Altmühlwölfe - Richard Auer - E-Book
NEUHEIT

Altmühlwölfe E-Book

Richard Auer

0,0

Beschreibung

Schräg-sympathische Ermittler, falsche Fährten und eine gute Portion Humor. Nach Jahrhunderten sind die Wölfe ins Altmühltal zurückgekehrt und sorgen für Aufregung in der Region. Als ein von Bisswunden übersäter Toter entdeckt wird, scheint die Situation eindeutig. Doch die Oberkommissare Mike Morgenstern und Peter Hecht haben Zweifel an der Geschichte vom bösen Wolf. Unter kniffligen politischen Vorzeichen müssen sie herausfinden, wer in den Jurawäldern tatsächlich sein Unwesen treibt – und legen sich auf die Lauer.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 360

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Richard Auer, Jahrgang 1965, studierte Diplom-Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt und hielt der Stadt auch danach die Treue. Mit seiner Frau sowie Kater Lorenzo wohnt er mitten in der barocken Altstadt. Das Paar hat drei Söhne. Auer arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Lokalredakteur im Altmühltal und in seiner näheren Umgebung.

www.richardauer.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Shutterstock/andreiuc88

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-263-5

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

EINS

Morgenstern hatte keine Lust. Überhaupt keine. Wie hatte ihm das bloß passieren können? Wie hatte ihnen das bloß passieren können? Ihm, Kriminaloberkommissar Mike Morgenstern, und seinem Kollegen, Oberkommissar Peter Hecht. Irgendwas war da schrecklich schiefgelaufen. Dass sie als Duo nun in diesem Bus saßen, mit Bamberger Kfz-Kennzeichen, umgeben von aufgekratzten jungen Männern und Frauen, die alle noch grün hinter den Ohren waren, wie Morgenstern fand. Die anderen, das waren allesamt Polizeibeamte in Ausbildung, Bereitschaftspolizistinnen und -polizisten aus Eichstätt. Und allesamt trugen sie Kampfanzug. Bloß Hecht und Morgenstern nicht, die waren in schnittlauchgrüne Trainingsanzüge gekleidet.

Das Mordermittlerduo der Ingolstädter Kriminalpolizei war auf dem Weg ins Walderlebniszentrum Schernfeld. Keine zehn Kilometer von Eichstätt entfernt, war das eine jener pädagogischen Einrichtungen, die den bayerischen Kindern verklickern sollten, dass so ein Wald schon irgendwie eine tolle und wichtige Sache sei. Auf etlichen Pfaden konnten sie hier die Natur »spüren« und »Mikroabenteuer« erleben, wie das im modernen Freizeitmanagement hieß.

Irgendwer war aber eines Tages auf die Idee gekommen, man könnte doch auch die bayerische Polizei auf den Holzweg schicken. Zum Teambuilding. Und als Stresstest. Nur Einfaltspinsel konnten glauben, dass es sich dabei um einen harmlosen Waldspaziergang handelte. Morgenstern war es flau im Magen. Er war schuld. Er hatte das verbockt.

Kein Zweifel: Die beiden Kriminaloberkommissare und Mordermittler hatten sich in ihrer Bürogemeinschaft im Polizeipräsidium Oberbayern-Nord in Ingolstadt in jüngster Zeit ein wenig auseinandergelebt. Um genau zu sein: Oberkommissar Hecht aus Schrobenhausen hatte wie jedes Jahr unmittelbar vor Ostern damit begonnen, im großen Stil Spargel vom Bauernhof seiner Schwester zu verticken. Das ganze Präsidium zählte zu Hechts Kundschaft, das winzige Büro war zur Markthalle mutiert. Vor knapp einer Woche war Morgenstern der Kragen geplatzt, als eine Kundin sich bei der Transaktion besonders umständlich angestellt und mühsam eine Unmenge an Münzen zusammengekramt hatte, um Hecht auszubezahlen.

Morgenstern hatte erst den Kollegen Hecht, dann die Frau beschimpft. »Ich habe keine Lust mehr auf dieses Großmarkt-Geschachere!« Seit Wochen könne er hier nicht mehr ordentlich arbeiten, und überhaupt stelle sich für ihn die Frage, wer in diesem ganzen vermaledeiten Polizeipräsidium Oberbayern-Nord an der Esplanade in Ingolstadt noch etwas arbeite. »Alles Sesselfurzer hier!«

Das Timing von Morgensterns Tirade war freilich denkbar ungünstig. Es war nämlich zum einen so, dass die abgebürstete und nun etwas verdattert wirkende Spargelkundin niemand anders war als die Vorzimmerdame des Polizeipräsidenten Leo Brandmayer, die ihren Einkauf im Auftrag des Herrn erledigte. Hinzu kam, dass der besagte Polizeipräsident drei Minuten zuvor, da war die Chefsekretärin schon auf dem Weg zu Hecht, einen Anruf von seiner Gattin erhalten hatte. Es hätten sich für den geselligen privaten Abend in Brandmayers Bungalow im gutbürgerlichen Ingolstädter »Alten Westviertel« ein paar zusätzliche Gäste angekündigt, die Spargelmenge müsse also aufgestockt werden. Kurzum: Der Herr Präsident setzte sich nun persönlich in Bewegung, mitten in Morgensterns Philippika stand plötzlich der oberste Vorgesetzte im Türrahmen. Und hörte schweigend zu. Es dauerte lange, viel zu lange, bis Morgenstern an Hechts Augenverdrehen bemerkte, dass Gefahr im Verzug war, und er sich endlich, endlich umwandte.

