Die Liebe, die uns rettet - Walther von Hollander - E-Book

Die Liebe, die uns rettet E-Book

Walther von Hollander

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Beschreibung

Auf die Frage seiner Braut Barbara antwortet Alfred: "Natürlich, Barbi, jeder Mensch hat ein bisschen Angst vor dem Heiraten. Vor allem jeder Mann. Deshalb heiratet man zehnmal nicht. Weil es nicht ganz notwendig ist, oder weil die Frau ein Tyrann ist oder ein Frauenzimmer oder eine Dame oder darum oder darum. Aber bei dir ist das alles eben nicht. Darum muss ich dich notwendigerweise heiraten und deshalb: Kopfsprung, los! Und ein bisschen Herzklopfen hat man vor jedem Kopfsprung, ob man ihn auch tadellos macht. Aber Angst ... Nee, Angst, nicht." Und so heiraten sie und so beginnen ihre Hochzeitsreise, die aber einige Überraschungen und einiges Auf und Ab mit sich bringt, bevor sie wieder in Berlin anlangen.-

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Walther von Hollander

Die Liebe, die uns rettet

Roman einer Hochzeitsreise

Saga

Die Liebe, die uns rettet

© 1935 Walther von Hollander

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711474648

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1

Fräulein von Brettwitz, Professor Schreiners Hausdame, sitzt am Bett der Köchin Rosa und klagt. Der Schlachter wird bestimmt den Hochzeitsbraten nicht gross genug und nicht zart genug liefern. Ob das Gemüse reicht? Erbsen schnurren mehr ein, als man denkt. Der Konditor wollte das Eis schon um elf, zwei Stunden vor der Trauung, liefern. Da hätte man Eissuppe mit Sahneklümpchen reichen müssen. Und das kleine Gebäck ist lange nicht so gut geraten wie zu Weihnachten, wo der Professor gesagt hat: „Brettwitz ... das Gebäck ... grossartig.“

Die Köchin Rosa liegt behaglich, die Arme unter dem Kopf, und sieht die Brettwitz mit einem vor Schläfrigkeit starren Blick an. „Na, na“, sagt sie ein paarmal beruhigend, „na, na, wird schon werden.“

Dann fallen ihr die Augendeckel wieder zu. Mit ein paar eiligen Atemzügen versucht sie sich noch ein bisschen Schlaf einzupumpen.

Die Brettwitz schüttelt den Kopf. Natürlich: alles bleibt wieder an ihr hängen! Während sie seit Wochen schlecht schläft, schweissgebadet und mit Herzklopfen aufwacht, weil sie auch im Schlaf immer an diese Hochzeit denken muss, während sie jede Kleinigkeit besorgt und bedenkt, geht der Professor gedankenlos seiner Arbeit nach, macht Barbara, die Braut, Besuche, Besorgungen, Ausflüge. Und die Köchin Rosa, auf die schliesslich einiges ankommt, schlummert wie ein Kind. Sie alle wissen zu genau: die gute, gute Brettwitz wird zur rechten Zeit alles fertig haben. Jawohl, die andern haben es gut. Sie haben ihre Brettwitz. Und wen hat sie?

Sie blickt hilfesuchend umher. Niemand ist da. Niemand. Oder? Drüben in dem Spiegel sitzt eine, auf die man sich verlassen kann. Straff in der Haltung, zwei starke Zöpfe um den runden Kopf geflochten, mit gütigem Lächeln, unsere Brettwitz, eine ansehnliche Fünfzigerin mit viertausend Mark Eigenkapital. Man kann sich nur auf sich selbst verlassen – das ist der Grundsatz des Chirurgen Professor Schreiner. Er hat ja so recht! Fräulein von Brettwitz kann sich nur auf Fräulein von Brettwitz verlassen.

Sie legt ihre Hand auf die Schulter der Köchin. „Rosa“, flüstert sie eindringlich. „Rosa, Sie werden nun aufstehen müssen.“ Rosa schlägt die Augen auf, nickt wohlwollend und seufzt: „Wir werden noch dicke fertig, Fräulein von Brettwitz. Vierundzwanzig Stunden! Da kann man ein Regiment bekochen.“ Und indem sie sich langsam aufrichtet: „Nur Ruhe ... sonst brennt es an.“

„Was brennt an?“ fragt die Brettwitz entsetzt.

Rosa schüttelt mitleidig den Strumpf, den sie gerade anziehen wollte, unterdrückt ein Gähnen und sagt: „Anbrennen? Ich lasse doch nichts anbrennen. Das hat doch bloss der dicke Komiker gesagt ... Na, wie heisst er denn ... Na, Sie wissen ja ... Na, doch der im Atlantikkino ... Nee ... Ich komme nicht drauf ...“

Die Brettwitz kennt das Atlantikkino nicht. Sie verachtet solche Volksbelustigungsstätten, und dicke Komiker kann sie nicht leiden. Sie geht schnell aus dem Zimmer. Sie will noch zwei Sekunden zu Barbara hineinschauen, zur Braut. Es ist noch einiges zu besprechen. Sie schleicht auf Morgenschuhen aus der Mansarde in die erste Etage hinunter. Sie steht mit nachsichtigem Lächeln vor dem Zimmer Barbaras und klopft. Keine Antwort. Sie klopft ein zweites Mal. Von drinnen kommt ein ärgerliches Räuspern. Jetzt entdeckt die Brettwitz erst das Schild. „Nicht zu sprechen. Anreden – auch durch die Tür – höflichst verbeten.“

Die Brettwitz seufzt. So sind die Schreiners! Anreden höflichst verbeten! „Wenn du jemanden brauchst, dem du dein Herz ausschütten möchtest“, hat sie vor einer Woche zu Barbara gesagt. Und Barbara hat ihr auf die Schulter geklopft und geantwortet: „Sollte ich wirklich mal jemanden brauchen (erwartungsvolle Pause) ... dann erschiesse ich mich.“ So ist das Kind. Heftig wie ihre verstorbene Mutter, verschlossen wie der Vater.

