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Eine Liebeserklärung
Köstliche alte Apfelsorten – die gibt es noch und es gibt auch die Menschen, die dafür sorgen, dass sie nicht ganz vergessen werden. Eckart Brandt führt in diesem Buch durch seinen bunten Apfelbaumgarten, weist dem Hobbygärtner den Weg zum eigenen Apfelbaum, erzählt Geschichten rund um diese gesunde Frucht und nennt überlieferte, verführerische Koch- und Backrezepte.
Dieses Buch ist die aktualisierte Fassung von "Mein großes Apfelbuch".
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 132
Veröffentlichungsjahr: 2019
Der Apfel und ich – eine Liebesgeschichte
Mein »Boomgardenprojekt« – oder die Leidenschaft für alte Obstsorten
Mein Weg zum Bio-Obstbauer
Die Apfelschätze des Karl Mohr
Eine doppelte Liebesgeschichte
Der Finkenwerder Herbstprinz
Persönliche Betrachtungen über meine Lieblingssorte
Die »Geburt« des Prinzen
Vom Wildobst zum Tafelapfel
Die Kultivierung einer begehrten Frucht
Pomologen und die Wissenschaft
Verbotene Frucht und Liebesbote
Von der Last und Lust mit dem Apfel
Der Apfel in Märchen und Brauchtum
Äpfel für alle – alles im Apfel
Eignung, Verbreitung und Beliebtheit bestimmter Sorten
Medizin vom Baum
Geeignete und beliebte Sorten
Kochen und Backen mit Äpfeln
Ausgewählte Rezepte von Meister- und Hobbyköchen
Bohnensuppe mit Äpfeln und Ingwer
Apfel-Holunderbeersuppe
Apfel-Mostsuppe
Apfel-Curryrahmsuppe
Apfelkaltschale mit Pistazienklößchen
Apfeltrester-Zwiebelsuppe
Kartoffel-Lauchcremesuppe mit Äpfeln und Speckwürfeln
Herzhafte Apfel-Kürbissuppe
Matjestatar mit Apfelscheiben
Apfel-Leberpastete
Bunter Salat mit Apfelstreifen und Rosinen
Blattsalate mit Apfel-Kräuterdressing und frischem Meerrettich
Sauerkrautsalat»Winzerin«
Pikanter Waldorfsalat
Mit Äpfeln gespicktes Zanderfilet
Thunfischsteak mit geschmorten Äpfeln
Schollenfilets mit Fenchel und Apfel-Dillsoße
Kehdinger Reiterfleisch
Lammleber in Holunder-Zwiebelsoße mit Apfel-Kartoffelpüree
Sabines Kassler süß-sauer
Apfel-Zwiebel-Gratin
Überbackene Schweinelende auf Apfelbrandsoße
Rindergulasch mit Obst
Schweinebraten mit Apfelsoße
Geschmorte Entenkeulen mit Rosmarin, Honig und Äpfeln
Ente mit Apfelfüllung
Apfel-Quark-Auflauf
Apfelbratkartoffeln
Bratäpfel à la Dietmar
Apfelauflauf
Apfel-Beignets
Apfelgratin René
Apfelweinschaum
Kalte Apfelschale mit Rosinen
Tante Mimis Apfelkuchen
Sielenbacher Apfeltorte
Rheingauer Riesling-Torte
Eierlikör-Apfeltorte
Apfeltorte mit roher Apfelfüllung
Apfelkuchen mit Calvados
Finkenwerder Apfelkuchen
Umgedrehter Apfel-Walnuss-Kuchen
Apple Pie
Murgtaler Apfelbrot
Bratapfelkuchen
Osterkuchen
Apfel-Quarktorte »Hansi«
Schneller Apfelkuchen
Tarte Tatin
Apfeltaschen
Apfel-Holunderbeer-Relish
Apfelchutney
Apfelchutney indisch
Apfelmeerrettich
Hagebuttenmarmelade mit Äpfeln
Apfel-Brombeermarmelade
Apfel-Birnen-Konfitüre mit Calvados und grünem Pfeffer
Apfelsaft
Apfellikör
Apfelmost
Apfelessig
Finkenwerder - Herbstprinz-Menü
Apfelsalat mit Geflügelleber in Sauternes
Suppe vom Finkenwerder Herbstprinzen mit Meerrettich
Apfel-Calvadossorbet
Steak vom Königslachs mit Senfsabayon, Apfel-Selleriepüree und Karottensternen
Tarte vom Finkenwerder Herbstprinzen mit Apfelkrauteis
Service
Sortenempfehlungen, Adressen, Literaturempfehlungen
Rezeptregister
Mein »Boomgardenprojekt« – oder die Leidenschaft für alte Obstsorten
Nein, ich habe nicht mein ganzes Leben lang immer nur Äpfel geliebt. Seit meiner Jugend, muss ich gestehen, gab es da auch noch anderes, das ich liebte: schöne alte Bücher zum Beispiel oder Johann Sebastian Bach und Bob Dylan, meine plattdeutsche Muttersprache, die Imkerei.
