Oktober - Walther von Hollander - E-Book

Oktober E-Book

Walther von Hollander

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Beschreibung

Berlin in den dreißiger Jahren. Professor Zylverkamp ist ein angesehener Maler, der seine künstlerischen Hochs und Tiefs durchlebt. Augenblicklich aber ist er völlig aus der Spur geraten. Er liebt seine 30 Jahre jüngere Schülerin Maria von Nemesch. Und was die Sache noch schlimmer macht: Diese Liebe wird erwidert. Für Maria hat dies jedoch zur Konsequenz, dass sie sich mit Macht dem Zugriff des Professors zu entziehen versucht. Denn er ist mit Renate verheiratet, die vor 14 Jahren ihren Mann wegen des Professors verlassen hatte. Maria sieht den Ausweg darin, sich mit Guido von Wrede zu verloben, den sich aufrichtig schätzt. Und so spitzen sich die Dinge zu in diesem Oktober, dessen einzelne Tage der Leser begleitet. AUTORENPORTRÄT Walther von Hollander (1892–1973) war ein deutscher Schriftsteller. Der Erzähler betätigte sich auch auf dem Gebiet der Partnerschafts- und Lebensberatung und als Drehbuchautor.Hollander, Sohn eines Pastors im Baltikum, studierte an den Universitäten von Berlin, Heidelberg, Jena und München Nationalökonomie, Literatur und Philosophie und promovierte zum Doktor der Philosophie. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Soldat teil, war danach in München als Verlagslektor und Kritiker, aber auch als Schauspieler tätig. 1922 kam er nach Berlin, wo er, von Theodor Wolff, dem damaligen Chefredakteur des Berliner Tageblattes, gefördert, bald als freier Schriftsteller lebte. Zunächst arbeitete Hollander in Nebentätigkeiten für ein Antiquariat und den PEN-Club, später auch für Film und Rundfunk. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat der Romanschriftsteller vermehrt als Kolumnist und Funkschriftsteller, aber auch als Hörfunkmoderator hervor. 1967 erhielt er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

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Walter von Hollander

Oktober

Roman

Saga

Ebook-Kolophon

Walther von Hollander: Oktober. © 1937 Walther von Hollander. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2016 All rights reserved.

ISBN: 9788711474662

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

Der erste Oktober

1

Der Oktober begann für Berlin höchst ungewöhnlich mit einem Sommertag. Noch am Nachmittag um fünf war es heiß wie im Juli. Die Farben allerdings waren herbstlich hell und kräftig. Denn die Bäume in den Vorgärten und in der Mitte des Kurfürstendamms hatten durch die Trockenheit des Sommers zumeist ihre Blätter verloren, und die wenigen, die noch belaubt waren, verstärkten hellgelb und rot das Sonnenlicht. Tief und dunkel schnitten die langen Schatten der Häuser in die gelben Sonnenbänder zu beiden Seiten der Straße.

Zylvercamp, der Maler, bog von der Uhlandstraße in den Kurfürstendamm ein. Er blieb einen Augenblick stehen und zog nach seiner Gewohnheit die Unterlippe ein wenig vor, als müsse er die heiße, helle Luft schlürfen oder die Schatten, die gerade neben ihm das Pflaster überwucherten.

Das bunte Bild — zu den hellen Herbstfarben kamen hier der waschblaue Gegenlichthimmel im Osten, die Frauen in bunten Herbstkleidern und die Schaufenster, in denen Modefiguren die Passanten anlächelten — dies bunte Bild gefiel ihm, als ob er es selbst gemalt hätte.

Es erinnerte ihn an ein Bild, das drei Jahre zuvor entstanden war: eine Großstadtstraße mit grellbunten Menschen drin. Das sah aus wie ein Blumengarten. Oder ganz von fern wie ein Park nach dem Sturm. Es hing jetzt im Kronprinzenpalais. Man mußte mal hingehen und es sich ansehen. Denn wahrscheinlich waren die scharfen Schatten nicht drin, die grellen und unheimlichen Schatten, von denen aus dies Bild hier erst eigentlich leuchtete. Das Tragisch-Oktoberliche war nicht drin, die helle Sonnenheiterkeit neben den Streifen und Schatten des Frostes. Das Aufbrennen im letzten Augenblick. Richtig sehen lernte man eben erst im Älterwerden. In die Ferne hinein, das Kommende gleichzeitig mit dem Gegenwärtigen, das Hintergründige gleich neben dem, das sich immer in den Vordergrund drängte und den Nichtskönnern sich allein darbot.

Zylvercamp starrte ein paar Minuten bewegungslos das Bild an. Er holte es Farbe für Farbe in sich hinein und übersetzte es Fleck für Fleck ins Zylvercampsche. Dann hob er grüßend eine Hand. Jemand hatte seinen Namen gerufen. Drüben auf der anderen Seite der Uhlandstraße, im Kaffeegarten, saß Christian Baudis, der Schauspieler, mit dem er verabredet war, und winkte ungeduldig. Jetzt war Baudis sogar aufgestanden, lehnte groß, breit, in einem hellen, seidenen Sommeranzug, an der Balustrade und rief. Zylvercamp, dem alles auffällige Benehmen ein Greuel war, eine „Belästigung anderer Menschen mit persönlichen Eigenheiten“, zögerte ein paar Sekunden, und jetzt verwehrte das rote Sperrlicht den Übergang.

In diesem Augenblick kam von der anderen Seite her, von der Untergrundbahn also, und zwar so, daß Baudis sie nicht sehen konnte, Maria von Nemesch über die Straße. Sie ging langsam und so achtlos, als überschritte sie irgendeinen Waldweg, die hellen Augen auf Baudis gerichtet. Nun war sie drüben gelandet und blieb so hinter dem Schauspieler stehen, daß er sie nicht sehen konnte. Sie betrachtete ihn aufmerksam und etwas in der Art von Zylvercamp, grübelnd, einheimsend, also gar nicht wie die anderen Damen auf der Straße den berühmten Schauspieler angafften, neugierig oder stolz, als hätte sie ein Widerschein der Filmleinwand getroffen.

Jetzt hatte das Straßenlicht wieder gewechselt, und nun kam Zylvercamp ins Bild. Er grüßte lächelnd den Schauspieler. Maria von Nemesch zuckte zusammen, drehte sich blitzschnell um und lief durch den eilig dahinflutenden Strom der Autos auf die Insel der U-Bahn zurück.

Zylvercamp wurde erst durch ihre Flucht auf sie aufmerksam. Er hatte sie vorher gar nicht gesehen. Aber nun ließ er den Schauspieler einfach stehen und lief hinter Maria von Nemesch her. Ziemlich dicht hintereinander verschwanden die beiden im Untergrundbahnschacht, über den gleichzeitig der Schatten eines Hauses fiel.

Christian Baudis, der Schauspieler, sah ihnen verdutzt und etwas ärgerlich nach. Er war es nicht gewöhnt, daß man ihn sitzen ließ.

Dann aber beugte er sich lachend zu seiner Begleiterin, einer achtzehnjährigen Blondine (sie war zur Zeit seine fünfte Frau und eine Hoffnung des deutschen Films), und sagte: „Hast du gesehen? Lief hinter der jungen Dame her wie ein Primaner. Meine Generation! Nicht totzukriegen!“ Die junge Dame aber hatte ihren Spiegel gezogen, fletschte ein wenig die Zähne, zog sich die Lippen nach und näselte: „So? Wird dein Freund Zylvercamp auch sechzig Jahre?“

„Ich bin fünfundfünfzig“, sagte Baudis scharf, „und Zylvercamp wird nicht älter sein.“

Die junge Frau Baudis antwortete nicht. Sie fand, daß es in diesem Alter auf ein paar Jahre mehr oder weniger nicht mehr ankam.

2

Zylvercamp erwischte gerade noch den letzten Wagen des abfahrenden Untergrundbahnzuges. Maria von Nemesch war nicht drin. Er stand und starrte die vorbeifliegenden grauen Wände an, die Lichter, die vorbeizuckten, die Pfeiler, die auf- und abtanzten. Er war tief erschrocken. Einmal, weil Maria von Nemesch ihm ihre Rückkunft verschwiegen hatte, weil sie mit jenem Abschiedsbrief vom Juli Ernst machte, weil sie ihm ausgewichen war und nun sogar vor ihm davonlief.