Das „Kind“, Barbara Schreiner, sitzt in ihrem hellblauen neuen Hausrock am Schreibtisch und liest. Sie hat drei Nummern der Zeitschrift „Medizinische Klinik“ für ihren Vater durchgearbeitet. Zwei Nummern liegen noch auf dem Bett. Sie streicht das Unwesentliche durch, das Wichtige umrahmt sie rot, das ganz Wichtige grün. Sie arbeitet mit einer gewissen Erbitterung. Bis um sieben wollte sie es schaffen. Aber sie wird es nicht schaffen. Wann soll sie das fertigmachen? Und wer wird das fertigmachen, wenn sie es nicht fertigmacht? In den fünf klinischen Jahren, als Operationsschwester ihres Vaters, hat sie langsam alle Arbeiten einer Sekretärin für ihn übernommen. Sie ist nun ein halber, nein ein ganzer Mediziner. Eine glänzend eingearbeitete Kraft. Nahezu unersetzbar, nicht wahr? Musste diese Liebesgeschichte dazwischenkommen? Ja, sie musste.

Barbara streift seufzend das Haar zurück, das ihr in die Stirn gefallen ist. Sie holt sich das Telephon heran. Wählt. B5 5370 ... „Ja ... hallo. Ja ... Barbara ... Guten Morgen ... Nein ... Grimmig ... Werde nicht fertig. Zwei Hefte Medizinische Klinik ... Vier Münchener Wochenschrift und weiss der Teufel was noch. Was sagst du? Einpacken ... Einpacken ...?“ Der Mund bleibt ihr offen stehen. „Einfach mitnehmen, sagst du? Medizinische Zeitschriften auf die Hochzeitsreise?“

Rechtsanwalt Alfred Meimberg, der in seinem Zimmer in der Kurfürstenstrasse vor seinen Akten gesessen hat, Alfred Meimberg, der Bräutigam, lacht. „Ganz einfach, Barbi“, sagt er, „ich nehme ein paar Akten mit und du ein paar Zeitschriften, und wenn wir irgendwo gelandet sind, dann holen wir sie ’raus und machen unsere Arbeit fertig. Wird uns guttun. Wie?“

„Na, grossartig“, lacht Barbara, „und du meinst nicht, dass man sich schämen muss, wenn man auf der Hochzeitsreise arbeitet? Es gehört sich bestimmt nicht, das ist klar.“

„Also werden wir unsere Schande tief unten in einem Koffer verbergen“, antwortet Meimberg, „und oben drüber legen wir einen Roman oder eine Bonbonniere oder was man sonst Süsses auf eine Hochzeitsreise mitzunehmen hat. Du wirst das schon wissen.“

Barbara schüttelt den Kopf. Sie weiss es nicht. Sie hat nicht die geringste Erfahrung in Hochzeitsreisen. Aber ein Mann wie Alfred muss es wissen. „Nein, ich weiss es nicht“, lacht Meimberg, „und da gibt es nur einen Ausweg: wir machen es, wie wir wollen. Man nehme einen Koffer oder auch drei, schnalle sie hinten auf den Wagen und fahre los. Ganz einfach.“

Barbara schweigt. Sie sieht in den kleinen Garten hinaus. Sie blinzelt in die Sonne hinein, die jetzt gerade über den Pappeln des Nachbargartens herausgekommen ist. Sie sieht den Vater die Stufen der Glasveranda hinuntergehen, den weisshaarigen Vater, mit dem hellen, jungen Gesicht. Sie winkt ihm zu, und er winkt zurück, verschwindet hinter der Wildrosenhecke, will sie sicher nicht stören.

„Oder siehst du irgendwas Schwieriges?“ fängt Meimberg wieder an. „Man geht sich drei Jahre lang mehr oder weniger aus dem Weg. Man sieht schliesslich ein, dass man sich doch nicht aus dem Weg gehen kann. Also heiratet man, und schon ist die Sache in Ordnung. Hallo ... Bist du noch da?“

„In Ordnung“, wiederholt Barbara Schreiner, und leise setzt sie hinzu: „Du, Alfred, du musst mal einen Augenblick ehrlich sein, nein, noch ehrlicher. So wie du zu einem Mann bist, zu einem Freunde, zu Weppen zum Beispiel oder zu Doktor Kleesand. So ehrlich.“

„Donnerwetter“, sagt Alfred, „das ist ja allerhand.“

„Du liebst mich doch, Alfred. Sag mal ruhig: ja. Gut also. Und du weisst auch, dass ich dich liebe? Nein, es ist mir ganz ernst. Also: ja. Und nun sag mal: Du hast also gar keine Angst, mit einem anderen Menschen, einem fremden Wesen zusammenzuziehen, nur weil du dieses Wesen zufällig liebst.“

„Komische Ideen hast du, Barbi“, wehrt Meimberg ab. „Man weiss doch, wen man heiratet, und man weiss, es ist ganz einfach.“

„Gar nichts weiss man“, fällt Barbara ein, „und niemand weiss etwas. Sie tun nur alle so. Es ist nicht einfach.“

„Liebe Barbi“, setzt Meimberg wieder an, „liebe Barbi ...“

Aber man kann Barbara Schreiner nicht trösten. Sie ist kein kleines Mädchen. Sie ist achtundzwanzig Jahre alt, fünf Jahre Operationsschwester bei ihrem Vater gewesen. Sie hat an die zweitausend Operationen mitgemacht, zweitausend Schicksale miterlebt, komische und traurige, glänzende und armselige. „Liebe Barbi ...“ damit ist es nicht zu machen. Also wird Meimbergs Jungensgesicht nachdenklich. Er fährt sich mit dem Zeigefinger der linken Hand, wie immer, wenn er nachdenkt, durch den Scheitel des scharf an den Schädel gebürsteten hellen Haares und sagt schliesslich: „Also, wenn wir hier schon vor dem Richterstuhl stehen: Natürlich, Barbi, jeder Mensch hat ein bisschen Angst vor dem Heiraten. Vor allem jeder Mann. Deshalb heiratet man zehnmal nicht. Weil es nicht ganz notwendig ist, oder weil die Frau ein Tyrann ist oder ein Frauenzimmer oder eine Dame oder darum oder darum. Aber bei dir ist das alles eben nicht. Darum muss ich dich notwendigerweise heiraten und deshalb: Kopfsprung, los! Und ein bisschen Herzklopfen hat man vor jedem Kopfsprung, ob man ihn auch tadellos macht. Aber Angst ... Nee, Angst nicht.“

„Wenn du Herzklopfen hast“, schliesst Barbara, „dann ist es gut. Dann wirst du es schon tadellos machen und ich auch. Wenn nur erst diese Heiraterei vorbei wäre.“

„Ja, da habe ich dich auch noch allerlei zu fragen“, lacht Meimberg. „Hat aber nichts mehr mit Liebe zu tun, sondern nur noch mit Heiraten.“

