Vorbei ... - Walther von Hollander - E-Book

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Walther von Hollander

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Beschreibung

"Hans Adalbert von Hagendörp kam an einem Oktobernachmittag des Jahres 1913 mit dem D-Zug in seiner Heimatstadt B. an", so beginnt dieser hinreißende Roman Walther von Hollanders. Geschrieben nach dem Krieg beleuchtet dieser Roman die Lebensverhältnisse an der Nahtstelle zwischen Adel und Nichtadeligen unmittelbar vor dem Großen Krieg. Da gibt es beispielsweise Herrn Großmann, den Sohn des Klempners, der es zu Reichtum gebracht hat und zu Höherem drängt. Was Hans Adalbert quält, ist sein Liebe zu der Braunschweiger Hofschauspielerin Helene Garberding. Noch weiß er nicht, dass Helene ihm nachgereist ist und am nächsten Tag in B. eintreffen wird, ein für Adalberts Kreise nicht akzeptabler Vorgang. Alle Welt spürt, dass die Zeiten sich ändern, nur wie entscheidet sich der Einzelne?-

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Walther von Hollander

Vorbei …

Ein Roman aus dem Herbst 1913

Saga

Vorbei …

© 1913 Walther von Hollander

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711474716

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1

Hans Adalbert von Hagendörp kam an einem Oktobernachmittag des Jahres 1913 mit dem D-Zug in seiner Heimatstadt B. an. Heinolt, der Kutscher, erwartete ihn an der Sperre und nahm ihm Helmschachtel, Gewehrfutteral und Handkoffer ab.

Während er das grosse Gepäck, den neuen Rohrplattenkoffer, abholte, der viel zu gross war für vierzehn Tage Urlaub, stand der kleine, schlanke Hagendörp bei den Kutschpferden Russka und Schlippe. Er tauchte mit seinem zartknochigen Pferdsschädel zwischen die Köpfe der Pferde. Er schnupperte befriedigt den Geruch von Pferdsfell und Riemenzeug. „Na, meine Damen“, sagte er leise, „da wären wir wieder. Ganz angenehm bei euch. Zucker? Nein, Zucker habe ich nicht. Morgen früh gibt’s Zucker und übermorgen und die ganzen vierzehn Tage. Ja, da wieherst du, Schlippe. Vielen Dank. Na, dann will ich mich denn auch freuen. Schön.“ Er seufzte, zog das Zigarettenetui aus der Hosentasche, klopfte umständlich die Zigarette zurecht und entzündete ein Streichholz.

In dieser Sekunde nun flammte die neue elektrische Beleuchtung um den Bahnhofsplatz auf, die Bogenlampen, die das Bahnhofsgebäude flankierten, zischten mit blendenden Kohlenstiften, und die ganze Bahnhofsstrasse hinunter sprangen die Lampen an. Es war, als hätte Hagendörp mit seinem Streichholz eine ganze Stadt unter Licht gesetzt.

„Donnerwetter“, sagte er überrascht, „da sind wir ja Grossstadt geworden.“ Und zum Kutscher Heinolt, der nun endlich mit dem Koffer angekeucht kam: „Na, Heinolt, alter Grossstädter? Was macht ihr denn für feudale Geschichten?“

„Es ist überhaupt, Herr Baron“, keuchte Heinolt, „ich finde es ja scheusslich.“ Er stellte den Koffer krachend auf die Gepäckraufe am Wagen und schnürte ihn fest.

Sie fuhren die Bahnhofsstrasse hinunter, die Lichterkette entlang, von der Juliane von Hagendörp, Hans Adalberts Schwester, geschrieben hatte, eine magere Perlenkette sei das, ein „Möchteschon-aber-Kannichtganz“. An der Ecke der Bahnhofsstrasse übernahm der junge Herr von Hagendörp die Zügel. Heinolt konnte nun seine Meinung sagen. „Sind alle verrückt geworden hier in B. Fünftausend Einwohner knapp, aber elektrisches Licht müssen sie haben. Und wer es nicht bezahlen kann, kriegt es gepumpt.“

„Das Schloss soll ja grossartig sein mit dem elektrischen Licht“, sagte Hans Adalbert und lächelte. Juliane hatte auch geschrieben, dass man ganz billiges Geld kriegen konnte, um das Licht einzubauen. Dreiundzwanzig Zimmer, Inspektorhaus, Gärtnerhaus, die Leutehäuser, die Ställe ... alles konnte man nun „beknipsen“. Das musste an die dreitausend Mark gekostet haben.

„Und wer hat das Geld und wer ist schuld?“ fragte Heinolt, und er antwortete gleich selbst: „Immer nur wieder dieser Grossmann. Der redet und schreibt, und mit einemmal steht alles da.“

„Grossmann?“ fragte Hagendörp. „Das muss doch ... sagen Sie mal, Heinolt, dass ist doch der Sohn vom Klempner Grossmann. Weiss schon, war in Prima, als ich nach Sexta kam. Oder nein, war schon weg. Beim Alten kauften wir unsere Murmeln. Die lagen wie die Bonbons in einem hohen Glas. Zehn Stück einen Pfennig. Roch so schön nach Gummi im Laden. Im Sommer wenigstens. Im Winter roch es nach Kohl und alten Strümpfen.“

Er lachte. Er gab den Pferden einen ganz leichten Schlag mit der Peitsche. Er sprach weiter, mehr zu sich als zum Kutscher: „War gar nicht so einfach ein Einkauf bei Grossmann. Juliane und ich schnappten draussen Luft, hielten die Nase zu, liefen in den Laden und schrien: ‚Für zehn Pfennig Murmeln!‘ Und raus — und warteten draussen, bis er sie abgezählt hatte. Hundert Stück für zehn Pfennig. Ist doch billig, Heinolt, nicht?“

