Licht im dunklen Haus - Walther von Hollander - E-Book

Licht im dunklen Haus E-Book

Walther von Hollander

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Beschreibung

Anna Favetti, das schöne Mädchen mit der merkwürdig dunklen Stimme, schwankt zwischen Pflicht und Liebe, zwischen Mitleid und Hingabe, zwischen der Macht des Todes und dem Recht auf Leben. Starre Familientradition bindet sie an das dunkle, geheimnisvolle Haus im Engadin, Mitleid und Kindesliebe an den Vater, der seit Jahren auf die Rückkehr seines verschollenen Sohnes wartet. Zwischen Weihnachten und Neujahr aber, in der gleichen Nacht, in der vor Jahren der Bruder das Elternhaus verließ, tritt der deutsche Ingenieur Hemmsteet in das Leben des Mädchens.Siegt über alle Bedenken und Pflichten die erwachende Liebe der beiden?Mit jener psychologischen Feinheit und dem menschlichen Takt, den Walther von Hollander in all seinen Büchern beweist, erzählt er in diesem Roman von der schicksalhaften Begegnung eines durch den Krieg entwurzelten Mannes mit der seelisch vereinsamten Favetti. Der Autor drängt das Geschehen auf wenige Tage zusammen und lässt sein Werk mit zarter Wehmut in ein neues Glück ausklingen.

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Walther von Hollander

Licht im dunklen Haus

Roman

Saga

Licht im dunklen Haus

© 1953 Walther von Hollander

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711474624

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1

Der Ingenieur Hemmsteet kam mit dem Frühzug in Sankt Moritz an. Er ging gleich aufs Postamt, bestellte ein Ferngespräch nach Düsseldorf und saß im halbdunklen Schalterraum geduldig, das Gesicht in den Händen. Draußen schneite es in großen Flocken. Die Berge waren vernebelt. Es ist wie im Krieg, dachte Hemmsteet, aufregend und langweilig. Man wartet, wartet und das Herz klopft.

In diesem Augenblick kam das Gespräch. Hemmsteet stand in der Telefonzelle, die Augen etwas zusammengekniffen. Die rechte Hand, zur Faust geballt, drohte dem fernen Sprecher. „Ich will nicht mehr“, schrie er so laut, daß man es durch die Polsterwand hören konnte, „will nicht mehr. Machen Sie Schluß!“ Und nach einer Pause, in der er gespannt in die Hörmuschel hineinhorchte: „Die Bedingungen müssen Sie aushandeln. Sehen Sie zu, daß man mir den Hals nicht zuschnürt. Ein bißchen Atem brauche ich noch.“

Er kam mit leicht gerötetem Gesicht aus der Telefonzelle, marschierte, die schwarze Pelzmütze in der Hand, zum Bahnhof zurück. Es schneite auf seine eisgrauen Haare, die merkwürdig aussahen, weil ihnen das ziemlich junge, glatte Gesicht erst nachaltern mußte.

Hemmsteet nahm sich einen Schlitten und fuhr nach Sils Maria hinüber. Seinen ziemlich schäbigen Gehpelz hatte er bis an die Ohren gezogen, die wärmende Pelzmütze tief in die Stirn. Weit zurückgelehnt, bewegungslos lag er im Schlitten. Neben ihm steckten die Skier und zeigten in die Tannen, die die Straße begleiteten, auf die Felswände, die sich in Wolken verloren. Der Schnee fiel und fiel. Er fiel in Hemmsteets Gesicht. Die Flocken tauten auf seinen starken Backenknochen, auf seinen schmalen, zusammengekniffenen Lippen. Sie blieben in den großen Augenbrauen sitzen, im Pelzkragen und auf der Pelzmütze. Hemmsteet schlief, nachdem er vierundzwanzig Stunden, eine Bahnfahrt lang, gegrübelt und gehadert hatte, endlich leicht und traumlos.

