Lucia Bernhöven - Walther von Hollander - E-Book

Lucia Bernhöven E-Book

Walther von Hollander

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Beschreibung

Das Buch gibt ein genaues, buntes, erregendes Bild des 20. Jahrhunderts, dargestellt am Leben einer Frau: der Studentin, Ehefrau, Mutter und schließlich Sängerin Lucia Bernhöven, die Kämpfe, Verwirrungen und Zusammenbrüche durchleben muss, um letztendlich ihre Selbständigkeit zu erringen. Lucia, die Tochter eines preußischen Obersten, erlebt als Kind mit wachen Sinnen noch die Kaiserzeit, als Studentin und junge Frau die hektische Zeit der Inflation, der Umwertung des Geldes und der moralischen Begriffe. Sie erlebt die Jahre des Dritten Reiches, des Krieges, die Brände, in denen die Städte untergehen. Sie rettet ihre Existenz, ihr Leben, ihr Herz durch viele Enttäuschungen und Abstürze, über tiefste Trauer hinweg in eine Liebesehe.

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Walter von Hollander

Lucia Bernhöven

Roman einer frau

Saga

Lucia Bernhöven singt

Januar 1946

1

Zum ersten Male hörte ich ihre Stimme im Rundfunk. Es muß kurz nach dem großen Zusammenbruch gewesen sein, Ende 1945 also. Sie sang ein kleines, freches Loblied auf die verehrungswürdigen Dunkelmänner, auf die Schwarzhändler, die Geber aller Gaben, die einzigen, die das Leben des Durchschnittsmenschen noch lebenswert machten. (Diesen Durchschnittsmenschen nannte man damals den Normalverbraucher, und er war die vielverspottete Zentralfigur der Witzecken in den dünnen Einheitszeitungen.) Das Lied selbst war musikalisch-geistreich einem bekannten Choral nachgebildet, und die Orgelklänge lösten sich in freche Jazzrhythmen auf. Die Stimme der Sängerin war klein, geschmeidig, ungewöhnlich hell, um plötzlich in fast baritonale Tiefen hinabzutauchen. Sie sang spritzig und witzig, mit einer unüberhörbaren Melancholie als Unterton. Ihren Namen konnte ich bei dieser Sendung nicht verstehen.

Ein Vierteljahr später sah ich sie dann in einem Kabarett, in Düsseldorf, glaube ich, oder in Frankfurt. Ich weiß es nicht mehr. Doch – es muß Frankfurt gewesen sein. Denn ein Freund, der dicke Journalist Rabner, führte mich hin.

Das Kabarett war in einer Kellerkneipe untergebracht, zu der man über Ruinen und halbzerborstene Treppen hinunterklettern mußte. Der kahle Raum, nicht größer als ein großes Wohnzimmer, hatte im Kriege als Bombenkeller gedient. Die Angst saß noch in den nassen Wänden. Die dichtgedrängten Zuschauer heizten, und das Wasser perlte aus dem rohen Putz. Das Programm? Nun: die Lustigkeit der kleinen Sketsche und Parodien war recht angreiferisch. Die regierenden Politiker wurden verspottet, die gefallenen Größen hart und gellend verhöhnt, die Besatzungen und ihre Veronikas, die mit Zigaretten billig eingekauften deutschen Frauen, wurden vertraulich angerempelt. Dazwischen also trat sie auf: Lucia Bernhöven. Sie schien eine Mittelpunktsfigur des Ensembles zu sein; denn sie wurde von erwartungsvollem Beifall der Stammgäste begrüßt. Sie stand während dieses Beifalls lächelnd und zurückhaltend auf dem winzigen Podium: ziemlich groß, breitschultrig, schmalhüftig, mit hellblonden, pferdesträhnigen Haaren, die glatt dem wohlgeformten langen Schädel anlagen und durch einen unmodernen Knoten im Nacken zusammengefaßt wurden. Sonst hätte man sie auch für dreißig oder für noch jünger halten können. Sie trug ein enganliegendes Brokatkleid, ziemlich ausgeschnitten. Um den Hals hatte sie eine breite, unechte goldene Kette geschlungen, an der ein handtellergroßes Herz aus blutrotem Glas hing. Eine Dame, eine richtige, echte Dame – das war mein erster Eindruck –, durch wer weiß was für einen tückischen und falschen Wind auf dieses Podium geweht, das im Rauch der unzähligen Zigaretten wie in einem Nebel fast verschwand.

Nebelhaft und verschleiert setzte auch ihre Stimme ein, der merkwürdig helle Sopran, der dann gleich in jene männliche, baritonale Tiefe hinabsank, die mir beim ersten Hören aufgefallen war und an der ich sie wiedererkannte. Das Chanson aber, das sie sang, war von einer graziösen, oberflächlichen Heiterkeit, und der Refrain, der in einem Marschrhythmus gesungen wurde, hieß:

Wenn es so weitergeht ...

Dann geht’s nicht weiter ...

Es ist nicht heiter,

Wenn man im Dunklen steht.

Die wir im Dunklen stehen,

Wir Narren, wir Genarrten,

Wir wissen, es wird schon weitergehen.

Wir haben gelernt zu warten.

Man sieht, es war kein besonders geistvolles Lied. Aber es entsprach wohl dem galgenhumorigen, ironisch-ungemütlichen Gemütszustand jener Jahre im Niemandsland, da die Brücken alle eingestürzt waren und man noch nicht wußte, ob man jemals wieder an die andere, die hellere Seite des Flusses würde gelangen können. Freilich hatte die Bernhöven eine ungewöhnliche, schwer beschreibbare Darstellungskraft. Sie stand statuenhaft unbeweglich und maskenhaft lächelnd auf dem Podium, grau-weiß geschminkt, mit grellen Karmoisinlippen, die Augendeckel, die sie zuweilen wie Vorhänge über die milchhellen blitzenden Augen senkte, schwarz gefärbt. Gegen diese Starrheit bildete ihre lebendige, wechselreiche Stimme einen erregenden Gegensatz. Es war eine kleine Naturstimme, in einer mir unbekannten Technik ausgebildet und von einer ungewöhnlichen Kraft und Süße. Ja ... diese Süßigkeit und dazu eine große Herzlichkeit mochten wohl den starken Erfolg ihres eigentlich banalen Liedes erklären.

Der Beifall war heftig. Lucia dankte mit einem vergnügten Lächeln, mit einem mädchenhaften Knicksen, verschwand hinter den Kulissen aus Sackleinewand, tauchte wieder auf, winkte ab und sagte: »Ich habe ein anderes Lied. Leider paßt es nicht her. Wenn Sie es trotzdem hören wollen ...« Und indem sie den zustimmenden Beifall durch eine fast unwirsche Handbewegung wegwischte, begann sie ihr neues Lied. Es war ein einfaches, etwas melancholisches Lied, zu einer eintönigen Melodie gesungen. Sie sang es sehr vielfarbig bei aller Einfachheit des Ausdruckes. Ihr Gesicht war ganz verändert. Das Maskenhafte war abgefallen, und obwohl sie nur mit der rechten Hand ein paar illustrierende Bewegungen machte, war das eine genaue Darstellung dessen, was sie sang, die Darstellung des Herbstes, der Vergänglichkeit, des Sturmes. Das Lied aber, das sie mir erst sehr viel später schickte, lautete:

Bunt wie das Laub im Herbst

Ist unser Leben,

Grau wie der Nebel im Wald.

Aber manchmal auch blau wie der helle Himmel,

Wenn der Mittag herabscheint.

Bunt wie das Laub im Herbst

Ist unser Leben,

Vergänglich wie Laub und am Boden verflatternd.

Aber manchmal auch kühn und behende segelnd

Auf dem Rücken der Stürme.

Bunt wie das Laub im Herbst

Ist unser Leben.

Ungewiß bleibt, woher die Reise – wohin.

Der Sturm weiß es allein, der uns treibt.

Oder weiß er es auch nicht

Woher ... wohin?

Die Wirkung dieses Liedes war merkwürdig. Es gab fast keinen Beifall. Aber die buntgemischte Zuhörerschaft schien ergriffen. Denn sie stimmte durch eine lange Stille zu.

Mein Freund Rabner stand auf. »Wir können gehen«, sagte er, »was noch kommt, ist das Übliche. Finanzamt und Besatzungsmächte. Wir wollen ihr guten Tag sagen.« »Kennst du sie denn?« fragte ich naiv. Denn es gibt keine Frau von Bedeutung, die Rabner nicht kennt. Er zog auch nur beleidigt seine Augenbrauen hoch, die wie schwarze Schutzerker über seinen fensterhellen, farblosen flinken Augen standen, und drängte sich hinaus, indem er mit seinem gewaltigen weichen Bauch die Bankgenossen wegschob. Ich wollte nicht mitgehen. Aber bei Rabner nützen keine Proteste. Er lief eilig vor mir her, durch ein paar offene Kellergänge, in die ein kalter Nebelregen sprühte, klopfte donnernd an eine eiserne Tür und zog mich in die Garderobe hinein.