Und so sprechen sie denn über den Brautstrauss und welche der Brautjungfern Dr. Weppen, der eine Sozius, haben soll, und welche Dr. Kleesand, der andere Sozius, und wie man verhindern kann, dass die Tante Anna Schreiner, geborene Löpel von Löffelholz, mit Fräulein von Brettwitz über die Ahnen in Streit gerät, und wie man die alte Frau Meimberg recht gut setzt, damit sie trotz ihrer Schwerhörigkeit alles mithören kann, und wie ... und wie ... Es ist alles wirklich einfach. Sie werden den Tag über noch arbeiten oder Besorgungen machen. Und sie werden sich zum Abendessen bei Schreiners treffen, zum Polterabend, zu dem niemand eingeladen wurde, der nicht das Poltern abgeschworen hat, einschliesslich Brautkranzversen und Scherzaufführungen. Man wird mit ein paar Freunden und den notwendigsten Verwandten eine gewaltige Bowle leeren, ein kaltes Büfett aufessen, und um elf oder zwölf wird man alle hinauswerfen. Dann ist nur noch der Hochzeitstag zu überstehen, und dann kann man wieder machen, was man will. Sie hängen beide ganz getröstet ein, und während Dr. Meimberg sich vor dem Spiegel einseift und einen Filmschlager pfeift aus „Die Nacht zweier Herzen“ oder „Die Nacht der Liebe“ oder „Eine Nacht mit dir“ oder „Nachts mit dir allein“ oder „Nachts, nur nachts, mein Herz“ oder „Eine Nacht in Budapest mit dir“ oder „Pusstanacht ... Zigeunernacht“ oder „Schenk mir dein Herz in Wien bei Nacht“ (in Filmen gibt es einen Tag nicht mehr), währenddessen ist Barbara zu ihrem Vater in den Garten hinuntergegangen.

Sie hat ihn am Moosrosenbeet gefunden, wo er einen kleinen Strauss von halberblühten Knospen abschneidet. Sie hat ihm ein paar besonders schöne Knospen entgegengebogen, und er hat mit einem kurzen Kopfnicken, einem Augenzwinkern gedankt, wie er bei den Operationen zu danken pflegte, wenn sie ihm die Messer, die Tupfer, die Nadeln entgegenreichte, wenn sie auch in ganz schwierigen Fällen gleich das richtige Instrument bei der Hand hatte. Vater und Tochter sind so in ihre Gedanken vertieft und in die gleichen, etwas wehmütigen Erinnerungen, dass der Moosrosenstrauch in der Hand des Professors immer grösser wird. Aber endlich ist es doch genug. Schreiner hat ein Stückchen Bast aus der Tasche gezogen, hat den Strauss zusammengebunden, und nun gibt er ihn mit einer kleinen Verbeugung an Barbara, seine Tochter. Die aber nimmt die Rosen mit einem befangenen Kopfnicken, die ersten Blumen, die der Vater ihr schenkt.

Sie weiss, wieviel Liebe, wieviel Trauer, wieviel Gedanken und wieviel Wünsche mit diesem kleinen Geschenk verbunden sind. Das Moosrosenbeet hat die Mutter vor fünfunddreissig Jahren angelegt, gleich, als sie mit dem jungen Privatdozenten Schreiner in das kleine Haus in Lichterfelde einzog. Und seit sie tot ist, seit fünfzehn Jahren also, darf niemand an dem Beet irgend etwas arbeiten oder eine Rose abschneiden. Das macht der Professor alles selbst, und er hat bisher alle Blüten am Strauche aufblühen und welken lassen. Was Barbara in der Hand hält, ist also ein Gruss der Mutter, ihr Geschenk und ihr Segenswunsch. So meint es der Vater, und so nimmt sie es auf.

Sie gehen schweigend ein paarmal um die Rasenplätze, sie stehen zwischen den Stangen des Teppichklopfers, sie beschauen sich ernst die verrosteten Schrauben der Kinderschaukel, das vermorschte Holz des Sandkastens. Mit einemmal steckt Abschied in jeder Ecke, Wehmut in jedem Winkel, ganz zu schweigen davon, dass man nicht nur zusammen gelebt hat, sondern auch zusammen gearbeitet, und dass der Vater deshalb jetzt nicht in seiner Arbeit den Verlust seines Zuhause wird vergessen können.

Darüber schweigen sie nun miteinander, indem ihre Schritte gleichzeitig vor der Linde zögern, aus deren Wipfel die zornige Mutter ihre ungehorsame Barbara heruntergeschüttelt hat wie einen Apfel (es war ihr gar nichts geschehen, aber die Mutter war tagelang verstört, dass der Zorn sie immer noch besinnungslos machen konnte), indem sie an der „schlimmen“ Laube vorübergehen, der ganz zugewachsenen, verwucherten Laube, in die hinein Barbara den amtlichen Brief gebracht hat, dass der Bruder gefallen war, 1918, am 28. Oktober. Zwei ... drei Minuten, dann ist die Gedenkfeier vorüber. Man braucht nicht viel Zeit, sich zu erinnern.

Dann stehen sie schon an den Stufen, die zur Glasveranda führen. Oben am gedeckten Frühstückstisch ist die Göttin des Alltags erschienen, Fräulein von Brettwitz, in einem schwarzseidenen Kleid von betonter Einfachheit, und ruft nach den beiden. „Na, also“, sagt der Professor, „dann mach das man auch so gut, wie du bisher alles gemacht hast. So ordentlich, so exakt, so sauber. Bist ein grossartiger Kerl.“

Barbara nickt und springt die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie ist puterrot geworden wie ein kleines Mädchen, und ihre Augen glänzen wie die einer Klassenersten. Der Vater hat sie gelobt! Zum erstenmal. Er ist einverstanden mit ihr. Dann muss wirklich was an ihr dran sein. Denn er findet sonst das Aussergewöhnliche gerade ausreichend und das durchschnittlich Gute nicht weiter erwähnenswert. Wenn aber etwas an ihr dran ist, dann wird sie auch die Ehe, diese Ehe mit Alfred Meimberg, gut und richtig führen, nein, sehr gut. Denn auch sie findet, dass das Durchschnittliche nicht genügt, dass die durchschnittlichen Ehen zum Beispiel keine Anstrengung und kein Opfer wert sind.