Den Apfel liebte ich nicht von Kindesbeinen an. Dazu war er mir zu alltäglich und selbstverständlich. Wenn man in der frühen Nachkriegszeit im Herzen des Elbe-Weser-Dreiecks in einem 600-Einwohner- Dorf namens Groß Wohnste aufwächst, sind einem Äpfel nun mal alltäglich und selbstverständlich. Selbstverständlich wie das Gemüse aus dem eigenen Garten, das Frühstücksei aus dem Hühnerstall und der Sonntagsbraten vom selbst gemästeten Schwein waren eben auch die selbst gepflückten Äpfel von den eigenen Obstbäumen. Sie hießen ‘James Grieve’, ‘Finkenwerder Herbstprinz’, ‘Boskoop’ und ‘Altländer Pfannkuchen’, schmeckten lecker oder auch nicht, bestimmt aber waren sie gesund. Äpfel gab es fast das ganze Jahr hindurch, erst vom Baum, später aus dem Keller. Tafeläpfel zum Essen, Wirtschaftsäpfel für Apfelmus, den Apfelkuchen und zum Kochen von Brotsuppe. Brotsuppe galt eigentlich als Arme-Leute-Reste-Essen, aber so, wie meine Mutter sie kochte, mit viel Boskoop und Rosinen, war sie doch eine sehr typische, norddeutsche süße Suppe, einfach und schmackhaft – ich esse sie noch heute gern. Äpfel waren für mich nichts Besonderes, sondern eine Alltäglichkeit. Erst viel später lernte ich, dass dies nicht für jedermann zutraf.
Später ging ich weg aus Groß Wohnste, hinaus in die große weite Welt, die war 60 km entfernt und hieß Hamburg. Ich wohnte mitten in der schönen Hansestadt und hatte beschlossen, ein moderner Stadtmensch zu werden wie andere aufstrebende, junge Studenten auch. Essen konnte man auch gut aus der Dose zubereiten und Äpfel gab es in jedem Supermarkt. Allein, der Mensch lenkt dann doch nicht alles. Je länger ich in der Großstadt wohnte, umso deutlicher spürte ich, dass ich mein Herz im Elbe-Weser-Dreieck verloren hatte – dort war meine Heimat. Die ersten knapp 20 Jahre auf dem platten niedersächsischen Lande hatten mich mehr geprägt, als ich mir zunächst eingestehen wollte.
Süsse Brotsuppe mit Boskoop
300 g altes Roggenbrot oder Schwarzbrot mit Sonnenblumenkernen
1 großer Boskoop-Apfel
500 ml naturtrüber Apfelsaft
800 ml Wasser
50 g Zucker
30 g Rosinen, gewaschen Saft einer Zitrone
2 EL Butter
1 Prise Salz
Das Brot fein zerbröckeln und mit dem Wasser und dem Apfelsaft zum Kochen bringen, Rosinen hinzufügen. Apfel vom Kerngehäuse befreien und in Scheiben in die Suppe schneiden, 15 Minuten köcheln lassen. Zucker hinzufügen, gelegentlich umrühren, damit die Suppe nicht ansetzt. Zum Schluss mit der Butter und dem Zitronensaft verrühren. Mit einer Prise Salz abschmecken. Warm servieren, kann aber auch nach dem Abkühlen und dem damit verbundenen Nachdicken als kalte Nachspeise gegessen werden.