Es war ein winziger gewölbter Raum mit schmutzigen Wänden, ehemals wohl der Kartoffelkeller des zerstörten Hauses. An der Wand zwei Tische, zwei Spiegel darüber, zwei trübe elektrische Birnen. Ein Schrank in der Ecke. Die Bernhöven saß in einem kostbaren, am Kragen von Schminkspuren verfärbten alten Kimono vor dem Spiegel. Sie rieb sich gerade die letzten Spuren der Fettcreme vom Gesicht. Sie lächelte im Spiegel meinen Freund Rabner an und hob winkend die Hand, ohne sich umzudrehen. Ich wurde vorgestellt. Sie nickte mir im Spiegel zu. »Ein schönes Lied, das letzte«, sagte sie stolz und spöttisch, »eigene Anfertigung.« »Die Verse sind nicht besonders«, schrie Rabner, »höchstens die Musik ... aber die ist nicht von Ihnen.« Sie erhob sich, verbarg sich hinter den geöffneten Schranktüren, warf ihren Kimono ab und trat gleich darauf, den Kopf noch in der Halsöffnung eines schwarzen Tuchkleides, wieder auf uns zu. Während sie heraustauchte, das Kleid zurechtzog und an dem widerspenstigen Reißverschluß zerrte, sagte sie: »Ja ... die Musik ist schon gut. Aber mein Lied ist schön. Wenigstens heute.« Sie wandte sich mit einem verschmitzten Lächeln erklärend an mich: »Vielleicht ist es eine vergängliche Schönheit. Und morgen gilt ganz etwas anderes, was Unechteres, glaube ich.« Und wieder zu Rabner: »Ich sollte bald mal was Liebliches singen, was frisch Parfümiertes. Was meinen Sie, Rabner? – Sanfte Tränen, in seidene Tücher hineingeweint.« Rabner lachte dröhnend: »Tränen wird man Ihnen kaum abnehmen, Eure Lieblichkeit. Und woher seidene Tücher in dieser lumpigen Zeit.« Sie sah mit einem schrägen, fixen Blick zu ihm hinüber. Dann sagte sie merkwürdig hart: »Ja ... woher die Tücher? Das weiß ich auch nicht.« Und indem sie uns beide unterhakte, etwas burschikos: »Gehen wir noch einen trinken. Ich hab’ was Gutes auf meiner Bude.« Rabner entschuldigte sich wortreich. Er hätte Nachtdienst. »Gut«, sagte sie höchst natürlich, »wenn es Sie nicht langweilt, kommen Sie noch auf einen Schluck zu mir hinauf.«

Ich war über diese unerwartete Einladung etwas überrascht. Sie merkte es und sagte lachend: »Wir können auch in irgendein ungemütliches Lokal gehen und alkoholfreies Bier trinken. Aber bei mir ist es angenehmer. Ich möchte noch was reden. Einerlei, mit wem.« Nach dieser Unliebenswürdigkeit mochte ich nicht ablehnen, und so wanderten wir schweigend durch ein paar Trümmerstraßen. Immer noch sprühte der leise, durchdringende Nieselregen. Aber der Mond stand hinter den Wolken und verbreitete eine sanfte Dämmerung, in der die Ruinen geglättet schienen und fast wie eine romantische Burglandschaft die Straßen begleiteten.

2

Die Pension, in der die Bernhöven wohnte, lag in einem ehemaligen Hinterhaus. Das Vorderhaus war von Bomben zerstört, und so sah man schon die Lichter blinken, während wir den von aufgestapelten Ziegeln begleiteten Weg gingen. Ein mit Mauerbrocken gefüllter Springbrunnen, über dem unverletzt eine fischschwänzige Seejungfrau thronte, erinnerte daran, daß hier mal ein hochherrschaftliches Haus nach dem Bürgergeschmack der neunziger Jahre gestanden haben mußte. »Nett ... nicht wahr?« lächelte die Bernhöven. »Diese Böcklinzeiten, in denen Fischleiber und Fischweiber die Gefährlichkeit der Natur symbolisierten. Möchten Sie da gelebt haben? Ich vielleicht.« Sie schloß das Haus auf, knipste die Treppenbeleuchtung an und lief wieselflink die Treppen hinauf. Dabei rief sie: »Sie dürfen langsam nachkommen. Ich mache nur einen Wettlauf mit dem Geiz des Hauswirtes. Dreißig Sekunden hat man nur für jede Treppe. Sonst steht man im Dunkeln.« Tatsächlich erlosch gerade das Licht, wurde gleich wieder angesteckt, und ich hörte die eiligen, schlanken Schritte schon wieder die nächsten Treppen hinauflaufen. So geschah es noch dreimal, bis ich die Atemlose oben im vierten Stock einholte. »Gesiegt«, pustete sie befriedigt und schwang ihr Schlüsselbund. »Schneller als der Geiz ist der Ehrgeiz.«

Drinnen wurden wir von der weißhaarigen Pensionsinhaberin freundlich begrüßt. Frau Bernhöven stellte sie als »Mammi« Trömner vor. Sie war eine zierlich-betuliche alte Dame, deren Humor in vielen kleinen Fältchen um die Augenwinkel nistete. »Nett von Ihnen, daß Sie meiner Lucia noch ein bißchen Gesellschaft leisten«, sagte sie zu mir, »ich werde Euch noch einen Kaffee kochen.«

Das Zimmer war ein ziemlich kleines, mit Möbeln vollgestelltes Viereck. Zwei häßliche Sessel standen drin, mit schäbigem Blumenmusterüberzug, ein zierlicher Biedermeierschrank mit halb abgeblättertem Furnier. Über dem Waschtisch hing ein Empirespiegel mit trübem, wassergrünem Glas. Ein pompöses Bett, sichtlich die Hälfte eines ehelichen Schlafzimmers aus der Gründerzeit, nahm ein Drittel des Zimmers ein. Schräg vor den Fenstern stand ein rohgezimmerter Tannentisch. Eine Vase darauf mit einem üppigen Strauß gelber Rosen, ein paar Bücher dazu, eine Schreibmappe und einige Fotografien in Standrähmchen. Das Ganze war ebenso geschmacklos wie gemütlich. Zudem bullerte und knackte in dem runden Kanonenofen neben der Tür ein lustiges Feuer.

Aus einer hochgestellten Kiste, die durch ein paar Fächer und einen bunten Vorhang zu einem Schränkchen befördert war, holte Lucia drei Gläser und eine fast volle Ginflasche heraus. Sie schenkte ein, schob mir Zigaretten zu – nein, sie selbst rauche nicht, das sei eine überwundene Jugendsünde, und das bißchen Stimme wolle auch geschont sein –, prostete mir zu, trank das Glas in einem Zuge leer, schenkte sich neu ein und trank es wieder aus. Sie lachte: »Keine Angst ... ich trinke schnell, aber wenig. Ich muß immer fix einen Vorhang ziehen zwischen unserem Keller ... na, und dem übrigen. Zehn Minuten Arbeit am Tag. Und davon kann man leben. Ulkig, nicht wahr?«

»Und was machen Sie mit den übrigen dreiundzwanzig Stunden und fünfzig Minuten?« fragte ich. Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück. Ein Schatten floh über ihr Gesicht, schnell, wie der Schatten einer Wolke über eine blumige, windbewegte Bergwiese streift. Ich sah, daß sie ein bewegtes, naturnahes Gesicht hatte, in dem sich wetterhaft und wetterwechselnd ihre Gefühle spiegelten und es ständig und jäh veränderten.

Sie hatte ziemlich lange geschwiegen. »Ja, die übrigen dreiundzwanzig Stunden«, sagte sie jetzt zögernd, »es sind übrigens nur zweiundzwanzig. Denn ich muß ja hin und her gehen, mich schminken und abschminken, ein bißchen proben, ein bißchen mit den Kollegen schwätzen. Und dann gehen vier oder fünf Stunden für den Schlaf ab ... nein, mehr nicht. Ich schlafe so rasend tief und so vollkommen bewußtlos, daß ich nicht mehr brauche. Mehr wäre schade. Und eine Stunde brauch’ ich zum Briefschreiben, eine halbe zum Essen ... bleiben ... haben Sie mitgerechnet? ... fünfzehneinhalb Stunden zu beliebiger Verwendung.«

Ich proteste ihr zu. Sie verneigte sich anmutig. Aber sie trank nicht mehr. »Schenken Sie mir fünf von Ihren überflüssigen Stunden«, sagte ich, »ich könnte sie verdammt gut brauchen, und für die übrigen Stunden würden sich auch noch genug Bedürftige finden.« Sie wiegte den schönen Kopf bedauernd: »Sie enttäuschen mich. Ich hab’ mal was von Ihnen gelesen, so was Trocken-Weises, daß ein anständiger Mensch für alle schönen Dinge des Lebens Zeit haben müsse. War also Theorie, wie alle Weisheiten, und Sie gehören zu den Überarbeiteten und Überlasteten, die aus der Hetze so ’ne Art neue Moral machen. Und außerdem sich vom vollgeschriebenen Terminkalender die Entschuldigungszettel abreißen für ihre Herzenssünden.«

»Hübsch gesagt«, lachte ich. Und sie erwiderte recht ärgerlich: »Hübsch gesagt. Nett formuliert, nicht wahr? Ich will aber gar nichts Hübsches sagen. Ich will die Wahrheit sagen, daß Sie es nur wissen. Das, was wirklich ist. Nicht mehr, nicht weniger.« »Da haben Sie sich allerhand vorgenommen«, spottete ich, »das möchten wir nämlich alle. Mindestens jeder, der schreibt. Aber wir kriegen es nicht raus, was wirklich ist.«

»Warum nicht?« fragte sie heftig und trommelte mit den Fäusten auf die alten Sessellehnen, daß der Staub von vielen Jahren herausstob. »Warum denn nicht? Wir sind bloß feige.«

In diesem Augenblick kam Mammi Trömner herein. Sie kam, ohne anzuklopfen, indem sie einfach mit dem Ellenbogen die Türklinke herunterdrückte und die Tür dann mit dem Absatz krachend zustieß. Sie trug das Tablett mit dem Kaffeegeschirr, mit einem Bleikristallschälchen, in dem Kekse lagen, mit einem Käsebrot, das, wie sie streng sagte, nur und allein für »unsere« Lucia bestimmt und unteilbar sei. Sie kramte mit kleinen heiteren Bemerkungen über die Freuden und die Sorgen, die ihr Lucia bereitete, das Geschirr auf den Tisch, zwei Tassen nur. Sie selbst wolle keinen Kaffee, weil sie sonst Herzklopfen kriegen würde. Herzklopfen sei nur für junge Leute ein Genuß, für alte lediglich ein »unbehagliches Gelärme«. Aber einen Gin nahm sie gern. Sie setzte sich, das Glas in der Hand, auf das Bett und schlürfte den Schnaps mit kleinen, genießerischen Schlucken. Dabei schwätzte sie etwas monoton, aber mit dem Charme, den manche alte Damen besitzen, die wenig erlebt, aber viel gelesen haben und begeisterte Zuschauer des Lebenstheaters geworden sind. »Ist sie nicht eine große Künstlerin, unsere Lucia?« rief sie, »was sie da aus diesem Lied macht. Herrlich! Und gedichtet hat sie es auch. Aber sie müßte natürlich ganz was anderes tun.«