Heinolt nickte. Er schlug jetzt die Arme unter und schwieg. Denn man war mitten in der Stadt und bog auf den Plan ein, die Hauptstrasse. Von den fünftausend Einwohnern promenierten ungefähr fünfhundert hier, kauften ein, standen umher, schwatzten, betrachteten einander, zogen die Hüte voreinander, lehnten neugierig in ihren Fenstern, sassen hinter Efeuwänden im Café Gresshorn und im Schwarzen Lamm zum Abendschoppen. Man musste über den Plan im Schritt fahren, das Kopfsteinpflaster stuckerte, schlug und tat den Pferden weh. Ein paarmal schrie Heinolt: „He ... Hallo ... He ...!“, weil die Frauen nicht auswichen, sondern neugierig den Wagen anstarrten. „Der junge Baron“, das konnten sie nun an allen Abendbrottischen erzählen, „ist auf Herbsturlaub gekommen. Er hat seinen neuen Koffer wieder mit, den von Meiling für hundertsechzig Mark und den hellen auch und die Gewehre auch.“

„Der Sohn vom alten Klempner Grossmann“, fing Hagendörp wieder an, als der Wagen in den Schlossweg einbog, „ist reich geworden und pumpt den Leuten Geld, damit sie sich Licht anschaffen können. Ist doch reizend von Grossmann.“

Er schnalzte. Die Pferde setzten sich in Trab, die Wagenräder knirschten über die sandige Strasse, die zum Schloss Hagendörp führte. Hier draussen war es noch dämmerhell. Der Sonnenuntergang stand gelb, grün, rot über den Hagenbergen. Der Nordhimmel über dem Fluss glänzte gläsern. Torfrauch lag beizend in der Luft, Geruch von Kartoffelfeuer.

„Viere lang“, mummelte jetzt Heinolt und zeigte mit dem Daumen rückwärts, „der Alte ist Klempner, und der Junge fährt viere lang. Soll man’s für möglich halten?“

„Viere lang“, gähnte Hagendörp, schon etwas gelangweilt, „Grossmann fährt viere lang? Was fährt er denn? Schimmel? Na, ist ja prachtvoll. Vier Schimmel!“

Heinolt nickte. „Wenn das alles wäre ... Aber er hat ... also wirklich ... er hat wahrhaftigen Gott ... na ... hören Sie mal, Jungherr!“

Hagendörp hielt gehorsam. Sie sassen und horchten. Man hörte aber nur die Hunde vom Schlosse bellen, die wohl die Pferde schon rochen, man hörte die Fontäne plätschern, die immer zur Ankunft angestellt wurde. Pelll ... pelll ... pelll ... machte die Fontäne, und Hans Adalbert wusste: gleich, wenn sie um die Ecke bogen, würden sie ein rosa Wasser, eine Limonadensäule gegen den Himmel steigen sehen. Wie in Rom, hatte die Mutter immer gesagt. Pelll ... pelll ... pelll. Nein, es war nichts anderes zu hören. „Also“, fragte Ali ungeduldig, „was ist? Singt Grossmann, wenn er vierspännig fährt, oder pfeift er oder tutet er mit einer Hupe wie die Automobile oder ...“

„Er hat einen Trompeter hinten drauf“, antwortete Heinolt dumpf, „einen mit einer langen, silbernen Trompete.“

„Wie in der Bibel vor Jericho“, schloss Hagendörp.

Er gab den Pferden einen leichten Schlag mit der Peitsche, und so bogen sie in scharfem Trab in die Allee ein. Die alte Zugbrücke über den Wassergraben donnerte und knarrte. Man hörte aufgeregte Rufe vom Schloss her, und nun kam die Überraschung, die allerdings nach der Illumination des Bahnhofsplatzes nicht mehr so stark wirkte: über dem riesigen barocken Torbogen, der Schloss Hagendörp gegen die Aussenwelt abschloss, flammten zwei Bogenlampen auf. Die Sandsteingöttin, die, von Putten flankiert, mit einer Girlande von Steinrosen bekleidet, die linke Seite schmückte, wurde so vom Licht getroffen, dass sie durch die Dämmerung zu schweben schien, und durch wenige Meter Dunkelheit von ihr getrennt schwebte der athletisch gebaute Gott rechts nackt in der Abendkühle.

„Donnerwetter“, sagte Hagendörp, „das ist wahrhaftig ulkig!“

Da waren sie schon durch den Torbogen in den Park eingebogen, fuhren die Allee zum Schloss hinauf, das fast dunkel, riesig und ruhig unter dem blassen Abendhimmel, dem hellgelben Schein herbstlicher Edelkastanien lag: Schloss Hagendörp, die Heimat Hans Adalberts von Hagendörp, in der er seit dem Tode der Eltern nur noch ein Besuch war. Denn Hagendörp war ja Majorat.

2

Draussen am Portal stand Kuntze, der Diener, mit den beiden Kindern, Clemens Hagendörp, zwölf Jahre alt, und der achtjährigen Marianne. Sie begrüssten den Onkel stürmisch. Er brachte immer die schönsten fliegenden Schweine mit, Zigaretten, die ein Feuerwerk enthielten, Bonbons, die mit Essig, Mohrenköpfe, die mit Senf gefüllt waren.

„Onkel Ali“, zwitscherte Marianne, „was für einen Blödsinn schleppst du heute an?“ Und Clemens setzte erklärend hinzu: „Papa meint, wenn du da bist, traut man sich nicht zu essen wegen der Pappewürstchen und der Essigschokolade.“

Jetzt erschien Juliane in der Tür, den Kragen der Jacke hochgeschlagen, die Hände in den Taschen, einen halben Kopf grösser als Hans Adalbert, sehr männlich mit ihrer Hakennase, den schmalen Lippen, den hohen, schlanken Beinen und den knochigen Hüften. „Ali“, sagte sie und zog den Bruder mit einem derben Griff an ihre Brust, „alter Bengel! Gott sei ausnahmsweise gelobt! Na, denn komm man. Die hohen Herrschaften sind in der Halle.“

Sie hakte den Bruder unter und zog ihn ins Haus. Sie wartete in der Garderobe, bis er sich die Hände gewaschen und den Scheitel neu gezogen hatte. Sie sprach eifrig in den Spiegel hinein über das Wetter, über das elektrische Licht, das man mit fünf Wochen Lärm und Dreck und mit dreitausend Mark bezahlt hatte, über die Tante Clementine, die Fürstin L., die erwartet wurde.

