Altmühlstille - Richard Auer - E-Book
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Altmühlstille E-Book

Richard Auer

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Beschreibung

Lässig-leichtes Lesevergnügen mit augenzwinkerndem Blick auf die oberbayerische Provinz. Kommissar Morgensterns 10. Fall! Das Eichstätter Altstadtfest steht kurz bevor, doch ein notorischer Querulant verdirbt den Spaß: Er hält den Lärm für eine Zumutung und besteht als Anwohner auf seinem Recht auf Ruhe. Kurz darauf liegt er tot in seiner Wohnung, die Ohren mit Zinn ausgegossen. Kein leichter Fall für Oberkommissar Mike Morgenstern, denn er muss den Mord an einem Menschen aufklären, um den anscheinend niemand trauert – und der mit der halben Stadt auf Kriegsfuß stand.

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Richard Auer, Jahrgang 1965, studierte Diplom-Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt und hielt der Stadt auch danach die Treue. Mit seiner Frau und drei Söhnen sowie Kater Lorenzo wohnt er mitten in der barocken Altstadt und arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Lokalredakteur im Altmühltal und seiner näheren Umgebung.

www.richardauer.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: stock.abobe.com/Otto Durst

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-114-0

Originalausgabe

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Mittwoch

Mike Morgenstern war in einer Alterskohorte, die für Betreiber von Hörakustik-Fachgeschäften allmählich interessant wurde. Die zukünftige Stammkundschaft, das waren all die Frauen und Männer, die es ehedem für eine gute Idee gehalten hatten, in Diskotheken vorzugsweise direkt neben riesigen Lautsprecherboxen zu stehen. Oder Menschen, die bei der Schießausbildung der Polizei den vorgeschriebenen Gehörschutz als unverbindliches Angebot für Warmduscher eingeschätzt hatten.

Morgenstern, Oberkommissar bei der Kriminalpolizei Ingolstadt, hätte natürlich nie zugegeben, schon gar nicht gegenüber seiner Frau Fiona, dass sich seine Hörleistungen im Laufe der vergangenen Jahre in irgendeiner Weise reduziert haben könnten. Wenn er in Gesprächen aller Art verdächtig oft nachfragen musste, dann führte er das grundsätzlich darauf zurück, dass sein Gegenüber zum Nuscheln neige. Seinen Söhnen Marius und Bastian, fünfzehn und dreizehn Jahre alt, bimste er allerdings bei jeder Gelegenheit ein, sie sollten unbedingt auf den sensiblen Hörsinn achten – ein Rat, den die Jungs in jugendlichem Leichtsinn ebenso regelmäßig in den Wind schlugen.

Insbesondere galt das für Marius. Der Neuntklässler am Eichstätter Willibald-Gymnasium hatte vor einiger Zeit damit begonnen, sich im Selbststudium das Spielen auf der E-Gitarre beizubringen. Kaum hatte er die wichtigsten fünf Akkorde verinnerlicht, hatte er sich reif für die Mitgründung einer Schülerband gefühlt. Die Besetzung: drei Jungs an Gitarre, Bass, Schlagzeug – und eine charismatische Sängerin namens Lisa. Die war anscheinend das Wichtigste an dem ganzen Projekt gewesen.

Das Zweitwichtigste war dann schon der Bandname. Nach endlosem Nachdenken hatten die Jungmusiker den aufschneiderischen Namen »Oaktown Cobras« verworfen und sich auf den sperrigen Titel »Brawngrinders« verständigt. Das war die englische Übersetzung des deutschen Worts »Sausackschleifer« – welches wiederum der althergebrachte Neckname für die Eichstätter Bürgerschaft war. Wo es schon eine vogelwilde Trommlergruppe namens »Sausack-Sambas« gab, da konnte sich auch eine Rockband den rustikalen Namen unter den Nagel reißen. Ein bisschen Selbstironie schadete nie. Der Musikstil? Heavy Metal oder eine seiner vielen Ausformungen, die nur Experten auseinanderhalten konnten. Trash Metal etwa oder Death Metal. Letzterer galt, weil er den Tod schon im Namen trug, als besonders abgründig. Da lauerte Satan hinter jeder zweiten Liedzeile.

Es war ein Mittwochabend, als Mike Morgenstern und seine Frau Fiona sich in ihrem alten roten Land Rover auf den Weg nach Norden machten, knapp dreißig Kilometer ins Fränkische, nach Thalmässing. Wirklich willkommen waren sie nicht, das war ihnen klar. Denn die »Brawngrinders« gaben da ihr allererstes öffentliches Konzert. Eingefädelt hatte das die besagte Lisa, die aus dem kleinen Thalmässinger Ortsteil Waizenhofen stammte. Ihretwegen konnte die Band jetzt – Death Metal hin oder her – in einem katholischen Regionaljugendheim direkt gegenüber der Pfarrkirche St. Peter und Paul auftreten.

Der Volksmund hatte den schlichten Betonbau von jeher »Bunker« genannt, was der Sache aber nicht wirklich gerecht wurde, drinnen war es nämlich dank viel Holz und Glas ausgesprochen gemütlich, wie die Morgensterns fanden, als sie nach endlosem Autogekurbel über gewundene, immer schmaler werdende Landstraßen endlich angekommen waren. Wieder einmal hatte Mike Morgenstern, der gebürtige Nürnberger, feststellen müssen, dass die Verkehrsinfrastruktur im mittelfränkisch-oberbayerischen Grenzgebiet wohl darauf ausgerichtet war, einen kleinen Grenzverkehr zwischen den konkurrierenden Volksstämmen in Bayern möglichst zu hintertreiben.

Marius hatte seinen Eltern schon im Vorfeld klargemacht, dass dieses Konzert für Menschen der Gattung »Ü25« nicht empfehlenswert sei und dass er deswegen die Premiere gern ohne Aufsicht seiner Erziehungsberechtigten abwickeln wolle. Er werde mit den Eltern der anderen Bandmitglieder mitfahren können – da durften die Eltern also kommen! – oder, noch viel besser, »irgendwie« bei Lisa übernachten und tags darauf mit ihr per Schulbus wieder nach Eichstätt zurückkommen.

Die Morgensterns hatten die Ausladung nun jedenfalls ignoriert und mischten sich unter das angekündigte »U25«-Publikum. Das war reichlich gekommen, offenbar aus der ganzen Umgebung, sei es auf fränkischer oder oberbayerischer Seite. Bei den Teenagern spielten die alten Grenzen anscheinend kaum noch eine Rolle, von uralten Konfessionsschranken zwischen Katholiken und Protestanten ganz zu schweigen. Aber es waren auch allerhand ältere Heavy-Metal-Fans gekommen, das Resthaar tapfer zum Pferdeschwanz gebündelt, Nietenarmbänder an den Handgelenken.

Die Band hatte einen einstündigen Auftritt zu absolvieren – mehr gab ihr Repertoire noch nicht her. Das bestand zu beträchtlichen Teilen aus etablierten Songs, die nun wacker nachgespielt wurden, »Highway to Hell« von AC/DC etwa. Aber man hatte auch einige eigene Lieder produziert. Lisa Hornbeck als Komponistin, Marius Morgenstern als Texter. Melodiös war das nicht wirklich, aber laut, sehr, sehr laut. Die Morgensterns wahrten im Hintergrund ihren Beobachterstatus, während im Saal die Metal-Fans aus Weißenburg, Hilpoltstein, Eichstätt und Roth das Langhaar schüttelten oder sich gegenseitig freudig umrempelten.