Dann aber — und das war schlimmer — weil er ihr besinnungslos nachgelaufen war, gezogen von der gleichen unwiderstehlichen Kraft. Besinnungslos und gegen jeden Verstand. Es war doch gut, daß sie ihm auswich. Es war doch richtig, daß sie nicht mehr zu ihm kam. Es war doch tapfer und feinfühlig, daß sie ihn glauben ließ, sie sei noch immer in Wiesenberg.

„Ich fahre zu den Großeltern“, hatte sie beim Abschied gesagt, und er hatte geantwortet: „Das klingt feierlich und traurig wie bei einem Begräbnis.“ Und sie: „Das soll auch so klingen.“

Der Zug hielt am Wittenbergplatz. Zylvercamp sah Maria aussteigen und die Treppe langsam hinaufgehen. Er lief hinterdrein. Er freute sich wieder an ihrem Gang, wie sie „von selbst“ die Stufen hinaufschwebte. Er hatte ihr einmal versprochen, er wolle sie als Engel malen, in einem grauen Sportkostüm mit einer rosa Flügelbluse eine Treppe hinaufschwebend, die Treppe natürlich zu seinem Atelier. Fast ohne Flügel sollte sie schweben. Denn das traumhafte Fliegen kam aus der Vollkommenheit des Treppensteigens.

Er stampfte jetzt eilig die Stufen hinauf. Breit durch die Menge pflügend, kam er an ihre Seite.

„Fräulein von Nemesch“, sagte er etwas vorwurfsvoll. „Maria ...“

Maria blieb stehen. Sie reichte ihm wortlos die Hand. „Warum haben Sie sich nicht zurückgemeldet?“ fragte Zylvercamp.

Maria antwortete nicht.

„Warum laufen Sie vor mir weg, was ist das für eine Sache?“

Sie antwortete nicht.

„Und was ist das mit Baudis? Was wollten Sie von ihm?“

Endlich sprach Maria. „Baudis?“ fragte sie. „Es war also doch Baudis?“

Zylvercamp antwortete: „Ja, kannten Sie ihn denn nicht? Und wenn Sie ihn nicht kannten, dann mußten Sie ihn doch erkennen. Jeder Mensch kennt Baudis.“

„Ich kannte ihn nicht“, sagte Maria, als spräche sie nur zu sich. „Aber jetzt weiß ich, er ist es gewesen.“

Sie waren auf den Wittenbergplatz getreten. Immer noch schien die grelle, warme Sonne. Aber gleich mußte sie hinter der Gedächtniskirche verschwinden. Sie gingen schnell die Tauentzienstraße hinunter. „Wie lange sind Sie schon zurück?“ examinierte Zylvercamp. „Einen Tag? Sehen Sie, Sie können mir nicht ausweichen. Ich wußte es ja. Und war es schön bei den Großeltern? Nein? Lebt der Dackel Pepper noch, schimpft Seine großväterliche Gnaden, der Herr General, noch?“

Maria lächelte. Sie antwortete. Aber sie war nicht bei ihren Antworten. Schließlich sagte sie: „Ich habe doch Baudis schon in ein paar Filmen gesehen. Aber er sieht im Leben ganz anders aus.“

„Älter“, antwortete Zylvercamp. „Härter, abgebraucht, wie wir alle.“

Maria schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie, „anders.“

Und nach einer Weile: „Ich möchte nicht weiter davon sprechen. Es war schrecklich.“

Zylvercamp hatte sie jetzt nach alter Gewohnheit untergehakt. Sie bogen zusammen in die Nürnberger Straße ein. „Schrecklich?“ murrte er ungeduldig. „Seit wann gebrauchen Sie so große Worte?“

Maria sah ihn endlich an. Sie mußte lachen. „Ihr Ton ist zum Davonlaufen“, sagte sie. „Wie in der ersten Stunde. Die erste Aufgabe des Lehrers ist es, den Schüler zu entmutigen.“ Und sehr ernst: „Ist nicht nötig, Professor.“

Sie gingen im Schatten der Häuser, die eine muffige Hitze atmeten. Es war schon nicht mehr ganz hell. Zylvercamp wollte in dem kleinen russischen Kaffee eine halbe Stunde mit Maria sprechen. Aber sie hatte keine Zeit. Sie mußte zu ihrer Schwester Ilse, der Regierungsrätin. Ein Kind war krank. Nicht schlimm etwa. Nein, nur ein bißchen. Aber sie mußte die Schwester ablösen, und darum war sie eilig. Sie streckte ihm die Hand hin. Aber er schien es nicht zu bemerken.

Er ging weiter neben ihr. Er wußte ja, wo „die Regierungsrätin“ wohnte. Er hatte sie schon manchmal begleitet. Man stieg einen engen Treppenflur im Hinterhaus hinauf und hatte dann den Blick in einen bescheidenen Kaffeegarten. Also hier rechts herum in die Kurfürstenstraße. Nicht wahr?

Und mit einemmal brach er los. Er packte sie beim Arm. Er zog sie so zu sich herum, daß sie stehenbleiben mußte und Gesicht zu Gesicht vor ihm stand.

„Was glauben Sie eigentlich?“ flüsterte er. „Denken Sie, man beendet eine Freundschaft wie die unsere so mit Wegbleiben, Verschwinden, Nichtmehrdasein?“

Maria starrte ihn an. Nur nicht weinen, dachte sie. Das würde ganz verkehrt sein. Haltung, nicht wahr, geradestehen und einstehen für das, was man will. Das hatte der Großvater, General Schüler, immer gepredigt, und aus den tausend Lehren, die sie bekommen hatte, erwies sich diese eine immer wieder als brauchbar. Einstehen für das, was man will.

„Ich wollte unsere Freundschaft gar nicht beenden“, sagte sie, „ich wollte ...“

Zylvercamp aber ließ sie nicht zu Ende sprechen. „Nicht beenden“, murrte er und drehte sie wieder fort von sich, er schob sie geradezu weiter. „Nicht beenden, aber untertauchen und wegschwimmen und nicht mehr wissen, wo das Atelier liegt, und sich nicht mehr um das letzte Bild kümmern, Garten im Herbst als talentvolle Studie wie von einem Pfuscher hingehauen stehenlassen. Lieber Gott, wäre ich mit sechsundzwanzig Jahren so begabt gewesen! Hätte ich einen solchen Lehrer gehabt wie diesen Professor Zylvercamp! Aber ich war immer allein, mußte alles selbst machen, denken, experimentieren, exerzieren, probieren und verlieren, bis man es endlich gefunden hatte. Und euch jungen Leuten fällt die ganze Sache in den Schoß, und ihr laßt es eines Tages stehen und liegen. Keine Diskussionen bitte. Weg, verschollen. In die Arktis abgereist. Im Schweigen erstickt!“

Maria von Nemesch legte ihm die Hand auf den Arm. Zylvercamp verstummte endlich.

„Sie wissen“, sagte sie mit ihrer etwas dunklen, tonlosen Stimme, „Sie wissen genau, es ist nicht so.“

„Sondern ganz anders“, sagte Zylvercamp, „Sie kamen sofort nach Ihrer Rückkunft zu mir. Sie schickten mir von Wiesenberg aus Ihre neuen Arbeiten.“

„Ich habe fast nichts gearbeitet“, sagte Maria, „außer für den Verlag. Für Geld also, weil ich ja leben muß. Aber nichts für mich. Es ging nicht.“

Zylvercamp schüttelte erstaunt den Kopf. „Warum ging es denn bei Ihnen nicht? Bei mir, das ist ja ganz klar: ich suche etwas Neues. Etwas ganz Bestimmtes, das sich nicht fangen läßt. Und da übe ich mich eben im Fangen. Eine widerwärtige Zeit. Man ist wie tot, so sehr man sich abzappelt.“

Maria antwortete nicht. Sie hatte am Tage zuvor ein paar neuere Arbeiten von Zylvercamp gesehen. Sie waren gut, sicherlich. Aber wirklich wie tot. Merkwürdig unsicher. Trotzig. Ohne Hintergrund und Untergrund.