Der Kutscher klingelte mit dem schlafenden Fahrgast vor das vornehmste Hotel in Sils. Der Portier und der Page vom Dienst kamen heraus und hoben bedauernd die Schultern. Es war leider alles besetzt. Der Kutscher fuhr den Schlafenden zum nächsten Hotel. Alles besetzt. Zum nächsten: dasselbe! Der Kuscher wurde ungeduldig und weckte den Fahrgast. „Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt“, murrte er, „es ist alles überfüllt. Zwischen Weihnachten und Neujahr ist sowieso wenig Platz. Dazu morgen noch diese Weltmeisterschaft ... Eisschnelläufer!!“

Hemmsteet nickte, stieg aus, bezahlte, stellte Koffer und Skier auf die Straße. Er ging in den nächsten Laden, kaufte einen Rodelschlitten, verstaute das Gepäck darauf und marschierte geduldig von Haus zu Haus. Es war im ganzen Ort kein Bett frei. Hemmsteet trank einen Tee in der überfüllten Konditorei. Er hörte, wie man sich über die Aussichten der Schnelläufer mit einem Eifer stritt, als seien es die Aussichten der Welt. In einer Ecke war ein Tisch durch eine Menschenmauer blockiert. „Dort sitzt Kingston, das englische Schnellaufwunder“, flüsterte der Kellner.

„Sagen Sie mir lieber, wo man hier wohnen kann“, antwortete Hemmsteet, „möglichst einsam übrigens.“

Der Kellner schüttelte mitleidig den Kopf. „Die Zimmer in Sils Maria sind seit vier Wochen ausverkauft. Es ist völlig aussichtslos.“

„Ich werde ein Zimmer bekommen, ein einsames dazu“, sagte Hemmsteet hartnäckig und drückte dem Kellner fünf Franken in die Hand.

Der Kellner besah das Geldstück träumerisch. „Da wäre vielleicht ...“, sagte er langsam, „aber nein, das ist doch nichts. Außerdem nehmen sie nicht jeden, diese Favettis. Sie haben es wohl nötig, aber nicht so nötig.“

„Also ... das ist die richtige Adresse“, schloß Hemmsteet.

Der Kellner beschrieb den Weg genau. Es waren etwa vierzig Minuten zu Fuß. Er warnte nochmals. Es sei ziemlich ausgeschlossen, daß die Favettis jetzt in der Festzeit jemanden aufnähmen.

Draußen dämmerte es. Immer noch fiel Schnee. Vor allen Häusern kratzten die Schnee-Eisen. Es roch nach Schneeweite und Hotelabendbroten. Von den Paßhöhen kamen klingelnd die Schlitten mit den vermummten Ausflüglern aller Nationen herunter. Hemmsteet stapfte gemütlich durch den hohen Schnee. Die Bäume trugen riesige Schneelasten. Ein Weg war kaum mehr zu erkennen. Aber man sah den Silser See dunkel heraufblicken. Man hörte die Rufe der trainierenden Schnelläufer. Der See gurgelte und dröhnte unter den Kufen der Schlittschuhe. Hemmsteet schwitzte in seinem Pelz. Die Wundnarben an den Knien begannen zu schmerzen. Die Gedanken hatten ihn wieder und zwickten ihn.

Es war natürlich Unsinn, daß er hergefahren war. Sehr zweifelhaft, ob er würde Ski laufen können, und ganz sicher, daß er seinen Gedanken nicht entlaufen war. Da hätte er auch noch den Schluß der albernen Tragödie, der herzzerreißenden, in Düsseldorf abwarten können. Aber zum Schluß verlor er ja immer die Geduld. Darum ereichte er nie etwas Ordentliches. Weder als Erfinder noch als Offizier, weder als Ingenieur noch als Ehemann. Viel Kraft, viel Können, wenig Geduld ... das hatte sein erster Vorgesetzter in Amerika gesagt. Das war die Formel seines Mißerfolges. Er blieb stehen und trocknete sich das Gesicht. Er atmete den kalten und starken Duft von Föhren und Schnee. Mißerfolg? Das wog nichts in dieser leichten Luft.