»Kochen zum Beispiel«, warf Lucia ein, »da bin ich wirklich begabt. Eine große Kochkünstlerin ... leider im Moment bei der Kartennahrung ein Maler ohne Hände.«

»Ja, kochen zum Beispiel«, kicherte Mammi Trömner und goß sich einen zweiten Schnaps ein, »oder meinetwegen auch heiraten. Eine Ehe führen. Das ist ja heutzutage das Schwierigste. Aber das würde sie auch schaffen. Verstehen Sie die Männer? Daß dieses Juwel, unsere Lucia, nicht verheiratet ist!«

Lucia lachte wieder ihr helles, klingendes Lachen: »Ich bin ja noch verheiratet.« Und die Trömner: »Beinahe geschieden, und da stehen noch nicht zehn Männer an, um dieses Juwel – jawohl, ich wiederhole das – heimzutragen?« Und Lucia friedlich: »Würden Sie einen der Männer heiraten, die heute noch frei rumlaufen?« Frau Trömner hob beide Hände zum Himmel, schüttete dabei etwas Schnaps auf die Decke und versuchte unter Bedauernsrufen den Fleck wegzuwischen: »Um Himmels willen – nein, ich bin froh, daß ich im vorigen Jahrhundert geheiratet habe und rechtzeitig Witwe wurde. Mit den heutigen Männern ... das wäre Selbstmord.«

»Und mir muten Sie den Selbstmord zu, Mammi«, seufzte Lucia. »Das nennen Sie Liebe.«

»Nun, meinetwegen«, sagte die alte Dame, »dann gehen Sie eben wieder zum Film und werden dieses Mal berühmt, sammeln Millionen und ziehen sich auf ein Schloß zurück.«

»Und was mach’ ich dann auf dem Schloß ... außer durch die Zimmer wallen und die Dienerschaft befehligen, Hunde dressieren und Jagden reiten?« fragte Lucia schelmisch.

»Abends schreiben Sie dann«, sagte Frau Trömner. Und zu mir gewandt: »Sie schreibt nämlich. Was ... das weiß ich nicht. Sie zeigt es niemandem. Vielleicht, wenn Sie sie bitten ...« Damit trank sie ihren Schnaps aus und ging formlos, grußlos hinaus.

»So, Sie schreiben?« fragte ich mehr aus Höflichkeit als aus Neugierde. Denn aus bösen Erfahrungen habe ich eine panische Angst vor Manuskripten, die irgendwelche Anfänger in ihren Schubladen bergen und einem zur Unzeit ins Haus schicken.

»Ich habe Sie ganz ohne Nebenabsichten hergelockt«, antwortete Lucia, »das können Sie mir glauben. Ich wollte nur nicht allein sein, weil ... nun, es ist einerlei, warum. Aber jetzt scheint es mir, daß ich Sie wirklich hierhergebeten habe, um mit Ihnen darüber zu sprechen. Übers Schreiben. Sie verstehen doch was davon. Gelesen habe ich nur hier und da was von Ihnen.«

»Theoretisches über das Leben und über die Frauen und über die Ehe«, sagte ich. »Ja, so ungefähr«, nickte sie, »aber das macht nichts. Ich wollte nicht über Sie sprechen, sondern über mich. Dazu geben Sie mir bitte noch einen Schnaps.«

Ich schenkte ein und spottete: »Gehört soviel Mut dazu?«

Sie kippte den Schnaps schnell hinunter und sagte dabei: »Ja ... ’ne ganze Menge Mut.«

3

Sie stand mit einem Seufzer auf, trat an den Tisch und legte mit schnellen, etwas fahrigen Bewegungen die Fotografien in den Standrähmchen um. Dadurch wurde ich erst auf die Bilder aufmerksam. Soviel ich sehen konnte, waren es die Bilder von zwei Männern und zwei Kindern. Unter den Büchern holte sie eine große Schreibmappe hervor, kam zurück und setzte sich wieder. »Nein, es geht nicht«, sagte sie mehr zu sich, »was für ein Blödsinn.«

»Also ist es ein Selbstporträt, eine Selbstbiographie oder so was Ähnliches?« fragte ich. Sie nickte: »Alle Frauen, die schreiben, schreiben Selbstbiographien. Die meisten Männer übrigens auch. Was sie erlebt haben, was sie gesehen haben, was sie gedacht, gefühlt, na, und vor allem, was sie gelitten haben. Höchst langweilig. Kein Mensch interessiert sich für die Halsschmerzen des anderen. Ist es nicht so?«

»Es sei denn, er liebte ihn«, sagte ich, weil ich sie in ihrem Monolog unterbrechen wollte. Sie sprach nämlich nicht eigentlich zu mir, sondern zu sich selbst, und es war die Fortsetzung vieler Selbstgespräche in einer nicht durchbrechbaren Einsamkeit.

Lucia nickte. Dann sah sie mich wieder mit ihrem durchdringenden, spöttisch-leuchtenden Blick an: »Und wer sich für die Halsschmerzen des Geliebten interessiert, der tut’s aus Ärger und Eifersucht. Die Halsschmerzen lenken den Geliebten doch von der Liebe ab, ja, sie sind ein Raub an der Liebe. Daher der Kummer.« »Liebe als Egoismus zu zweien ... da ist was dran«, sagte ich, eigentlich mehr, um die etwas zäh gewordene Unterhaltung fortzuspinnen. Die Bernhöven aber fuhr mir ziemlich ärgerlich ins Wort. Sie wollte keine Konversation mit mir treiben. Dazu sei meine Zeit zu schade und ihre auch. An geistreichen Anmerkungen zum Leben, an halbgaren Aphorismen mangle es ihr nicht. Die könne sie am laufenden Band produzieren. Das war eigentlich eine ziemliche Unverschämtheit. Denn ich hatte mich ihr ja wahrhaftig nicht aufgedrängt. Sie hatte mich aufgelesen und mitgeschleppt. Und ich sagte ihr das deutlich.

Sie hörte sich das freundlich an. »Nun geben Sie mir doch noch einen Schnaps«, sagte sie, »wir kommen langsam in das Stadium ehrlichen Gespräches.«

Ich schenkte ihr ein, und wir stießen miteinander an. »Wenn ich grob sein muß«, sagte ich ihr, »so bin ich durchaus nicht ehrlich, sondern höchstens gereizt und nervös«, und reichte ihr die Hand zur Versöhnung. »Und nun wollen wir anständig und kameradschaftlich miteinander reden. So geradeaus, wie es nur Menschen vermögen, die sich nicht kennen.«

Sie nickte, behielt meine Hand in der ihren, betrachtete einen Augenblick neugierig die Linien der Innenfläche, ließ plötzlich los und ging zum Ofen, um ihn polternd und rackelnd wieder in Gang zu setzen. Sie kam zurück, setzte sich auf die Lehne ihres Sessels und sagte vorsichtig tastend: »Finden Sie nicht, daß man sich in den ersten Minuten des Kennenlernens am besten kennt? Da hat man noch die Übersicht über das Ganze, den ersten, frischen Eindruck. Die vielen ablenkenden Einzelheiten sieht man noch nicht. Vorhin, als Sie hereinkamen, mit einem Blick das Zimmer abtaxierten und es mit mir verglichen ... wußten Sie da nicht ziemlich genau, wer ich bin?«

Ich mußte das zugeben. Sie war mir, je länger wir miteinander gesprochen hatten, um so unklarer geworden. Die scharfen Konturen ihres Bildes waren schon wieder etwas verwischt. Jetzt hätte ich nur noch einzelne Charakterzüge beschreiben können, sehr vage Eindrücke von allerlei Gegensätzlichkeiten. Ungebärdig etwa und sehr beherrscht, unkonventionell und an den Formen hängend. Einsam und sehr an das Leben gebunden. Sehr empfindsam und dem Groben zugeneigt. Aber auch äußerlich sehr gegensätzlich: sekundenlang erregend schön, anziehend, ja verführerisch, und gleich darauf wieder durchschnittlich aussehend, etwas zu männlich und betont uneitel. »Sie haben recht«, sagte ich, »ich kenne Sie nicht mehr. Wir können also ruhig von unbekannt zu unbekannt sprechen. Sie können mir z. B. was vorlesen. Ich werde es anhören, meine Meinung sagen und es wieder vergessen. Wahrscheinlich werden wir uns nie wiedersehen.«

Sie lächelte ein liebliches Lächeln, und ich mußte an Rabners, des Journalisten, Anrede »Eure Lieblichkeit« denken. »Wahrscheinlich nicht«, sagte sie, »denn sicherlich sind Sie darin ebenso wie ich: Sie suchen keine Freundschaften. Sie suchen überhaupt keinen Menschen mehr. Aber das Pech will’s, wenn man sie nicht sucht, findet man sie, ja, man stolpert über sie. Hoffentlich erschreckt es Sie nicht, wenn ich Ihnen sage: Wir sind bereits befreundet. Ob wir wollen oder nicht. Stimmt’s?«

Und da ich nicht gleich zustimmte, trat sie zu mir, legte mir die Hände auf die Schulter und setzte sehr herzlich hinzu: »Es ist, ich schwör’ es Ihnen, keine Liebeserklärung, obwohl man sich ja auch in Sekunden hoffnungslos oder hoffnungsvoll ineinander verlieben kann. Es ist wortwörtlich eine Freundschaftserklärung, und Sie können nicht umhin, zuzustimmen. Also trinken Sie auf unsere Freundschaft.« Ich prostete ihr zu. Sie hatte recht. Wir waren befreundet, und wir sind es bis auf den heutigen Tag geblieben, obwohl wir uns nur selten sehen, obgleich wir uns niemals besonders drum bemüht haben, uns zu treffen oder zu sprechen. Es ist eine verläßliche, gute und fruchtbare Freundschaft geworden.