„Na ... denn ...“ schloss Juliane, und nun zog der ganze Tross in die Halle ein. Oskar, der Erbherr auf Hagendörp, kam dem Bruder ein paar Schritte entgegen. Die Schwägerin hob den Kopf vom Stickrahmen, lächelte und winkte. „Na ... denn ...“ sagten die Brüder, reichten sich die Hände, griffen zu ihren riesigen Zigarettenetuis und hielten sie sich gegenseitig unter die Nase. Ali — so wurde Hans Adalbert im Familienkreis genannt — bot auch der Schwägerin eine Zigarette an. Aber sie dankte. Sie rauchte niemals.

Der Willkommens-Portwein wurde serviert. Es kam der Begrüssungsgang zur Köchin, Frau Predoll, zum Gärtner, Herrn Predoll, quer über den Hof in den Pferdestall, zu den Pferden und zum Futtermeister Schwintze, es kam ein Wettlauf mit Clemens, dem Neffen, den Lindenweg hinunter bis zum Pavillon, an der fliegenden Nymphe vorbei und zurück. Ali musste sich schon ein wenig ins Zeug legen, um zu siegen. Denn Clemens rannte im Stil von Hanns Braun.

Danach gab es eine prachtvolle Überraschung für die Kinder, Leuchtballons, die man an Bindfaden steigen liess und wie künstliche Monde bis in Dachhöhe hinaufmanövrieren konnte, wo sie die Nacht über hockenblieben. Bald darauf wurde schon zu Abend gegessen. Danach spielte man Skat, und endlich war es zehn, und man ging schlafen.

Oder wenigstens das Ehepaar Hagendörp ging schlafen. Juliane aber und Hans Adalbert trafen sich zehn Minuten später in Julianens Zimmer. Juliane hatte sich schon ins Bett gelegt. Nein, sie sass, wie sie abendelang, nächtelang sass, die Beine ein wenig angezogen, einen Kissenberg im Rücken neben der Wand, die fast tapeziert war mit den unzähligen Bildern der Mutter. Zart und langschädelig, mit grossen, stillen Augen blickte sie auf ihre „unähnliche“ Juliane herab und sah auf Hans Adalbert, der ihre Züge, nur wenig ins Männliche, ins Frischere und Lustige gewandelt, jetzt durchs Leben trug.

Neben dem Bett stand ein Kühler mit zwei Flaschen Wein, Zigaretten, ein wenig Gebäck, Makronen vor allem, von Frau Predoll für Ali zubereitet. Ali zog sich den riesigen Blumenstuhl, den Stuhl der Mutter, ans Bett, und nun fing eigentlich der Urlaub an. „Prost“, sagte Juliane, „und dass es dir immer gut gehe, mein Kleiner!“

„Prost, Grosse!“ antwortete Hans Adalbert. „Und schön, dass du wenigstens hier bist. Sonst ...“ Er zog die Schultern ein wenig hoch, er rieb sich die Knie. Er stand auf und ging ans Fenster. Ein ziemlich kühler Nachtwind hatte sich aufgemacht. Der Viertelmond stand über der Blutbuche. Laura, die Wolfshündin, war gerade losgekommen und rannte bellend mit ihren drei Jungen ums Schloss. Aus der Stadt antworteten ein paar Hunde.

„Schön hier“, sagte Ali, „sehr schön, prachtvoll.“

Er setzte sich wieder in den Stuhl, schwieg. „Du sprichst schon so viel, wie Papa sprach“, sagte Juliane. „Oskar denkt auch, als Majoratsherr darf er nur wenig sprechen. Da spricht denn unsere gute Anna den ganzen Tag. ‚Meinst du nicht, liebe Juliane, dass man den Landrat schneiden sollte, wenn er erst nach vierzehn Tagen Besuch macht? Meinst du nicht, dass die Kinder lieber nicht mit diesen Kindern von Amtsrichtern, Oberlehrern, Bürgermeistern und Konditoren verkehren sollten? Neulich kam die Amtsrichterin ihre Tochter suchen. Stand mit einemmal in der Diele. Entsetzlich.“

„Aber meinst du nicht“, lachte Ali, „dass unsre Anna hier mal ein bisschen recht hat? Wenn man mit den Leuten in B. erst einen Verkehr anfängt, stehen sie plötzlich alle in der Diele. Denk’ es mir grossartig, Bürgermeister Koste oder Rechtsanwalt Klusemann unter der Sodomitischen Flucht stehend.“ „Du vergisst, dass es ohne die Leute aus B. etwas langweilig ist“, sagte Juliane. „Ich reite, ich fahre spazieren, ich komme auf die Güter zum Tee oder zum Jagdessen. Aber beim Jagdessen muss man so lange warten, bis die Herren geruhen von der Jagd zu kommen. Und sobald das Essen aus ist, muss man machen, dass man wegkommt, weil sie dann anfangen wollen, ihre unanständigen Geschichten zu erzählen. Es ist wirklich sehr langweilig.“

„Aber die Leute aus B. sind doch wahrhaftig auch nicht amüsant. Oder —?“

„Nein“, antwortete Juliane. Es klang nicht ganz überzeugend. Ali sah sie erstaunt an. Er spürte: auch die „lustige“ Juliane war nicht mehr so lustig. Wurde sie etwa, wie andere Frauen, schon mit vierunddreissig Jahren bitter? Übrigens hatte sie sich auch äusserlich verändert. Sie trug das Haar jetzt straff zurückgekämmt, in einem festen Knoten im Nacken zusammengesteckt. Sie hatte an den Schläfen ein paar Falten bekommen.

„Juli ...“ lächelte er ... „Grosse ...!“

Sie sprachen noch von B. Es waren wieder ein paar Skandale vorgekommen, die Frau des Postmeisters war ins Wasser gegangen, ein Schokoladenmädchen hatte einen Fabrikanten geheiratet, eine Beamtentochter hatte ein Kind gekriegt, ohne vorher auf dem Standesamt gewesen zu sein. Es war immer dasselbe. Neu war Grossmann mit seineu Millionen. Er besass jetzt das ehemalige „Kleine Palais“ der Fürstin Clementine L., das schönste Haus von B., drüben am Abhang des Eichenberges. Seine Schimmel waren die schönsten Pferde von B., seine Ausgaben märchenhaft, sein Auftreten musste man albern und aufreizend nennen. Juliane entwarf ein genaues Porträt Grossmanns. Er sah seinem Vater, dem Klempner, ähnlich. War breit, unscheinbar, grauhaarig, hatte einen grossen Kopf und einen kleinen Spitzbart. Trug graue, steife Hüte wie ein Engländer, weisse Gamaschen wie ein französischer Bühnengraf. Machte wilde Anstrengungen, im Schloss zu verkehren. Aber bisher war es ihm nicht gelungen. Juliane hatte ihn nur bei Quandts in Schwendorf getroffen und bei Töches in Quennfeld. „Übrigens hörst du gar nicht zu“, unterbrach sie sich, „du sitzt da und trinkst wie ein Alter und horchst und denkst. Komm mal her, mein Kleiner.“