Hemmsteet stapfte geduldig, den Kinderschlitten hinter sich, weiter, eine halbe Stunde, eine dreiviertel Stunde Endlich sah er ein helles Fenster zwischen den Tannen schweben. Er ging eine Tannenallee hinauf. Ein Schäferhund fuhr wütend aus seiner Hütte und bellte lärmend. Hemmsteet sprach leise und vernünftig auf ihn ein. Er wolle nichts stehlen, niemanden forttragen, niemanden stören, mit niemandem sprechen. Er wolle ein Zimmer haben, ein warmes Bett und Ruhe. Der Hund bellte und knurrte weiter. Endlich wurde das Türlicht angezündet. Eine alte Frau, die Haushälterin Bertha war es, sah mißtrauisch durch den Türspalt.

Hemmsteet brachte sein Anliegen vor. Die Alte schlug die Hände in ihre Schürze und schüttelte den Kopf. Zwischen Weihnachten und Neujahr sei nichts zu machen. Da nehme der Herr Favetti ein für allemal keine Fremden. Hemmsteet öffnete die Tür mit einiger Gewalt und trat durch einen Windfang in die schön gerundete, halbdunkle Diele, in deren Kamin ein kleines Feuer brannte. Sie solle ihn nur melden. Er werde dem Herrn Favetti schon sein Anliegen vorbringen.

Die Alte verschwand. Hemmsteet stellte sich an den Kamin und wärmte sich. Die Diele gefiel ihm gut, mit ihrer braunen Holztäfelung und den Bildern an den Wänden. Es waren lauter Porträts, augenscheinlich die Herren Favetti mit ihren Frauen. Favettis in Gehröcken, in Vatermördern, in Halstüchern und in Flachkragen, alle wie vom gleichen Maler gemalt. Es war eine Familie also, die wußte, was sie wollte, und bekam, was sie bestellte.

In diesem Augenblick kam Herr Gian Favetti durch eine Tür, die fugenlos in der Täfelung saß. Er stand da wie von der Wand gestiegen, in einem altväterischen dunkelbraunen Gehrock, mit einem altmodischen Halstuch an Stelle des Kragens, in dem eine kostbare Nadel blitzte. Sehr gerade in der Haltung, aber etwas unruhig im Blick. Er war wohl zwischen sechzig und siebzig Jahre alt. Vielleicht auch achtzig. Man konnte es im Halbdunkel nicht gleich erkennen. Herr Favetti begann seinen Gast genau zu prüfen. Er lächelte dabei zuvorkommend, aber seine Stimme war hart, streng und trocken. Eigentlich nahm er wirklich in dieser Zeit keine Gäste. Aber da der Herr nun mal den weiten Weg gemacht hatte, da es außerdem beinahe dunkel war, konnte man sich ja wenigstens einmal darüber unterhaltene. Zunächst müsse er wissen, welcher Nation sein Gast angehöre. Denn er nahm außer Schweizern nur Engländer, Deutsche und Skandinavier auf. Gegen Italiener hatte er rein persönliche Einwände. Franzosen mochte er nicht, und Amerikaner fand er indiskutabel. Wenigstens die schneeschuhlaufenden. Vielleicht gab es drüben ein paar anständige. Hemmsteet war also Deutscher, Norddeutscher, Bremer. Wie alt? Einundvierzig Jahre. Gut, das mochte gerade alt genug sein. Selbstverständlich war er doch verheiratet? Hemmsteet nickte. Dem Gesetz nach konnte er es noch bejahen. Und der Beruf schließlich? Ingenieur! Nein, das genügte Herrn Favetti nicht. Er wollte wissen, was für ein Ingenieur. Hemmsteet antwortete geduldig: „Ich war ursprünglich Elektrofachmann, aber durch den Krieg bin ich zum Flugzeugbau gekommen. In Deutschland Flugzeuge bauen, das war lange Zeit eine elende Geschichte. Man hatte uns beinah alles verboten. Wir mußten Flugzeuge bauen, so wie mancher mit einer Hand Klavier spielen muß.“