Mike Morgenstern wusste selbst nicht, wie es geschehen war. Den Autoschlüssel hatte er jedenfalls an Fiona abgegeben, hatte sich ein Bier geholt, dann noch eins, und irgendwann fand er sich mitten in dem Pulk der ländlichen Hardrock-Szene wieder. Schwitzend, stampfend: Morgenstern im Rumpelstilzchen-Modus. Zur Feier des Tages war er in das schwarze »Guinness«-Werbe-T-Shirt gewandet, das er vor Jahren als Stammgast des Eichstätter Irish Pubs erhalten hatte. Seine geliebte Jeansjacke allerdings hatte er seit ein paar Tagen vergeblich gesucht. War wohl in der Wäsche.

Inzwischen hatte Marius an der Gitarre den Vater in der Menge entdeckt, und ein einmaliges Augenverdrehen hatte signalisiert, dass ihm das alles »megapeinlich« war. Wenigstens kannte kaum einer im Publikum den Mann mit Cowboystiefeln und Guinness-T-Shirt, der mit den Vertretern seiner Generation gerade, Arm in Arm, einen wüsten Kreistanz aufführte.

Als die letzten Akkorde von Iron Maidens »Powerslave« verklungen waren, kündigte Lisa ein Stück aus eigener Feder an. Das habe die Band »aus gegebenem Anlass« komponiert. »Da geht es drum, dass die Menschen immer egoistischer werden und allen anderen den Spaß nehmen und dass sie dafür eines Tages zahlen müssen.«

Das Publikum jubelte, Morgenstern, immer noch Arm in Arm mit zwei Pferdeschwanzmännern, jubelte mit, und dann setzte ein Klanggewitter ein, das zu beträchtlichen Teilen von Marius Morgenstern an seiner billig bei eBay erstandenen Fender-E-Gitarre produziert wurde. Lisa schrie den Text ins Mikrofon und ließ dabei ihr langes schwarzes Haar wirbeln, Marius nahm seinen Mut zusammen und sang mit: Ständig fiel das Schlüsselwort »noise«, also ging es um Lärm, und »kill« kam auch dauernd vor. Irgendwann grölte das gesammelte Bunker-Publikum den Refrain mit: »Too much noise, not your choice.« Auf Deutsch in etwa: Zu viel Lärm – das kannst du dir nicht aussuchen …

Na ja, dachte Morgenstern. Und für so ein Englisch schickte man die Kinder aufs Gymnasium?

Allmählich hatten sich die älteren Herrschaften mit ihrem Kreistanz bis direkt zur Bühne vorgearbeitet. Morgenstern sah fasziniert, was sein Erstgeborener an diesem Billiginstrument nach so kurzer Zeit zuwege brachte. Aber vor allem sah er eines: Lisa Hornbeck trug eine Jeansjacke. Eine Jacke, die ihm verdächtig bekannt vorkam. War das etwa Mike Morgensterns gute alte, treue Levis-Jacke von anno dazumal? Sein Augapfel, sein Markenzeichen, sein schützender Panzer, wenn er als Oberkommissar wieder mal in eine Ermittlungsschlacht ausrücken musste? Aber falls ja, was war mit ihr geschehen? Was hatte man ihr angetan?

Lisa hatte offenkundig die beiden Ärmel rigoros abgesäbelt, die Vorderseite der zur Weste mutierten Jacke mit jeder Menge silbern glänzender Nieten dekoriert und zu allem Überfluss auch noch mit schwarzem Edding-Stift in Versalien einschlägige Slogans hinterlassen. Allen voran: »PUNKS NOT DEAD«.

Ganz sicher konnte er sich freilich nicht sein, dass es wirklich seine Jacke war oder gewesen war, die hier unter die Räuber gefallen war. Solche Jacken gibt’s wie Sand am Meer, tröstete sich Morgenstern und taumelte mit seinen neu gewonnenen Freunden weiter vor der Bühne herum.

Einer der Pferdeschwanzträger stellte sich in allem Singen und Tanzen und Schwitzen dann doch irgendwie vor: Lisas hünenhafter Vater, Markus Hornbeck. Ein Typ vom Stamm der Nordmänner, dessen Urahn einst auf irgendeinem Wikinger-Raubzug auf der rauen Jurahöhe nördlich des Altmühltals hängen geblieben sein musste. Er arbeite bei einem Landmaschinenhändler, erfuhr Morgenstern zwischen etlichen üblen Remplern, die von allen Seiten auf ihn einprasselten. Das Publikum war zum Pogo übergegangen – das musste der Oberkommissar nun wirklich nicht haben, ein paar blaue Flecken hatte er sich ohnehin schon eingesammelt.

Er wollte sich gerade in Richtung Fiona aufmachen, die weit im Hintergrund oder gar draußen im Freien Abstand vom Radau und insbesondere von ihrem verhaltensauffälligen Ehemann genommen hatte. Aber irgendjemand aus der Menge gab Morgenstern, als der sich gerade ein wenig orientieren wollte, einen mächtigen Schubs mit beiden Händen. Dann ging alles ganz schnell: Er kam ins Straucheln, ruderte mit den Armen, fand nichts und niemanden zum Festhalten, taumelte auf die Seite, heraus aus der Gruppe und stieß schließlich mit dem Kopf gegen eine am Boden abgestellte große Lautsprecherbox. Er rammte die Ecke des klobigen Dings, während die »Brawngrinders« mit voller Wucht ihre Instrumente malträtierten. Doch gleich rappelte er sich wieder auf, warf dem dröhnenden schwarzen Kasten einen hasserfüllten Blick zu und trat endlich den Rückzug an.

Er fand Fiona draußen vor der Tür – in bester Unterhaltung mit ein paar jungen Frauen, denen allesamt der Lärm im »Bunker« zu infernalisch geworden war. Heavy Metal, das ist wohl eher eine Sache für harte Männer, dachte Morgenstern und wischte sich über die Stirn. Blut. Er hatte sich an der Box eine Platzwunde zugezogen, im schlimmsten Fall noch in Kombination mit einer leichten Gehirnerschütterung.

»Wie schaust du denn aus?«, fragte Fiona ihren Gatten. »Du hast dich doch nicht etwa dadrin geprügelt? Nein, das trau ich dir nicht zu!«

Morgenstern senkte beschämt den Kopf, während Fiona mit einem Tempotaschentuch an seiner Stirn herumwischte. »Hab mir den Kopf an der Box angeschlagen. Dummer Zufall, ehrlich.«

»Höchste Zeit, dass das Konzert endet«, meinte Fiona. »Punkt zehn Uhr ist Schluss, die Musiker sind ja alle noch minderjährig.«

»Den Marius nehmen wir mit nach Hause«, kündigte Morgenstern plötzlich an. »Ich glaube, mit dem habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Oder weißt du zufällig, wo meine Jeansjacke steckt? In der Wäsche?«

Fiona hob abwehrend die Hände. »Deine Jacke, äh, mmh.« Dann lächelte sie bemüht. »Die hat sich vorgestern der Marius ausgeborgt, der hat mich ganz freundlich gefragt. Ist doch schön, wenn die Söhne die Kleidung ihrer Eltern mögen. Das ist moderner Erziehungsstil, das ist cool. Das sollte dir als Vater eine große Ehre sein, Mike.«

Morgenstern traute seinen Ohren nicht, und das war im wörtlichen Sinne so. Fionas letzter Satz, der mit der großen Ehre, verschwand hinter einem seltsamen Rauschen, begleitet von einem leisen Pfeifen auf dem linken Ohr. Er klopfte sich gegen die Hörmuschel, erst auf die linke, dann auch auf die rechte. Er schüttelte den Kopf wie ein Bär, der von einem wütenden Bienenschwarm verfolgt wird, machte ruckartige Bewegungen – aber das Rauschen ließ nicht nach, und das Pfeifen nahm kein Ende.