„Angelangt“, sagte sie jetzt und blieb an dem kleinen Eingang eines riesigen Hauses stehen. „Es ist auch Zeit. Mein Himmel, gleich sechs!“

Aber sie reichte ihm diesmal nicht die Hand. Sie sah ihn vielmehr erwartungsvoll an mit ihren „Landschaftsaugen in zierlich bemaltem Stadtgesicht“. So hatte er das erste Porträt genannt, das er von ihr gemalt hatte, und so sah er sie jetzt. Das war das Schreckliche und Schöne: wenn man einmal bis in den Untergrund des Menschen gesehen hatte, so blieb das und veränderte sich nicht. Das hatte seine Ewigkeit, wenigstens die kurze Ewigkeit des Lebens, das man führte.

„Landschaftsaugen in zierlich bemaltem Stadtgesicht“, sagte er. Und sie antwortete: „Leben Sie wohl, Professor.“

Sie drehte sich um und war sogleich in dem dunklen, engen Eingang verschwunden. Sie lief über den Hof, der lichtschachtähnlich eingeschlossen war von einem Steinviereck aus grauweißen Steinen, vier Stockwerke hoch, mit einem grellen blauen Himmel darüber. Es war schon dämmerig, und die Lampen der Fenster schienen.

Maria rannte an den Aschenkübeln vorbei, die hier immer standen, immer überquollen von Asche, Apfelsinenschalen, Papier und Gemüseresten. Sie hörte Zylvercamp rufen. Sie lief die ersten Stufen im engen Treppenflur. Im oberen Stock kam jemand aus der Tür und unterhielt sich hallend. Sie konnte nicht so weiterlaufen. Sie wollte ja auch nicht weglaufen. Warum lief sie? Geradestehen und einstehen! Sie hielt also an, sie hörte Zylvercamp über den Hof stampfen, wütend den Stock aufs Pflaster klopfend.

„Maria!“ Es klang böse und gebieterisch. „Maria!“

Er kam jetzt in den Flur. Er kletterte eilig die erste Treppe herauf und stand neben ihr.

Nun kam von oben der Mensch, ein dürrer, hastiger Herr, ein Rattengesicht mit neugierigen, fresserischen Augen. Es sah so aus, als wollte der fein gekleidete Mann sich gleich in die Abfallkübel auf dem Hofe stürzen. Er lief vorbei, zuckte mit der Hand nach seinem Hut, wollte Zylvercamp grüßen. Das war doch ein Gesicht, das man schon gesehen hatte. Er wandte sich von unten her noch einmal zurück und lief dann kopfschüttelnd über den Hof davon.

„Da stehen wir nun“, sagte Zylvercamp. „Da müssen wir in einem engen Treppenflur über die wichtigsten Dinge sprechen.“

„Wir brauchen, glaube ich, nichts mehr zu sagen“, antwortete Maria. „Es ist alles ganz klar.“

„Unsinn“, schalt Zylvercamp, „nichts ist klar. Alles ist verwölkt, dunkel, voller Gewitter.“

„Ich bitte Sie herzlich“, sagte Maria, „lassen Sie mich jetzt gehen.“

„Sie wollen also nicht wiederkommen?“ fragte Zylvercamp.

Maria schüttelte den Kopf.

„Auch wenn es notwendig wird für mich, wollen Sie nicht kommen?“

Maria ging schnell ein paar Stufen. Sie sagte: „Wir wollen nicht weitersprechen. Es kann doch nur schlimmer werden.“

Zylvercamp schlug mit dem Stock auf das Treppengeländer wie ein ungezogener Junge. Aber er sprach ganz gefaßt und leise: „Warum wollen Sie die Wahrheit nicht hören?“

„Weil ich sie weiß.“

„Auch daß ich Sie liebe?“

„Deshalb bin ich nicht mehr gekommen.“

„Nun ... und?“ Es sah gespannt zu ihr hinauf. So wie er im letzten Augenblick, bevor er zu malen begann, die Leinwand ansah. Auf die ersten Striche kam es an, alles andere ergab sich daraus ... wie Schicksal. Ja, es gab Bilder, notwendig wie Schicksal, und Bilder, überflüssig wie ein Durchschnittsleben, und es gab Schicksal, das sich notwendigerweise vollenden mußte wie ein Bild, und anderes Schicksal, nicht wert, es zu beginnen. Aber dies hier war notwendig wie ein Bild.

„Sie sind nicht gekommen“, sagte er, „und hat es Ihnen genützt?“

Maria mußte in allem Kummer lachen. „Nein, es hat mir ganz und gar nichts genützt.“

Damit wandte sie sich und lief schnell die Treppe hinauf. Zylvercamp stand einen Augenblick verblüfft. Dann lief er in ein paar Sprüngen hinterdrein. Er faßte sie noch dicht vor der Tür. Er hielt sie, indem er seinen rechten Arm um ihre Schulter legte, wie er es manchmal kameradschaftlich bei der Korrektur getan hatte. Er sagte: „Nein, hallo, so können Kinder einander weglaufen. Aber da Sie wissen, daß Sie ebenso ein Stück von meinem Schicksal sind, wie ich ein Stück von Ihrem Schicksal bin, so müssen Sie bleiben. Sie werden doch nicht gegen Ihr Schicksal kämpfen wollen?“

Maria antwortete nichts. Sie drückte auf die Klingel zu der Wohnung ihrer Schwester. Sie sagte: „Noch kann man entkommen.“

Zylvercamp konnte nichts mehr erwidern. Die Tür wurde gerade von dem Hausmädchen geöffnet. Er reichte ihr die Hand, verbeugte sich etwas linkisch. Die Tür schloß sich, und Maria von Nemesch war verschwunden.

Zylvercamp ging ganz langsam, Stufe für Stufe, die Treppe im Zwielicht hinunter. Als er unten auf der Straße ankam, war es dunkel geworden. Aber es war noch immer sommerwarm. Die Schaufenster glänzten von der falschen Sonne überheller Taglichtlampen.

3

Abends war eine kleine Gesellschaft bei Zylvercamp. Es waren fast nur Freunde gekommen. Nur Doktor Altpeter, Assistent an der Hamburger Kunsthalle, war „zugeladen“ worden, weil er wichtig war oder sich wichtig machte. Er war ein schöner, junger Mensch mit einem Anflug von Feistheit infolge reichlicher Ernährung und ungewöhnlicher Selbstzufriedenheit. Er war ein verhinderter Dichter, der seit Jahren eine „exakte Ästhetik“ schrieb und seiner bissigen Kritiken wegen als Kenner galt.

Er verehrte den „Farbmeister und Menschendichter“ Zylvercamp sehr und gebrauchte ihn vielfach als Maßstab in seiner exakten Ästhetik. Zylvercamp behandelte ihn schlecht. Er duldete ihn auf Bitten seiner Frau. Aber er übersah ihn meistens. An diesem Abend hatte er noch kein Wort mit ihm gesprochen.

Aber er war überhaupt nicht sehr gesprächig. Bei Tisch hatte er sich von der Sammlerin Frau Terpuis, der Witwe eines Wäschegrossisten, über ihre Ankäufe berichten lassen. Jetzt saß er neben Bigel, dem Kunsthändler, auf dem großen Altan und starrte mit dem alten Freund zusammen über die Bäume des Bellevueparkes, die sich im Vollmondlicht mit den Bäumen des Tiergartens wie ein großer Wald dehnten, ein graugrüner Wald, wie Bigel behauptete, ein grünblauer Wald, wie Zylvercamp ihn belehrte. Ob nun blaugrün oder graublau ... der Blick auf die Bäume war herrlich, auf die Lichter der Charlottenburger Chaussee, die wie bläuliche Kerzen im Laub schimmerten, auf den dunklen, spitzen Turm der Kaiser-Friedrich-Kirche und den hellen, von Kinolicht angestrahlten Turm der Gedächtniskirche.