„Nichts von Politik, wenn ich bitten darf“, unterbrach Herr Favetti. Und er setzte Hemmsteet auseinander, wie sich Politik, von hier oben gesehen, ausnahm. Politik sei lediglich ein Produkt der Übervölkerung. Der Mensch sei von Natur aus nicht für das Zusammenleben in großen Verbänden und auf engem Raum geschaffen. Er sei das große friedliche Tier der Einsamkeit. Ob Hemmsteet etwa glaube, daß ein Einsamer den anderen mit Krieg überzöge? Nun also. Einsame brauchten keine Politik. Und vom Fliegen — das wünschte Herr Favetti auch gleich zu sagen — vom Fliegen hielt er ebenfalls nichts. Es sei nun einmal dem Menschen nicht von Gott verliehen. Seiner ganzen Konstruktion nach sei der Mensch ein Wasser-Land-Geschöpf. Oder war der Herr etwa im Flugzeug hier heraufgekommen?

Hemmsteet antwortete etwas ungeduldig. Er sei als Wasser-Land-Geschöpf zu Fuß heraufgestiegen mit einem Rodelschlitten als Anhang, mit einem kleinen Koffer und großen Skiern. Über das Fliegen, die Einsamkeit und die Übervölkerung wolle er sich ein andermal gern unterhalten. Im Augenblick sei er hundemüde und könne, offen gesprochen, nicht mehr stehen. Er habe seit dem Kriege eine kleine Schwäche in den Knien. Wenn der Herr Favetti gestatte, setze er sich erst mal einen Augenblick.

Favetti riß an einem Glockenband, das neben der Tür hing. Eine Glocke schepperte. Die alte Haushälterin Bertha erschien. „Herr Hemmsteet bekommt das Nelkenzimmer“, sagte Herr Favetti.

Hemmsteet reichte ihm dankend die Hand. Er holte seinen Koffer und ging hinauf.

2

Das Zimmer hatte eine Nelkentapete aus dem Biedermeier und helle Birkenholzmöbel. Der Fayenceofen war sehr bald warm. Das Wasser in der winzigen Waschschüssel taute. Hemmsteet trat auf den Balkon hinaus. Der Himmel hatte sich plötzlich aufgeklärt. Die Sterne schienen. Gerade ging der Mond im Osten auf, eine dunkelrote Kugel. Es war vollkommen still, nur der Hund jankte und jaulte ein wenig. Dann wurde eine Tür geöffnet, und auf den anderen, zwei Schritt entfernten Balkon trat eine Frau genau ins Blickfeld zum Mond.

Hemmsteet zog sich in den Schatten des Hauses zurück, doch so, daß er die Frau beobachten konnte. Sie war jung, fünfundzwanzig bis dreißig Jahre höchstens, ziemlich klein, schwarzhaarig. Sie hatte ein langes Fachscape um sich geschlagen, starrte den Mond an und wandte sich dann langsam nach Sils Maria hinüber, das, aus vielen Fenstern blinkend, wie ein gespiegelter Sternenhimmel unter dem Tannenwald lag. Schließlich beugte sie sich über das Geländer und sprach mit dem Hund in der ladinischen Sprache der Engadiner. Ihre Stimme war merkwürdig dunkel und angenehm.

Hemmsteet schloß die Balkontür mit einem Ruck. Was ging die Frau ihn an? Er suchte Einsamkeit, völlige Einsamkeit, um mit den Dingen da hinten und da unten fertig zu werden. Er begann auszupacken. Seife, Kamm und Bürste, Rasierzeug, Wäsche, Wollzeug, einen Smoking. Wunderbarer Unsinn: ein Smoking. Hatte sicherlich das Dienstmädchen auf Brigittes Geheiß eingepackt. Er ging mit jeder einzelnen Sache in der Hand hin und her, besah sie aufmerksam und abwesend. Zuletzt ergriff er, mit einem höhnischen Lächeln, ein Foto in einem kleinen goldenen Rahmen, das Bild einer Frau. Er stellte es an eine Ecke des Schreibtisches. Sorgfältig rasierte er sich. Sein Gesicht sah im trüben Glas des uralten Spiegels alt und angestrengt aus. Danach hockte er eine Weile in Skistellung. Er wollte probieren, ob das ging. Die Knie zitterten weniger, als er gedacht hatte. Wahrscheinlich würde er laufen können. Dann setzte er sich in einen Sessel und starrte vor sich hin, an dem Foto vorbei. Er hörte Favetti sprechen, dann die dunkle Stimme der Frau vom Balkon.