»Das wird schon wieder«, sagte er schließlich in blankem, durch nichts begründetem Zweckoptimismus. Und tatsächlich: So schnell wurde das nicht wieder. Es fing erst richtig an.

Donnerstag

Der Donnerstag machte seinem Namen im Hause Morgenstern alle Ehre. Über Marius, der sich eben noch als umjubelter Heavy-Metal-Gitarrengott gefühlt hatte, ging gleich am Morgen zum Frühstück ein Donnerwetter der Extraklasse hernieder. Der Vater hatte den Sohn konsequent aus den Federn geholt, die Bitte um einen freien Schultag gnadenlos abgebügelt und schließlich die Karten auf den Tisch gelegt: »Was hast du mit meiner Jeansjacke gemacht?«

Marius schrumpfte vor den Augen des Vaters, dessen Stirn ein beeindruckend großer Streifen Hansaplast zierte, auf Erstklässlergröße zusammen. Dann räumte er ein, dass er sich bei Lisa habe wichtigmachen wollen und deswegen auf die Idee verfallen sei, ihr die Jacke zu »leihen«. Leider habe Lisa die Sache mit der Leihgabe gründlich missverstanden, habe sie als Geschenk betrachtet und entsprechend behandelt. »Sie sagt, dass sie mit dieser Jacke jetzt immer an mich denken wird«, fügte er kleinlaut hinzu und putzte sich lautstark die Nase.

»Ich kauf mir einfach eine neue«, sagte Morgenstern nach einiger Zeit des frustrierten Nachdenkens. »Aber das dauert Jahre, bis ich die eingetragen habe. So was Gutes gibt es heutzutage ja gar nicht mehr.«

»Du hörst dich an wie ein Opa!« Marius, der Metal-Gitarrist, hatte anscheinend schon wieder Oberwasser, und so konnte getrost das Wochenende anbrechen. Nicht irgendeines. Nein, in Eichstätt war am 1. Juli jedes Jahres das Altstadtfest terminiert. Seit Jahrzehnten organisiert von der Stadt, beworben als Fest »von Bürgern für Bürger«. Vom frühen Freitagabend bis Sonntagnacht waren da die Straßen und Plätze der Altstadt gefüllt mit feierfreudigen Menschen, die sich meist dicht an dicht auf Bierbänken drängten, sich von Livemusik beschallen und allenfalls von einem plötzlichen Wolkenbruch vertreiben ließen. Vereine und Schulen machten beim Programm mit, lokale Chöre traten im Spiegelsaal der ehemaligen fürstbischöflichen Residenz auf, die Jugend taumelte zu harten Beats über den Leonrodplatz, die Dompfarrei rief zum gemeinsamen Volksliedersingen »Am Brunnen vor dem Tore«. Da war für jeden etwas dabei, mochte man meinen. Aber wie immer galt auch hier: Ausnahmen bestätigen die Regel.

Freitag

Nach Wolkenbruch sah es an diesem Freitag um siebzehn Uhr gar nicht aus. Über dem Marktplatz strahlte ein bilderbuchblauer Himmel ohne jedes Wölkchen, von seinem steinernen barocken Brunnenbecken aus grüßte überlebensgroß der heilige Willibald mit Bischofsstab und Mitra und gab dem Fest, wie es schien, seinen Segen. Vom blumengeschmückten Rathaus wehten Fahnen, und vor der Metzgerei war eine gewaltige Bühne ganz in Schwarz aufgebaut. Da harrte bereits die erste Band ihres Auftritts.

Aber erst musste der Oberbürgermeister, mit seiner Amtskette behängt, die Sause offiziell eröffnen. Begleitet von einem Fanfarenzug zog er, vom Domplatz kommend, auf dem Marktplatz ein, stellte sich auf die Bühne und eröffnete kurz und knapp das Fest, indem er allen ein fröhliches, friedliches Wochenende wünschte. Drüben auf dem Domplatz hatte er unmittelbar zuvor ein Bierfass der Hofmühl-Brauerei anzapfen müssen – mit nur drei Schlägen kam er zurecht, so etwas verschaffte einem Stadtoberhaupt überall in Bayern Respekt.

Während die Fanfarenbläser noch tüchtig ihre Melodien schmetterten, kündigte sich vom nahen Domplatz akustisch schon die nächste musikalische Delegation an: die Sausack-Sambas.

»Also ich weiß ja nicht …«, sagte Morgenstern, als er das ohrenbetäubende rhythmische Trommeln hörte, begleitet von Trillerpfeifen und irgendwelchen Glocken.

»Rio liegt nicht an der Altmühl«, pflichtete Fiona Morgenstern ihrem Gatten bei, aber die Sausack-Sambas, eine gut und gern dreißigköpfige Truppe aus Einheimischen, sahen das naturgemäß anders und brachten, wie man regelmäßig in der Zeitung lesen konnte, einen »Hauch von brasilianischer Lebenslust« ins beschauliche Zentrum Bayerns.

Morgenstern, dessen Gehör nach der Lärmattacke vom Donnerstagabend immer noch leicht geschädigt war – auch wenn das Pfeifen zum Glück fast verschwunden war –, stand sicherheitshalber auf und begab sich ein wenig aus der akustischen Schusslinie. »Sicher ist sicher«, sagte er Frau und Söhnen, als er sich in die Marktgasse verdrückte.

Er lehnte dort ein wenig an der nächsten Hauswand herum und versuchte, den Lärm möglichst zu ignorieren, als sich zwei Männer mit wichtiger Miene an ihm vorbeidrängten und eine nur angelehnte Haustür öffneten. Die beiden waren, wie es Morgenstern schien, Tontechniker oder etwas Ähnliches, denn sie hatten ein Mikrofon dabei, ein zusammenschraubbares kleines Metallgestell und einen schwarzen Koffer. »Was soll das denn werden?«, fragte er neugierig.

»Amtliche Messung«, sagte einer der beiden kurz angebunden. »Landratsamt, Sachgebiet Umweltschutz. Lärmemission.«

»Aha«, sagte Morgenstern. »Und wo messen Sie da jetzt?«

Der Mann deutete mit dem Finger nach oben. »Gleich hier oben: zweites Stockwerk.« Er sah Morgenstern prüfend an. »Sie lesen wohl keine Zeitung?«

Kommentarlos gingen die beiden nach oben. Die Sausack-Sambas waren inzwischen gleichfalls unter frenetischem Beifall ihrer Wege gezogen, und so konnte Morgenstern zu den Seinen auf die Mitte des Markplatzes zurückkehren und sich einen großen Schluck aus seinem Maßkrug gönnen.

»Das war jetzt was ganz Seltsames«, sagte er zu Fiona und den Söhnen. »Das Landratsamt macht da oben Lärmmessungen. Anscheinend gibt es da irgendeinen Ärger.«

Marius wollte gerade ansetzen, um etwas zu erklären, aber Fiona war schneller. »Logisch, das gibt doch schon die ganze Zeit Stress hier am Marktplatz. Da legt einer ganz, ganz, ganz großen Wert auf seine Ruhe – und am liebsten würde er das ganze Altstadtfest verbieten lassen, jedenfalls soweit es vor seiner Haustüre stattfindet.«

Das habe alles in der Zeitung gestanden, führte sie weiter aus, aber die Berichterstattung habe umgehend eine Gegendarstellung provoziert. »Mit dem Mann ist nicht gut Kirschen essen – das weiß ich auch als Gästeführerin.« In der Tat war Fiona Morgenstern schon seit geraumer Zeit freiberuflich als ausgebildete Stadtführerin unterwegs.