Mit 30 war mir klar: Ich gehe dorthin zurück, woher ich gekommen bin, nicht in dasselbe Dorf, wohl aber in dieselbe Region. Nicht als derselbe Mensch, als der ich weggegangen war, aber um einige Erfahrungen und Einsichten reicher. Hier wohnten »meine Leute«, hier sprach man mein Platt, hier wuchsen meine Apfelsorten. Hier gab es immer noch die Hausgärten meiner Kinderzeit mit Gemüsebeeten und Obstbäumen.
Hier »funkte« es dann auch zwischen dem Apfel und mir. Wir hatten damals einen Resthof in der Elbmarsch gekauft, zu dem gehörte ein halber Hektar Land, ein »Apfelhof«, wie man heute sagt, dicht bestanden mit älteren Obstbäumen. 600 Jahre früher nannte man das hier zu Lande »en bomghart«, später »en bomhoff«. ‘Boskoop’ standen darin, wunderschöne, alte ‘Gravensteiner’ und vor allem herrliche ‘Finkenwerder Herbstprinzen’ in stattlicher Anzahl. Der Herbstprinz eroberte schnell mein Herz – was für ein Anblick, diese goldenen, rotbackigen, glockenförmigen Äpfel in der Herbstsonne! Ohne großen Pflegeaufwand, ohne jegliche Spritzungen trugen die Bäume große Mengen makelloser Früchte. Und was für ein Geschmack – kräftig, unverwechselbar würziges »Prinzen-Aroma«.
Diese Liebe auf den zweiten Blick war kein Zufall, sondern die Wiederentdeckung des »Geschmacks aus Kindertagen«, den ich über den Hamburger Supermarkt-Äpfeln schon fast vergessen hatte. Aber es war nicht nur Nostalgie – ich entdeckte wieder etwas Echtes, Bodenständiges und den guten Geschmack. Der ‘Herbstprinz’ ist wirklich ein Prinz unter den Äpfeln und hat sich einen fürstlichen Platz in meinem Herzen erobert. Andere Menschen wären in dieser Situation vielleicht froh gewesen, endlich ein schönes Hobby gefunden zu haben. Ich hingegen verspürte den unwiderstehlichen Drang, aus dieser Neigung meinen Beruf zu machen. Ich pachtete noch ein paar Hektar Land dazu und wurde Obstbauer.
AM APFELBAUM
Als hier im stillen Tal
Der Frühling weilte kaum,
Stand ich zum letzten Male
An diesem Apfelbaum.
Es flochten Blütenflocken –
Erschöpft vom Wirbeltanz –
In ihren dunklen Locken
Geschäftig sich zum Kranz.
Der Winter ist gekommen,
Und dahin nach altem Brauch,
Und was er mir genommen,
Erweckt kein Frühlingshauch.
Auch heut ich’s von den Zweigen
Wie Blüten fallen seh;
Doch tanzt den stillen Reigen
In Flocken nur der Schnee.
Ich seh’ vom Haupt ihn tropfen
Gleich Tränen niederwärts,
Und lauter hör’ ich klopfen
Mein tiefbewegtes Herz
Theodor Fontane
Aufgewachsen in einem Imkerhaushalt, waren die Obstbauern mein solides Feindbild. Aus meiner Sicht spritzten sie ihre Bäume und damit unsere Bienen tot. So einer wollte und konnte ich natürlich nicht werden. Ich wurde Bio-Obstbauer.
