht in den Händen eines modernen Pädagogen lag, der viermal wöchentlich ins Haus kam.

Nach 10 Uhr blieben dann nur noch die Hausfrauen zurück, die mit Lärm ihr Hauswerk begannen, oder, wenn sie besser gestellt waren, schnatternd an den Telephonhörern hingen, die Haustöchter, die auf den Mann warteten oder auf Abenteuer sannen, die kleinen Kinder, die auf der Strasse herumbrüllten, die Treppenhäuser und den Hof nach Unterhaltungsmöglichkeiten durchforschten und die schlechten Launen der Erwachsenen ausbaden mussten, und endlich die unsicheren Kantonisten beider Geschlechter und jeglichen Alters. Die Rentner und Pensionierten, die Arbeitslosen und Abgebauten, ein Schriftsteller, ein Schauspieler, zwei Verhältnisse, der Schuster im Keller, die Pastorenwitwe Möhle, die eine Art Pension im Hinterhaus hatte (ein Heim für Heimatlose, pflegte sie zu sagen, wenn die Portionen gar zu mager wurden), der schon erwähnte Referendar a. D. Dr. Bresch (kurz gesagt, ein Commis voyageur in geistigen Dingen), der Ingenieur Strupp, der von Gott weiss was für dunklen Geschäften lebte, die Malerin Fräulein Vogeley, der praktische Arzt Dannhauer, der auf Kundschaft wartete, der Privatdetektiv Schürf, der halbe Tage mit dem Portier und dem Schuster Skat spielte, Herr Falluhn, der angeblich Beziehungen zu den Sowjets hatte, die Prostituierte Ida Herbst, ein reicher Mann namens Hans Georg Bienert, und endlich Urk.

Urk: das war nun freilich für Urk das schwierigste Kapitel. Er sass da in seinen Zimmern und dachte eifrig über die Menschen des Hauses nach, als gingen die ihn etwas an. Er lief oft durch seine Zimmer über den Flur weg, vom Strassenfenster zum Hoffenster, um einem Bewohner nachzuschauen, oder einen Besucher als nicht hierhergehörig zu entlarven. Nachdem er erst einmal damit angefangen, trieb er es bald als einen Sport, die Struktur des Hauses schnellstens zu erforschen, immer genauer zu erfühlen, was denn eigentlich in diesem Gewirr von Zimmern, diesem Komplex von Steinschachteln sich vollzog, begann, vollendet wurde, aufhörte.

Es hatte ihn ganz wider sein Erwarten und seinen Willen ein Jagdfieber gepackt. Das war das genaue Gegending seines bisherigen Lebens. Urk, der während dreier Jahre monatelang mit keinem anderen Menschen gesprochen hatte als mit seiner Frau, Urk, der tagelang auch mit seiner Frau oft kaum ein Wort gewechselt hatte, erkannte jetzt erst Sinn und Abgrund des Wortes Dasein. Dasein: das hatte er doch wohl beinahe gehabt? Oder gar ganz? Es war ihm, als müsse er hinter sich greifen, um sich festzuhalten. Sei es, dass er auch nur den Schatten der Toten umarmen könne oder seinen eigenen starren Schatten. Die Gesellschaft der toten Annette, das vergangene Dasein, das war bunt und trächtig gegen dieses eingetrocknete, aschene, ausgelaugte Leben, das ihn nun umgab.

Jeder dreht sich um sich, dachte er, das ist klar. Jeder dreht sich für sich, das mag auch sein. Jeder dreht sich nach dem gleichen Gesetz, das ist selbstverständlich. Warum aber spürt niemand, dass alles Lebendige nach Ursprung, Dasein und Ziel, nach Anfang, Mitte und Ende, nach Ursache und Wirkung dem Gleichen entstammt, das Gleiche ist und das Gleiche erstrebt? Was soll diese Fiktion der Feindseligkeit von Mensch zu Mensch. Keiner kann den zu Fall bringen, der sich nicht selbst zu Fall bringt. Die Feindschaft gegen Menschen ist nur die Feindschaft gegen dich selbst. Der Kampf ums Dasein nur der Kampf um dich selbst.