Noch ein Telephongespräch mit Alfred Meimberg. Sie möchte ihn gern am Kurfürstendamm treffen. Sie möchte wenigstens die paar Reisesachen mit ihm zusammen kaufen. Aber Alfred hat wirklich keine Zeit. Steht gerade und wartet auf seinen Wagen. Muss zum Termin, studiert noch am letzten Aktenzipfel und hat am Vormittag ausserdem drei Konferenzen und eine notarielle Verhandlung. Barbara muss also allein kaufen.

Gut, gut! Oder vielmehr schlecht, schlecht. Barbara hat das Gefühl, dass man sich zur Herzstärkung vor dem Auftreten als Brautpaar noch einmal sehen sollte. Ihr ist, als wäre das nötig. Aber wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht. Sie hat genug Einblick in wirkliche Arbeit und genug Achtung vor Arbeit. Sie wird also allein einkaufen. Wird um halb zwölf die Tante Anna Schreiner, geborene Löpel von Löffelholz, von der Bahn abholen, um vier einen Besuch bei Mutter Meimberg machen, um fünf bei Sophie Wahnke zum Mädchenabschiedskaffee sein, und um sechs wird sie zu Hause eintreffen, wo um sieben der offizielle Teil der Festlichkeiten beginnt. Man braucht also nichts zu tun zu haben, um den ganzen Tag bis zur Atemlosigkeit besetzt zu sein. Adieu ... adieu ... Adieu, adieu ...

Um acht Uhr dreissig verlässt der Professor Schreiner mit seiner Tochter die Villa in Lichterfelde. „Machen Sie es nur, wie Sie es für richtig halten, Brettwitz“ ruft er zurück, „ein Blankoscheck liegt auf dem Schreibtisch, und die Schlüssel haben Sie ja alle. Nein, ich weiss nicht, wieviel eine Hochzeit kosten muss. Seien Sie aber bitte barmherzig. Sehr grossartig sind wir es ja nicht gewöhnt.“

Die Brettwitz zuckt ergeben die Achseln. Sie geht langsam ins kühle, dämmrige Haus zurück, setzt sich ans Telephon und bestellt, bestellt ...

Der Professor aber und Barbara gehen, wie sie immer gegangen sind, ein Stück die „Eichen“ hinunter, unter den hohen Bäumen der Strasse und der Gärten, in einem angenehmen Laubschatten. Sie grüssen viel in die Gärten hinein. Sie kennen beinahe jeden Menschen dieser Berliner Kleinstadt, und sie kennen auch jeden Chauffeur an der Ecke. „Heute ist Böckau dran“, sagt der Professor, und da steht auch schon der Chauffeur Böckau ein wenig abseits von den andern Wagen mit seinem Wagen, hat den Wagenschlag geöffnet und die Mütze abgenommen. Es sind vier Mark achtzig bis zur Klinik zu verdienen und zwanzig Pfennig Trinkgeld. Eine gute Sache, in die sich wechselnd vier Chauffeure teilen.

„Morgen, Böckau“, sagt der Professor und nimmt aufseufzend Platz, und Barbara setzt sich rechts neben ihn. Es ist alles wie immer. Die Strassen, der Sommer, die Menschen, die Schweigsamkeit des Vaters. Wie er halb im Auto liegt, die eine Hand an der Quaste des Halteriemens, den Kopf mit den ziemlich kurz geschnittenen weissen Haaren hinten übergelehnt, die Augen halb geschlossen. Heute endlich begreift Barbara, dass der Vater sich jetzt entspannt, dass er jetzt Kraft sammelt, dass hier das Geheimnis seiner Leistungsfähigkeit liegt, der Grund, warum er so frisch in der Klinik ankommt und so frisch zu Hause. Komisch ... Sie hat das fünf Jahre gesehen, und am letzten Tag begreift sie es. Wie schwer lernt man von seinen Eltern!

2

Am Zoo biegt eigentlich der Weg des Professors vom Weg der Tochter ab. Aber an diesem Tag bringt er sie noch bis zum Wittenbergplatz. Er spricht sogar das letzte Stück ein bisschen mit ihr. Ob sie wirklich alles hat, was eine Braut aus gutem Hause zu haben hat, einschliesslich Kranz, Schleier und Myrte? Ob sie sich nicht doch noch einen Koffer kaufen muss? Nein, dankt Barbara, sie hat eigentlich alles. Höchstens wenn ihr der Vater zur Hochzeit ein anständiges Tennisrakett schenken will. So? Er muss also ein Hochzeitsgeschenk machen? Donnerwetter, ganz vergessen. Etwa dem Alfred auch? Nicht dran gedacht. Und Brettwitz, die ansehnliche Dame mit dem Eigenkapital, hat ihm auch nichts gesagt. Vielleicht kann er einfach zwei Rackets schenken? Ja? Wäre richtig? Na also. Dann wird Barbara die Freundlichkeit haben, das zu besorgen.

Der Wagen fährt gerade sehr langsam. Denn er ist eingekeilt zwischen zwanzig andere Wagen, in denen andere Berufsmänner sitzen. In diesem Augenblick winkt jemand vom Gehsteig. Ein Herr in einem gelbweissen Anzug aus grobem Stoff. Er ist gross, ziemlich dürr. Etwas eingetrocknet, ein adlerköpfiger Mann ... ja, natürlich: adlerköpfig. Denn die sehr scharfen braunen Augen beherrschen das Gesicht, das eine grosse kühne Nase hat, einen kleinen Mund und ein kurzes spitzes Kinn. Er hebt den weissen Sommerhut, einen sogenannten Panama, wie man ihn in Berlin selten trägt, von einem ziemlich kahlen, aber schön geformten Schädel. „Tag, Professor“, ruft er „Tag, Professor Schreiner ...“

Der Professor Schreiner richtet sich in seinem Auto ein wenig auf. Er sieht den Herrn auf der Strasse an, der vielleicht zehn Schritt vom Auto entfernt steht, getrennt durch zwei andere Wagen. Er greift an seinen Hut. Er kennt den Fremden. Das ist ... warte mal ... das war ein Fall von Darmkrebs ... eine einfache glatte Sache. Gutartig noch. Im Anfangsstadium. Wollte Gott, man kriegte viele solche Fälle zu sehen. Ein billiger Erfolg. Man wird viel zuviel bedankt. Kann jeder Stümper operieren. „Tag, Herr Rauthammer“, sagt Schreiner. Denn da hat sein wunderbares Gedächtnis auch noch den Namen hervorgeangelt.