Der alte, dicke Bigel sprach heftig und ohne rechte Überzeugung auf Zylvercamp ein. Daß man manchmal lebensunlustig wurde, war doch klar. Aber es war kein Grund, böse auf das Leben zu werden. Daß man manchmal Mist malte oder, wie er sich ausdrückte, Schinken in Mist, war ganz selbstverständlich. Kein großer Maler ohne großen Mist. Er wollte vor den Ohren dieses süßlichen Altpeter keinen Streit entfachen, aber Rembrandt und Dürer, Holbein und Cranach, Corinth und Slevogt hatten nur deshalb keine miserablen Bilder gemalt, weil die Kunsthistoriker Gut und Schlecht nicht unterscheiden konnten. Hatte jeder seine schwachen Stunden, also Zylvercamp auch.

Bei dieser Gelegenheit: das Porträt des Gesandten, um das sich eine Wochenschrift sehr erregt hatte, war keine schwache Arbeit, sondern eine ausgezeichnete, und es war vielleicht nur nicht klug, Gesandte so zu malen, wie sie sind, statt so, wie sie sich sehen. Aber wenn irgendeiner mit seinem Leben zufrieden sein konnte, so doch Zylvercamp.

Zylvercamp zuckte die Schultern. „Vielleicht, wenn ich wie mein Bruder hinter dem Pflug herginge oder jetzt im Oktober beim Torfladen wäre oder auf der Entenjagd, würde mir wohler sein.“

Bigel winkte ab. Das stand jetzt nicht zur Debatte. Er sollte aber einmal das Glück in seinem Leben objektiv ansehen. Daß er als ein Bauernjunge in Dürftigkeit geboren war und doch nicht in Not. In einer engen Bauernkate aufgewachsen, aber in einer breiten, weiten Landschaft. Und hatte sich selber durchschlagen müssen, ohne andere Waffen als ein Bündel Pinsel. War ein berühmter Mann geworden, ein wohlhabender Mann mit der schönsten Aussicht Berlins vor der Nase, Stadt und Land in einem, Wald und Weite. Rechter Hand das Brausen der Kinowelt vom Kurfürstendamm, links das Grollen von Moabit mit Turmpalast und Bürgerwohnungen, und im Rücken das Zischen, Rollen und Funkeln der Stadtbahn, die gelben Sternlichter des Himmels neben dem Mond und das Vergnügungslicht Berlins als gelbe Kuppel am Himmel. Das war alles so wunderbar und märchenhaft, daß Zylvercamp sich täglich wenigstens einmal seines Glückes bewußt werden sollte.

Zylverkamp lachte: „Ich bin auch kolossal zufrieden.“

Bigel schüttelte den Kopf: „Nein, Ihre letzten Sachen sind nicht gut, also geht es Ihnen nicht gut. Außerdem aber, wenn man es Ihnen nicht ansähe: das gute Barometer des Hauses zeigt Stille, Flaute, baldigen Sturm.“

Sie blickten sich beide um. Sie lächelten Frau Renate Zylvercamp zu, die hinten auf dem Balkon saß, fast am Eingang zum Zimmer, mit Delius, dem Gutsbesitzer, und Minchen Tweer, der großen Sängerin.

Renate Zylvercamp hörte mitten im Satz zu sprechen auf und kam herüber. Sie legte eine Hand leicht auf Zylvercamps Schulter und sagte: „Wir schwatzen von früher wie die Kinder. Delius erzählt Jagdgeschichten aus Pommern und Minchen Erinnerungen an die Zeit, da sie eine Pastorentochter war.“

Zylvercamp lachte: „Und du erzählst aus der Zeit deiner Rittergutsbesitzerei, wie?“

Renate hörte ganz gut den Unterton von Unzufriedenheit heraus. Ein bißchen eifersüchtig war Zylvercamp noch immer auf ihren ersten Mann, den Gutsbesitzer Scheffer, von dem sie weggegangen war, um zu Zylvercamp zu kommen. Er war im August geboren. Wo er liebte, galt nur seine Welt.

Sie sagte: „Ja, in Geschichten kriegt das Frühere seinen kleinen Glanz. Der Reitweg ins Moor, der versoffene Buschwächter Grün, Schäfer Frenze mit der Strickstrumpfweisheit, Schlehen im Oktober, so jetzt bei Vollmond, und die Mondnebel über dem Bruch ...“

Sie verstummte. Sie beugte sich ein wenig hinaus. Der Mond traf gerade ihre schöne, klug gebuckelte Stirn, eine faltenlose Stirn. Der Gram saß tiefer, in den Lippen zum Beispiel, die jetzt ins Mondlicht tauchten, ein wenig zusammengezogen, verkniffen vom Verschweigen und Stillesein.

„In der Erinnerung ist das Leben fast immer glücklich“, fuhr sie fort. „Minchen Tweer erzählte vorhin von Amsterdam. Von einem Spaziergang an den Grachten mit ihrem Mann Tweer. Er habe damals aus dem Mondschein und den alten Kanälen den ganzen Geist Amsterdams beschworen. Tatsächlich war Tweer damals schon irrsinnig, und Minchen hatte jede Nacht Angst, er würde auf sie schießen. Sie wissen, Bigel, er wollte sie nicht totschießen. Nein, nur die Kehle durchschießen, damit sie nicht mehr singen könnte. Denn er glaubte, daß ihr Singen ihm die Kraft, die Einsicht und den Verstand nähme. Das mußte sie damals durchleben. Ich weiß es genau. Und in der Erinnerung bleibt der Mondschein über den Grachten.“

Sie wandte sich schnell und ging über den Altan weg ins Zimmer. Bigel steckte sich eine neue Zigarre an. Er sagte paffend: „Eine muntere Geschichte, diese Geschichte aus Amsterdam. Und wie gewöhnlich haben die Verrückten recht. Die Kunst des einen frißt das Leben des anderen mit auf. Oder?“

„Wieso frißt die Kunst das Leben des anderen?“ fragte Zylvercamp. „Kunsthändler zum Beispiel kommen mit ihrem Leben auch nicht zurecht und Gutsbesitzer, Kaufleute und Postsekretäre mit ihren Ehen auch nicht. Wer frißt denn da wen?“

Bigel sah den alten Freund forschend an. Ihm war es eigentlich gleichgültig, wer wen fraß. Er wollte wissen, ob es wirklich so gefährlich um Zylvercamp stand, wie ihm Renate berichtet hatte. Eine Krise durch und durch, von oben bis unten, die alles zerfrißt, hatte sie ihm gesagt. Sie schien recht zu haben.

Denn Zylvercamp ging ganz gegen seine Gewohnheit — er liebte es sonst, alles ordentlich zu Ende zu bringen, er war eigentlich ein Pedant, ein Alles-immer-besser-Macher — Zylvercamp ging einfach aus diesem Gespräch weg.

Er ging mit einem starrsinnigen Lächeln auf den Lippen an seinen Gästen vorbei. Er übersah es, daß Doktor Altpeter sein feistes, lächelndes Gesicht gegen ihn erhob, um ihn nach seiner Meinung über Grünewald zu fragen, der in der exakten Ästhetik eine schlechte Note bekam. Er überhörte auch Minchen Tweers Frage, ob sie ein Lied singen dürfe. Er ging hinaus. Und während Minchen Tweer sich im Balkonzimmer an den Flügel stellte und, von Renate begleitet, ein altes italienisches Lied von Spinelli sang: Frage der Liebenden über die Ewigkeit des Glückes, das sterngleich auf ihr Bett schien (sie sang es sehr leise, die Töne hatten Zeit, einander abzuwarten, zu begleiten, zu versickern), während Bigel mit unruhigen Altersschritten auf dem Altan auf und ab ging, Frau Terpuis, die Wäschegrossistenwitwe, die Augen schloß, Delius ernst und würdig vor sich hinschaute und Doktor Altpeter wohlwollend lächelte, weil er sehr zufrieden war, daß die berühmte Tweer hier abends einfach ohne Eintritt und Vorbereitung und Presse für ein paar Auserwählte sang ... währenddessen stand Zylvercamp in seinem Zimmer am Telefon. Er rief bei Regierungsrat Richter an. Er hatte sich ausgerechnet, daß Maria allein in der Wohnung sein würde. Er stand, den Hörer am Ohr. Die Verbindungsglocke zirpte. Jetzt knackte der Apparat. Marias Stimme.