Wir hatten wohl fünf Minuten friedlich miteinander geschwiegen. Sie aß ihr Käsebrot recht unachtsam, und ich rauchte vor mich hin. Dann bat ich sie, sie möchte mir nun endlich vorlesen. Aber sie lehnte das ab. Nein, sie könne es nicht. Aber vielleicht würde sie mir etwas schicken. Es seien auch erst hundert oder hundertzwanzig Seiten, Anfänge, Versuche, ein ewiges Ringen mit der Unehrlichkeit, mit der Beschönigung, mit den überlieferten Gefühlen, mit dem, was sein sollte und in der Tat nicht ist. »Was wirklich ist«, sagte ich, »das ist also der Titel.« »Der Arbeitstitel«, verbesserte sie mich, »wie man das bei schlechten Filmen sagt, wenn man nicht weiß, was man eigentlich ausdrücken will. Die Richtschnur oder, wenn Sie wollen, der Ariadnefaden im Labyrinth. Es ist soviel Unsinn über die Frauen zusammengeschrieben worden, und dieser Unsinn hat soviel Unheil angerichtet, und da dachte ich ... naja, da dachte ich eben ...«

»Sie dachten, Sie könnten den Frauen helfen, wenn Sie einmal schrieben, was wirklich ist.«

»Nein, das überlasse ich Ihnen«, lachte sie, »ich wollte mir selbst helfen. Eine männliche Münchhausenillusion – sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf holen. So einfach ist das nicht. Zunächst schlägt man um sich und sinkt immer hübsch weiter hinein.«

Sie schloß die Mappe auf. Da lagen vier große Briefumschläge, jeder beschriftet mit einem Kapiteltitel. Sie nahm zwei Umschläge heraus. »Sehen Sie ... das ist ordentlich der Reihe nach erzählt. Das Mutterhaus zum Beispiel. Ja, es war kein Vaterhaus. Mein Vater war mir fremd wie ein Fidschiinsulaner. Er war wohl auch so primitiv. Und hier haben Sie die Studienjahre. Erste Liebe inklusive. Ich hab’ sogar meinen Doktor gemacht. Summa cum laude. Zu meinem größten Erstaunen. Über Rilke natürlich. War damals so. Und hier ...« Sie packte die Umschläge plötzlich ärgerlich zusammen und schloß die Mappe. »Nein, das ist eben nicht richtig. Es geschieht gar nicht alles so hübsch und wohlgeordnet hintereinander. Oder doch nur im Anfang. Nachher – das finde ich so unheimlich –, nachher ist das Vergangene, das Gelebte, immer gegenwärtig. Oder ist es nicht so?«

Sie wischte sich über die Augen. »Ich bin sehr müde, lieber Freund«, sagte sie und erhob sich. »Wir müssen uns trennen. Schade. Es war schön mit Ihnen. Wie es eben immer schön ist, wenn man über sich selbst schwätzt.«

Sie zog sich ihren Mantel an und begleitete mich hinunter, das heißt, sie lief mir genau so voran, wie sie es beim Kommen getan hatte, um den Geiz des Hauswirtes zu überlisten. Draußen zog sie aus ihrem Mantel einen der großen Briefumschläge. Sie sagte: »Immerhin ... lesen Sie es. Es ist die Geschichte einer Jugendliebe. Von fernher gesehen. Und da dürfen Sie schon mitschauen.«

Damit umarmte sie mich herzlich und war gleich im Hause verschwunden. Ich sah noch, wie die Hausbeleuchtung ein paarmal an und aus ging. Sie war also immer noch dabei, den Geiz des Hauswirts zu überlisten.

Als ich nachher in einem kalten Hotelzimmer in meinem klammen Bett den Briefumschlag öffnete, fielen mir dreißig Blätter in Quartformat entgegen, schönes, glattes Friedenspapier, das sie mit einer exakten und schwungvollen Schrift vollgemalt hatte.

Ja, die Blätter waren eigentlich nicht beschrieben, sondern glichen eher kleinen Gemälden aus Schriftzeichen. Wie die Zeilen sehr genau voneinander abgesetzt waren, wie die Absätze gegeneinandergestellt, wie die Buchstaben mal aneinandergereiht waren, mal flüchtig auseinanderliefen ... das gab jeder Seite ein anderes, ein eigenwilliges Gesicht. Das reizte zum Lesen. Ich begann trotz meiner Müdigkeit gleich mit diesem Manuskript. Der Titel des Kapitels lautete:

»Jenaer Frühling 1920 – durch zwei Feuer gesehen«. Unerwarteterweise schrieb sie nicht in der Ichform, sondern in der allein epischen dritten Form. Das hatte ich am wenigsten erwartet.

Erstes Kapitel

Jenaer Frühling 1920 – durch zwei Feuer gesehen

Aufgezeichnet 1944

1

Eigentlich waren es drei Feuer, durch die die Frau hindurchsehen mußte, um den Jenaer Frühling 1920 zu erspähen und heranzurufen. Das erste Feuer brannte in dem kleinen Kanonenofen der Mansarde im Hause des pommerschen Bauern Mowranke. Der rote Schein aus den Ritzen flackerte zuweilen über das Gesicht eines achtjährigen Mädchens, das friedlich in dem breiten Bett in der Ecke schlief. Sonst lag das Kindergesicht im Dunkeln. Denn die Kerze auf dem Tisch war zum Bett hin mit einem dunkelblauen Papierschirm aus einem Heftdeckel abgeschirmt. Die Frau, die an dem birkenen polierten kleinen Tischchen saß, hieß damals Lucia von Tweeren. Sie war – man schrieb den 26. Januar 1944 – fast 44 Jahre alt. Ihr Alter wuchs genau so wie dieses elende Jahrhundert. An jedem Tag, an dem sie ein Datum über einen Brief setzte, schrieb sie zugleich auf, wie alt sie war.

Sie saß in einem wattierten hellblauen Morgenrock, der an der unteren Kante Brandspuren und Brandlöcher zeigte. Sie saß auf einem hölzernen Küchenstuhl, dessen Lehne ein Herz hatte von der gleichen Form und Größe, wie sie die Lokustür hinten im Garten schmückte. Da sie damals sehr mager war, hatte sie sich ein großes Kissen untergelegt, dessen Ränder gleichfalls angesengt waren. So wurde sie denn im Schreiben, wenn sie herabsah (und sie dachte immer mit gesenktem Kopf nach), an das zweite Feuer erinnert, durch das sie in die Vergangenheit blickte.

Es war das Feuer in der Nacht vom 22. zum 23. November 1943 in Berlin. Sie hörte jetzt das Knistern und Krachen im Dachgebälk des Hauses in der Ansbacher Straße. Sie sah sich hustend im Rauch stehen. Die Fenster klirrten und zersprangen von der Hitze. Es war taghell. Denn auch drüben die Häuser und jenseits die Häuser brannten.

Lucia warf sinnlos, wahllos ein paar Sachen hinaus, Bücher z. B. Aber die geliebtesten Bücher ließen sich nicht finden. Das Kissen, auf dem sie jetzt saß, den Hausrock, der sie jetzt umhüllte, drei Männeranzüge (ich muß doch was für Rüdiger retten), Schuhe, eine Puppe (Püppi genannt, ein häßliches, zerzaustes Bündelchen). Das Bild, das Theo Grain von ihr gemalt hatte, junges Mädchen auf einer Veranda, riß sie von der Wand und warf es dann achtlos ins Zimmer zurück. Bettine mußte doch Kleider haben. Nein – die nicht rauswerfen, unter den Arm damit! Unter den anderen den Silberkasten mit dem Wappen der Tweerens. Den Leuchter noch, den peltzerischen Leuchter von der Mutter.

Und nun hinunter! Unerträglich der Rauch im Treppenhaus. Das hölzerne Geländer brannte schon. Ein Wahnsinn, wegen der paar Sachen zu verbrennen und Bettine unten allein zu lassen! Frau Querke, die Hausmeisterin, würde ja auch nur an ihre Sachen denken und das Kind, mein Himmel, das Kind! Sie rannte die Treppen hinunter, indem sie sich gegen die Wand drängte, damit das Feuer des Geländers sie nicht faßte. Im zweiten Stock sperrten Möbel den Weg. Diese Wahnsinnigen! Sie würden auf ihren Kommoden verbrennen. Aber Lucia hatte viel Kraft, wenn’s darauf ankam. (Ja, nur, wenn’s darauf ankam!) Wütend, schimpfend überkletterte sie die Hindernisse. Jetzt war die Treppe frei. Nur ein paar Menschen rannten auf und ab. Sie trugen läppische Wassereimer und Sandtüten, um das Feuer zu löschen, oder sie schleppten Stehlampen mit riesigen Papierschirmen hinab, Vogelkäfige, goldgerahmte Bilder. Eine Bande von kindischen Verrückten. Und Lucia von Tweeren, kindisch verrückt, zwischen ihnen. Endlich kam sie auf die Straße. Kein Wind mehr. Die Häuser brannten hell und feierlich. Die Dachbalken krachten, wie wenn ein Riesenhund sie mit seinen Kiefern zermalmte. Sie schrie nach Bettine, der Tochter. Ein dünnes, vergnügtes Stimmchen antwortete. Auf einem breiten, schäbigen Sessel saß sie, die verschmutzte, die verdreckte Puppe im Arm. Über den Kinderschultern den Hausrock, unter dem anderen Ärmchen das Kissen und einen verdreckten Band Rilke: ‚Von der Armut und vom Tode‘. »Püppi ist gerettet«, sagte Bettine wichtig, »und Papis Anzüge hat ein Herr aufgehoben.«

In diesem Augenblick brach der Dachstuhl des Hauses ein. Drüben auf der anderen Straßenecke flogen auch die brennenden Balken auf die Straße, und gleichzeitig gellten die Warnsirenen von neuem. Wohin jetzt? Wieder in einen Keller. An den brennenden Häusern entlang, die Flugzeuge brummend darüber. Da ... Lichter ... die Weihnachtsbäume, grelle Lichtkugeln, heller als die Brände. Hinein in einen Keller, ins Dunkle! Aus.