Auch Barbara hat gegrüsst. „Tatsächlich, Rauthammer“, sagt sie überrascht. „Tag, Herr Rauthammer.“

Das Auto ruckt. Böckau, der Chauffeur, bekommt endlich freie Fahrt und zischt davon. „Rauthammer“, versucht Schreiner diesen Fall zu beenden. „Du wirst dich noch erinnern. Hatte ziemlich verrückte Ideen. Vom Willen, der die Welt aus den Angeln hebt. Na, Gott sei Dank, kann das keiner von denen, die es zu können glauben. Würde sonst toll schaukeln, unsere gute Welt. Also, adieu denn, mein Kind. Da ist der Wittenbergplatz. Ich komme pünktlich um sieben Uhr. Der letzte Patient ist zu vier Uhr bestellt. Tchö ...“

Da steht also Barbara Schreiner auf der Tauentzienstrasse, in ihrem hellgrauen Leinenkostüm mit einer rotweissgewürfelten Bluse, einem hellroten Hut, den eine kleine Teufelsfeder schmückt ... steht vor einem Photographengeschäft, und da fällt ihr ein, dass sie auch kein richtiges Hochzeitsgeschenk für ihren Mann hat. Eine wunderbare Familie, die Schreiners! Vergessen alles. Sie sieht im Schaufenster einen winzigen Apparat, den wird sie kaufen und Alfred schenken. So etwas wünscht er sich lange, und man muss doch „für später seine Erinnerungen“ haben, wie? Sie geht also schnell in den Laden und lässt sich viele kleine Apparate vorlegen und erklären. Aber sie gefallen ihr alle nicht. Es gefällt ihr nur ein ziemlich teurer Apparat. Mittelklein, ausgezeichnet. Man kann damit vierzig Bilder hintereinander aufnehmen. Sie zögert eine Weile. Sie steht in der Tür des Photographengeschäfts und sieht durch den Sucher die Strasse an, die sommerlich bunte, lustige Tauntzienstrasse. Sie findet grade, dass das Leben in der Stadt seine besondere Schönheit und Farbe hat und dass die Städter eigentlich jetzt auch ein bisschen stolz werden sollten auf die besondere Art ihres Lebens. Sie blinzelt einem Auto nach, das fast wie Alfreds Auto aussieht. Es ist aber die Type vom vorigen Jahr, ohne Heckmotor und Stromlinie ... es ist ... weg ist es, und an seine Stelle tritt ein Mann ins Bild, der Mann mit dem Panamahut und dem gelbweissen Anzug aus sehr grober Wolle ... Rauthammer.

Barbara zuckt zusammen. Sie geht schnell in das Dunkle des Ladens. Sie lässt sich die Vorzüge des teuren Apparates genau auseinandersetzen. Sie spricht ausführlich über die Zahlungsweise, obwohl der Vater es nie dulden würde, dass sie irgend etwas kauft, was nicht sofort bezahlt wird. Sie kauft den Apparat. Sie hat sich noch ein paar hundert Mark vom Gehalt gespart. Alfred wird sich bestimmt freuen. Bitte gegen Abend schicken ... Hier die Adresse, eine kleine gummierte Adresse aus einem Block, der noch fünfzig Barbara Schreiners enthält. Gibt’s nun bald nicht mehr. Aus mit der Barbara Schreiner.

Sie taucht also zehn Minuten später aus dem dunklen Laden auf, ein wenig geblendet. Es ist halb zehn, wie sie drüben an einer Uhr sieht. Sie hat also noch eine Menge Zeit. Sie wendet sich nach der Gedächtniskirche hinunter und steht vor Rauthammer, der lachend den Hut gezogen hat.

„Guten Tag“, sagt Rauthammer, „also da hätte ich Sie doch noch heute ...“

„Guten Tag“, antwortet Barbara tapfer und gibt ihm die Hand.

„Famos“, fährt Rauthammer fort und setzt seinen Panama zurecht, „mein Glück hat mich noch nicht verlassen. Hätte Sie allerdings spätestens heute angerufen. Sie wohnen noch draussen in Lichterfelde, wie? Oder ich wäre einfach in der Klinik vorbeigekommen.“

„Ich arbeite nicht mehr in der Klinik“, lächelt Barbara.

Jetzt ist Rauthammer erstaunt. „Sie arbeiten nicht mehr in der Klinik? Das war doch keine Arbeit, die man einfach hinlegen kann. Was macht Ihr Vater denn ohne Sie? Was tun Sie denn den ganzen Tag. Nein, es ist ganz unmöglich!“

Barbara zeigt auf ihre Pakete. „Was ich tue? Genau das, was andere Frauen auch tun. Besorgungen ... Einkäufe ... Friseur ...“

Rauthammer lacht sein heftiges, klangloses Lachen. „Unsinn“, lacht er. „Sie sind nicht wie andere Frauen und schon gar nicht wie irgendwelche andere Frauen.“

„Mag sein“, sagt Barbara ärgerlich und bricht ab. Sie wünscht keine langen Unterhaltungen mehr mit Herrn Rauthammer. Sie hat damals genug mit ihm über die Welt, über das Leben und über Barbara Schreiner gesprochen. „Vielleicht“, meint sie, „bin ich doch wie andere Frauen.“ Sie streckt ihm die Hand hin. Sie will über die Strasse weg in das Delikatessengeschäft auf der anderen Seite. „Auf Wiedersehen!“ Aber Rauthammer sieht ihre Hand scheinbar nicht.

„Es sind fast fünf Jahre“, fährt er leise fort, „nein mehr, vor fünf Jahren im März wurde ich von Ihrem Herrn Vater als geheilt entlassen. Er hat übrigens recht gehabt. Ich bin kerngesund seitdem. Ich hätte es nicht für möglich gehalten ...“

Pause. Barbara ist zu ihrem Erstaunen nicht über die Strasse auf das Delikatessengeschäft losgegangen, sondern geht neben Rauthammer her. Sie sieht aufmerksam den langen, dürren Schatten des Mannes an, über dem wie ein Pilz der Pyramidenschatten des Hutes schwebt. Sie sieht den Schatten mit einem dicken Bambusstock gestikulieren. Sie hört seine Stimme, eine Schattenstimme, eine etwas heisere, aber angenehm klingende Stimme. „Gestern bin ich angekommen“, sagt die Stimme, „nein nicht lügen: vorgestern. Wohne hier am Zoo. Ja gleich drüben im Hotel. Sehr bequem. Angenehm zentral. Überraschend ruhig. Heute hatte ich mir noch einen einsamen Tag gesetzt, aber morgen hätten Sie die Ehre gehabt, mich zu sehen ...“