Zylvercamp nannte seinen Namen. Er sagte nichts weiter. Sie, nicht wahr, war weggelaufen, sie mußte jetzt sprechen. Aber sie sagte auch nichts. Sie stand am Apparat, der neben dem Kinderbett aufgestellt war. Eine Nachtlampe schien in das unruhige Fiebergesicht des kleinen Gebhard. Sie fürchtete, ihn zu wecken. Sie flüsterte endlich: „Ich kann jetzt nicht sprechen.“

Zylvercamp sagte: „Mit einemmal kann ich es nicht mehr ertragen, von Ihnen getrennt zu sein.“

Sie antwortete: „Was soll ich tun?“

Er überlegte einen Augenblick. Das war wirklich nicht einfach zu sagen. Er war kein Knabe mehr, der glaubte, daß man zusammenlief, und es war dann alles in Ordnung.

„Ich wollte Ihnen schon lange sagen ...“ begannen sie beide gleichzeitig und stockten.

„Nicht jetzt“, schloß Maria hastig. Denn das kranke Kind hatte sich bewegt. Sie legte den Hörer schnell auf. Sie löschte das Licht und ging mit dem Apparat in ein anderes Zimmer. Sie stöpselte ein. Er würde sicher gleich wieder anrufen. Sie wollte ihm dann sofort sagen, daß sie so gut wie verlobt war. Mit Oberleutnant von Wrede. Sie hatte sich in Wiesenberg nach langen Kämpfen entschlossen. Es war doch „das einzig Vernünftige“. Sie kannte Wrede schon fast zehn Jahre. Sie mochte ihn sehr gern. Warum rief Zylvercamp nicht an? Sie mußte es ihm unbedingt sagen. Dann war es endlich entschieden.

Sie begann jetzt seine Nummer zu wählen. Der Apparat schrillte drüben bei Zylvercamp. Er stand daneben. Aber er meldete sich nicht. Was sollte er sagen? Eine tiefe Müdigkeit hatte ihn erfaßt. Er ging langsam den Gang zurück zu den anderen Zimmern. Er dachte: Wenn sie mir aber gar nicht helfen kann? Wenn ich mir selbst helfen müßte? Das Hausmädchen kam vorbei. Er schickte sie an den Apparat. Sie sollte sagen, daß er weggegangen war. Schnell, schnell.

Er stand und hörte, wie das Mädchen etwas geziert berichtete, der Herr Professor habe soeben das Haus verlassen.

Er kam langsam, die Hände in den Taschen, in das Musikzimmer zurück. Minchen Tweer sang gerade das Lied zu Ende. In den Sternen stünde die Ewigkeit der Liebe geschrieben. Aber der Erdenbürger könne die Schrift nicht entziffern.

Sie sang es mit einer hauchzarten, sehr feinen und innigen Koloratur. Die Ewigkeit ... ja Ewigkeit ... o Ewigkeit ... in Ewigkeit.

Renate starrte das Notenblatt an. Zylvercamp sah, daß ihre Augen voll Tränen waren.

So begann dieser Oktober.

Der zweite Oktober

1

Maria war spät eingeschlafen. Deshalb wachte sie so schwer auf, als ihre Schwester Ilse hereinkam, den Vorhang aufzog und zu ihr ins Bett schlüpfte.

„Es ist erst halb sechs“, flüsterte Ilse, „die Kinder schlafen noch, und der Regierungsrat (so nannte sie rechtens ihren Mann) ist beim Rasieren, Turnen, Baden und Aktenaufarbeiten. Wir haben eine Stunde Zeit. Erzähle nun endlich von Wiesenberg.“

„Erzähle du zuerst von dir, Ilse“, seufzte Maria und reckte sich, „du hast ja unterdessen auch drei Monate gelebt.“

Ilse lachte. „Bei uns kennst du alles“, sagte sie. „Es verändert sich nichts, außer den Monaten, und die kommen ja nach einiger Zeit auch wieder. Oder doch: gestern saß ich zu Tisch mit dem Präsidenten. Und er sagte, er sei von der Karriere Walters überzeugt.“

„Das ist nichts Neues“, seufzte Maria, und Ilse gab es zu. Es war ganz selbstverständlich, daß ein so eifriger, ordentlicher und gescheiter Mann wie Walter Richter seinen Weg machte. Es war sogar langweilig selbstverständlich. Was sie noch nicht zugab, war, daß alles in ihrer Ehe langweilig war. Die Gespräche des Morgens, das Warten über Tag und die Abende, an denen sie entweder auf nützlichen Gesellschaften war oder zu Hause neben dem Schreibtisch des Mannes hockte, las oder nähte und dem Rauschen der Aktenblätter lauschte, wie sie früher dem Wipfelrauschen der Bäume bei den Großeltern in Wiesenberg gelauscht hatte. Ach, wie war doch alles fern geworden!

„Also erzähle von Wiesenberg und von den Großeltern“, sagte Ilse.

Maria erzählte ein bißchen. Die Konditorei ihrer Backfischzeit war abgerissen. Die süße Hinterstube bei Lolle gab es nicht mehr. Die Majorin Frytag hatte einen Selbstmordversuch begangen, weil ihre Tochter einen Agenten heiratete, „einen Mann, der mit Handkoffern von Haus zu Haus ging“. Der General Schüler, der Großvater, wurde immer asthmatischer. Aber er wollte es nicht wahrhaben und rannte, wenn man ihn beobachtete, den Berg zum Haus hinauf, als wäre er Siebzehn und nicht Fünfundsiebzig. Die Großmutter ... nein, das wollte sie nicht erzählen, die Großmutter hatte ihr gesagt, Maria solle sie nur fragen, wenn sie endlich das Schicksal ihrer Mutter erfahren wollte. Die Großmutter fand, es sei Zeit, daß sie Bescheid wüßte. Aber der „kleinen“ Ilse sollte sie nichts davon sagen. Wozu auch? „Ihr Weg ist trocken und deshalb leicht zu fahren. Sie wird der Mutter nicht nacharten.“

„Aber ich?“ hatte Maria gefragt.

„Ich weiß nicht“, hatte die Großmutter geantwortet, „ich weiß es wirklich nicht, so alt ich bin.“

Also das konnte Maria nicht erzählen. Aber es war schon etwas passiert. Es war nur noch nicht ganz gewiß. Ilse wurde neugierig. Sie rüttelte die Schwester. Sie rief triumphierend: „Also hast du dich verlobt? Und das hast du mir gestern abend nicht gesagt und erzählst jetzt tragisch, daß die süße Hinterstube abgerissen ist? Nun erklär wenigstens, wer es ist!“

„Guido von Wrede“, sagte Maria und lachte. Denn Ilse hatte sich im Bett hingekniet und flüsterte ganz andächtig: „Guido von Wrede ... das ist ja wunderbar. Der gescheite und erfolgreiche Guido.“

Sie küßte die Schwester leidenschaftlich. Sie hatte Freudentränen in den Augen. „Oh, wie ich mich freue. Und du? Freust du dich gar nicht? Doch, sicher! Du mußt dich doch freuen. Guido von Wrede! Komm, ich muß es gleich dem Regierungsrat erzählen.“

Maria hielt sie fest. „Untersteh dich“, sagte sie, „es ist ganz und gar geheim. Keiner weiß es. Nicht einmal wir ganz genau.“

„Guido von Wrede“, wiederholte Ilse zärtlich. „Ich traf ihn vor zwei Jahren in Wiesenberg. Er war so still und dabei so lustig. So adrett, nicht wahr, und immer aufmerksam. Man merkt es ihm gar nicht an, daß er so fleißig ist, und das merkwürdigste: er spricht selten von sich und niemals von seinen Erfolgen. Daß es solche Männer gibt! Ich mag ihn riesig!“

„Ich mag ihn auch ganz riesig“, sagte Maria.