Gegen acht Uhr bekam Hemmsteet Hunger. Er ging hinunter, um sich einen Tee zu erbitten. Herr Favetti stand von seinem Platz am Kamin auf und stellte ihn seinen Damen vor. Die kleine, siebzigjährige Frau Favetti funkelte den Gast aus hellen neugierigen Augen forschend an. Anna Favetti, die Tochter, lächelte freundlich und abwehrend. Hemmsteet fand sie seltsam und anziehend. Sehr merkwürdig das Gesicht. Es war schmal — nein rund, es war dunkel — nein hell. Es war ein Gesicht in altromanischem Stil, Augen nämlich und Augenbogen, Wangen und Wangenbogen halbmondförmig gerundet.

Sie saßen eine Viertelstunde zusammen. Die Männer sprachen, was alle Männer zu allen Zeiten gesprochen haben. Über das Wetter. Über Politik, von der sie beide wenig verstanden und gar nichts wissen wollten. Über den Sport, der sie beide nicht interessierte. Über den vergangenen Weltkrieg und über den Weltkrieg, der sich zusammenbraute, wenn man an den bisherigen Methoden festhielt. Sie waren beide verbindlich, gaben einander kräftig recht. Die Damen sprachen nichts.

„Wenn Sie abends noch ausgehen“, sagte Herr Favetti zum Schluß, „so lassen Sie doch bitte die Haustür offen. Wir schließen nie zu.“

„Es könnte jemand kommen“, ergänzte Frau Favetti, „und die Tür verschlossen finden.“

Hemmsteet lachte. „Es wird wohl kaum noch jemand mit einem Rodelschlitten kommen und ein Bett verlangen.“

Die drei Favetti sahen ihn ernst an. „Man kann es nicht wissen“, sagte Herr Favetti.

Hemmsteet lag noch lange wach. Die leichte Luft atmete sich schwer. Das Herz klopfte. Unten lief Favetti hin und her wie eine Schildwache. Als müsse er seine offene Haustür bewachen. Einmal ging er vor die Tür und rief in die halbhelle Nacht hinaus. Es klang wie „Gian“. Gian hieß er doch selbst. Warum sollte er sich selbst rufen?

Gleich darauf schien die Tochter wieder hinunterzugehen. Sie sprach ziemlich laut auf den Vater ein. Ladinisch. Hemmsteet verstand nicht, worum es ging. Nun wurde es still im Haus.

Hemmsteet wollte über sich selbst nachdenken. Er entwarf in Gedanken einen Brief an seinen Anwalt. Es mußte doch noch schriftlich bestätigt werden, was er am Telefon in Sankt Moritz geschrien hatte: „Schluß auf jeden Fall, Schluß!“

Ihm fielen ein paar ausgezeichnete Formulierungen ein. Aber er war zu faul, aufzustehen und sie aufzuschreiben. Es schien ihm alles „da unten und da hinten“ gleichgültig zu werden. Er ließ sich also langsam in die guten Daunenkissen sinken, wie in tiefen weichen Schnee, zog die Decke bis an die Ohren. Nun lag er warm und behaglich in vollkommener Stille und Einsamkeit.

Er sah noch, wie der Mond an seinem Fenster vorbeiging. Der Schatten des Fensterkreuzes wanderte über den Tisch, über das breite Ledersofa und blieb an einer bunten Holzfigur hängen, an einer Madonna mit Kind. Es sah aus, als ob das eben geborene Christuskind samt seiner Mutter gekreuzigt wäre. Hemmsteet sah dieses merkwürdige Bild eine Weile mit tiefem Erstaunen an. Dann schlief er ein.