»Unsere drei Eichstätter Nachtwächter liefern sich mit dem Mann einen Streit nach dem anderen. Dem passt das Tuten mit den Hörnern nicht, auch wenn ich zugeben muss, dass das schon ganz schön laut sein kann.«

Auf der Bühne hatte jetzt die Vorband des Abends zu spielen begonnen, ein Liedermacherduo, das sich mit zwei Akustikgitarren an den Evergreens der Popgeschichte abarbeitete. Erst nach zwanzig Uhr sollte dann als »Hauptact« eine altbewährte Showband folgen – die »Flying Horses« irgendwo aus dem Pfaffenhofener Raum.

Während sich die orange lackierten Biertischgarnituren immer weiter füllten, sah Morgenstern, wie sich zwei Sanitäter des Roten Kreuzes ihren Weg durch die flanierende Menge bahnten. Er hatte zuvor schon bei einem Rundgang mit Fiona bemerkt, dass die Notfallleute ihren Rettungswagen strategisch günstig in einer leicht erreichbaren Gasse ganz in der Nähe geparkt hatten. Jetzt drängten sie sich, bepackt mit schweren roten Rucksäcken voller Hilfsmaterial und ausgerüstet mit einer Trage, Richtung Marktgasse, gefolgt von unzähligen neugierigen Blicken. Wohin genau sie wollten, konnte Morgenstern aus seiner Position nicht erkennen – und es war wohl auch egal. Auf solchen Festen erlitt immer wieder mal jemand einen kleinen Zusammenbruch, weil ihm die gleißende Sonne zu sehr auf den Kopf gestrahlt hatte. Da gab es Wespenstiche zu verarzten, kein Spaß, wenn eine allergische Reaktion in Verzug war, oder es hatte sich jemand an einer Glasscherbe geschnitten. Das Opfer einer Prügelei konnte es zu dieser Uhrzeit eigentlich noch nicht sein – solche Fälle hatte die Altstadtfestchronologie erst für die Nachtstunden vorgesehen.

Schnurzpiepegal, dachte Morgenstern und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Maßkrug. Wie schön, dass er ein freies Wochenende hatte. Sogar den Freitag hatte er sich freinehmen können, wenn auch pro forma mit ein wenig Bereitschaftsdienst. Der Sommer ließ sich friedlich an im Beritt der Kriminalpolizei Ingolstadt. So durfte das bleiben.

Da klingelte sein Diensthandy. Immer noch hatte er als Erkennungsmelodie Richard Wagners »Walkürenritt«, wahrscheinlich war er der letzte Mobiltelefonierer Bayerns, der noch mit so aufwendig-theatralischem Gedudel ans Gerät gerufen wurde.

»Der Schneidt ist dran«, sagte er zu Fiona, die besorgt in die Runde blickte und wohl genau wusste, dass das gemütliche Familienbeisammensein genau in diesem Moment ein jähes Ende finden würde.

Kriminaldirektor Adam Schneidt war Morgensterns weitgehend humorfreier Vorgesetzter, und er schuf gleich klare Verhältnisse. »Morgenstern, wo stecken Sie? Wir haben einen Fall direkt vor Ihrer Haustüre, mitten in Eichstätt. Die Sanitäter sagen, dass es nach Mord aussieht.«

»Die Sanitäter?«, fragte Morgenstern, und ihm wurde kurz schummrig.

»Hören Sie schlecht, Morgenstern, dass ich alles wiederholen muss? Ich gebe Ihnen die Adresse durch, das ist eine Wohnung direkt an der Ecke Marktplatz/Marktgasse, zweiter Stock, kümmern Sie sich drum.«

»Und Hecht?«, fragte Morgenstern nach seinem treuen Kollegen aus Schrobenhausen.

»Den habe ich auch gleich in Marsch gesetzt. Der wollte sich gerade in den Feierabend absetzen. Aber da wird nichts draus. Die Spurensicherung kommt auch, und die Kollegen von der Polizeiinspektion in Eichstätt sowieso.«

Schneidt schien das Marktplatz-Gitarrenduo nun im Hintergrund zu hören – die beiden spielten »All You Need Is Love«. »All you need is love«, blökte er ins Telefon. »Das hat uns grade noch gefehlt. Sind Sie etwa auf dem Altstadtfest, Morgenstern?«

»Mit Kind und Kegel.«

»Verabschieden Sie sich, Morgenstern – und halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Geht klar«, brummte der Oberkommissar.

Er stand auf, nahm noch einen letzten Schluck aus seinem Krug, klopfte Fiona auf die Schulter, verordnete den Söhnen die garantiert nutzlose Anweisung »Brav bleiben!« und zog von dannen.

Die Tür im Erdgeschoss des barocken Mehrparteienhauses war – wie schon zuvor – nur angelehnt. Morgenstern stieg in den zweiten Stock, stieß da auf eine massive Wohnungstür mit dem Klingelschild »H. Hirsch«. Harry Hirsch, dachte er in Erinnerung an Otto Waalkes’ berühmte Reporterfigur. Das konnte er sich leicht merken.

Auch diese Tür stand halb offen. Er klopfte energisch an und trat in einen dunklen, langen Flur, von dem verschiedene Zimmer abzweigten. Die Wohnung musste riesig sein.

Er fand die Sanitäter im Wohnzimmer, das sich direkt zum Marktplatz öffnete. Und hier standen auch die beiden Techniker des Landratsamts. Ratlos schauten die Männer von der Behörde auf den unbekannten Eindringling in Cowboystiefeln und Guinness-T-Shirt im Türstock. »Was machen jetzt Sie hier?«

Morgenstern kramte umständlich nach seinem Geldbeutel mit dem Dienstausweis, den hatte er zum Glück immer dabei.

»Kripo Ingolstadt, Morgenstern«, sagte er. »Ich war direkt unten am Markplatz, als der Anruf gekommen ist. Die Zentrale hat mich alarmiert. Die anderen kommen gleich.« Er atmete durch. »Jetzt würde ich gerne wissen, um was es geht.«

Der Umweltingenieur räusperte sich. »Wir sind die Treppe hochgekommen, hatten einen Termin mit ihm vereinbart.«

»Mit wem?«

»Mit Herrn Hirsch. Mit Holger Hirsch natürlich. Wir wollten hier unsere Messgeräte aufstellen, direkt am offenen Fenster. Wir haben geläutet, aber niemand hat reagiert. Die Wohnungstür war bloß angelehnt, und so sind wir eben rein und haben laut nach ihm gerufen. Sie müssen wissen: Herr Hirsch ist nicht der Typ Mensch, der gerne unerwartet Leute mitten in seiner Wohnung stehen hat.« Er atmete tief durch. »Dann haben wir ihn hier gefunden. Im Lehnstuhl, vor dem Fenster, mit dem Blick nach draußen. Sehen Sie nur!«

Erst jetzt trat Morgenstern ganz ins Wohnzimmer ein. Er versuchte dabei, sich vom ersten Moment an die Situation so gut wie möglich einzuprägen: Holger Hirsch war ein Mann von spartanischer Lebensart gewesen. Ein dunkelbrauner Esstisch, zwei dazu passende Holzstühle, an den Wänden einige Regale, überwiegend gefüllt mit penibel beschrifteten Aktenordnern.