Ilse hatte sich auf die Fensterbank geschwungen. Sie starrte beglückt hinaus, als breite sich unten eine herrliche Landschaft. Aber man sah nur Häuser. Eine fremde Wohnung war genau gegenüber, mit einem Balkon, putzig verputzt mit Efeu, verrankt mit wildem Wein, eine Laubhöhle an einem nackten Steinhaus. Und wenn man sich hinausbeugte, sah man Straßenlaternen, wo Bäume hätten stehen müssen, und schräg gegenüber einen Schlächterladen mit Würsten im Fenster, einem halben Schwein und einem Ochsenviertel.

„Ich freu’ mich so“, sang Ilse, „ich freu’ mich so.“

Maria wurde ein wenig mutiger unter Ilses Freude. Der doppelte Schreck von gestern, der sie die Nacht über verfolgt hatte, der Schreck über das plötzliche Auftauchen Zylvercamps und der nicht ganz klare Schreck über diesen Baudis ... sie wichen ein wenig zurück.

Sie sagte: „Wenn ich den Guido heirate, werde ich viel Zeit haben. Wahrscheinlich kommt er in den Generalstab, und da arbeiten sie ja eigentlich immer. Ich habe ihn auch gefragt, wozu er eigentlich eine Frau braucht. Er sagte: um mit den Gedanken irgendwo zu Hause zu sein. Hübsch, nicht wahr? Aber ich brauche nicht zu sitzen und zu warten. Ich werde ein Atelier haben.“

Ilse winkte ab. „Das wird nur zuerst sein, später wirst du nicht mehr malen wollen. Und wenn erst Kinder da sind ...“ Sie brach seufzend ab.

Maria hatte sich aufgesetzt. „Davon verstehst du nichts, Ilse“, sagte sie scharf und beinahe böse. „Ich werde immer malen. Ebenso kannst du einem Menschen sagen: Du wirst nicht mehr atmen wollen, wenn du erst Kinder hast. Immer und unter allen Umständen werde ich malen. Hast du verstanden?“

Ilse erwiderte nichts. Sie brach das Gespräch einfach ab. Wenn Maria dieses Gesicht machte, ein Gesicht, steinern, mit Falten rechts und links vom Mund wie eine Meduse, dann hatte es keinen Zweck, zu sprechen ...

2

Es war nachmittags um drei. Die Sonne kam bei ihrem Gang über die wipfelbunten Tiergartenbäume am Turm der Kaiser-Friedrich-Kirche vorbei und fiel in das Atelier Zylvercamps.

Sie prallte mit Bündeln von Sonnenstrahlen durch das Glasdach, durch die Glaswände und füllte den Raum mit flirrender Helligkeit und einer trockenen, angenehmen Hitze. Denn ein leichter, kühlender Wind kam von den Bäumen her, ein Nordwestwind, genau aufs Atelier gezielt.

Zylvercamp liebte diese Sonnenstunde am meisten. Es war seine beste Arbeitsstunde. Er hatte das Atelier so in die Hausecke brechen lassen, daß er die ganze Nachmittagssonne bekam, wenn sie überhaupt schien. Er haßte die Nordateliers mit der kellrigen Schattenluft, aus der auch — wie er sagte — nur Schattenbilder kommen konnten, von Leuten gemalt, die durch die Sonne in ihrem Farbsinn gestört wurden. Die also den Quell aller Farbigkeit nicht ertragen konnten. Die künstliches Nordlicht haben mußten, Häuserlicht, Kalklicht, damit ihre kümmerlichen Farben nicht das letzte Leuchten verloren.

Zylvercamp betrat jetzt sehr schnell das Atelier. Er kam vom Nachmittagsschlaf. Seine rechte Wange war kindhaft gerötet, und der rötliche Haarkranz, der seine Glatze umstand — lockig und nun mehr und mehr von Grau durchsetzt, das langsam das Sonnenrote im Haar auslöschte —, war ein wenig verwühlt. Er trug ein blusiges blaues Hemd mit Taschen und sehr weite blaue Leinwandhosen, seine gewöhnliche Arbeitskleidung.

Er trank schnell eine winzige Tasse Mokka, die in einer Ecke des Ateliers aufgestellt war, und stopfte eine seiner langen, dünnstengligen Holländerpfeifen, während er schon das Bild betrachtete, das auf der Staffelei stand.

Es war ein Selbstporträt. Zylyercamp, im blauen Hemd und blauen Leinwandhosen, malend. Als er mit einundzwanzig Jahren das erste wirklich gute Selbstporträt gemalt hatte, hatte ihm Trübner, sein Lehrer in Karlsruhe, aufgetragen, er solle alle sieben Jahre ein Selbstporträt malen. Merkmale am eigenen Lebensweg. Ehrliche, ganz und gar ehrliche Spiegelfängereien.

Zylvercamp hatte es treulich eingehalten und bis auf das Selbstporträt von damals, den Einundzwanzigjährigen mit einer Stahlbrille darstellend, mit einer Löwenmähne roten Haares, mit Koteletten wie ein Bohemien, mit hellen Hosen wie ein Geck, mit guten, hellen, klaren Augen und einem unfertigen, gierigen Mund ... bis auf diese Jugendarbeit, die in der Nationalgalerie hing und von da in die Lexika und Kunstgeschichten gewandert war, besaß er alle Selbstporträts.

Er brauchte nur in jenen Winkel hinter dem Diwan an den „Giftschrank“ zu gehen und sie rauszuholen. Er hatte nicht übel Lust dazu. Aber zuerst mußte er arbeiten. Keine Entschuldigung galt mehr. Er war in den letzten Tagen nicht vorwärtsgekommen. Er hatte gefaulenzt und gepatzt. Er war spazierengegangen, als ob man jemals Zeit hätte. Als ob man „später“ irgendwas nachholen könnte. Er wußte genau, daß jede Zeit nur ihr eigenes Werk kennt, daß nichts nachgeholt werden kann, wenn die Zeit vorbei ist.

Also angefangen! Das Modell, den Maler Zylvercamp, vorsichtig von der Seite im Spiegel angegangen. In den hellen Augen saß noch etwas Schlaf. Nein, wenn man näher zuschaute, die Kälte und die Schrecken der Dunkelheit. Wenn man ganz genau hinschaute und wagte, das Geschaute zu malen, so mußte in den Augen langsam der Tod hervorglimmen.

Und was war Tod? Nichts mehr sehen können, nichts mehr unterscheiden können, nichts mehr empfinden, nichts mehr gestalten können. Nichts, niemals mehr malen können. Also vorwärts, male jetzt wenigstens den Tod, wenn er zum Vorschein kommt.

Aber es war nicht der Tod. Es war der Traum, der in den Augen saß. Ein Traum allerdings, sehr nahe am Tod.

Die Ebene um die Bauernkate zu Hause in Ohrau kam darin vor. Die Nesselgrube gleich hinten am Erlengebüsch mit dem winzigen Teich im Grunde, in dem die Feuersalamander hockten, über dem die Gössel schnatterten. Die Nesselgrube, in der die alte Matratze verschimmelte und verrottete, die Kochtöpfe und Eimer ohne Boden und vor allem jene Blechkaffeekanne, die der Großvater sich immer zurückholte, weil sie sein Leben begleitet hatte und die deshalb nicht verrosten durfte, sondern das Gnadenbrot haben sollte in der Dämmerecke über dem Herd im Altenteil. Aber der Vater, ein sehr harter Mann, ein Mann, der für das „Vernünftige“ war, brachte sie immer wieder in die Nesselgrube zurück.

Eine löchrige Kanne aufbewahren, welch ein Unsinn!

Zwischen diesem Gerümpel, den Resten eines armen Lebens, wuchsen die Nesseln, dunkelgrün und üppig. Die nährten sich gut von Rost und Schimmel.