3

Bertha, die alte Haushälterin, hatte dem Fräulein Favetti das Frühstück gebracht. Es war acht Uhr. Die Sonne stand noch hinter den Bergen. Das Tal war dunkelblau und weiß. Das Fräulein saß im Bett, mit einer dicken weißen Jacke angetan. Sie war schon gewaschen und frisiert. Nun frühstückte sie.

Die alte Bertha sagte: „Es ist doch nicht gut. Man soll in den Nächten zwischen Weihnachten und Neujahr keine Gäste haben. Solange die Sonne umkehrt, solange bis wieder längere Tage beginnen, soll man allein sein.“

Anna lachte. „Es ist wahrscheinlich überhaupt besser, allein zu sein, und ganz bestimmt wird niemand durch Gäste gescheiter oder glücklicher. Man kann es an uns Engadinern erkennen.“

„Du weißt ganz genau, was ich meine“, murrte die Alte. Sie setzte sich vorsichtig auf den Bettrand und sah das Fräulein mißbilligend an. „Damals ist der Italiener auch um diese Zeit zu Gian gekommen. Erinnerst du dich nicht?“

„Kommst du auch mit den alten Geschichten?“ seufzte Anna. „Ist es nicht genug, daß Vater und Mutter immer wieder darüber sprechen?“

„Am Tag nach Weihnachtsabend“, fuhr die Alte hartnäckig fort, „in der ersten langen Nacht also kam der Italiener.“

Anna strich sich einen Toast mit Butter. Sie biß hinein, daß es krachte. „Also“, lachte sie, „dieser Hemmschuh, oder wie er heißt, ist am sechsundzwanzigsten gekommen. Da sitzt du nun mit deinem Unken.“

„Am einunddreißigsten ist der junge Herr Gian mit dem Italiener davon“, flüsterte Bertha. „Du erinnerst dich nicht mehr. Es werden in diesem Jahr fünfzehn Jahre. Vier Tage und Nächte hintereinander hatte es geschneit. Weißt du es noch? Natürlich nicht. Unten stand der Schnee weit über der Fensterhälfte. Wenn man eine Tür oder ein Fenster öffnete, brach eine Lawine ein, und wir hatten einen Schmelzsee im Haus.“

„Ich erinnere mich ganz genau“, sagte Anna, „es war in der Silvesternacht. Ich habe auch gesehen, daß Gians Rucksack viel zu schwer war für einen Ausflug. Ich wußte es gleich, Bertha, daß er weg wollte. Aber ich habe kein Wort gesagt.“

Sie trank hastig ihren Tee. Ihr Gesicht glühte in Trotz und Verschlossenheit. Ihre Augen glänzten traurig wie die eines gefangenen Tieres.

Die Alte schüttelte den Kopf. Sie legte die rauhe gichtische Hand auf die Hand der jungen Herrin. Sie sagte: „Das redest du dir ein, Anna, es ist nicht wahr. Wenn du es gewußt hättest, hättest du gesprochen. Aber ich weiß, der Mensch möchte manchmal böse sein. Er denkt, er versäumt sonst sein Leben.“

„Unsinn“, sagte Anna und schob das Frühstückstablett mit einer Gebärde des Abscheus von sich. „Ich habe ihn damals sehr gut verstanden. Deshalb habe ich nichts gesagt. Aber ich mag nicht immer von dem Toten reden, und ich halte es nicht mehr aus, daß ihr alle um diese Zeit einherschleicht wie die Totenwächter und hinaushorcht und denkt, er muß wiederkommen.“ Und nach einer Pause, indem sie den Kopf der Alten zu sich heranzog, ganz leise: „Du weißt es so gut wie ich, daß er nicht wiederkommt. Warum horchst du also?“

Bertha hatte das Tablett genommen. Sie stand im Zimmer, zum Gehen gewandt. Sie hatte schon den Mund zu einer Erwiderung geöffnet. Nun kniff sie die Lippen zusammen, wandte sich und ging schnell hinaus. Sie hantierte in der Küche laut mit Geschirr und Herd. Man hörte, wie sie dann ihr Morgenlied sang, ein altes Marienlied.