Ali schüttelte den Kopf. „Erzähl nur weiter von diesem Grossmann. Hört sich ganz romantisch an. Heinolt war auch voll davon. Vier Schimmel und eine Trompete hinten wie vor Jericho.“

„Nein“, sagte Juliane, „genug Klatsch. Jetzt musst du mal erzählen. Komm her und schiess los.“

Hans Adalbert setzte sich gehorsam auf die Bettkante. Er nahm sich eine neue Zigarette.

Laura, die Wolfshündin, kam belfernd zurückgelaufen. Die Jungen jankten um sie herum, ein Käuzchen pfiff. Drüben auf der anderen Seite, am Inspektorhaus also, oder an den Leutehäusern, rief eine Frau, eine andere antwortete, und ein paar Männer lachten bellend.

„Euer Grossmann“, fing Ali wieder an, aber Juliane hielt ihm den Mund zu. „Nein, nein, rede du“, sagte sie, „mit dir ist was los, hast du Ärger im Dienst? Nein? Schulden? Ja? Wieviel? Knapp fünfhundert? Viel zuviel, Ali, aber nicht genug, um solche Augen zu machen. Dann ist es also rein privat.“

„Mächtig privat“, lachte Hans Adalbert. „Lass man —“

Juliane holte hinter ihrem Kissen einen Brief heraus. „Da“, sagte sie, „ich habe es mir gleich gedacht. Habe ihn deshalb aus der Post gefischt. War doch besser, wie? Oder ist es eine Verlobung, Kleiner?“

Der „Kleine“ schüttelte den Kopf. „Privat ... ganz privat.“ Er steckte den Brief ein, sagte nichts weiter, trank seinen Wein, rauchte noch zwei Zigaretten. Juliane rauchte und trank nicht. Nach zehn Minuten fing sie an zu gähnen. Sie drängte Ali zum Aufbruch, zog ihn noch einmal an sich heran. Sah ihn lange und forschend an. Auge in Auge, ein altes Spiel, das sie früher immer gespielt hatten, wenn es galt, eine Wahrheit herauszukriegen oder eine Standhaftigkeit im Verschweigen zu beweisen.

„Ali“, sagte sie dann, „wenn es eine wirkliche Liebe ist, dann musst du dich eigentlich freuen. Also freu dich. Aber sei dir klar, dass es vorübergeht. Verstehst du mich, Kleiner? Es geht vorüber. Denk dir, Henriette von Bütow hat drei Monate geweint, als der Mann auf der Jagd erschossen wurde. Jetzt, nach einem Jahr, heiratet sie den Vetter Bütow. Denk dir, so schnell geht das vorüber.“

Und nach einer Pause, als müsste sie es ihm einbläuen: „Es geht vorüber, es geht vorüber. Hörst du?“

Hans Adalbert lächelte die Schwester an. Er versuchte vergnügt auszusehen. Aber er sah grau und grämlich aus. „Ich höre“, brummte er und wies nach B. hinunter. Man hörte jetzt aus der Stadt eine Trompete heraufklingen, hell, lustig und frech.

„Grossmann tutet“, sagte Juliane und lachte. „Doll, was?“

„Ja ... ziemlich doll“, gähnte Hans Adalbert und ging hinaus.

Er stand im dunklen Gang zwischen den mächtigen Schränken. Hinten im Gang brannte noch wie früher ein auf Öl schwimmendes Licht und warf die riesigen Schatten von Geweihen und Vögeln, von grossen Kronleuchtern und Wandarmen. Leutnant von Hagendörp schlich auf den Zehenspitzen an dem Bild des Reichsgrafen Ulrich aus der mütterlichen Linie vorbei. Er zog die Tür schnell hinter sich ins Schloss, als wollte er die Schatten abschrecken, er legte sich ins Bett, löschte das Licht, warf sich unruhig hin und her, machte wieder Licht und nahm nun endlich den Brief vor. Er las, die Augenbrauen angestrengt gehoben. „Na ja“, sagte er, „natürlich ... weiss ich ja.“ Dann löschte er endgültig aus. Draussen bellte Laura, die Hündin, wild auf. Grossmanns Trompete näherte sich, bog kurz vor dem Schlossweg ab und fuhr in Richtung Schwendorf davon.

Dann war alles still, und Ali Hagendörp konnte über seinen Brief nachdenken und über Juliane, die immer gleich wusste, was los war, und wusste, wie es ausgeht ... und ob sie wohl auch diesmal recht behielt, und ob wirklich auch dies vorübergehen würde, wie jede andere Liebe? Das war doch ganz und gar unmöglich. Unmöglich! Denn sein Leben hatte sich endlich verändert.

3

Der erste, der von der Geschichte etwas Genaueres erfuhr, war Clemens, der zwölfjährige Majoratserbe. Er hatte nämlich die Luftballons, die sie am Abend vorher aufsteigen liessen, von der Dachluke aus in Sicherheit gebracht und festgestellt, dass er mit einer Wäscheleine leicht in das offene Fenster des Onkel Ali hineinkommen konnte. Er fand, dass Ali jetzt um neun Uhr endlich aufstehen könne. Denn wann sollte man wohl Tennis spielen, schiessen, reiten, wann sollte man rudern, schwimmen, wettlaufen, Pflaumen ernten und zum Hirscheschreien fahren, wenn man nicht gleich mit irgend etwas anfing? Er bewaffnete sich also mit einer wassergefüllten Blumenspritze, band sich eine Wäscheleine um, die er auf dem Dachboden um eine starke Säule wand, und rutschte über das Dach abwärts bis zur Regenrinne. Von hier aus schwang er sich in den Wipfel der mächtigen Edelkastanie, die mit gelben Blättern leuchtend vor dem Fenster des Onkels stand. In der Kastanie konnte er wie auf einer Treppe bis zur Fensterhöhe hinuntersteigen und auf einem ziemlich starken Ast so ans Fenster herankommen, dass er mit einem kleinen Klimmzug im Fenster sass.