Und nun der Traum: Zylvercamp wachte als Knabe in seinem Kinderbett auf, weil das Bett plötzlich viel zu klein wurde. Er war in einer Nacht riesenhaft gewachsen, ein Mann geworden. Eine Stimme aber rief ihm zu, er solle aufstehen.

Im gleichen Augenblick fühlte er sich gehoben, schwebte durch die Wand in die große Tenne, flog dicht über dem gebuckelten Lehmboden in den Kuhstall, umflog die milchwarmen Kühe, übersprang den oktoberleeren Gemüsegarten und landete in der Nesselgrube.

Er stand zwischen Nesseln und Gerümpel. Er hob die Kaffeekanne des Großvaters auf. Er suchte den alten Melkeimer, über den seine Mutter sich vierzig Jahre lang vierzigtausendmal in der Stalldämmerung gebückt hatte, den Kartoffeltopf, in den er heißhungrig unzählige Male gegriffen hatte, die Waschschüssel, in der er als kleines Kind gewaschen worden war und die viele Jahre noch unter der Regentraufe gestanden und die Regenlieder der Traufe beantwortet, die Schmelzlieder der Dachrinne mitgesungen hatte.

Er hockte sich jetzt auf die Matratze der Großmutter, die man gleich nach dem Tode der Alten auf den Nesselfriedhof hinaustrug, wie er unzählige Male am Bett der alten Frau gekniet und die alten Gebete mitgesprochen, die zittrigen Gesangbuchverse mitgesungen hatte.

Die Stimme sagte: Sieh dir das alles noch einmal an! Zylvercamp nickte. Die Stimme aber fuhr fort: Und dann laß es liegen.

Zylvercamp aber sagte: Das geht nicht, das darf man nicht. Es ist doch alles noch zu gebrauchen. Und hatte die Blechkanne des Großvaters erhoben ... Wer bist du überhaupt?

Ich? fragte die Stimme ... viermal, zehnmal: Ich? Ich? Ich? ...

Und jedesmal hatte sie den Stimmklang eines anderen Menschen. Es schien die Stimme der Großmutter zu sein und die Renate Zylvercamps, die Stimme der Mutter und die Stimme Maria von Nemeschs.

Ich? ... Ich? ... Ich? ...

3

Das war der Traum gewesen. Zylvercamp aber hatte jetzt ein paar Pastellstifte ergriffen und zeichnete den Nesselgrund. Aber sich selbst zeichnete er nicht. Es war, als könnte er sich in der Traumlandschaft nicht mehr erblicken.

Er wandte sich nun endlich wieder dem Selbstporträt zu und begann verbissen zu arbeiten. Die Augen voll Traum und Tod wollte er jetzt bekommen. Die neugierigen Augen. Die farbgierigen Augen. Waren wieder kleiner und härter und schärfer geworden. Die Haare wurden nun endlich ganz grau. Oder? Nein, hier vorn an den Schläfen brannte noch ein bißchen vom alten Feuer. Aber das andere war ganz überascht. Auch der Mund war kleiner geworden. Zusammengezogen und verbissen wie ein Greisenmund. Die Unterlippe noch immer durstig vorgeschoben. Er war älter geworden ... natürlich. Aber auch bitterer geworden ... leider.

Er malte jetzt mit einem ganz feinen, kleinen Pinsel das Gefältel unter den Augen. Hier links unter dem Auge war eine neue Falte entstanden. Die mußte genau, sorgfältig ins Bild hinein. Wenn man lügen wollte, konnte man Modemaler werden. Ein Mann, der zu altern begann, stand vor dem Spiegel. Und der mußte gemalt werden. Der Nacken war noch ungebeugt. Gewiß. Aber die Zylvercamps blieben alle ungebeugt bis ins hohe Alter. Ungebeugt und schlank war der Großvater neunzig Jahre alt geworden. Aber zwanzig Jahre hatte er doch in einer zunehmenden Dämmerung zugebracht. In einem seltsamen, unverständlichen, halblauten Gespräch mit sich selbst. Oder mit den Schatten, die von ihm Besitz ergriffen hatten. Zylvercamp hatte ihn noch ein Jahr vor seinem Tode gemalt. Der alte Mann vor dem kleinen Altenteilerhaus, stehend, mit Augen ohne Widerschein und Ruhe.

Ohne Widerschein und Ruhe. Das war der Fluch des Alters. Man löschte langsam von innen her aus. Man leuchtete nicht mehr. Man alterte. Aber es hatte keinen Zweck, keinen Sinn, zu altern. Man bekam nichts dafür, daß man alterte. Man rückte nur Schritt für Schritt aus dem Leben hinaus, und zum Schluß fielen alle Verbindungen, und es war aus.

Zylvercamp legte das Handwerkszeug weg. Es hatte keinen Sinn, zu malen, wenn man sich verlöschen fühlte. Wenn man nicht selbst leuchtete, wie sollte das Bild leuchten? Malen mußte aus dem Überfluß kommen. Man durfte nicht arbeiten, wenn man sich trocken, armselig, gestrandet fühlte. Nicht nur im Gegenwärtigen tot, sondern auch in allem Vergangenen erloschen.

Er ging jetzt sehr schnell an den „Giftschrank“, in dem er seine Selbstporträts aufbewahrt hatte. Er holte sie heraus. Vier Stück, dem Alter nach geordnet.

Obenauf lag der schnurrbärtige Zylvercamp, achtundzwanzig Jahre alt. Hochnäsig mehr als hochherzig. Mit kalten Augen. Mit Radiumaugen, hatte er damals gesagt. Sie „sahen dem Menschen auf den Grund“. Sie entschleierten ihn, enthüllten ihn. Das Selbstporträt war glatt und klar gemalt. Sehr begabt. Jener Zylvercamp war in allen Techniken erfahren. Von allem Können geheizt.

Damals hatte er die Große Goldene Medaille bekommen und die Professur in München. Das war ein unglaublicher Erfolg. Schwer zu ertragen für einen, der sich durchgehungert und durchgefroren hatte und nun aufnahmebereit war wie Märzboden.

Er war sehr hochmütig geworden. Malte immer merkwürdiger und seltsamer und hatte — das lag in der Zeit — immer mehr Erfolg. Damals hatte er auch seine erste Frau geheiratet, Grete Zylvercamp. Aus Dankbarkeit, weil sie ihn durch die mageren Jahre begleitet hatte.

Das nächste Bild: ein Schreckensbild. Der Mann von Fünfunddreißig. Ein etwas beleibter, genüßlicher Herr. Als Bild schlichter gemalt. Naiver. Viel begabter. Aber etwas romantisch-verschwommen. Auf der Suche nach Tiefe sich schon tief wähnend. Er war damals gerade nach Berlin berufen worden. Er ließ seine Familie „vorläufig“ in München. Lebte ein Jahr allein. Eine herrliche Zeit. Nicht wegen der Abenteuer (die er allerdings sich auch ersehnt hatte), sondern wirklich wegen des Alleinseins. Er wohnte am Siegmundshof im Atelierhaus. Die Spree floß vor den Fenstern, und durch das Atelier ging ein Strom von Menschen: von Männern und Frauen, von reichen und armen Leuten, von Begabten und Unbegabten, von Begeisterten und Neidischen, von Schülern und Anhängern. „Man kann Menschen reich machen“ ... Das steht als Motto in der Zylvercampschen Hieroglyphenschrift und nur ihm und seinen nächsten Freunden entzifferbar auf den Rahmen geritzt. Eine ungeheure Zufriedenheit mit der Welt, ein großes Glück steckt in dem Bild. Bäurische Sicherheit, städtische Tüchtigkeit, künstlerisches Können, menschliche ... nein, menschlich oder seelisch oder herzlich ist nichts drin.

Porträt Nummer drei: Zylvercamp zweiundvierzig Jahre alt. Gemalt in der Heimat, in Ohrau, vor dem Vaterhaus. Gesicht und Haus gehen fast ineinander über. Von hier kommst du ... hierher gehörst du ... sollte das Bild heißen.