„Famos“, antwortet Barbara im Tone Rauthammers, „und nun muss ich leider gehen. Leben Sie wohl.“

„Ich gehe also heute morgen um das Häuserviereck“, spricht Rauthammer weiter, „suche meine kleinen russischen Zigaretten, greuliche Dinger, aber man ist sie gewöhnt. Die guten deutschen Zigaretten schmecken mir nicht mehr. Gehe also und finde es wunderbar hier. Herrlich. Berlin im Sommer. Verstehe nicht, warum die Menschen gerade im Sommer wegreisen. Das bisschen Schmelzhitze ist doch nicht schlimm.“

„Ich verreise auch“, unterbricht Barbara rasch, „morgen abend ...“

„Sagte ich es nicht“, nickt Rauthammer, „Glück gehabt. War allerhöchste Zeit, dass ich Sie aus dem Asphaltteich fischte. Man muss sich immer und in allem beeilen. Selbst im Glückhaben. Denn die Zeit ist hinter einem her. Sie wissen es noch nicht. Aber sie ist verdammt hinter allen Menschen her und schmeisst einen von der Welt hinunter, ehe man fertig ist.“

„Jetzt im Augenblick ist die Zeit auch hinter mir her“, lächelt Barbara, „ich muss mich beeilen. Habe noch allerlei zu besorgen. Ich ...“ Eigentlich will sie ihm sagen, dass sie heiratet. Aber dann denkt sie: es geht ihn gar nichts an. Gar nichts geht es ihn an. Er hat auch nie von seinen persönlichen Angelegenheiten erzählt. Erinnere dich!

„Morgen oder übermorgen werde ich Ihren Herrn Vater aufsuchen“, erzählt Rauthammer, „er muss mir ein kleines Lebensattest ausstellen. Einen Garantieschein auf fünf oder sechs Jahre. Brauche das ...“

Er ist vor einem Café stehengeblieben, dessen Tische dicht neben der Strasse aufgebaut sind. „Eine Viertelstunde ... nach fünf Jahren ... alle fünf Jahre eine Viertelstunde ... soviel Zeit hat man immer. Kommen Sie.“

Sehr merkwürdig.

Plötzlich sitzt Barbara neben Rauthammer im Café, rührt in einer Schokolade, raucht eine von Rauthammers winzigen Zigaretten (sind übrigens ausgezeichnete, selbstgestopfte Zigaretten – alles Lüge die Zigarettenbesorgung, alles Lüge), sitzt und sieht auf die Strasse hinaus, hört den merkwürdigen Galoppsätzen Rauthammers zu, den springenden Sätzen. Muss manchmal lachen. Muss den Kopf schütteln. Nein – das weiss sie jetzt – die Welt ist nicht so, wie er sie malt, obwohl sie vielleicht so sein könnte. Dabei studiert sie vorsichtig sein Gesicht. Er ist nicht jünger geworden. Natürlich nicht. Von den Haaren, die damals noch gescheitelt werden konnten, ist nur ein grauer Haarkranz rings um den Schädel übriggeblieben. Unter den Augen sind die Jahrzehntsringe gezogen, fünf Ringe, fünf Jahrzehnte. Der Mund ist noch schmaler geworden. Noch zusammengekniffener sind die Lippen.

Rauthammer erzählt. Er ist lange in China gewesen. Er hat die Kämpfe der letzten Jahre um Mandschukuo miterlebt. Als Zuschauer, als Mitkämpfer oder als Kaufmann? Er sagt nichts darüber. Er berichtet von Russen, von Japanern, von Chinesen, von Abenteurern aller Länder, die ihre Geschäfte da unten machen, blutige Geschäfte, trübe Geschäfte, glänzende Geschäfte. Von alten Kulturen, die langsam zerbröckeln, und neuen Kulturen, die zu wachsen anfangen. Dass die Europäer Schritt für Schritt Boden verlieren, ganz allmählich, wenn man es ein paar Jahre beobachtet, und rasend rasch, wenn man es mit chinesischen Augen ansieht, die mit der Zeitlupe der Jahrhunderte zu betrachten verstehen. Sehr interessant ist das alles. Sehr aufregend. Aber ein bisschen unmenschlich, nein fernmenschlich. So, als ob nur Kräfte da unten miteinander ringen und keine Menschen. So, als ob um etwas Aussermenschliches gekämpft würde und nicht – zunächst mal – um Platz, um Nahrung, um Kleidung, um Wohnung für unzählige Millionen.

Ausserdem hat sie im Augenblick sehr persönliche Sorgen, Gedanken, Interessen. Sie ist wohl politisch aufmerksam geworden, seitdem Alfred Meimberg ihr klargemacht hat, dass im Politischen heute viele andere Dinge des Menschenlebens mitentschieden werden müssen. Aber am Tage vor der Hochzeit, nicht wahr ...

Rauthammer bricht sein Referat plötzlich ab. Er wird in einem halben Jahr wieder nach Sibirien oder Mandschukuo gehen. Aber jetzt hat er ein paar Monate Urlaub. Jetzt will er ein bisschen als Europäer leben, als zuschauender Europäer, als Deutscher, aber als zuschauender Deutscher.

„Wohin reisen Sie“, fragt er, „oder ist es ein Geheimnis? Ich möchte es wirklich gern wissen.“

„Es ist kein Geheimnis“, antwortet Barbara, „aber ich weiss es nicht. Irgendwohin mit einem Auto.“

Ob sie selbst fährt, will Rauthammer wissen. Sie kann wohl selbst fahren. Aber sie fährt nicht selbst? Nein, nicht immer.

„So“, sagt Rauthammer, „so ist das.“

„Ja“, antwortet Barbara, „so ist das.“

Sie findet, nun ist endgültig alles gesagt. Sie will aufstehen. Aber Rauthammer hat seine Hand auf ihren Arm gelegt, eine kleine, sehr schmale und starke Hand.