Gegen Abend notierte er in sein Tagebuch, dem er immer nur die Resultate, nie die Wege seines Denkens anzuvertrauen pflegte: „Dasein ist eine Fiktion, handle danach. 7. 4. 25.“ Als er das niedergeschrieben hatte, stutzte er und musste lachen. Nein, so war es noch nicht richtig. „Dasein“, verbesserte er, „ist eine Fiktion. Also gefährlich.“

Dann trat er ans Fenster, von der Platane erhob sich ein Schwarm von Spatzen, lärmte durchs Gebüsch und kehrte ins Geäst zurück. Die Katze, deren Fell fast genau die Farbe der beginnenden Dämmerung hatte, setzte sich zu Füssen des Stammes, fromm und ergeben den Blick hinauf gerichtet, als habe sie nie jagen wollen. Über die Häuser weg tönte das Pfeifen eines Stares. Vielleicht fünf Minuten lang war der Hof ganz leer. Dann kam Kohlomann mit einem Ascheimer, den er umständlich säuberte, in den Küchen flammten die ersten Lichter auf. Bald wurden ein paar andere Zimmer hell. Und da man noch nicht die Vorhänge vorzog, konnte man weit hineinsehen. Da sassen im Gartenhaus eine ganze Anzahl Damen um einen Tisch und bewegten die Köpfe hin und her, Fräulein v. Meyer hob eine Näharbeit ins Licht der Lampe, und ganz unten hielt eine Mutter ein scheinbar krankes Kind in die warme Luft hinaus, während ein Mann im Hintergründe das Bett aufschichtete. Bald kamen dann die Berufsleute heim, überquerten schnell und türenschlagend den Hof. Hier und da kam ein Lachen zu den Fenstern hinauf, oder der Rauch der abendlichen Zigarren, öfter noch Lärm und Türenschlagen, Geschrei und Fluchen. Die Übermüdeten zankten sich mit den Gelangweilten, ab und zu schrillte ein Telephon, wurde Zank von Ferngeschwätz unterbrochen. Je kühler es wurde, um so ferner rückte der Lärm, weil die Fenster geschlossen wurden oder zuknallten. Schliesslich war es, als stöhnten nur einzelne Steine, als wimmerten die Mauern in den Fugen, als zitterten die Wände unter dem Ansturm von Zorn, Verzweiflung, Gereiztheit und Feindschaft.

Als sich Urk endlich abkehrte und auch sein Fenster schloss, war er nicht weitergekommen. Er hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt und schaukelte sich ein wenig in den Knien. Immer unklarer wurde ihm der Sinn seines Schicksals. Die Frage, um die seit sechs Monaten ruhig und unablässig sein Denken und Handeln kreiste, die Frage, warum ihm seine Frau gestorben war, wurde quälend, weil er zu gar keinem Ergebnis gelangte.

Nun kam das Dunkel. Wieder war ein Tag vorbei. Er hatte hinter den Menschen hergesehen, hatte sie beobachtet und belauscht. Er, der einzig Untätige zwischen den Tätigen. Untätig? Das war nur gut! Um dieses Leben lohnte es nicht, eine Hand zu heben.

Plötzlich musste er im Grübeln innehalten und erschreckt Licht machen. Nah und sehr verstärkt tönte das Wimmern des Zornes und der Feindschaft, das er eben hatte aus den Mauern schwingen hören. Deutlich war da ein gereiztes, bellendes Weinen, nicht mehr ganz menschlich und noch nicht tierisch, ein leises, durchdringendes Schluchzen und Stammeln, als wolle ein Sprachloses Sprache gewinnen.

Ohne nachzudenken lief Urk durch den Flur, riss die Tür des Berliner Zimmers auf und machte Licht. Das Wimmern setzte einen Augenblick aus. Dann aber kamen kleine rauhe Schreie aus der Ecke. Das musste — ihm fiel es nach einer Gedankenpause des Erstaunens ein — natürlich Erna Bermann, die verrückte Tochter der Bermanns, sein.

Das war freilich nicht ohne weiteres ein Mensch zu nennen. Ein schwammiger, fast viereckiger Körper stand da auf zitternden und dicken Beinen, ein niedriger Hals schien von einem quadratischen breitbackigen Kopf zwischen die Schultern gedrückt. Ein Gesicht war Urk zugewandt, das, von einer Menge starrer und tiefer Querfalten durchzogen, etwas halb greinendes, halb überanstrengtes hatte. Ein Gesicht, das, eine Mischung von Baby und Greis, die Hilflosigkeit beider Menschformen vereinigte. Üppige Frauenlippen leuchteten rot aus dem käsigen Weiss der Haut, aber ein deutlicher Schnurrbart zerstörte auch diesen Reiz. Die blauen Augen waren gross und schön, und hinter ihrer erschreckenden Starrheit leuchtete vielleicht zuweilen etwas Menschliches.