Das also war das zweite Feuer, durch das sie hindurchsah, während draußen der Plüggen, der große See, unter dem Hauch eines plötzlichen, verwirrten Tauwindes aufseufzte und zerbrach. Die Eisschollen knisterten und krachten wie die Dachbalken in der Ansbacher Straße. »Eis und Feuer sind dasselbe.« – Wer hatte das gesagt? Kein sehr tiefsinniger Spruch. Ja, richtig, er stammte von einem Privatdozenten der Philosophie, den sie jetzt durch das dritte Feuer hindurch erblickte. Es war das Sonnenwendfeuer 1920, hinter dessen Flammen das Gesicht des Universitätsphilosophen Springmeier auftauchte, eines kleinen, dicken, fröhlichen Mannes, der wie ein Gummiball durch das Feuer hüpfte, vor Lust krähend wie ein junger Hahn und immer wieder andere blumenkranzverzierte Damen mit sich zerrend.

Warum erblickte die Frau durch die drei Feuer hindurch gerade das faunisch-harmlose Gesicht Springmeiers, der nur eine kleine Nebenfigur dieses Festes war, eine Randfigur jenes Sommers? Sie zögerte lange. Dann schrieb sie schwerfällig und wider Willen: Weil die Hauptfiguren genau so erloschen sind. Ja, erloschen. Hinter den Feuern nicht mehr zu sehen. Gesichtslos, augenlos. Und hatte denn damals nicht das Herz geflammt? War es nicht verwirrt von einer süßen Erschütterung? Nachfühlen, nachspüren! Jetzt erinnerte sie sich wieder. Ganz warm spürte sie die gleiche Entzückung.

2

Die Schritte schurrten auf dem Steingrund des Weges, der am kahlen Berghang emporkletterte. Unten, schon von fern gesehen, loderte das Feuer, hörte man Geschrei und Musik, oben, wenn man den Kopf in den Nacken legte, waren Sterne. Der Mann, der neben ihr ging, hieß Reinhold Wilmer. Sie sah jetzt, mit nachtgewöhnten Augen, sein gutgeschnittenes Profil, die kühne Nase, das vorspringende Kinn. Den wohlgeformten Hals, den Schillerkragen. Er bückte sich zuweilen, hob Steinchen auf und warf sie mit Bewegungen eines Diskuswerfers sinnlos in die Nacht. Er blieb plötzlich stehen. Ein Käuzchen schrie und verstummte. Dann Stille. »Hörst du ... der Tau fällt schon.« Sie lauschte, aber sie konnte den Tau nicht fallen hören. Sie wußte aber, daß das, was er gesagt hatte, eine Liebeserklärung war. »Nein, ich kann ihn nicht hören«, sagte sie. Und sie dachte: Ich liebe doch Theo Grain. Ich kann diesen Reinhold nicht lieben. Er nahm ihre Hand. Er drückte sie in das Gras, das an der Bergseite des Weges wuchs. Er sagte lächelnd: »Spürst du jetzt den Tau?« Ihre Hand war feucht und kühl. Sie strich über seine Haare. »Ja – jetzt spüre ich es«, sagte sie.

Sie stiegen bergauf, unten das Sonnenwendfeuer wurde noch kleiner. Das Geschrei, die Rufe verebbten ganz, als der schmale Bergpfad um eine Ecke bog. Ein leiser Wind, der Frühwind vor der Morgendämmerung, wehte ihnen entgegen. Er roch nach Gräsern, Wildrosen und nach dem glühenden Sonnenschein des vergangenen, vergessenen Tages. Das eben war Sommer! Die Steine atmeten noch Sonne, kurz bevor die Sonne wieder aufging.

Einen Kranz von Wildrosenknospen trug Lucia Bernhöven, die Zwanzigjährige, ein langes, lindenblütenfarbenes Sommerkleid und goldene Schuhe, durch deren dünne Sohle der Kiesweg stach. Die halblangen Haare trug sie in dieser Nacht offen. Es ist schwer zu sagen, ob sie damals hübsch war oder rührend oder häßlich in ihrem seltsamen Gewand, mit dem lächerlichen Tandaradeikranz im Haar, in ihrer fast männlichen Eckigkeit, mit den viel zu großen Schritten, mit denen sie sich an die Schritte des Mannes anpaßte, mit den halb blinden, nein, mit den halb wachen Welpenaugen.

Die heutige Lucia, die beim Bauern Mowranke schreibende, unterdrückte die Neigung, über die unfertige, schlaksige Studentin Lucia zu lächeln. Sicherlich war sie auf jenem Nachtspaziergang schön gewesen. Denn sie liebte. Zum ersten Male liebte sie. Unbewußt noch und sich wehrend gegen die Überwältigung durch das Gefühl.

»Sie werden uns jetzt suchen«, sagte Wilmer. Er hatte also ihre Gedanken erraten. Sie hatte gerade gedacht, daß Theo Grain, der Maler, sie suchen würde, der lustige Maler mit den schwarzen Knopfaugen, mit dem braungelockten Kinnbart, mit dem süßen, leichten Tenor, der so zärtliche Volkslieder zur Laute singen konnte und bei dem sie Mittag für Mittag im Atelier oben an den Sonnenbergen hockte. Vier Wochen schon. Theo hatte ein recht hübsches Porträt Lucias gemalt, indem er lustig über ihre Seele schwätzte. Vier Wochen hielten sie eine reizende Kameradschaft. Theo Grain nannte es Liebe. Sie hatte ihm nicht widersprochen. Sie hatte es nicht besser gewußt.

Bis zu diesem Augenblick, in dem Reinhold Wilmer seine Jacke auszog, sie auf den Wegrand breitete, in dem sie sich hinsetzten und einander beide Hände reichten und in dem unzählige Braunellen und Meisen zirpend ihren Morgensang begannen, die Dämmerung die Sterne verblassen ließ und im Osten ein zager Lichtschein anhob.

»Gleich wird die Sonne kommen«, sagte Reinhold Wilmer. Und das hieß: »Ich liebe dich.« »Ich kann schon die Stadt sehen – wie weit sie ist«, antwortete sie. Und das hieß: »Ich liebe dich.«

Der Morgenwind knatterte in dem Pappelgebüsch über ihnen. Er führte Kühle mit, von den Feldern. »Frierst du?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Sie sahen sich an und lächelten. Er legte seinen Arm um ihre Schulter. Sie rückte ein wenig beiseite, und er nahm den Arm wieder weg. Das hieß: Es ist nicht nötig, die Liebe auszudrücken. Es ist zu früh dazu oder zu spät. Keine Geste, keine Zärtlichkeit konnte ausschöpfen, was sie empfanden. Ein Rausch? Nein. Eine Leidenschaft? Nein. Glück? Ja. Glück. Weiter nichts.

»Wo kommst du eigentlich her?« fragte der Mann nach einer ganzen Weile. Sie wies lächelnd ins Tal, in dem jetzt die dämmerige Stadt sichtbar wurde, mit den schönen Türmen der Stadtkirche, dem nackten Hochhaus von Zeiß, den Villen, die an den Hängen emporkletterten und jetzt im ersten Licht des Morgenrots rosa aufschimmerten. »Nein, ich meine, wo du herstammst. Dein Vater ist sicher ein vornehmer Mann.« Sie zuckte die Achseln und lächelte: »Weiß nicht. Glaub’ nicht.« Er sagte heftig: »Mein Vater ist Arbeiter. Werkmeister. Da unten bei Zeiß.« Sie fragte harmlos: »Ist er nett?« Er spottete bitter: »Er liebt Vertikos, Plüschmöbel und ähnlichen bürgerlichen Unsinn.« Sie lachte: »Du bist Reinhold Wilmer, und ich bin Lucia Bernhöven. Alles andere ist einerlei.« Er murrte: »Das glaub’ ich nicht.« Sie schloß: »Die Sonne ist da. Wir wollen gehen.«

Sie stand auf, griff nach einem verblühten Löwenzahn, pustete den Samen fort, die kleinen silbergrauen Fallschirmchen. Der Wind hob sie auf und wirbelte sie weg. Sie griff in den langen blonden Schopf Reinholds. Sie bog seinen Kopf nach hinten. Sie sagte streng: »Ich muß es dir ja nun sagen. Ich liebe dich. Schade, daß ich es dir sagen muß.« Er sah zu ihr auf und flüsterte: »Du mußt es mir immer wieder sagen.« Sie antwortete nichts. Aber sie spürte einen feinen, stechenden Schmerz, den sie nicht benennen konnte. Sie wußte vielleicht schon, daß die Liebe, ihre erste Liebe, gekommen und aufgeblüht war und schon wieder verwehte, wie die Fallschirmsamen des Löwenzahns verweht waren. Nein – die hatte sie weggepustet. Hatte sie etwa die Vollkommenheit dieser schweigsamen Liebesstunde zerstört?

»Komm«, sagte sie heftig, »komm schnell.« Sie begann den Weg hinabzulaufen. Die Sonne war schon höher gestiegen und wärmte bereits. Sie lief sehr schnell und leicht. Sie hörte die verfolgenden Schritte des Mannes. Sie lief immer schneller. Er konnte sie nicht einholen. Sie lief bis zum Sonnenwendplatz. Dort riß er sie an sich, küßte sie. Sie ließ es sich gefallen.