„Bitte bleiben Sie noch ein bisschen“, flüstert er. „Ich wollte Sie noch etwas fragen.“

Schweigen. „Fragen Sie“, sagt Barbara nach einer Weile, „ich muss nämlich dann wirklich gehen.“

„Ich wollte gern wissen“, sagt Rauthammer, und seine Stimme ist wie damals auch manchmal plötzlich klar, „ich wollte nämlich wissen, ob sie mich damals geliebt haben.“

Barbara nickt. „Ja“, sagt sie einfach, „ich habe Sie damals wirklich geliebt.“

„Schade“, sagt Rauthammer. „Ich habe es wohl geahnt, aber ich habe es doch nicht genau gewusst. Sehr schade.“

„Vielleicht ist es schade gewesen, vielleicht auch nicht“, antwortet Barbara, „das ist ja nun alles einerlei.“

Sie steht schnell auf. Auch Rauthammer hat sich erhoben.

„Es ist ganz und gar nicht einerlei“, sagt er scharf, „ganz und gar nicht. Denn wenn etwas jemals war, so ist es immer ... das ist doch klar.“

Barbara erschrickt. Das hat sie vor ein paar Monaten ihrer Freundin Sophie Wahnke gesagt. Und Sophie Wahnke hat gelacht. Sie kann sich das nicht denken. Aber es ist wirklich wahr: wenn man jemals geliebt hat, liebt man immer. Es gibt ewige Liebe oder eine, die nichts wert ist. Ganz klar.

Sie steht vor Rauthammer, nur durch einen Kaffeehausstuhl getrennt. Sie sieht auf seine Krawatte, eine hellblaue Krawatte mit weissen Punkten. Sie hebt ihre Augen und blickt in seine Augen, die braunen ruhigen Augen in dem unruhigen Gesicht. Sie erinnert sich ganz genau an die Stunden vor fünf Jahren am Bett Rauthammers. Wie er ihr den Sinn des Lebens erklärt hat oder doch seinen Lebenssinn: Aktivität, Rhythmus, Willen. Das seien die drei Grundphänomene, aus denen sich Aufstieg und Abstieg, Leben und Tod ergäben. Der Sieg des Willens über die Materie, das sei die ewige Aufgabe jedes Menschen. Begriffen nur von wenigen. Durchgeführt nur von einzelnen. Diese einzelnen müssten sich zusammentun, müssten sich stärken. Ja, sie gehörten zusammen nach dem Lebensgesetz, einerlei, was die Gesetze der einzelnen Leben und die Zufälligkeiten der einzelnen Schicksale über sie beschlössen. Man sieht, eine recht allgemeine Theorie, gut angespitzt für den Gebrauch in dieser Liebesangelegenheit. Damals aber hat Barbara das alles geglaubt. Auch nachher noch, als Rauthammer schon abgereist war. Bis eines Tages – vor ihrer Abreise nach China – Frau Rauthammer zu ihr kam, eine hochmütige, kalte Frau, um „gewisse Illusionen“ zu zerstören, um „bestimmte, rein äussere Tatbestände“ festzustellen (dass sie nämlich Herrn Rauthammer niemals freigeben würde, niemals), um „das Fräulein Schreiner vor den Nebelreichen der Rauthammerschen Gedankenwelt zu warnen“, denen eine „recht brutale Tatwelt“ gegenüberstünde.

An wieviel kann man in zehn Sekunden sich erinnern! Wieviel kann man zweimal, dreimal in einer Sekunde wieder spüren.

„Also jetzt gehe ich wirklich“, sagt Barbara endlich, „leben Sie wohl.“

Rauthammer nickt. Er kann sie nicht länger halten. Er begleitet sie nur noch bis zum Ausgang aus dem Café. Er geht neben ihr, lächelnd und freundlich wie immer. „Übrigens“, sagt er am Ausgang, als hätte er doch die Macht, Gedanken zu lesen, „übrigens starb meine Frau vor vier Jahren in Hsinking. Bald nachdem sie aus Deutschland nachgekommen war. Ganz plötzlich ... Denken Sie ...“

Er hält Barbaras Hand, als könnte er sie mit dieser Nachricht festhalten.

„Das tut mir leid“, sagt Barbara höflich, „sie war eine sehr schöne Frau.“

„So“, sagt Rauthammer, „Sie kannten sie also doch. Sie war also doch bei Ihnen. Ich dachte es mir.“

Barbara nickt. Sie macht ihre Hand los. Sie geht an Rauthammer vorbei auf die Strasse. Sie hört ihn noch sagen: „Jetzt wird mir manches klarer. Nur nicht, warum Sie ihr geglaubt haben. Nein ... das müssen Sie mir noch erzählen.“ Und indem er noch ein paar Schritte hinter ihr hergeht: „Wir sehen uns noch vor Ihrer Abreise. Unbedingt. Sagen Sie mir, wann ich Sie sehen kann ...“

Barbara bleibt stehen und sieht ihn böse an. Sie schüttelt abwehrend den Kopf. Er muss doch sehen, dass sie ganz und gar nicht mehr will. Ewige Liebe? Unsinn ... das war keine Liebe. Das war ... das war Lüge ... und Betrug ... das war ...

Sie dreht sich um und geht ganz schnell weg. Sie läuft beinahe. Sie läuft an einem grossen Kino vorbei. Sie sieht die riesigen Plakate verschwimmen. Durch ihre Tränen lächelt eine geschminkte Dame aus Hollywood. Barbara weint. Aus Schmerz, aus Zorn ... oder doch aus Liebe? Sie weiss es selbst nicht.

3

Zehn Minuten später scheint alles ausgestanden. Barbara hat sich in die dunkle Ecke eines andern Cafés geflüchtet. Draussen vor den offenen Scheiben blendet der Berliner Sommertag. Farbig, hell, lärmend.

Barbara prüft sich ruhig und sachlich. Spürt sie noch etwas? Ja, ein bisschen Herzklopfen. Ist nicht merkwürdig. Sie hat Rauthammer ja geliebt. War natürlich ein grober Fehler, das zuzugeben. War aber anständig. Und in Gefühlsdingen wollen wir doch anständig sein. Nobel, sehr sauber, peinlich genau wie bei Operationen. Sie weiss doch, was für entsetzliche Folgen die geringste Nachlässigkeit haben kann. Also bitte sauber!! Mag er ruhig bestätigt kriegen, was er sowieso gewusst hat. Obwohl es eben doch eine Frage ist: Hat sie ihn wirklich geliebt?

Sie sieht wieder das enge kleine Zimmer in der Klinik mit dem Blick auf den Stamm einer Pappel, mit einem Stück Himmel, der begrenzt war von einem Fabrikschornstein und einem Balkon. Es war der Februar in jenem kalten Winter, in dem irgendwo die Kohlenkähne für Berlin einfroren, in dem im Kohlenkeller des Krankenhauses noch für einen Tag Kohlen waren und der Vater wirklich aufgeregt wurde, saugrob mit einigen Ministerien und Behörden telephonierte, man solle lieber ein Finanzamt oder ein paar Schulen zumachen, ehe man seine Kranken erfrieren liesse.