Aber es gelang nicht. Von hier kommst du: das sagt das Bild in der Form, wie Dach und Schädel ineinander übergehen. Aber der Blick, in den nun endlich Seele gekommen ist, Seele, wie meist, geboren aus Prüfung und Not, der Blick fragt: Wohin gehst du, Mensch?

Es war die schlimmste Zeit seines Lebens (bisher!). Der Krieg war gewesen. Zylvercamp hatte ihn drei Jahre lang mitgemacht. Im vierten lag er schwerverwundet in Lazaretten herum, kam nach Hause, quälte seine Frau, quälte sich. Konnte nicht malen. Meinte, in all dem Elend gehöre sich das nicht. Meinte, da er nichts konnte als malen, er sei am Ende seines Lebens. Wozu malen — so schrieb er damals öffentlich — die Menschen blieben, gemalt oder ungemalt, Bestien. Man veränderte die Welt nicht durch noch so gute Bilder. Ja, man veränderte nicht einmal sich selbst durch Malen. Und damals gerade, gerade dies Bild hatte ihn verändert, hatte ihn zu einer gewissen Selbsterkenntnis gebracht. Er hatte sich plötzlich gesehen, in allem, was ihm mitgegeben war. In seiner Bedingtheit, in seiner Begrenztheit. In dem, was nie anders wird. In dem, über das man nie hinauskommt. Und er hatte sich auch plötzlich gesehen in allem, was noch aus ihm werden würde, abgesehen von seiner Herkunft, vom Seelischen aus also. In dem, was immer wächst und wächst. Und keine Grenzen kennt.

Er war damals endgültig von seiner Frau weggegangen. Hatte seine Familie, Frau und zwei Kinder, in München untergebracht. Er sorgte materiell sehr gut für sie. Aber er kümmerte sich wenig um sie. Das kann nicht verschwiegen werden. Er war sehr froh, als die Frau einen anderen Mann heiratete, mit dem sie sich ausgezeichnet verstand und der die Kinder sehr gut erzog. Er fand, er gehörte nicht zu diesen Kindern. Er fand, sie spiegelten beide ganz und gar die mütterliche Familie wider, und sie hatten nichts von ihm und wollten nichts von ihm außer Geld. Und das war ihr gutes Recht, und sie bekamen es.

Manchmal dachte er, es sei böse, so zu fühlen und nach diesem Gefühl zu handeln. Aber nachdem er einmal vier Wochen mit den beiden Kindern verreist gewesen war und mit ihnen gelebt hatte wie mit Menschen von einem anderen Stern, nachdem er gesehen hatte, daß sie in ihrer Welt wenigstens so glücklich waren wie er in seiner, trennte er sich endgültig und für immer von ihnen und sah sie höchstens ein-, zweimal im Jahr oder wenn sie zufällig in Berlin waren.

Er wollte damals vor allem ungestört arbeiten. Er kam plötzlich auf ganz neue Dinge. Farblich, technisch, thematisch.

Er begriff ganz neue Sachen. Er fing zum ersten Male in seinem Leben an, systematisch nachzudenken. Er hatte bis dahin den Aberglauben gehabt, daß Denken dem Künstler, dem Maler, dem Könner schaden müsse. Daß es die ursprüngliche Kraft lähmen oder zerstören könne. Er kannte doch Maler genug, die zu klug waren. Die tüftelten und theoretisierten, die Denksysteme auf die Leinwand brachten. Ergrübelte und erknobelte Probleme statt Gestaltungen. Keine Schauungen. Und nun merkte er: alles, was der vertrocknete Verstand, was der endlich gepflegte und aufgelockerte Geist aufnahm, das kam in den Farben wieder zum Vorschein. Geist malen kann man nicht. Aber vom Geist her über das Auge die Farben leuchtender, durchsichtiger, klarer, einfacher machen ... das kann man. Das hatte er erfahren.

So kam es, daß er nach dieser entsetzlichen Krise — nein, noch mitten drin — ganz neue, ihn selbst überraschende Dinge malte. Bilder, die alle seine Anhänger und Freunde befremdeten, bis auf Bigel, der damals wie immer bei ihm stand und ihm beistand. Bilder, die aber von ganz anderen Menschen, von Menschen, die ihm bisher fremd und aller Malerei fremd gewesen waren, verstanden wurden.

Eine Riesengebirgslandschaft war darunter gewesen. Vom Kamm ins Tal über Fichten weg, sehr kühn und sehr verkürzt gesehen, die Farben auf Sonnenstrahlen in die Tiefe gleitend, ein überraschend heiteres Bild. Ferner das Porträt eines drei Monate alten Kindes — Baby-Porträts, schrieb befremdet die Kritik, zeigen eine gewisse Neigung zum Auflösen aller Form —, in das nichts hineingeheimnißt war, in dem nur das klare, einfache Menschenstaunen, das Widerbild der erstaunlichen Welt, das ursprüngliche Leuchten der menschlichen Existenz Gestalt geworden war. Schließlich war damals der Löwenmaulgarten entstanden, von oben her, vom Menschenaugenstandpunkt aus gesehen, eine derbe Fülle von Farben, aufgetan in der ganzen Vibration des Lichtes.

Unter diesem Löwenmaulbild hatte er Renate getroffen, eine pommersche Landfrau mit dem feinknochigen Gesicht und der zarten Haut der Städterin, mit straffen Haaren, die über der Stirn wie Pferdehaare abgeschnitten waren. Er hatte gesehen, daß sie lange unter dem Bild stand und schließlich überwältigt weinte. Und er hatte sie einfach weggeholt, weggefangen wie ein junges Pferd von der Steppe. Er wußte es genau: damals, als er voll guter Ideen und Einsichten, aber mit geringen Verwirklichungen im schlimmsten Übergang steckte, da er unmutig, lebensunsicher und lebensüberdrüssig war, hatten ihn ihre Freudentränen zum Leben zurückgeholt.

Sie hatten ihn erschüttert wie ein Erdbeben, und es war endlich ans Licht gekommen, was an Lebensfreude, an Klarheit, an Heiterkeit und Klugheit in ihm gesteckt hatte.

Da kam die große Zylvercamp-Zeit, aus der das Porträt Nummer vier stammte. Es war um den fünfzigsten Geburtstag herum gemalt. Selbst die beginnende Glatze leuchtet auf diesem Bild. Die Augen, ein wenig malerhaft zusammengekniffen, funkeln vor Farblust, vor Lebensfreude. Welch ein Gefühl, auf der Höhe des Lebens zu leben! Welch eine rasende Lust, das zu gestalten, was schon lange gewartet hatte, gestaltet zu werden! Welche Kraft kommt daher, daß man Kraft ausgibt! Daß man sich in immer wieder neuen Schöpfungen verschwendet. Daß man sich in Gestaltungen ergießt, die bleiben, in armselige, viereckige Leinwandstücke voll Ewigkeit.

Das verdankte er Renate. Und er verdankte ihr, daß alles Schwere leicht wurde. Selbst das bedrückte Gewissen. Er nahm doch nicht gern einem Mann seine Frau weg. Er mochte diesen Scheffer aus Pommern gern, einen schweigsamen Mann, einen stolzen Herrn, dem nie und nirgends etwas zugestoßen war, was er nicht überwinden konnte. Aber dies überwand er nicht. Genau wie Renate erdbebenhaft Zylvercamp aufriß und — wörtlich — entdeckte, genau so stürzte ihr Weggehen das Leben des Gutsbesitzers Scheffer zu.

Renate wußte das. Sie sprach damals das tollkühne, das hochmütige Wort, daß in jeder Schöpfung Geburt und Tod stecke. Und daß man es sich darum genau überlegen müsse, ob man schöpferisch zu sein wage. Denn man könne nicht wissen, ob bei einer Schöpfung Leben herauskomme oder Tod. Sei man aber erst einmal in der Schöpfung drin, so müsse man es ganz sein und könne sich nicht mehr darum kümmern, ob man das Leben anderer gefährde. Ein zweischneidig-gefährliches Wort, das heißt, mit einer Schneide gefährlich für den, über den es gesprochen wurde, und mit einer Schneide für den, der es sprach.