Bio-Obstbau ohne Einsatz von Giftspritzen war 1983 bei uns noch etwas ziemlich Neues. Es gab damit noch nicht viele Erfahrungen, und ich als Autodidakt hatte ein gerüttelt Maß an Lehrgeld zu zahlen. Ich reduzierte die Einsätze meiner Bio-Spritze immer mehr – inzwischen benutze ich sie gar nicht mehr. Das hatte natürlich zur Folge, dass ich zunehmend »Nicht-Tafelobst« produzierte. Denn jede Frucht, die mehr als einen Quadratzentimeter »Schalenfehler« aufweist, darf laut Handelsklassenverordnung nicht als Tafelobst verkauft werden. Auf meinen Pachtflächen standen diverse Apfelsorten, die mir den Entzug der gewohnten »Pflanzenschutzmittel« sehr übel nahmen: Meine ‘Cox Orange’-Äpfel trugen im zweiten Jahr meiner Bewirtschaftung kaum noch Blätter, geschweige denn Früchte, die ‘Gloster’ standen noch kahler und völlig fruchtlos da, die ‘Golden Delicious’ trugen nur noch kleine, von Schorf übersäte Murmel- Früchte, ‘Ingrid Marie’ und ‘Laxton Superb’ platzten auf und verfaulten am Baum. Entzugserscheinungen von Sorten, die bis dahin nach allen Regeln der Chemie unterstützt worden waren. Anderen, vor allem älteren und lokalen Sorten schien hingegen der »Entzug« wenig auszumachen, sie trugen brav weiter.
Ich lernte daraus zweierlei. Erstens: Man kann die Sorten des modernen Erwerbsobstbaus ohne Spritzungen mit den so genannten Pflanzenschutzmitteln nicht zum Tragen von Obst bringen. Der Bio-Obstbau, soweit er mit diesen modernen Sorten arbeitet, fährt pro Saison zum Beispiel 15–20 mal mit Netzschwefel gegen Schorfbefall durch die Plantagen. Wer sich das als Hausgarten-Besitzer nicht antun will oder kann, sollte einen großen Bogen um das moderne Sortiment machen (‘Golden Delicious’, ‘Gloster’, ‘Jonagold’, ‘Elstar’ usw.). Es wird ihn nur unglücklich machen und die Freude am selbst gezogenen Obst verleiden. Er sollte robuste, alte und regional bewährte Sorten pflanzen.
Das war mir damals am Beginn meiner Obstbauern-Karriere noch nicht klar. Ich quälte mich mit diesen überaus empfindlichen Sorten herum, und sie lieferten mir im Wesentlichen Mostobst. Wollte ich ökonomisch überleben, so musste ich wenigstens die Verarbeitung meines Obstes selbst in die Hand nehmen. Also baute ich eine kleine hydraulische Obstpresse – sie wog ein paar Tonnen – in der Nähe von Düsseldorf ab und bei mir auf dem Hof wieder auf. Das war der Beginn der Hofmosterei Rönndeich.
Da ich diese nicht ganz billige Investition nun auch optimal nutzen musste, öffnete ich die Anlage als Lohnmosterei ebenso für andere Obstbesitzer. Bei Anlieferung von mindestens 50 kg Obst boten wir eine eigene Pressung und Abfüllung an. Das sprach sich schnell herum. Im Nahbereich des Alten Landes gab und gibt es viele Besitzer kleinerer Obsthöfe, größerer Hausgärten, die keine Obstbauern mehr sind, aber in guten Jahren mehr Obst auf den Bäumen haben, als sie je selbst essen können. Saft aus eigenem ungespritzten Obst war und ist für viele eine feine Sache.