Sie sah über seine Schulter hinweg auf die verkohlten Reste des Feuers, auf ein paar Flaschen, die man vergessen hatte zu vergraben, auf ein paar Papiere, die verweht waren, ein paar verwelkte Blumenkränze. Sie löste sich von dem Mann. Sie nahm ihren Wildrosenkranz ab. Ein paar Knospen hatten sich entfaltet. Ein paar Blüten waren schon abgefallen. Achtlos warf sie den Kranz zu den anderen welken Kränzen. Friedhof. Grab. Dachte sie. Nein, grablose Friedhofsecken. Abfallhaufen abseits der Toten. Was für ein Bild für eine Liebende!

Schweigend, Hand in Hand, stiegen sie ins Tal hinunter, in die Stadt. Die Sonne begleitete sie, kam mit ihnen gleichzeitig in die winkligen Gassen. Die Rolläden rasselten hinauf. Die Wasserwagen rumpelten, Feuchte verbreitend, über die Pflaster. Die Bäckereien öffneten. Bäckerjungen, Brötchentüten in den Körben, radelten durch die Straßen. Alles war, wie es immer gewesen war.

Sie zog sich um. Sie ging in die Universität, sie hörte aufmerksam und überwach ihre Vorlesungen, Mittelhochdeutsch, Geschichte, Literatur des 19. Jahrhunderts. Sie schrieb eifrig und fleißig nach. Mitten in einem Satz über Gottfried Keller aber schrieb sie: »Ich liebe Reinhold Wilmer.« Sie starrte diesen Satz an. Strich ihn dick und kräftig wieder aus und schrieb weiter, was der Professor über Gottfried Keller berichtete.

Mittags stieg sie, wie immer, zu den Sonnenbergen hinauf. Es war ein heißer, heller Tag. In den Gärten blühten die Rosen, der letzte Jasmin, die ersten Rittersporne. Sie trat in das Atelier von Theo Grain. Aus der sengenden Hitze kam sie in die Kühle der Nordfenster. »Da ist ja der Ausreißer«, schrie Theo allzu vergnügt, »ein schönes Fest, nicht wahr? Sonnenwend, und es regnete nicht einmal! Ein wahres Wunder.«

Wie immer bereitete sie den Tee. Sie tranken zusammen. Sie schwätzten über das Fest, über Springmeier, den Philosophen, der sich wieder in ein ganz junges Mädchen verliebt hatte, über den spitzbärtigen Silen, den bedeutenden Verleger, der wie ein gütiger, antiker Gott das Fest gelenkt hatte. Sie setzte sich wieder in den geblümten Sessel. Sie hatte die blutrote Bluse an und den weißen Pikeerock, in dem er sie malte. Sie nahm die gewünschte Stellung ein, die rechte Hand gegen die Schläfe gestützt. Sie sah freundlich lächelnd zu Theo Grain hinüber, der, einen Pinsel im Mund, einen in der Hand, vor sich hinbrabbelte, abwechselnd über das Bild, über das Fest, über Lucia, die an jedem Tage eine andere sei und niemals einzufangen. Mitten in ein paar Ausrufe des Malers hinein sagte sie sehr ruhig: »Ich liebe dich nicht mehr, Theo.«

Theo nahm den Pinsel aus dem Mund, starrte sie prüfend an und kommandierte: »Etwas mehr rechts den Kopf. Noch mehr. So ist’s gut. Und mehr in die Weite geschaut. Ja, so ist es richtig.«

Zehn Minuten malte er weiter, indem er sich ab und zu mit Grunztönen beschimpfte oder belobte. Endlich legte er Pinsel und Palette weg. Er trat zu ihr, legte ihr lächelnd die Hand auf die Schulter und sagte: »Hab’s gar nicht geahnt, daß ich die Ehre hatte, von dir geliebt zu werden. Na ... zu spät ist immer noch besser als gar nicht, Undine.« Er zog sich einen kleinen Hocker heran, legte ihr die Hand auf den Arm und sagte: »Undine ... so hab’ ich dein Bild genannt, schon lange. Wasserwesen, Elementargeist ohne die unsterbliche Seele. Die kriegt Undine erst durch Vermählung mit einem irdischen Mann.« Und sehr zärtlich setzte er hinzu: »Es tut weh, Undinchen, glaub’s mir, wenn man eine unsterbliche Seele bekommt.« Er stand auf, setzte noch ein paar Pinselstriche auf das Bild, schüttelte den Kopf und sagte: »Es ist mir nicht gegeben, dir die Seele einzuhauchen. Fertig.« Er nahm das Bild von der Staffelei. Stellte es neben Lucia und sagte ernst: »Schenk’ ich dir als Andenken an dein nymphisches Leben.« Sie stand auf. Sie sagte: »Theo ... ich weiß es ja gar nicht. Kann sein, ich könnte dich doch lieben.«

Er nahm sie um die Schulter, führte sie zum Ausgang und sagte: »Könnte, könnte, Undinchen. Leb wohl!« Er drückte ihr das Bild in die Hand, und sie ging, es vorsichtig am Keilrahmen haltend, durch die Straßen, die noch heißer geworden waren. Die Menschen lächelten über das junge Mädchen, das sich selbst durch die Gassen trug. Sie merkte es nicht. Sie grübelte. Sie wußte nicht, ob sie etwas gewonnen oder verloren hatte. Verloren gewiß etwas. Den heiteren, zärtlich-zarten Theo Grain. Aber gewonnen? Die Liebe zu Reinhold Wilmer war ja auch schon vorbei.

3

1944, in der Nacht vom 26. zum 27. Januar, hatte Lucia von Tweeren begonnen, über die zwanzigjährige Lucia Bernhöven zu schreiben, über das vergangene Ich also, das schwesterliche Schatten-Ich, das neben ihr saß und ihr die schreibende Hand führte. Jetzt, da sie das Geschriebene überlas, war es der 27. Januar, 10 Uhr etwa. Es war wieder sehr kalt geworden. Draußen auf dem See, der der Plüggen hieß, tummelten sich die Dorfkinder mit Schlitten und Schlittschuhen. In ihre dünnen, kreischenden Stimmen, die heraufklangen, mischte sich die herrische Befehlsstimme der kleinen Bettine, ihrer Tochter. Die Sonne schien ins Fenster, wärmte die Hände. Sie starrte auf die schwarzen Buchstaben. War es richtig, war es wahr, was sie geschrieben hatte? Gab es die überschwengliche, die das Herz sprengende Liebe von drei ewigen Minuten, oder war alles durch die Erinnerung versüßt, durch die Erfahrung zu spöttisch angeblickt, durch die Feuer, durch die sie hindurchsah, falsch, bengalisch beleuchtet? Kann man sich überhaupt erinnern, und das heißt doch, in die Vergangenheit zurücktreten, das dazwischen Erlebte ablegen, oder zeigt die Erinnerung nur das, was nach dem Erlöschen der Feuer noch leuchtet?

Der 27. Januar. Sie lächelte. Sie hörte die – in Bettine, der Achtjährigen, auferstandene – etwas schnarrende, schneidige Stimme ihres Vaters: »Am heutigen Tag, dem Geburtstag Seiner Majestät unseres allergnädigsten Kaisers und Herrn, Wilhelms II.«

Sie stand am Rande eines Exerzierfeldes, zwölf Jahre alt, ein Barett aus Schwanenfedern auf dem Kinderkopf, ein pelzbesetztes Plüschjäckchen über den Kinderschultern. Die Sonne schien. Die Helme der Soldaten blitzten. Es blitzten die Degen der Offiziere. Der Vater, Bernard Bernhöven, Major und Bataillonskommandeur, saß auf seinem Rappen. Der Adjutant, Leutnant von Scheffke, auf einem Schimmel hinter ihm, die silberne Adjutanten-Schärpe »auf Taille«. Und weiter die schnarrende Stimme. Hochrufe. Kommandos. Dröhnender Parademarsch. Das kleine Mädchen in dem Schwanenbarett stand dicht hinter dem Vater, der die Parade abnahm, und die fünfhundert Männer, die mit ausgestreckten Beinen vorbeistampften, blickten zu ihm auf. Fünfhundert Männer. Warum taten sie das? Der Vater sah sehr stattlich aus, wenn er seinen Degen vor der Fahne senkte. Aber er war nicht immer so großartig. Sie schaute die Mutter an. Die machte ihr undurchdringliches Kirchengesicht. Das feierliche Gesicht. Die Kapelle schwenkte jetzt ein. Die Trompeten blitzten in der Wintersonne. Die Stiefelsohlen der Soldaten krachten. Die Kinder rasten hinter der Kapelle drein. Nur Lucia blieb Hand in Hand mit der Mutter zurück. »Warum weinst du?« fragte die Mutter streng. »Man weint nur, wenn man allein ist.« Und Lucia, die Zwölfjährige, antwortete: »Ich bin ja allein.« Sie standen tatsächlich allein auf dem Exerzierfeld. Ganz fern bumsten noch die Pauken. Dann war alles still. »Komm«, sagte die Mutter. Und sie gingen durch die beflaggte Stadt, um den See herum zur grauen Villa der Bernhöven hinauf. Ein Ritter mit Windfahne stand auf dem Dach. Der Wind kam von Osten.

Aber zurück nach Jena. Ungefähr – wenn man auf die Wirklichkeit kommen will, muß man der Reihe nach erzählen. Muß man? Gibt’s die Reihenfolge? Das ist schwer zu sagen. Mal treten die einen Jahre nah an uns heran, mal die anderen, und mal ist es ein Gemisch von Jahren und Erlebnissen, eine Kette, und man denkt, man hat den Faden in der Hand, das Leitseil (oder das Leid-Seil?), an dem man über Schroffen durch den Nebel getastet ist, ohne abzustürzen. Daß man vielleicht doch aus einem Grundmotiv heraus gehandelt hat, von einem primum movens getrieben. Ich kann das primum movens nicht entdecken – schrieb sie jetzt nieder. Die Verwirrungen, in die ich getrieben wurde, entwirrten sich »ohn’ mein Verdienst und Würdigkeit«. Ich entkam. Geschlagen, zerschlagen oft, aber ich entkam.