Es gab nur zwei Dinge, die auffielen. Da war zum einen ein großes, mehr noch, ein gewaltiges Aquarium an einer Wand. Hinter den grünlich schimmernden Scheiben wimmelte es von bunten Fischen. Außerdem gab es eine Werkbank mit allerhand kleinen Zangen, Pinseln und Farbfläschchen und einem Bunsenbrenner, der an eine rote Propangasflasche angeschlossen war. Auf der Werkbank lagen, teils frisch gegossen, teils schon bemalt, Zinnfiguren aller Art. Zum größten Teil handelte es sich bei den Figürchen um römische Legionäre.

Langsam ging Morgenstern auf den Lehnstuhl zu – ein Ohrensessel aus abgewetztem Leder, offenbar ein ebenso betagtes wie viel genutztes Möbelstück. Er war auf alles Mögliche gefasst gewesen, aber nicht auf das, was er nun sah: einen klein gewachsenen, voll bekleideten Mann, der trotz der sommerlichen Temperaturen auch noch eine ausgewaschene gräulich weiße Army-Jacke trug. Eine Horst-Schimanski-Gedächtnisjacke, kam Morgenstern in den Sinn.

Der Tote saß aufrecht im Stuhl, beide Hände auf den Armlehnen abgestützt, den Oberkörper steif aufgerichtet, den Kopf mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund mittig ausgerichtet, als würde er konzentriert Musik hören. Dazu passte, dass er ein paar große Industriekopfhörer trug. Dunkelblaue. Der im Volksmund »Mickey Maus« genannte Hörschutz, der vor allem bei Arbeitern in der Baubranche zum Einsatz kam.

Warum Hirsch so aufrecht saß, zeigte sich auf den zweiten Blick: Mit dünnen Schnüren war sein Körper an den Sessel gebunden worden. Kein Zweifel: Das hier war eine groteske Inszenierung. Wer auch immer hier zugange gewesen war, hatte einen gespenstischen Sinn für Theatralik.

»Wir haben nichts verändert«, sagten die beiden Sanitäter, ein junger Mann und eine ebenso junge Frau. Die Frau erklärte, sie habe nach dem Anruf der Techniker als Erstes den Puls des Gefesselten fühlen wollen und dabei sofort festgestellt, dass Holger Hirsch schon seit Stunden tot sein musste. »Vielleicht schon seit gestern Nacht. Die Totenstarre hat schon eingesetzt. Das war kein Fall mehr für uns.«

Draußen auf dem Flur waren Stimmen zu hören. Der Leiter der Polizeiinspektion Eichstätt, Manfred Huber, war zusammen mit dem Streifenbeamten Ludwig Nieberle gekommen. Morgenstern hatte mit den beiden immer wieder zusammengearbeitet. Man kannte sich.

»Was macht denn unser Herr Hirsch für Sachen?«, fragte Huber pietätlos, nachdem er sich dem Leichnam im Ohrensessel genähert hatte.

»Na, na, na«, sagte Morgenstern. »Ein bisschen mehr Respekt wäre schon angebracht, finde ich.«

»Das sagst du bloß, weil du ihn nie kennengelernt hast, und du darfst froh darüber sein«, stellte der Inspektionsleiter klar.

»Warum? Was war mit dem?«

»Das zeige ich dir später drunten in der Inspektion. Wir haben mehrere Aktenorder voll – alles nur seine Streitfälle. Und hier drüben, diese Ordner in den Regalen, die sind wohl das Gegenstück dazu.«

»Was für Streitfälle?«

»Alles, was du dir nur denken kannst – oder auch, was nur einem kranken Hirn einfallen kann. Der Mann war ein notorischer Querulant. Praktisch berufsmäßig. Der hat seit Jahren nichts anderes gemacht, als allen Menschen in seiner Umgebung, und da vor allem jedem, der auch nur ansatzweise nach Verwaltungsapparat roch, die Hölle heißzumachen.«

Morgenstern sah sich Hirsch genauer an. Er wirkte ungepflegt, roch streng, aber das konnte Urin sein. Auf der Oberlippe trug er einen schütteren, zerrupften Schnauzbart. Das blondgraue strähnige glatte Haar sprach jeder Vorstellung von Frisur Hohn. Gut möglich, dass Holger Hirsch sich seine Haare bei Bedarf selbst mit der Küchenschere gekürzt hatte. Auf dem Kopf glänzte es schimmernd rot: eingetrocknetes Blut. Eine frische Wunde. »Der Hirsch hat einen Schlag abbekommen«, sagte er.

»Das haben wir auch gleich festgestellt«, mischte sich die Sanitäterin ein. »Ist ja unübersehbar.«

Wieder wurde es draußen laut: Gemeinsam tauchten Kriminaloberkommissar Peter Hecht, von allen »Spargel« genannt, und ein dreiköpfiges Spurensicherungsteam auf. Wie fast immer waren die Spurensicherer gleich ganz oben auf der Zinne. »Wer trampelt hier denn alles mitten durch einen Tatort, hmm?«, pöbelte der erste.

»Keine Sorge, wir haben alles unverändert gelassen, Kollege«, beruhigte ihn Morgenstern.

»Und was sind das hier alles für Leute?«, fragte der zweite und deutete auf die gänzlich unschuldigen Emissionsexperten vom Landratsamt.

Morgenstern erklärte kurz das wenige, was er schon wusste, es folgte ein Fotoshooting der besonderen Art.

Hecht widmete sich nach kurzer Zeit dem Aquarium. »Ein Meerwasseraquarium, sogar mit echten Korallen«, sagte er beeindruckt. »Gar nicht so einfach, das in Schuss zu halten, da muss man sich auskennen.« Er klopfte an die Scheibe. »Guck mal, da ist ein kleiner Nemo.«

Kopfschüttelnd trat Morgenstern hinzu. Ein Clownfisch mit markanter orange-weißer Zeichnung suchte zwischen wogendem Grün nach Fressbarem.

»Findet Nemo«, sagte Hecht.

»Findet den Mörder«, sagte Morgenstern.

Die beiden Oberkommissare nahmen auf den beiden Holzstühlen Platz, Hecht zückte ein schwarzes Moleskin-Notizbuch, um sich wie immer Aufzeichnungen zu machen. Nacheinander bestellten sie die beiden Techniker zu sich, um ihre Aussagen noch einmal offiziell zu Protokoll zu nehmen. Ja, die Wohnungstür war tatsächlich nur angelehnt gewesen. Einbruchsspuren waren nicht zu erkennen. Offensichtlich hatte Holger Hirsch seinem Mörder oder seiner Mörderin die Tür selbst geöffnet, irgendwann in der Nacht von Donnerstagabend auf Freitag, und dann den vielleicht tödlichen Schlag auf den Kopf erhalten.

Morgenstern ließ die Sanitäter nach gründlicher Belehrung über ihre Schweigepflicht ziehen – die wurden auf dem Altstadtfest dringender gebraucht als hier. Auch die Akustiktechniker durften, gleichfalls zur absoluten Diskretion verpflichtet, ihrer Wege gehen.

Hecht und Morgenstern stromerten hingegen durch Hirschs restliche Wohnung in bester Lage, mit Stuckdecken und barocken Türen, wenn auch leider von ihm nicht besonders pfleglich behandelt. Im schlichten Schlafzimmer, das unangenehm nach kaltem Männerschweiß roch, fanden sie das Bett zerwühlt, aber das musste nichts heißen: Hirsch, der ja voll bekleidet war, wirkte insgesamt nicht wie ein Mann, der Wert auf ein penibel gemachtes Bett legte, die Daunenkissen per Handkantenschlag zur Ordnung gerufen. Der hölzerne Kleiderschrank aus Nussbaumfurnier war so gut wie leer. Ein alter dunkelgrauer Anzug, ein zweiter Anzug aus hellbraunem Cordstoff, zwei weiße Hemden auf dem Bügel, viel mehr war da nicht.