Die Hausgärtner und Resthofbewirtschafter brachten mir oft Obst, das mich irritierte: Es hatte – wie mir glaubhaft versichert wurde - nie eine Obstbaumspritze gesehen und war doch »sauber« und schorffrei. Und Apfel-Köstlichkeiten waren dabei – nach einem ‘Rotfranch’ rührt man nie wieder einen Gloster an! Sie hießen ‘Seestermüher Zitronen’, ‘Freiburger Prinz’, ‘Noble Prinzess’ oder ‘Gelber Richard’, meistens aber hatten sie keinen Namen – nach Opas Tod vergessen oder beim Erwerb der Immobilie nicht erfragt. Jetzt lernte ich meine zweite Lektion: Es gibt noch andere Äpfel jenseits der Sortenempfehlungen der Obstbau-Versuchsanstalten. Sorten, schon seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten hier zu Hause, die an unser Klima und unsere Böden angepasst sind und deshalb wenig Pflegeaufwand erfordern. Ich beschloss, mich um die Erhaltung dieser Sorten zu kümmern und nannte diesen neuen Zweig meiner Aktivitäten mein »Boomgarden-Projekt«. 1984 war dies noch ein recht neues Thema, mittlerweile ist es in aller Munde. Die offiziellen Vertreter des niederelbischen Erwerbsobstbaus, die schon dem stärker werdenden Bio-Obstbau sehr skeptisch gegenüberstanden, fanden das Interesse an den alten Obstsorten albern, lästig und schädlich. In der örtlichen Tageszeitung hieß es im März 1985, das sei doch alles Nostalgie – alternde Apfelesser würden ihre Kindheitserinnerungen verklären.
Meine Mostereikunden und viele andere Besitzer alter Obstsorten taten das jedoch nicht, weil sie begeistert und überzeugt von ihren alten Sorten waren und sie gerne weiter behalten wollten. Um sie – und mich selbst – glücklich zu machen, begann ich, Reiser von den alten Bäumen zu schneiden und sie in Zusammenarbeit mit einer kleinen Baumschule vor Ort zu neuen Bäumen heranzuziehen. Häufig wurde ich als eine Art »pomologischer Notdienst« zu Hilfe gerufen. Die Baumveteranen lagen schon vom Wintersturm dahingestreckt auf dem Boden. Ich habe sogar schon Reiser von Zweigen geschnitten, die ich aus dem Holzstapel eines Osterfeuers zog. Im Frühling 1988 konnte ich die ersten jungen Bäume meiner alten Sorten pflanzen. Es waren etwa 150 Bäume auf etwa 6000 m2. Seitdem sind in jedem Jahr neue Bäume hinzugekommen, sodass jetzt etwa drei meiner fünfeinhalb Hektar Obstbauflächen mit alten Sorten bestanden sind.
Zunächst war das nicht besonders spektakulär und vor allem noch wenig vorzeigbar. Da hatte sich jemand ein etwas merkwürdiges Hobby ausgedacht – das Sammeln alter Obstsorten. Diese waren doch vom Erwerbsobstbau, der in der Region dominiert, Absatz orientiert aussortiert und beiseite geschoben worden. Die Obstbau-Offiziellen hatten die ‘Prinzen’, ‘Pfannkuchen’, ‘Boiken’ und wie sie alle hießen für überflüssig und abgeschafft erklärt, die Devise »Beseitigung des Sortenwirrwarrs« ausgegeben und zur »Sortenbereinigung« aufgerufen.
Diese Parolen hatten gut gegriffen, und die zu Beginn der siebziger Jahre von staatlicher Seite gezahlten Rodungsprämien hatten den meisten alten Hochstamm-Obsthöfen mit ihrer traditionellen Sortenvielfalt den Garaus gemacht. Und nun machte sich jemand daran, die verbliebenen Reste einzusammeln und pflanzte die alten Sorten in neuen Bäumen auf – wohl ein nostalgischer, grüner Spinner, der Museumsobsthöfe anlegte.