Sie stand auf und schob ein paar neue Buchenscheite in den kleinen Ofen. Sie prasselten und knackten. Der Teetopf auf dem Ofen begann zu dampfen und zu singen. Sie goß sich ein, hielt die immer noch frierenden Hände um die heiße Tasse, wandte sich wieder den Blättern zu und schrieb weiter. Sie schrieb, nein, sie malte versonnen, spielerisch-kalligraphisch und mit großen Buchstaben: »Es war mein schicksal und ist es geblieben, immer lieben zu müssen, wenn die liebe vorbei war.«

4

Waren es wirklich nur vier Wochen, die der zwanzigjährigen Studentin Lucia Bernhöven für den Jenaer Sommer blieben? Es können kaum mehr gewesen sein. Im Höchstfall sechs Wochen. Denn Anfang August mußte sie nach Hause. Sie hatte sehr wenig Geld. Der Vater war nun pensionierter Oberst. Die Inflation war im Anmarsch. Man sagte: »Der Dollar steigt« oder »Die Preise klettern rapide.« Schon deshalb mußte sie nach Hause. Es waren tatsächlich nur vier oder sechs Wochen. Es gibt eben prall gefüllte Lebenszeiten. Wendepunkte, um die sich die Lebenstür dreht. Eine neue Welt erschloß sich ihr. Nein – Welten, immer neue Welten.

Sie war die Geliebte Reinhold Wilmers geworden. Das Wort trifft es genau. Die Geliebte, ein passives Wesen, das leidenschaftlich, ja ingrimmig geliebt wurde. Sie hatte seinen wütenden Werbungen nachgegeben. Viel zu früh – das wußte sie jetzt aus der Erfahrung eines langen Lebens. Im Grunde wußte sie es auch damals schon. Nur konnte sie damals noch nicht sagen: »Ich habe ihn drei Minuten am Sonnenwendfest geliebt. Oben am Berg, als der Morgenwind kam, und habe die Liebe schon zehn Minuten später abgetan, als ich den verwelkten Kranz zu den anderen Kränzen warf.« Das konnte sie nicht wissen. Denn Reinhold hüllte sie in seine stürmische Liebe ein. Sie staunte über die Glut, mit der er sie verehrte, umwarb, bewachte, mit der er sie bezwang.

Nein – sie brauchte »das« nicht. Es war ihr alles sehr fremd. Mit Seufzen, mit Zögern ergab sie sich. Es war nicht sehr schlimm. Aber unnötig. Schrecklich unnötig, so zärtlich er war, so liebevoll in Augenblicken der Besinnung. Aber wenn der Sturmwind über sie wegging, lag sie in einer Mulde. Geschützt und unerreichbar für den Sturm. Sie erinnerte sich, daß sie als Kind einmal durch eine geöffnete Tür dem Geschwätz der Damen des Kaffeekränzchens zugehört hatte und Frau Amtsrichter Dellinger, eine robuste Vierzigerin, die bekannt war für ihre »freien Anschauungen«, hatte seufzen hören über die ehelichen Pflichten, die die Frauen auf sich nehmen müßten, weil die Männer nun mal so seien. Ähnliches von Pflicht oder »die Männer sind so« empfand sie wohl damals, wenn sie die Nächte mit Reinhold in dem Schrebergartenhäuschen des alten Wilmer verbrachte, in dem dumpfen Zimmerchen mit den Holzwänden und dem Pappdach, in dem eine Pritsche stand, ein Drahtgeflecht mit einer nach dumpfem Heu riechenden Matratze. Dann war noch ein Holztisch da, Gartengeräte, Saatkästen. Von draußen, durch das kleine längliche Fenster, blickten Herden von Sonnenblumen herein, milchig-golden im Mondlicht, und man hörte die ersten wurmstichigen Äpfel von den Bäumen fallen. Das waren die ersten Nächte. Später regnete es oft. Das Wasser zischelte an den Holzwänden herab. Reinhold schlief, und sie lauschte in den Regen hinaus.

Schöner, viel schöner war es, wenn sie etwa auf der Lattenbank vor dem Hause saßen und friedlich vom Hang ins Tal blickten. Schön, wenn Reinhold seine weltzertrümmernden politischen Ideen entwickelte. Daß die Welt ungerecht eingerichtet sei und man die Gerechtigkeit herstellen müsse. Daß die Reichen gepraßt und die Armen gehungert hätten, und das müsse aufhören. Daß der Mensch des Menschen Wolf gewesen sei, und es müsse endlich Frieden über die Welt kommen (»Über die Welt kommen«, sagte er. Der Frieden als Raubtier, das die Welt verschlang!). Sie hatte niemals über die soziale Ungerechtigkeit nachgedacht. Zu Hause hatte sie nur von den »ballonmützigen Roten« gehört, die schon immer gegen Kaiser und Reich waren und 1918 den Sieg verspielt hatten. Finstere Gesellen, die die Welt in die Luft sprengen wollten, und denen das eines Tages gelingen könnte. Das stimmte also nicht. Denn hier saß Reinhold Wilmer neben ihr. Ein feuriger junger Mensch, der nichts wollte als den Frieden und die Gerechtigkeit für jeden Menschen. Daß jeder die Früchte seiner Arbeit ernte und keiner den anderen ausbeuten dürfe. Eine schöne Welt, obwohl ihr die jetzige Welt mit all ihren Nöten auch nicht besonders schlecht erschien. Unten in ihrem jungen Herzen keimte ein kleines, ein unüberwindbares Mißtrauen. Reinhold – es ist nicht ganz gewiß, daß sie damals schon so klar dachte, aber es ist sicher, daß sie es spürte –, Reinhold, der Kämpfer gegen die Unterdrückung und Ausbeutung, er, er sah nicht, daß er sie ausbeutete und unterdrückte mit seiner Liebe, die nicht ihre Liebe war. Merkwürdig.

Merkwürdig übrigens auch, daß sie nicht etwa Reue empfand, so etwa nach der Richtung: »Dem Vater unter die Augen treten«, der sie hinausgeworfen hätte. »Kommunistenliebchen ...«, das hätte er sicher geschrien. Aber er würde es nicht erfahren. Hoffentlich. Nein, sicher. Und die zarte Mutter, die etwas ängstliche, die schon soviel Sorgen hatte ... nein, der konnte sie es auch nicht antun, daß sie die Wahrheit erfuhr. Sie konnte das ganz bestimmt nicht begreifen. Sie vor allem mußte Lucia vor der Wahrheit schützen. Die Wahrheit war ja auch unschilderbar. Die Geliebte wider Willen, die doch liebte, die gerne zärtlich und Hand in Hand mit Reinhold durch die Wälder ging und über die Gerechtigkeit sprach, die sich mit seiner Hilfe der Welt bemächtigen würde.

Kurzum, es war alles falsch, was sie damals tat und erlebte, und sie empfand doch nicht die Spur einer Reue. Es mußte wohl getan werden. Sicher: es hätte anders sein können, lieblicher, tiefer, eine wahre Übereinstimmung. Aber das gab’s eben nicht, und stets – auch in ihrem späteren Leben – nahm sie mit Gleichmut hin, was sie tat und was sie verfehlte. Die Liebe konnte sie freilich auf diesem Wege nicht erfahren. Aber wer weiß denn, ob es diese Liebe überhaupt gibt. Damals im Banne Rilkes, den sie von allen Dichtern am meisten verehrte, mit dessen Büchern sie oft ihre Nächte verbrachte, leise und mit Gefühl die herrlichen Verse flüsternd, damals mochte sie sich zuweilen nach einer rilkeschen Liebe sehnen. Aber die war wohl nicht von dieser Welt und jedenfalls nicht in der Welt Reinholds beheimatet, mit dem sie doch lebte.

5

Die Welt weitete sich. Von der politischen Welt sah sie schon die Umrisse, falsche Umrisse. Aber doch Umrisse. Sie las angestrengt die Schriften von Marx, die ihr Reinhold gab. Das neue Evangelium. Manches schien ihr richtig. Manches unbegreiflich primitiv und verhängnisvoll unwahr. Sie kannte z. B. die Bürger besser. Das waren meist keine Ausbeuter, sondern sehr brave, sehr ordentliche Menschen. Und Vater Wilmer, ein verbürgerlichter, unentschiedener Sozialist, ein »Klein-Ausbeuter«, wenn man Reinhold glauben wollte, war ein liebenswerter, fleißiger, pflichttreuer, friedfertiger Mann, ein Zahlabendleiter in der Ortsgruppe Jena-West der Sozialdemokratischen Partei, ein sehr geschickter Handwerker bei Zeiß, ein bescheidener Schrebergärtner, der Frieden ausstrahlte, wenn er, die Pfeife unter dem breiten Schnurrbart, Schweißperlen auf der flachen Stirn, das Wasser vom Brunnen heraufschleppte, um die Tomaten, die Zwiebeln, die Möhren, den stets verkümmerten Blumenkohl sowie die wildwuchernden, armlangen Gurken zu gießen. Sicherlich war er kein Revolutionär, obwohl er unter Wilhelm II. zweimal gesessen hatte. Aber er lebte ein volles, ein rundes, ein fast sorgloses, ein liebenswertes, ein niemanden bedrängendes, ein jedem Tüchtigen erreichbares Leben an der Seite seiner lustig sächselnden runden Frau, die wortlos und gedankenlos ihr Tagewerk verrichtete und ihren Emil, so hieß der Alte, in die Zucht und die Ordnung zurückholte, wenn er mal zu tief in die jenaschen Bierkrüge hineingeschaut hatte. »Was ist an deinen Eltern auszusetzen?« fragte sie Reinhold immer wieder. »Sie fügen sich und begnügen sich«, antwortete er wütend. Sich fügen und begnügen war in Reinholds Augen ein Verbrechen.