Im Badezimmer war es nicht viel anders. Eine geräumige Badewanne konnte mit ihrem schwarzen Schmutzsaum die Kommissare kaum noch überraschen, am Waschbecken begrüßte sie eine struppige Zahnbürste in einem Wasserglas, das wegen des notorisch kalkhaltigen Trinkwassers im Altmühltal im Lauf vieler Jahre blind geworden war. Einen rustikalen Klotz Olivenseife kannte Morgenstern vom Eichstätter Wochenmarkt – seine Söhne hatten ihm schon mal den Kauf verboten, weil er damit riechen werde »wie ein alter Mann«. Shampoo oder Vergleichbares fand sich nicht. Hirsch hielt das anscheinend für überflüssigen Hygieneschnickschnack.

Die geräumige Küche war zum Erstaunen der Ermittler mit einer quasi nagelneuen, topmodernen schwarzen Küchenzeile ausgestattet, die gewiss ein Vermögen gekostet hatte. Eine Arbeitsplatte aus Granit, ein Herd mit Dampfbackofen und vieles mehr glänzten da in perfekt abgestimmter Beleuchtung. Da hatte Holger Hirsch mal richtig tief in die Tasche gegriffen.

Als Morgenstern allerdings den Kühlschrank öffnete, fanden sich nur ein paar Lebensmittel. Margarine, eine offene, erst zur Hälfte geleerte Tomatendose, ein Tetra Pak Hafermilch, ein paar Becher weißer Joghurt. Hirsch hatte weder das Zeug zum Gastgeber gehabt noch zum Solo-Gourmet. Wie so oft bei Männern, dachte Morgenstern, war in der Küche das Equipment wichtiger als das Kochen selbst. Im Fall Morgenstern spielte das allerdings mangels finanziellen Hintergrunds keine Rolle.

Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück und nahmen sich der Aktenordner an. Inspektionsleiter Manfred Huber und Streifenpolizist Nieberle gesellten sich dazu. »Was hat dieser Hirsch beruflich gemacht?«, fragte Morgenstern.

»Er war Privatier«, sage Huber, »oder was man halt so darunter versteht. Er muss so ungefähr siebenundfünfzig Jahre alt sein und stammt hier aus dem Nachbardorf, aus Landershofen. Da hatten seine Eltern einen Bauernhof. Eigentlich ist er Bauer. Aber als die Alten gestorben sind, hat er nach und nach das ganze Feld, alles Wiesen und Äcker zwischen der Bundesstraße und der Altmühl, an die Stadt verkauft. Bestlage – da steht jetzt das halbe Eichstätter Gewerbegebiet drauf. Der Mann ist Multimillionär.«

Morgenstern wurde, was zum Glück keiner sehen konnte, grün vor Neid. Warum mussten solche Typen von einer ungerechten Glücksgöttin Fortuna mit allen Schätzen des Orients überschüttet werden, während man im Hause Morgenstern jeden Euro dreimal umdrehen musste? Dann wandte er sich kurz zu dem an den Ohrensessel gefesselten Leichnam um, und die kleine Anwandlung war schlagartig verflogen. Wenn das der Preis für Reichtum war, dann lieber doch nicht.

Ludwig Nieberle übernahm. »Er hat zwar immer noch drunten in Landershofen sein Anwesen, aber das hat er vermietet und lässt es verkommen. Er selbst hat sich hier mitten in der Stadt diese Wohnung gekauft, keine Ahnung, was er sonst noch mit seinem vielen Geld anstellt. Jedenfalls: Seit er hier wohnt, fordert er konsequent seine Ruhe ein.« Nieberle ließ einen Zeigefinger neben seiner rechten Schläfe rotieren, um klarzumachen, was er ganz persönlich von solcher Rechthaberei hielt: nichts.

»Das hat er in Landershofen aber auch schon gemacht«, fügte Huber hinzu. »Bloß, dass es da nicht so aufgefallen ist. Beschwerde gegen das Gebetläuten der Kirche am Morgen, solche Sachen. Aber so etwas klären die auf dem Dorf nach alter Väter Sitte.« Huber zwinkerte seine Kollegen verschwörerisch an. »Dunkle Nacht, einsamer Abendspaziergang, Kartoffelsack über den Kopf und ein paar tüchtige Schläge mit dem Knüppel.« Huber machte eine Kunstpause. »Nicht etwa, dass ich so etwas gutheiße. Nein, nein, nein, Selbstjustiz darf nicht sein.« Er wackelte zur Untermalung seiner Ablehnung mit dem Zeigefinger. »Aber effektiv war’s. Er ist dann nach Eichstätt gezogen. Und seitdem geht’s hier richtig rund. Fünf Jahre schon, wenn ich mich nicht irre.«

»Irgendwelche Verwandten?«, fragte Peter Hecht.

»Keine Ahnung«, sagte Huber. »Oder weißt du was, Ludwig?«

Nieberle nickte. »Eine Schwester, irgendwo auf der Jurahöhe verheiratet. Die hat wahrscheinlich damals so schnell wie möglich das Weite gesucht. Seltsame Familie. Mein Cousin war mit dem Hirsch in der Schule. Lange her. Der Holger hat damals schon immer Haue gekriegt. Wenn einer hier schon Holger heißt … Und von daheim hat er auch keine Hilfe bekommen. Der Vater muss ein ziemlicher Depp gewesen sein. Wie sage ich immer: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

Morgenstern studierte die Rücken der Aktenordner. Mit schwarzem Filzstift standen überall diese ersten Worte: »Hirsch vs. …« »Was bedeutet dieses ›vs.‹?«, fragte er.

Hecht wusste Bescheid. »Das steht für ›versus‹ – lateinisch heißt das ›gegen‹. Bedeutet also: das Verfahren Hirsch gegen …«

»… gegen den Rest der Welt«, sagte Huber und zeigte mit einer einladenden Handbewegung auf das gesamte Regal.

Zu finden war da unter anderem »Hirsch vs. Diözese (Glocken)«, »Hirsch vs. Tourist-Information Stadt Eichstätt (Nachtwächter)«, »Hirsch vs. Stadtwerke (Adventsbeleuchtung)«, »Hirsch vs. Dompfarrei (Fronleichnamsprozession)«, »Hirsch vs. Stadt Eichstätt (Altstadtfest)« sowie »Hirsch vs. Polizeiinspektion Eichstätt (Strafvereitelung im Amt)«. So zog sich das Regalbrett für Regalbrett hin, einschließlich »Hirsch vs. Faschingsgesellschaft Eichstätt (Sausackschleifer-Trara)«.

»Was ist ›Sausackschleifer-Trara?‹«, fragte Hecht. »Seltsames Wort.«

Morgenstern erklärte es ihm. »Das ist immer am Rosenmontag auf dem Marktplatz. Da bauen sie hier vor dem Willibaldsbrunnen eine riesige Bühne auf, auf der alle möglichen Faschingsgarden aus der ganzen Gegend tanzen. Mit mordstrumm Verstärkern. Und die Eichstätter stehen rum, schauen ein bisschen zu und pegeln sich mit Sekt und Pils und Schnaps ganz gemächlich für die Rosenmontagsnacht ein. Logisch, dass das für Herrn Hirsch eine Zumutung ist.«

Er sah sich weiter um. Hinter jedem Ordner steckte, wie er bei einer kurzen Stichprobe sah, ein dickes Bündel von Schriftstücken. Auf den zweiten Blick sah er, dass viele der Papiere und Briefe, Beschwerden, Androhungen und Anzeigen, von Holger Hirsch persönlich verfasst worden waren – mit einer allenfalls mittelprächtigen Rechtschreibung, die nur dank eines Computer-Orthografieprogramms vor den gröbsten Schnitzern bewahrt worden war. Ein Gutteil des Schriftverkehrs stammte allerdings von einer von Hirsch beauftragten Anwaltskanzlei. Es handelte sich um die Kanzlei Beer in Hilpoltstein, unterzeichnet hatte in allen Fällen eine Rechtsanwältin Anita Beer.