Damals war Barbara noch Pflegeschwester ... Die meisten Männer waren etwas in sie verliebt. Ist ja klar: wenn man das Leben wiederkommen spürt, oder den Tod herannahen fühlt, wird man „gefühlig“. Eines Tages aber hatte sich die Schwester Barbara auch in einen Patienten verliebt, in den Kaufmann Karl Rauthammer aus Schantung, China. Warum?

Barbara weiss es nicht mehr genau. Wahrscheinlich fühlte sie sich doch geehrt, als sie merkte, dass sie in diesem kalten Menschen, in dem witzigen, welterfahrenen Mann ein Feuer anzündete. Es war also im Anfang eine ganz durchschnittliche Geschichte. Wurde nur langsam gefährlich. Abend für Abend sass Barbara an seinem Bett. Zwischen Hitze und Kälte. Denn die Heizung funktionierte natürlich. (Schreiner hatte die Kohlen bekommen, die er brauchte, selbstverständlich.) Aber das Fenster musste immer aufstehen. Denn Rauthammer litt unter Beengungen. War die weiten gelben Ebenen gewöhnt, die weiten offenen Zimmer, den ganzen Sternenhimmel nachts ... Heiss und kalt war dieser Februar. Er verlangte eine grossartige Liebe von ihr, eine Liebe, die so stark sein sollte wie alle andern Mächte der Welt zusammen. (Sonst würde man nicht mit ihr durchkommen, sonst hätte sie keinen Zweck.)

Barbara denkt an jenen Abend, da er sie bat, mit nach China zu gehen, in jene Welt, „in der noch tiefe Gedanken und grossartige Gefühle soviel gelten wie die Wirklichkeit der Europäer“. Da er ihr sprach von „den arktischen Zonen der reinen Gedanklichkeit, in denen man erst das freie Atmen lernt und die man beherrschen muss, ehe man es wagen darf, die tropische Gefühlswelt wuchern zu lassen“.

Barbara, die jetzige Barbara, wundert sich, dass sie damals unter diesen betäubenden Gedanken wach blieb. Vielleicht aber weckte sie auch der Vater. „Nein ... nichts für dich“, sagte der Professor eines Tages, als er mit ihr zusammen das Zimmer Rauthammers verliess.

„Was ist nichts für mich?“ fragte Barbara. Aber der Vater hatte bereits die Tür zum nächsten Krankenzimmer aufgerissen, stand, ehe er hätte antworten können, über einen anderen Patienten gebeugt.

Hat sie Rauthammer nun geliebt? Sie kann es nicht entscheiden. Die Zärtlichkeiten dieser Liebe sind schnell aufgezählt. Es waren erstens ein Handkuss, den er ihr unvermutet gab, und zweitens ein Kuss auf die Stirn, den sie ihm gab. War das Liebe? Sie kann es nicht entscheiden. Aber sie kann eine Art Orakel anrufen. Wenn z. B. zwischen ihr und Alfred Meimberg eine wirkliche Liebe ist – und davon ist sie fest überzeugt –, dann muss er jetzt mit seinem Termin gerade fertig sein. Dann muss sie ihn im Anwaltszimmer erreichen können, dann muss er zwischen seinen Besprechungen zehn Minuten Zeit aufbringen, um sie irgendwo doch noch zu treffen. Ist das zu kindlich? Richtig ist es, ganz richtig!

Sie geht also in die Telephonzelle. Sie steht in der Hitze und im Dunst der schlechten Zigaretten, die immer in den Polsterzellen geraucht werden. Sie bekommt sehr schnell das Landgericht, das Anwaltszimmer, sie bekommt Dr. Kleesand, den Sozius. „Nein, nein“, sagt Kleesand, „der werte Bräutigam ist noch im Termin. Nichts auszurichten? Nun, die werte Braut kann ja ab übermorgen mit dem Herrn Meimberg alles ausführlich besprechen. Genügt nicht? Sie brauchen ihn gleich? Also gut, dann werde ich vertagen.“

In diesem Augenblick fegt Dr. Alfred Meimberg in seiner Robe ins Anwaltszimmer. „Schweinerei“, flüstert er Kleesand zu. „Vertagt. Ist Quatsch, was der Gegner vorbringt. Aber wir müssen beweisen, dass es Quatsch ist.“

„Herr Doktor Meimberg selbst“, sagt Kleesand in den Apparat.

Zum drittenmal an diesem Vormittag ist die Stimme Alfred Meimbergs am Apparat. Aber dieses Mal ist es wichtiger und schöner als die anderen Male. Was er sagt? Nichts Besonderes natürlich. Dass er gerade einen grossen Ärger schluckt, wegen einer kleinen Niederlage. Der andere war schlauer, und er, Meimberg, hasst diese Art juristischer kniffliger Schläue. So betrachtet, ist er kein guter Jurist. Also dreimal ausgespuckt und zweimal umgedreht. Fertig ist die Sache. Er wird sich nun in die Besprechungen stürzen. Adieu also. Ach richtig, sie wollte wohl auch etwas sagen? Sie muss ihn sprechen? Dringend? Mächtig dringend? Er hat wirklich keine Zeit bis abends. Duldet denn die Sache tatsächlich keinen Aufschub? Also was heisst das: doch und doch nicht. Das heisst doch: doch. Also: es ist jetzt elf Uhr. Um 11 Uhr 45 muss er im Büro in der Kurfürstenstrasse sein. Um 11 Uhr 15 ist eine ganz kurze Besprechung am Potsdamer Platz. Wie bitte? Um 11 Uhr 35 holt Barbara die Tante Anna Löpel von Löffelholz auf dem Anhalter Bahnhof ab? Passt. Er wird um 11 Uhr 30 auf dem Bahnhof sein und steht ihr von 11 Uhr 30 bis 11 Uhr 35 zur Verfügung. Genügt? Genügt lange? Na, geht in Ordnung. Was muss sie tun? Sie muss ihm in die Augen sehen? Bitte, bitte. Sie muss ihm eine Kleinigkeit erzählen, eine Kleinigkeit, die an Herz und Nieren geht? Na, da sind wir ja gespannt auf die Kleinigkeit. Aber nun Schluss. Adieu. Wiedersehen.