Sich fügen und begnügen. Das wollte sie auch nicht. Das schien ihr damals schon schrecklich. Oder hatte sie erst von Reinhold gelernt, daß Fügen und Begnügen die Menschen klein macht? War’s deshalb, daß sie mit ihm zusammenkommen mußte, um zu erfahren, daß sie sich niemals begnügen dürfe, niemals behaglich im Erreichten verharren, immer auf der Wanderschaft bleiben müsse? Eine Nomadin, stets bereit, die Zelte abzubrechen, wenn die Nahrung fürs Vieh abgegrast war, das heißt, wenn die Wünsche, die Gedanken, die Forderungen das spärliche Weidegras der Gefühle abgeäst hatten. Eine Nomadin schon damals, lange bevor die seßhaften Deutschen in Bewegung gerieten und auf die Wanderschaft getrieben wurden. Nur: niemals war sie freiwillig gewandert. Immer hatte sie das frauliche Verlangen nach Seßhaftigkeit, nach Ewigkeit der Gefühle gehabt, und dennoch war sie nirgends seßhaft geworden. Übrigens irrte sich Reinhold gewaltig, wenn er glaubte, daß seine Eltern sich fügten und begnügten. Sie waren bereit, das zu verteidigen, was sie besaßen. Das Häuschen, das erhungerte und erarbeitete, den Schrebergarten, die Pensionsberechtigung bei Zeiß und ihren Jungen, den Reinhold, den sie unter Opfern studieren ließen, und der nun, statt nach oben zu wollen und ein Studienrat zu werden, sich auf die Seite der Unterdrückten schlug, der das ganze Wirtschaftsgebäude zertrümmern wollte, in dem es sich doch ganz behaglich leben ließ. Ach – die endelosen Steitgespräche zwischen Vater und Sohn über den wahren Sozialismus, der für den Vater in den Zeißwerken schon verwirklicht war, während der Sohn die Stiftungen Abbes als lächerliche Almosen eines verwirrten Idealisten bezeichnete. Die breithüftige Mutter aber, die schweigsame, hörte bei den Gesprächen gutmütig lächelnd zu. Für die Kleinen, so meinte sie höchstens, sei es einerlei, wer oben regiere.

Sie beobachtete aber voller Sorgen das Verhältnis zwischen Lucia und Reinhold, und eines Tages begann sie zu reden: »Sie sind es besser gewöhnt, Fräulein«, sagte sie beinahe drohend. »Das, was Sie vom Leben verlangen dürfen, kann mein Junge Ihnen nicht geben.« Sie ließ sich nicht davon überzeugen, daß die Tochter eines pensionierten Oberstleutnants sich weniger leisten konnte als der Sohn eines Zeißarbeiters.

Ein andermal, als sie zusammen in dem Schrebergartenzimmer den sonntäglichen Kartoffelsalat fertigmachten – »nicht zu viel Zwiebeln, nicht zu viel Essig und ordentlich Öl, damit die Scheibchen glatt und glibbrig werden«, sagte sie im flach singenden Thüringisch –, hielt sie Lucia eine richtige Standpauke: »Ist ja alles ganz schön, und unsereiner hat auch nicht auf den Pfarrer gewartet. Ja, ich geb’s zu: Gunda, unsere Älteste, hätt’ uns zu Fuß begleiten können, als wir zum Rathaus gingen und uns aushängen ließen. Aber ich wußte doch: den halt’ ich mir fest. Der ist soweit ordentlich, vom Bier abgesehen, und da gibt’s eben wöchentlich zehn Glas und Schluß und mal sonntags ’ne Flasche extra, in den Brunnen gelegt, damit es kühl bleibt. Aber Sie? Was wollen Sie von dem Jungen? Na ja, es schläft sich nicht gut allein, wenn man schon zwanzig ist. Aber was wollen Sie hier? Anstellig sind Sie ja. Gutwillig auch, und schneidet Kartoffeln und braucht’s gar nicht. Könnte in einem Automobil fahren, wenn sie sich den Richtigen nimmt. Warum tun Sie das nicht? Und plötzlich kommt ein Kind? Und dann? Haben Sie daran schon gedacht? Ich tät’s mir überlegen.«

Sie konnte nichts Vernünftiges antworten. Denn Frau Wilmer hatte recht, obwohl alle ihre Gründe falsch waren, bis auf »das Kind«. Nicht nur wegen Zuhause, wegen des Vaters, der Mutter. Nein, viel zu jung war sie. Das wußte sie genau. Aber es Frau Wîlmer erklären, wie es zur Freundschaft mit Reinhold gekommen war, das war nicht möglich. Es gab keine zureichenden Gründe.

Dennoch, als sie an jenem Juliabend zu viert als friedliche, freundliche Familie im Abendsonnenschein des Gärtchens den Kartoffelsalat verzehrten, genauer noch, während sie in ein Würstchen hineinbiß, wußte sie, daß sie am Ende des Semesters sich von Reinhold trennen würde. Und warum nicht gleich? Warum nicht aufstehen, adieu sagen, den Berg hinunterlaufen, in das Zimmerchen hinein, das sie bei der Regierungsrätin Preller bewohnte, das kleine blitzsaubere Zimmerchen mit den Büchern, und allein sein, ganz allein, die Sonne untergehen sehen, den Sternhimmel heraufziehen, die warme Luft in die Fenster fluten spüren. Glücklich in der Einsamkeit! Warum nicht? Feigheit? Angst, weh zu tun? Auch das. Aber im Grunde war sie ein Spätling der Entschlüsse, ein Jemand, der nicht aus einem plötzlichen Impuls handeln konnte. Sie hatte nicht nur den Treppenwitz, der einem erst einfällt, wenn man vier Treppen hinuntergestiegen ist, sondern geradezu Treppengefühle. Rüdiger von Tweeren, ihr zweiter Mann, hatte es später einmal so ausgedrückt: »Man schießt auf dich ... und vier Wochen später, wenn man gar nicht mehr weiß, daß man geschossen hat, schreist du ›au‹.«

An jenem Sommerabend beim Kartoffelsalat also trennte sie sich »in Wirklichkeit« von Reinhold Wilmer. Aber die Trennung vollzog sich erst sehr viel später. Sie verbrachte diese Nacht sogar wieder in dem Schreberhäuschen. Es war eine entsetzliche Nacht. Es tat ihr weh, daß Reinhold nicht den Spürsinn hatte, zu fühlen, daß sie einander um so fremder wurden, je näher sie sich waren. Aber welcher Mann hat diesen Spürsinn schon? Wenn er nur liebt ... was fragt er nach der Liebe seiner Frau?

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Übrigens stand in den letzten Wochen von Jena die Freundschaft mit Reinhold Wilmer nicht mehr im Mittelpunkt ihres Lebens. Lucia geriet vielmehr in den seltsamen Kreis des Philosophen Geisberg, von dem sie schon einiges gelesen hatte und dessen »Metaphysik der Lebensalter« damals großes Aufsehen erregte. Es war ein Buch, das vielleicht den Endpunkt, vielleicht aber auch den späten Höhepunkt der Jugendbewegung darstellte. Geisberg sprach davon, daß in diesem Wendepunkt der Welt eine neue, vorurteilslose, klare, tapfere und rücksichtslose Jugend sich der Welt bemächtigen und das Jugendantlitz des neuen Zeitalters herausarbeiten müsse. Freilich gehöre dazu eine Aristokratie der Jugend oder, wie er es nannte, eine Aristie. Das Wort von der Aristie der Jugend war ein Schlagwort jener Tage und richtete mancherlei Verwirrung an. Aber die Forderung Geisbergs nach Wahrheit, Klarheit, Tapferkeit, Entschiedenheit, Ablehnung des Gewesenen und Verwelkten erregte Lucias mutiges Herz.

Geisberg selbst kam im Sommer 1920 zu einer Vortragsreihe nach Jena und sprach an sechs Abenden hintereinander in dem großen und stets überfüllten Volkshaussaal. Lucia war in jedem Vortrag. Der etwa fünfzigjährige Geisberg enttäuschte sie zunächst. Er war ein kleiner, etwas dürrer Mann, mit einem blonden, schütteren Ziegenbärtchen, mit einem wilden, leicht ergrauten Haarschopf, den er eitel hin und her strich, mit einer hellen, etwas krähenden Stimme. Ein Mann, der mit blendenden, aufreizenden Formulierungen und kunstvoll Pausen setzend den Beifall aus dem Publikum herausangelte, um ihn dann mit abwehrenden Gesten seiner sehr langen, schmalen Hände verächtlich zurückzuschleudern, mit seinen gepflegten Händen, die in einem merkwürdigen Gegensatz zu seiner nachlässigen Kleidung standen.

Nach den Vorträgen versammelte Geisberg seine Anhänger meist noch zu Gesprächen um sich. Er war immer umgeben von einer Schar junger Männer, die man spöttisch die Aristen nannte, reiche und arme Jünglinge, die ihn auf seinen Reisen begleiteten und von denen er wohl in den Zeiten, in denen er nicht auf Vortragsreisen war, lebte. Durch Theo Grain, den sie auf einem Vortrag wiedertraf, wurde sie, als eine von drei jungen Mädchen, bei diesen Abenden eingeführt. Sie fanden in der Wohnung eines wohlhabenden Kaufmanns namens Marswede statt, der eigentlich Anthroposoph war, aber allen geistigen Strömungen der Zeit offen, wie er gern und häufig betonte. Marswede – übrigens ein vielschwätzender Dummkopf – hatte lange in China gelebt. Die Wände seiner Wohnung waren mit chinesischen Rollbildern bedeckt, mit Seidenteppichen kostbar ausgestattet, und wenn Marswede nicht gerade einiges aus den Lehren seines Lehrers Rudolf Steiner zum besten gab, so pflegte er die Unterhaltung durch ein paar Zitate aus Confutse oder aus dem I Ging zu würzen und zu verwirren.