»Hilpoltstein? Warum ausgerechnet Hilpoltstein? Das ist doch mindestens vierzig Kilometer weg. In Franken. Gibt’s in Eichstätt oder Ingolstadt keine Anwälte?« Morgenstern wunderte sich.

»Das lässt sich leicht erklären«, meinte Huber. »Wenn du in einer Stadt wie Eichstätt einen Mandanten wie Holger Hirsch hast, dann hinterlässt du überall verbrannte Erde. Wenn du buchstäblich gegen Gott und die Welt Prozess führst, hast du in Eichstätt deinen Ruf weg. Dann bist du hier der Anwalt vom Hirsch, und damit hat sich’s, da kommt kein anderer mehr. Wenn du aber schön weit weg bist, dann kann es dir im Grunde egal sein. Wann hast du als Anwältin aus Hilpoltstein noch mal mit der Eichstätter Polizeiinspektion zu tun? Also musst du erst gar keine Rücksicht nehmen.«

»Aha«, sagte Morgenstern.

Und Hecht zitierte: »›Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert.‹ Dann brauchen wir ziemlich zügig diese Anita Beer. Seine persönliche Rechtsberaterin. Die wird wohl auch wissen, wo wir die Verwandtschaft finden.«

Der Chef der Spurensicherung trat in seinem weißen Ganzkörperanzug zum Regal. »Wir wären fürs Erste so weit. Sie können ihn haben.«

Morgenstern kratzte sich am Kopf. Es würde gar nicht so einfach sein, den starren Toten aus seinem seltsamen Thron zu schaffen und ihn irgendwie in eine Leichentransportschale zu bringen. Da waren die Männer von der Gerichtsmedizin nicht zu beneiden.

»Wir könnten ihm zumindest mal die komischen Kopfhörer abnehmen«, sagte Hecht. »Das ist eine echte Verhöhnung. So etwas hat niemand verdient, und sei er noch so ein schlimmer Querulant.«

»Tun Sie’s«, forderte Morgenstern den Spurensicherer auf. »Sie haben Handschuhe an, und die Mickey Maus brauchen wir auf jeden Fall für die Fingerabdrücke.«

Der Spurensicherer trat auf Holger Hirsch zu, der immer noch so dasaß, als lausche er versonnen irgendeiner fernen Musik, die nur er hören konnte, vielleicht den himmlischen Chören, wie Morgenstern in einem kurzen zynischen Moment dachte.

Dann fasste der Spurensicherer mit beiden Händen rechts und links den Gehörschutz, zog ihn ein wenig auseinander und hob ihn nach oben weg. »Oh-oh …«, sagte er überrascht, griff kurz hinter sich, wo er einen der Holzstühle wusste, und nahm schnell darauf Platz. »Oh-oh«, wiederholte er.

»Was ist denn?«, fragte Morgenstern und trat dicht neben den Toten. Jetzt sah er es – und die anderen ebenfalls. In Hirschs beiden Ohren glänzte es silbern metallisch. Die Ohren waren verbrüht, die Haut hatte sich gelöst. Ein gruseliger Anblick. »Was ist das?«, fragte Morgenstern.

»Das müssen Sie beantworten«, sagte der Spurensicherer. »Nicht mein Metier. Aber als Laie würde ich sagen: Man hat diesem Menschen die Ohren mit flüssigem Zinn ausgegossen.«

Nun war das alles ganz gewiss außerordentlich tragisch, ein Mordfall, der den Auftakt des Altstadtfestes unter allen Umständen überschattete. Aber weder Morgenstern, dessen Familie keine dreißig Meter von Holger Hirschs Leiche entfernt feierte, noch Polizeiinspektionsleiter Manfred Huber sahen Bedarf, das Fest aus Pietätsgründen abblasen zu lassen. Das wäre ohnehin Sache des Oberbürgermeisters gewesen, aber der musste erst einmal über das Unglück informiert werden. Es bestand kein Zweifel, wie dessen Antwort lauten würde: »The show must go on« – oder irgendeine bayerische Variante dieses Satzes.

Außerdem, so gab Huber zu bedenken, hätte Holger Hirsch bei einer Absage des Festes ausgerechnet mit seinem unfreiwilligen Tod sein letztes Ziel erreicht – und das wäre doch ein zu bizarres Resultat dieses Mordes. Nein, das Fest sollte weiterlaufen, die Nachricht vom Tod des Querulanten möglichst vage veröffentlicht werden.

Klar war ohnehin: Die sonderbaren Umstände dieses Mordes waren der Inbegriff von »Täterwissen« – so etwas könne sich nur ein sehr krankes Hirn einfallen lassen, sagte Morgenstern, als er die dicken, garantiert blickdichten Vorhänge des Wohnzimmers zuzog und den Raum damit für einen Augenblick in Dunkel hüllte. Nur das Aquarium leuchtete mysteriös. Bis Morgenstern auch hier den Stecker zog. »Gute Nacht, Fische«, sagte er. »Gute Nacht, Nemo. Morgen komme ich wieder. Ehrenwort.«

***

Hecht und Morgenstern machten sich gemeinsam mit Huber und Nieberle auf den Weg zur Polizeiinspektion an der Kipfenberger Straße. Ein historischer Gebäudekomplex, der vor vielen Jahren aus dem Kasernengelände der hiesigen Bayerischen Bereitschaftspolizei herausgeschnitten worden war. Die alten Gebäude stammten noch aus den Zeiten, als das königlich bayerische Heer in Eichstätt ein Jägerbataillon angesiedelt hatte, später, im Zweiten Weltkrieg, hatte die ganze Anlage unrühmliche Bekanntheit als Kriegsgefangenenlager für britische Offiziere erlangt.

Huber berichtete den Kommissaren in seinem Büro, dass Holger Hirsch in seinem Kampf gegen das Altstadtfest von Anfang an weit übers Ziel hinausgeschossen sei. Vor Jahrzehnten habe es zuletzt Reklamationen eines Bürgers samt Lärmmessung gegeben, aber das sei seinerzeit völlig legitim und auch hilfreich gewesen. »Ich bin schon der Meinung, dass man nicht alles klaglos hinnehmen muss. Aber Holger Hirsch, dem ging es meiner Ansicht nach bloß um Schikane. Reine Bosheit.«

Von Hubers Büro aus rief Morgenstern die Anwältin Anita Beer an – die sowohl mit Festnetz- als auch Handynummer auf ihrer ziemlich schlicht gestrickten Homepage zu finden war. Auf der ersten Seite fand sich das Foto einer Bronzefigur der Gerechtigkeitsgöttin Justitia: mit verbundenen Augen – und offenherzigem Dekolleté, eine altmodische Waage in der Hand. Es war unübersehbar, dass es sich um eine Minikanzlei handelte, in der neben Beer als zweite Person nur noch eine junge Rechtanwaltsgehilfin tätig war.