Der erste Bericht über mein »Boomgarden-Projekt« in der regionalen Tageszeitung stand dann 1994 auch unter der Überschrift »Ökofreak schwärmt von Prinzen und Schlotteräpfeln«. Er tat jedoch dem Projekt keineswegs Abbruch. Es wuchs munter weiter, so munter, dass es mich mitunter zu überwuchern drohte. So lernte ich 1994 den damals schon über 80-jährigen pensionierten Baumschul-Besitzer Karl Mohr aus dem holsteinischen Ellerhoop kennen. Karl Mohr hatte in seinem rüstigen »Unruhezustand« immer wieder seine holsteinische Heimat von der Dithmarscher Nordseeküste bis ins westliche Mecklenburg durchstreift und wohl an die 700 verschiedene Wurzelunterlagen veredelt und in der hintersten Ecke seiner Baumschule auf engstem Raum aufgepflanzt. Dort standen sie nun seit einigen Jahren und zeigten schon deutliche Alterserscheinungen. »Wat passiert dor nu mit, wenn Du mol nich mehr kannst?«, fragte ich ihn. »Denn kummt dat allens in’n Schredder«, sagte er. »Dat geiht nich, Korl«, entgegnete ich, und gemeinsam überlegten wir uns, wie wir diese wertvolle Sammlung retten könnten. Da ich auf meinen Pachtflächen nicht mehr viel Platz hatte, entschloss ich mich zu einer Platz sparenden Aufpflanzung auf schwachwüchsigen Unterlagen. In zwei Wintern »schnitzte« Karl mir über 500 handveredelte junge Bäumchen, je eins pro Sorte, der Rest seiner Sammlung war bereits nicht mehr zu retten. Etwa 100 hatten überhaupt einen Namen, jedoch zumeist einen mir völlig unbekannten wie ‘Kartonapfel’, ‘Graf Waldersee’, ‘Poyenberger Waldapfel’ oder ‘Immenstedter Pison’. Ich hatte das Gefühl, eine große Wundertüte geerbt zu haben, voller unbekannter und wohl vielfach nie mehr zu identifizierender Schätze.
Am Beispiel Karl Mohrs wurde mir deutlich, wie wichtig es ist, die letzten Zeugen und Kenner der alten pomologischen Vielfalt noch rechtzeitig aufzuspüren, zu befragen und zu »beerben«. »Pomologische Erbschleicherei« ist seitdem eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.
Mit etwas Glück und Geschick und meiner plattdeutschen Zunge habe ich auch die pomologischen Schatztruhen eher verschlossen und abweisend wirkender Einheimischer öffnen können und so manche schon verloren geglaubte alte Sorte noch aufgespürt. Wie es dann so kommt: Hat erst jemand einmal zehn Jahre lang seine Idee konsequent vertreten, beginnen zusehends mehr Leute, ihn ernst zu nehmen.
Die Medien, die mein Thema zunehmend in den Blick bekamen, entdeckten nun auch mich. Was natürlich einen weiteren kräftigen Schub an Meldungen alter Obstsorten aus der Region zur Folge hatte. Auf einen Zeitungsartikel hin gab es manchmal mehr als fünfzig Anrufe und Briefe. Solch eine Resonanz will natürlich auch noch bearbeitet und bewältigt werden. Meine Tätigkeit als Obstbauer und Wochenmarktfahrer sorgte schon für ein Pensum von mindestens sechzig, während der Ernte auch von über achtzig Wochenarbeitsstunden. Die Rettung alter Obstsorten bringt einem einerseits mit der Zeit allerhand Ehre, aber damit noch kein Geld ein, verursacht andererseits eine Menge Kosten. Zwar unterstützte mich der 1991 gegründete Pomologenverein nach Kräften, doch verschlang das Sammeln und Pflanzen der alten Obstsorten so viel Geld, dass ich mir überlegte, mich nach einem Sponsor umzusehen.
APFELKANTATE
Der Apfel ist nicht gleich am Baum
Da war erst lauter Blüte.
Das war erst lauter Blütenschaum
und lauter Lieb und Güte.
Dann waren Blätter grün an grün
und grün an grün nur Blätter
Die Amsel nach des Tages Mühn,
sie sang ihr Abendlied gar kühn
und auch bei Regenwetter.
Der Herbst, der macht die Blätter steif
der Sommer muss sich packen.
Hei! Dass ich auf die Finger pfeif
da sind die ersten Äpfel reif
und haben rote Backen.
Und was bei Sonn’ und Himmel war
erquickt nun Mund und Magen
und macht die Augen hell und klar.
So rundet sich das Apfeljahr
und mehr ist nicht zu sagen.
Hermann Claudius