Hemmsteet, unter dessen Fenstern die Küche lag, wachte auf. Er brauchte ziemlich lange, um ganz wach zu werden, um sich anzuziehen, um zu frühstücken. Dann saß er, während Bertha aufräumte, an dem winzigen Schreibtisch des Nelkenzimmers und schrieb an seinen Anwalt. Die glänzenden Formulierungen, die er beim Einschlafen gehabt hatte, waren leider verflogen. Er mußte sich mit einem recht zusammengeflickten Briefe begnügen. Aber es war ja einerlei. Das Ziel war klar: Schluß, auf jeden Fall schnell Schluß. Kein Sühnetermin. Endgültige Scheidung aus gegenseitigem Verschulden. Er hatte keine Lust mehr, Frau Brigitte Hemmsteet zu schonen. Es ging nicht. Leider. Denn aus jeder Nachsicht hatte sie einen Dolch geschmiedet und ihm in den Rücken gestoßen. „Dolch ... in den Rücken gestoßen“, so schrieb er wirklich. Aber dann waren ihm die großen Worte peinlich. Er strich den Satz sorgfältig aus, schmierte jedes Wort mit Tinte zu. Dann nahm er einen neuen Bogen, weil er das Papier durchgerieben hatte.

Gegen elf Uhr fuhr er nach Sils Maria ab, um den Brief zu befördern. Der kleine Lauf ging ausgezeichnet. Er hatte noch Gewalt über die Bretter. Die Beine gehorchten viel besser, als er erwartet hatte. Er aß in einem Café, das vollkommen leer war, zu Mittag. Der Kellner bastelte an seinem Lautsprecher. „Sie könnten sicher noch eine Karte kriegen“, sagte er zu Hemmsteet, den er wiedererkannte. „Es gibt gleich an der nächsten Ecke ein paar wilde Händler. Ein mittlerer Platz kostet vierzig bis sechzig Franken.“

Hemmstedt dankte. Er hatte die Schnelläufer gestern noch im Dunkeln trainieren gehört. Das genügte ihm. Lieber wollte er etwas von den Favettis wissen.

Der Kellner wußte nicht viel. Die Favettis gehörten zu den alten Engadiner Familien und holten ihre Frauen vom Bergell oder aus Italien. Auch die jetzige Frau Favetti war eine Italienerin. Früher war die Familie sehr reich. Im Krieg und Nachkrieg schmolz ihr Reichtum zusammen. Warum, war nicht klar. Aber sie hatten, wie es schien, noch genug zum Leben. Denn sie arbeiteten, schien es, alle nichts. Er, der Kellner, wollte wohl noch jeden Tag mit den Favettis tauschen. „Nichts tun und ins Tal runtersehen, mehr kann man nicht verlangen“, sagte er.

In diesem Augenblick sprang der Lautsprecher an, der Kellner stellte sich neben den Apparat und starrte ihn wie verzaubert an. Er konnte das Rennen genau verfolgen.

Hemmsteet marschierte, die Skier auf der Schulter, zurück. Das Dorf war ausgestorben, aber auf dem See hörte man die Menschen summen und schreien. Ein paar Kapellen spielten und verfolgten den Wandernden bis weit in den verschneiten Wald. Die Sonne leuchtete. Hemmsteet ging nur ins Favetti-Haus, um nach Post zu fragen. Es war aber nichts gekommen. Er schnallte die Skier an und stieg bis zum halben Hang hinauf. Er stand und sah nach Maloja hinüber, über die Berge, die in sanften Stufen nach Italien abstiegen. Die Sonne brannte und blendete. Kein Laut, kein Vogel, kein Wind. Die völlige Einsamkeit war da.

Hemmsteet räusperte sich ein paarmal. Er schlug sich auf die Brust. Er pfiff. Endlich konnte er die Stille ertragen. Man wird sich gewöhnen müssen, dachte er. Es geht nur nicht so schnell. Man hat es zwar gelernt, allein zu sein, aber nichts vergißt man leichter. Nun aber muß es wirklich sein.