Anita Beer war etwa fünfunddreißig Jahre alt, war gemäß den Infos der Homepage in Hilpoltstein aufgewachsen, hatte in Regensburg Jura studiert und sich danach umgehend selbstständig gemacht. Als Fachgebiete hatte sie Familienrecht, Erbrecht und Verwaltungsrecht mit dem Schwerpunkt Immissionsschutzrecht aufgelistet. Morgenstern wählte Beers Handynummer – und hatte die Frau sofort am Telefon.

»Das ging aber schnell«, sagte er und stellte sich vor. »Wir haben leider traurige Nachrichten. Wir kommen gerade von Ihrem Mandanten Holger Hirsch in Eichstätt. Er ist tot. Leider kein natürlicher Tod. So viel darf ich Ihnen vorneweg sagen.«

Anita Beer brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. »Holger Hirsch tot?«, stammelte sie. »Wie denn? Wann denn?«

»Fragen Sie sich nicht eher, warum denn?«, fragte Morgenstern zurück.

»Warum denn?«, schob die Anwältin nach.

»Es ging möglicherweise um seine Klage gegen das Altstadtfest. Immissionsschutz ist ja wohl ein Steckenpferd von Ihnen. Wir haben Herrn Hirschs beeindruckende Ordnersammlung gesehen. Haben Sie eine Idee, wer in der Lage wäre, Herrn Hirsch Gewalt anzutun? Massive körperliche Gewalt?«

Anita Beer lachte kurz und gallig auf. »Da kämen mir viele in den Sinn«, sagte sie. »Aber ich denke, das sollten wir nicht am Telefon besprechen.«

»Wo stecken Sie gerade? Sind Sie in Hilpoltstein?«

»Ja. Ich habe Wohnung und Kanzlei unter einem Dach.«

»Dann kommen wir zu Ihnen, mein Kollege Oberkommissar Peter Hecht und ich. Und Sie überlegen sich bis dahin, wie Sie uns weiterhelfen können.«

»Ich tue, was ich kann«, versprach die Anwältin. »Ich gehe gleich mal runter in meine Kanzlei. Alle Schriftsätze, die Herr Hirsch hat, habe ich natürlich auch.« Bevor Sie auflegte, sagte sie noch: »Da bin ich jetzt wirklich erschüttert. In meinen Grundfesten erschüttert.«

Hecht meinte hinterher trocken: »Da hat sie allen Grund dazu. So einen eifrigen Mandanten findet sie nie wieder.«

Über die Jurahochstraße fuhr Hecht im schwarzen Dienst-Audi mit leicht überhöhter Geschwindigkeit zur Autobahnauffahrt Altmühltal und von dort zwei Ausfahrten weit bis zur Ausfahrt Hilpoltstein. Da grüßte schon von Weitem ein gewaltiger weißer Kubus in der Landschaft, das Zentrallager eines weltweit tätigen Schraubenhandels. Noch fünf Kilometer idyllisch an Wiesen und Feldern vorbei, und vor den Kommissaren tat sich hinter dem Dorf Solar in einer Senke die Kleinstadt Hilpoltstein auf. Es ging steil den Berg hinab – Morgenstern hatte aus seiner Zeit in Nürnberg von diesem Anstieg schon gehört. Das war der legendäre »Solarer Berg«, der Höhepunkt des Radrennens beim jährlichen internationalen Challenge-Triathlon.

Anita Beer hatte ihre Kanzlei in der Altstadt, in einem hübschen kleinen Fachwerkhaus mit sonnengelb gestrichenen Balken. »Alles ganz schön fränkisch hier«, sagte Peter Hecht, der aus seiner Heimatstadt Schrobenhausen Fachwerkbauten kaum kannte. Hier in Hilpoltstein gab es sie in Serie – allen voran das Rathaus mit ochsenblutrot lackiertem Gebälk und jeder Menge Blumenschmuck vor den Fenstern. Und wo bei einem Altbau keine Balken zu sehen waren, waren sie gewiss nur unter einer dicken Putzschicht versteckt und harrten ihrer Freilegung durch verständnisvolle Bauherren – im besten Fall.

Hecht parkte den Audi in der Marktstraße direkt vor der Kanzlei. Anita Beer erwartete sie schon in der Tür, eine klein gewachsene, hagere Frau, das dunkelbraune Haar mit Pagenschnitt. Sie trug schwarze Jeans und eine weiße Bluse. Dazu flache schwarze Schuhe. Ihre Anwaltsuniform, vermutete Morgenstern.

»Kommen Sie rein«, sagte sie und deutete voll Besitzerstolz auf ihr Anwesen. »Klein, aber mein! Und hinterm Haus habe ich bis zur Stadtmauer sogar einen kleinen Garten.«

»Prima«, lobte Morgenstern. »Aber wir sind leider nicht das Redaktionsteam von ›Schöner wohnen‹.«

Damit war der Ton gesetzt, Beer machte die rot geschminkten Lippen ganz schmal.

»Ganz wie Sie wollen«, sagte sie und bat die Herren ins Haus. Im niedrigen Erdgeschoss ging es über einen breiten, mit Ziegeln gepflasterten Flur in die Kanzlei, die aus gerade mal zwei Zimmern zu bestehen schien.

Beer hatte einen Glaskrug voll Leitungswasser mit ein paar Zitronenscheiben bereitgestellt, dazu drei Gläser. Man nahm um einen modischen Besprechungstisch Platz, die gesamte Möblierung wirkte bemüht modern, war aber wohl günstig bei Ikea geordert worden, als Beer sich zur Selbstständigkeit entschlossen hatte. Die Freischwingerstühle mit ihrem glänzenden Chromgestell und der schwarzen Kunstlederbespannung ächzten, als die Kommissare darauf Platz nahmen.

»Schön, dass Sie sich so spontan Zeit für uns nehmen konnten«, sagte Morgenstern. »So spät am Freitag, das ist nicht selbstverständlich.«

»Doch, das ist selbstverständlich. Das bin ich …«, Anita Beer zögerte kurz und kramte nach einem Papiertaschentuch, mit dem sie sich dann kurz über die Augen wischte, »das bin ich Herrn Hirsch schuldig. Wie Sie schon festgestellt haben, hatten wir viel und oft miteinander zu tun. Wir haben manche Schlacht gemeinsam geschlagen.«

Peter Hecht federte auf seinem Freischwingerstuhl hin und her und ließ seinen Montblanc-Füllfederhalter in Taschenspielertrick-Manier zwischen den Fingern kreiseln. »Wie ist Herr Hirsch denn ausgerechnet auf Sie gekommen?«

Beer lächelte bitter. »Wenn Sie so wollen: Ich war jung und brauchte das Geld. Ich kam damals, das muss vor zehn Jahren gewesen sein, frisch von der Uni, hatte gerade mein zweites Staatsexamen geschafft, war Volljuristin. Und hatte hier in der Gegend meinen allerersten Fall. Da klagte ein Anwohner gegen den örtlichen Kriegerverein, wegen der Salutkanone.«

»Wie bitte?«, fragte Hecht. »Wegen des Böllerns?«

»Genau, die schießen da, wenn einer von den allerletzten Weltkriegsveteranen beerdigt wird, am offenen Grab drei Salutschüsse ab. Zum Lied vom ›Guten Kameraden‹. Und mein Mandant wollte das nicht hinnehmen. Er ist glühender Pazifist. Außerdem hat er Herzprobleme, hat einen Herzschrittmacher und wohnt direkt neben der Friedhofsmauer. Da wird das schnell lebensgefährlich, wenn neben dir eine Kanone abgeschossen wird. Wir haben vor Gericht einen Vergleich erzwungen.«