Er stieg vorsichtig hinein und hatte schon auf den schlafenden Ali gezielt, als er einen Brief auf dem Bett liegen sah. Den musste man besser wegnehmen. Denn sonst gab es durch die nasse Tinte eine Riesenschweinerei, und Mamsell Wenig würde sehr schimpfen und ihn bei der Mutter verpetzen. Clemens nahm also den Brief vorsichtig mit zwei Fingerspitzen fort. Dabei las er: „Liebster Ali ... müssen zu Ende sprechen ... so nicht auszuhalten ... werde einfach morgen nachfahren ... nicht böse ...“

Clemens warf den Brief zornig in die Ecke ... einfach: „nachfahren“ ... Natürlich! Als ob es nicht schon genug Erwachsene um Ali herum gab. Gleich waren sie da: die Töches und die Brenningstedts, die Kusinen Klinke und die Marschallmädchen, und jetzt war es nicht genug mit denen, die schon hier waren, jetzt fuhren ihm auch noch die Damen von auswärts nach. „Liebster Ali ...“

„Hallo!“ rief er ... „Onkel Ali, eins ... zwei ... drei ... Augen auf und Hände hoch, oder ich schiesse.“

„Schiesse“, gähnte Ali und streckte sich, ohne die Augen aufzumachen.

„Eins ... zwei ...“ begann Clemens ... „drei ...“ schloss Ali und hatte die Ladung Wasser im Gesicht. Clemens wollte natürlich ausreissen. Aber er hatte vergessen, die Leine abzuknüpfen, mit der er durchs Fenster gestiegen war, und blieb darum, als die Leine zu Ende war, in der Tür hängen wie der Fisch an der Angel.

Die Szene endete mit einer ordentlichen Tracht Prügel und der feierlichen Überreichung einer neuen Luftpistole, die Onkel Ali gegen den ausdrücklichen Befehl des Vaters und der Mutter nun doch mitgebracht hatte. Er schärfte dem Neffen Vorsicht ein. Er dürfte höchstens oben auf dem Dachboden schiessen oder hinten im Park am Pavillon und natürlich überall im Wald.

Clemens zog strahlend ab. Er holte sich eine alte Schiessscheibe vom Offiziersschiessen der Halberstädter Kürassiere, auf der ein Hirsch von vielen Kugeln durchlöchert war und um deren Blattschuss geschrieben stand: Oskar Freiherr von Hagendörp. Nach dieser Scheibe schoss Clemens den halben Vormittag über hinten im Park. Auf fünfundzwanzig Schritt traf er zweimal die Stelle, die sein Vater schon einmal durchschossen hatte. Trotzdem blieb er verbissen und ernst. Gegen elf Uhr kamen Ali und Juliane Arm in Arm den Weg hinunter. Als sie sich näherten, schwiegen sie. Also sprachen sie etwas Wichtiges. Natürlich. Tante Juliane hatte zornige Augen. Zwanzig Schritte weiter sagte sie: „Unsinn ... das erlebt jeder einmal.“

Und Hans Adalbert: „Ausser dir, Juliane, ausser dir.“

„Das ist noch nicht so sicher, Ali. Mit Vierunddreissig war unsere Grossmutter schon Grossmutter. Aber ich bin noch nicht Grossmutter. Verstehst du?“

Worauf Hans Adalbert noch einmal zu Clemens zurückkam, die Schüsse begutachtete und selber einen in den Rand der Scheibe jagte. Ali, der Meisterschütze! Aber natürlich, wenn einer mit zitternder Hand schiesst! Juliane schoss auch. Sie traf, wie immer, ins Zentrum.

Es blieb etwas Unruhiges in der Luft. Clemens spürte es genau. Gleich nach dem Mittagessen fuhren Juliane und Ali nach der Försterei Mühlenhoff. Marianne und Clemens durften mit. Sie fuhren quer durch die Stadt, hielten vor der Post. Hagendörp ging hinein, ein Telegramm aufzugeben. Marianne durfte solange die Zügel halten. Juliane ging neben dem Wagen auf und ab, blieb dann bei den Pferden stehen, streichelte ihnen den Hals. „Ruhig, Russka“, sagte sie. Dabei stand Russka still wie ein Holzpferd.

Aus dem Café Gresshorn kam ein Mann schnell über den Platz, ein ziemlich unscheinbarer Mann mit Spitzbart, mit einem grauen, steifen Hut, einem hellgrauen Schniepel oder Cutaway, wie man das damals nannte, mit weissen Gamaschen. Er trat grüssend an Juliane heran. „Fräulein von Hagendörp“, sagte er leise und hielt den Hut überhöflich in der Hand. „Ich sah von weitem nur die Pferde. Russka und Schlippe, wenn ich mich recht erinnere. Prachtvolle Kerle. Darf man fragen, wie es Ihnen geht? Ich wollte dieser Tage Ihrem Herrn Bruder schreiben. Es handelt sich da um eine städtische Angelegenheit.“

Juliane hielt die beiden Pferde an den Zügeln, als ob sie davonlaufen wollten. „Guten Tag, Herr Grossmann“, sagte sie. Sonst nichts. Grossmann konnte nun sehen, wie er die Unterhaltung in Gang hielt. Gleich weggehen mochte er nicht. Denn es standen der Rittmeister von Schwiering und der Rechtsanwalt Klusemann und der Bankdirektor Wiedenbein hinter der Efeuwand des Café Gresshorn und sahen herüber, ob Grossmann wirklich mit Juliane von Hagendörp sprechen durfte, wie er es behauptet hatte, oder ob sie ihn wegschicken würde. Er musste also bleiben, und er blieb.

Hans Adalbert aber schrieb in der Post schon das dritte Telegramm. Das erste lautete: „Garberding, Braunschweig, Hoftheater. Auf keinen Fall kommen. A.“ Das zweite mit der gleichen Adresse: „Bitte nicht kommen. Ali.“ Das dritte: „Halte nichts vom Kommen. Hans Adalbert.“ Das gab er dann endlich durch den Schalter zur Beförderung.

Als er aus dem Postgebäude trat, sah er noch gerade Herrn Grossmann den Platz überqueren und zwischen den Efeuwänden verschwinden. „Er hat gar keinen Trompeter hinter sich“, sagte Clemens, „warum tutet er nur, wenn er fährt?“

„Das ist also Grossmann“, lachte Ali, „ist viel breiter als sein Vater, der Knuppkugel-Grossmann.“

„Ja, das ist Grossmann“, sagte Juliane und gab Russka und Schlippe einen leichten Hieb, so dass sie aufsprangen und im Trab davonzogen. Ali konnte knapp auf seinen Sitz heraufkommen. „Es ist übrigens erledigt“, sagte er, und als Juliane ihn prüfend ansah: „Hoffe doch. Wenigstens vorläufig.“

„Vorläufig ... na schön“, sagte Juliane und nickte dem Bürgermeister Koste zu, der mit gezogenem Hut auf dem Bürgersteig stehengeblieben war und den Wagen vorbeifahren liess. Die Ausfahrt war im übrigen prachtvoll. Die Sonne heizte wie im Sommer. Unten am Fluss war der Wald schon leuchtend und bunt, ja er lichtete sich sogar ein wenig. Aber tief im Gehölz war er noch sommergrün und dicht. Auf der Försterei Mühlenhoff summten die Bienen durch die Jagdgeschichten des Försters und zwischen den Einmachrezepten und Schnapsrezepten der Försterin. Draussen die Heide blühte noch. Es gab einen ganzen Garten voller Astern, Herbstrosen, Tagetes, voll Löwenmaul und Nelken. Auf dem Rückweg erzählte Hans Adalbert Reitergeschichten und Garnisonswitze. Die beiden Kinder, die so schrecklich gerne lachten und so sehr wenig zum Lachen fanden, sassen schon auf dem Anstand und platzten los, wenn ein Witz losgelassen war. Das klang im Walde besonders fröhlich zum Knirschen der Riemen, zum Schurren der Räder, zum Schnauben der Pferde. Mit diesem Nachmittag konnte man zufrieden sein. Das war ein Urlaubsnachmittag.

Am gleichen Nachmittag, kurz nach vier, traf auf dem Bahnhof von B. eine ungewöhnlich elegante Fremde ein. Für wenige Tage, dem Anschein nach, denn sie hatte nur einen Handkoffer mit, den sie selber tragen konnte, obwohl sie sehr schmal und ziemlich zart war. Man hätte sie für eine Engländerin halten können. Denn sie trug das hellgraue Kostüm, der Kontinentalmode entgegen, fussfrei. Der Hut war, verglichen mit den Hüten ihrer Mitreisenden, ziemlich klein, ein einfacher, hellgrauer Filz, von einer kleinen Feder überbuscht. Die Fremde nahm am Bahnhof die Droschke Nr. 23 und befahl dem Kutscher, eine Rundfahrt zu machen.

Sie fuhren fast genau denselben Weg, den am Tage zuvor Ali Hagendörp gefahren war, also den Schlossweg hinauf bis an die Zugbrücke, auf der man ein Schild lesen konnte, dass hier der Privatbesitz begann, Betreten polizeilich verboten. Die Fremde holte ein Theaterbinokel aus der Handtasche. Sie war anscheinend ein wenig kurzsichtig und brauchte das Perlmutterglas, das an einem Stiel getragen wurde, wie ein Lorgnon. Sie sah den sumpfigen Graben entlang, in dem ein paar Schilfpflanzen wucherten, ein paar Wasserrosen mit riesigen grünen Blättern. Sie bewunderte lange den Torbogen, der den Eingang zum Park bildete.

„Ein schönes Stück, dieser Torbogen“, sagte sie zum Kutscher, „bestes Barock. Aus derselben Zeit wie die Stadtkirche. Ein bisschen üppig alles, aber schön.“

„Och“, sagte Deike, „üppig ist ja nicht so schlimm.“

Das war die Unterhaltung des Kutschers mit der Fremden. Sonst hatte sie nur immer den Weg angegeben. Sie hatte sich an den Hotels vorbeifahren lassen. Aber das Schwarze Lamm, das doch allein in Frage kam, lag ihr zu sehr mitten in der Stadt, das Hotel Deutscher Kaiser zu nahe am Bahnhof. Schliesslich kam sie in der besten Pension von B. unter: Pension Stella matutina, zu deutsch Morgenstern. So hiess die Besitzerin wirklich. Ihr Mann, längst verstorben, ein klassischer Philologe, hatte den Namen für die Villa gewählt. In der Stella matutina nahm die Fremde also Wohnung. Sie nahm das zweitbeste Zimmer mit Blick über die Strasse auf die sanften Hagenberge. Sie ging eine ganze Zeit noch draussen im Garten hin und her und sah in den langsam hereindämmernden Abend, sah, ein Tuch um die Schultern, über den Park weg in die Sonne, die schon hinter den Hagenbergen untergegangen war.

„Schön“, sagte sie lächelnd zu Frau Morgenstern, die mit dem Fremdenbuch erschienen war, um die Anmeldung zu erbitten. Die Fremde nahm ihren Füllfederhalter und schrieb mit einer steilen, grossen Lehrerinnenhandschrift: Helene Garberding, geboren in P. bei Holzminden, Staatsangehörigkeit: Braunschweig. Geburtsjahr: —, Beruf: —, Zweck des Aufenthaltes: Erholung. Derzeitiger Wohnsitz: Braunschweig.

Frau Morgenstern war also nicht viel klüger geworden.

4

Fräulein Garberding blieb an diesem Abend nicht in der Pension. Sie habe nur wenige Tage Zeit, sagte sie, und müsse sie ausnutzen. Frau Morgenstern solle auf keinen Fall mit dem Essen auf sie rechnen. Sie werde irgendwo in der Stadt essen oder gar nicht. Es sei ja nicht so wichtig.

Draussen war es schon dämmerig geworden und ziemlich kühl. Vom Fluss her stieg der Abendnebel auf, dampfte über die Wiesen das Tal entlang. Die Laternen der Uferpromenade verschwammen. Die Lichter des Regattahauses, des Ruderklubs Fortuna 06, leuchteten wie Signale über dem Nebel.

Fräulein Garberding stand eine Weile an der Ecke der Gartenstrasse und des Schlossweges, von wo aus man das Tal übersehen konnte, und sah diesem Schauspiel zu. Ihre rehbraunen Augen, die zuerst noch träumerisch geblickt hatten, bekamen immer mehr einen starren Zug, wie wenn alles Leben herbstlich nach innen sickerte. Es wurde ihr nämlich in diesem Augenblick klar, dass sie ihre Expedition hierher übereilt und ohne eigentliches Ziel angefangen hatte. Was wollte sie, ausser dieser leidigen Angelegenheit, nochmals und nochmals „zu Ende“ bringen? Was wollte sie, ausser den Freund wiedersehen, mit dem sie erst vor drei Tagen noch zusammen gewesen war?

Sie hatte doch vor wenigen Stunden noch allerlei Gründe gehabt, alles liegen zu lassen, die Proben, ja die „Iphigenie“-Aufführung mit dem Gast aus Berlin. Aber wenn sie jetzt jemand gefragt hätte, vielleicht Hans Adalbert von Hagendörp selbst, was sie denn wollte, was denn eigentlich so unaufschiebbar, so dringend war, dass sie ihre Laufbahn gefährdete, sie hätte es nicht sagen können. Die Liebe? Wenn man wirklich liebte, konnte man auch warten. Wenn man aber nicht warten konnte ... liebte man dann noch? Sie riss sich mit einem Ruck von den Nebelbildern der Landschaft los und ging sehr schnell, ihren Wanderstock schwingend, nach Schloss Hagendörp zu. Der Wind stand von Westen her. Man hörte Stimmen vom Schloss, Kinderstimmen. Die Garberding sah zwei Kinderballons mondähnlich über den Wipfeln der Edelkastanien erscheinen. Sie hörte eine Fontäne aufspringen — Pelll ... pelll ... pelll ... und sah die Büsche rosa im Fontänenlicht aufstrahlen. Sie wandte sich nach links und ging eine ganze Strecke an der Schlossmauer entlang. Die Mauer endete in einem Zaun. Der war zehn Minuten lang, fünfzehn Minuten lang, ein Wildzaun aus Latten, die stufenartig übereinander genagelt waren.

Die Garberding ging immer schneller. Aber der Lattenzaun, dieser hochmütige Wildzaun, der den Grundbesitz der Hagendörps abgrenzte, endete nicht. Schliesslich stieg sie auf den Latten wie auf einer Leiter hinüber. Sie kam auf eine riesige Wiese. Der Viertelmond gab genügend Licht, dass sie einen kleinen Pfad erkennen konnte. Sie kam zu einem Pavillon, einem Rundbau, der barock war wie der Torbogen, von der gleichen Üppigkeit der Formen und Ornamente. Sie sah Blumensträusse aus Stein, Putten mit feisten Beinen und dicken Hinterchen, Sterne und Tiere. Es war ein unbewohntes Miniaturschlösschen mit breiten Türen und mit Fenstern, die fast bis zur Erde reichten. Verschlossen natürlich alles und teilweise mit Fensterläden verrammelt, umgeben von einem Altan, von dem aus man die riesige, muldenartig nach allen Seiten aufsteigende Wiese überblicken konnte. Helene Garberding setzte sich auf die Stufen des Mätressenhauses. Sie hatte ein schwaches Gefühl in den Knien. Merkwürdig: von diesem Lustschlösschen hatte Hans Adalbert nie erzählt, von diesem Park nicht, von der rosa Fontäne auch nicht. Überhaupt nicht viel von zu Hause. Sie hatte nur zufällig einmal ein Bild des Schlosses gesehen, eine Postkarte mit dem berühmten Torbogen, eine Fotografie seiner Mutter, der er ähnlich sah und die eine geborene Schwalenbeeck gewesen war, aus der gräflichen Linie, eine winzige, zierliche Viertelfranzösin. Auch ein Bild des Vaters hatte sie gesehen, des alten Oskar Freiherrn von Hagendörp, der ein Meter fünfundneunzig gross gewesen war, hakennasig, mit einem buschigen Schnurrbart, vielen Orden und wenig Humor. Und natürlich ein Bild Julianens, der Schwester, von der er viel erzählte, die verschwiegen sein sollte und kameradschaftlich, derb und sehr gescheit. Weiter wusste sie nichts von ihm. „Ist nicht nötig, Lena“ hatte er gesagt „brauchst nichts von Hagendörp zu wissen. Gehört mir ja doch nichts ausser sechs Jagdgewehren, zwei Pferden, einem Kleiderschrank und einem grossen Stuhl. Also ...“ Ja, also ... Das mochte sein, dass ihm nichts gehörte. Aber er gehörte hierhin, und sie gehörte nicht hierhin.

Sie ging um das Lustschlösschen herum. Eine verschämte Nymphe stand auf der Südseite, vor Hunden flüchtend. Sicherlich hatte dieselbe Dame Modell gestanden, die schon auf dem Torbogen ihre Reize zeigte. Es war übrigens eine recht lebendige Plastik, trotz der Falten, Schleifen und Blumen, mit denen die Flüchtende besteckt war. Eine etwas aufreizende Frau, überaus nackt in der Art, in der sie das faltenreiche Gewand raffte und um sich schlug.

Helene Garberding strich vorsichtig, nein, etwas mitleidig über die Marmorhaut. Fühlte sich angenehm glatt und kühl an. Dann ging sie, ohne sich viel um die Richtung zu kümmern, tief in Gedanken versunken weiter in den Park hinein, kam in einen Gang zwischen Taxushecken, durch ein Stück Birkenwald, der farbig im Dunkeln leuchtete, und blieb erschreckt stehen. Das Gekläff eines Hundes war zu hören, das Gebelfer junger Hunde, Pfiffe, Rufe. Sie wandte sich, lief ein paar Schritte, blieb trotzig stehen. „Das wäre ja noch besser“, sagte sie ... „davonlaufen!“

Da war auch schon Laura, die Wolfshündin, herangekommen, stellte sie knurrend, drei junge Wolfshunde umjankten sie, schnappten nach Helenes Rock, wälzten sich spielend um sie. Die Garberding stand steif, mit erhobenen Armen. „Lass mich“, sagte sie leise zu Laura, „lass mich. Ich will jetzt gehen. Ich bin ... ich wollte ... na schön, ich stehe ja schon ganz still ...“ Endlich blinkte eine Taschenlaterne auf dem Weg, ein zwölfjähriger Junge — Clemens Hagendörp — kam herangelaufen, leuchtete ihr ins Gesicht, schüttelte den Kopf, unwillig und ein bisschen feindlich.

„Es ist eine Dame, Papa“, rief er ins Dunkel und leuchtete nach rückwärts. Im Licht erschien der Majoratsherr Oskar von Hagendörp, Hans Adalberts Bruder also, eine kaum mehr verjüngte Ausgabe des alten Hagendörp, übernormal gross, hakennasig mit einem buschigen Schnurrbart. Er trug ein kleines, verschossenes Jägerhütchen, ein langes Jägerwams mit aufgesetzten Taschen, kurze, grüne Hosen. Er liess nun auch eine Taschenlaterne aufblinken, leuchtete die weisse Jacke ab, das helle Gesicht mit den riesigen rehfarbenen Augen und dem grossen, weichen Mund, der weissen Mütze aus Hasenwolle, in der wie in einem Beutel das Haar steckte, den Hakenstock, die guten, derben Strapazierschuhe.

„Ich habe mich verirrt“, sagte Helene Garberding und liess nun die Arme endlich sinken ... „es ist sicher hier Privatbesitz. Entschuldigen Sie, bitte.“

Oskar Hagendörp zog seinen Hut. Was für eine angenehme Stimme! Was für eine hübsche und anmutige Frau! Wenn Clemens nicht dabeigewesen wäre, hätte er bestimmt ein längeres Gespräch angefangen. So aber sagte er nur: „Ruhig, Laura! Ist gut! Setzen!“ Und zu Helene: „Sie müssen entschuldigen, meine Gnädigste, aber natürlich lässt man die Hunde hier frei laufen. Wahrscheinlich hat wieder irgendein Idiot die Gattertür aufgelassen. Stimmt’s? Na also. Clemens, wir werden die Dame zum Birkengatter hinauslassen.“ Sie nahmen Helene in die Mitte. Die Hunde trabten geduldig hinterdrein. Baron Hagendörp machte eine verbindliche Konversation. Über diesen Herbst, der so sommerähnlich war, über die Reize von B., welche die Gnädigste sicher kennenlernen wollte. Er empfahl ihr zum Beispiel einen kleinen Ausflug auf den Eichenberg gleich über der Stadt oder zum Nussturm, der höchsten Erhebung der Hagenberge, Sonntags überlaufen, aber an einem Herbsttage der Woche empfehlenswert. Man konnte bis Braunschweig und Hildesheim, ja bis Hameln hinübersehen. Er sprach über die Hirsche, die nun zu schreien begonnen hatten und die man in den Vollmondnächten, nach acht Tagen also, in voller Pracht werde sehen und hören können, falls sich das Wetter hielt. Aber es war durchaus nicht einzusehen, warum das Wetter sich nicht halten sollte. Es gab dann ein paar Schritte Schweigen und Räuspern, und dann war man am Birkengatter. Hagendörp entschuldigte sich nochmals, Helene dankte mit ihrer warmen und herzlichen Stimme, mit der berühmten Stimme, die so viele Männer beunruhigte. Eine Verbeugung des zwölfjährigen Clemens mit Handkuss, Verbeugung seines Papas. Das Wildgatter wimmerte in den Angeln. Aus.

Schweigend gingen Hagendörp Vater und Sohn nebeneinander. Sehr nett, dachte der Vater und zerrte an seinem Kragen, der ihm eng vorkam, sehr nett, aber es geht einen ja nichts an. Leider. Und der Sohn dachte: Das ist sie, natürlich! Liebster Ali. Schon ist sie da. Mag ganz nett sein. Aber das ist einerlei. Für mich ist sie eine Feindin.

Fräulein Garberding aber tauchte gegen neun Uhr in der Stadt auf. Sie ging schnell über den fast menschenleeren Plan, über dessen Kopfsteinpflaster drei Bogenlampen im Winde schwangen. In den Hauseingängen standen einige Bürger bei der Abendunterhaltung. In einem Hause wurde Liszt gehämmert, Zweite Rhapsodie, hart, plump, aber sehr geläufig, wie Liszt eben gespielt werden muss. In einem Fenster lag eine blasse Frau und starrte marionettenhaft auf die Strasse. Ihr Kopf ging mit jedem Vorübergehenden mit. Im nächsten Fenster sassen vier Männer und hieben Karten auf den Tisch. Das Café Gresshorn folgte mit hellen Scheiben, hinter denen Schatten hockten, eine dünne Musik quoll mit dem Rauch aus der Tür. Dann kam das Schwarze Lamm, in dem die Garberding zu Abend essen wollte.

Es war ein ziemlich grosses Restaurant, durch Wände in Nischen geteilt, die zumeist von Stammtischen besetzt waren. Hinten ging es zu einem Vereinszimmer, aus dem man die Glocke eines Vorsitzenden und die Rufe einer Versammlung hörte. Der einzige freie Tisch stand ziemlich in der Mitte des Restaurants, war also von fast allen Stammtischen einzusehen. Als die Garberding sich setzte, verstummte das ganze Lokal. Vierzig, fünfzig Männeraugen, sechs, acht Frauenaugen waren auf sie gerichtet. Die Garberding war es ja gewöhnt, angestarrt zu werden. Es war ihr Beruf, sie konnte eigentlich nicht leben, wenn man sie nicht anstarrte. Aber hier war es ihr unangenehm. Fast so unangenehm wie die Begegnung im Park.

Der Kellner beugte sich vertraulich über sie. Wie? Ja, natürlich, essen. Trinken? Na schön, einen Schoppen Wein. Was für einen Wein? Rotwein. Rotwein nicht da? Na schön, dann eben Weisswein. Sie holte das Zigarettenetui aus der Handtasche, steckte eine Zigarette in den Mund, nahm sie wieder heraus und legte sie still neben den Teller. Nein, hier rauchten die Frauen nicht. Hier rauchten nur die Männer, und Zigaretten konnte sie überhaupt nicht entdecken.

Der Kellner brachte ihr endlich den Wein und den Beobachter für B. und Umgegend. Sie entfaltete die Zeitung und versteckte sich.