»Interessant«, war das Erste, was Polizeipräsident Brandmayer schließlich sagte. Dann setzte ein äußerst beklemmendes Schweigen ein, das nur als Ruhe vor dem Sturm gewertet werden konnte.

So war es: Brandmayer faltete Mike Morgenstern nach allen Regeln der patriarchalischen Personalführung zusammen, verbat sich solcherlei Ausfälligkeiten gegenüber Kolleginnen und Kollegen, wies in einem kleinen, hässlichen Seitenhieb darauf hin, dass Oberkommissar Morgenstern »bekanntlich« aus gutem Grund einst von Nürnberg nach Ingolstadt versetzt worden sei. Und regte schließlich an, das Ermittlerteam Hecht-Morgenstern möge bei allernächster Gelegenheit an einer polizeiinternen Teambuilding-Maßnahme teilnehmen.

»Hier hapert’s ja ganz gewaltig am zwischenmenschlichen Umgang! Wie wollen Sie da zusammen Ihre Fälle lösen? Sie fahren umgehend ins Walderlebniszentrum. Ich will Sie beide auf der Jakobsleiter sehen. Ich gebe gleich Polizeidirektor Schneidt Bescheid, damit er alles in die Wege leitet.«

Und damit war das entschieden und nicht mehr abzubiegen. Da half es auch nichts, dass Hecht dem Präsidenten das Zusatzkilo Spargel schenken wollte. Ganz im Gegenteil wertete der oberste Chef das als billigen Bestechungsversuch und bezahlte das Schrobenhausener Edelgemüse nun ebenso umständlich mit Klimpergeld, wie das zuvor schon seine Sekretärin getan hatte.

»Was ist jetzt diese Jakobsleiter?«, fragte Morgenstern besorgt, als die unliebsame Kundschaft endlich abgezogen war.

Hecht wusste es auch nicht.

Aber da bog auch schon Antonia Grabsky, ihre junge Kollegin, um die Ecke. Die konnte es ihnen erklären. Jeder junge bayerische Polizist müsse einmal im Rahmen seiner Ausbildung in das besagte Walderlebniszentrum, verkehrsgünstig im Herzen des Freistaats gelegen. Da gebe es eine wackelige Kletterkonstruktion, die sich nur im Team erklimmen lasse. »Acht Meter hoch, mindestens«, sagte Grabsky.

»Warst du schon oben?«, wollte Morgenstern wissen.

»Ja, vor ein paar Jahren.« Sie bedachte ihre beiden Kollegen mit einem mitleidsvollen und zugleich besorgten Blick und wünschte ihnen dann ohne weiteren Kommentar »Hals- und Beinbruch«.

Das Walderlebniszentrum Schernfeld lag am Eingang eines riesigen Staatsforstgebiets, das seit vielen hundert Jahren Altbayern von Franken trennte. Der Polizeibus hielt an einem geschotterten Parkplatz, im Gänsemarsch marschierten Alt- wie Jungpolizisten auf einem breiten Forstweg ein kurzes Stück in den Wald, Richtung Norden. Morgenstern kannte das Gelände. Er war mit der Familie schon mal dort, aber da war es nur ein harmloser Waldlehrpfad gewesen.

Kein Vergleich mit dem, was Morgenstern nun zu sehen bekam: Der Ausbilder führte seine Hundertschaft samt den zwangsverpflichteten Gästen ins Gelände vor ein riesiges Gerüst aus Baumstämmen. Hecht und Morgenstern sahen sich besorgt an. Eingehängt in ein massives Gestell waren da vier Balkenlagen übereinander im Abstand von knapp zwei Metern an Seilen befestigt. Bis hinauf in eine schwindelnde Höhe.

»So, meine Damen und Herren: Stellen Sie sich einfach vor, Sie wären ein Eichhörnchen …« Der Ausbilder beliebte zu scherzen, während das erste Duo, zwei ausgesprochen sportlich und muskulös wirkende Jungpolizisten, Klettergurte anlegten, Helme aufsetzten und mit Seilen gesichert wurden. »Los geht’s!«

Die beiden hatten sich offenbar gründlich auf die Herausforderung vorbereitet und kannten die Strategie, mit der die grotesk weit auseinanderliegenden »Sprossen« dieser Leiter überwunden werden könnten. Man musste den Kollegen oder die Kollegin rigoros als Steighilfe benutzen, sich gegenseitig ziehen, schieben, rittlings auf dem nächsten Balken Platz nehmen … Die beiden waren im Nu oben.

»Scheint irgendwie machbar«, sagte Morgenstern zu Hecht. Der blickte grimmig nach oben, wo in diesem Moment einer der Jungspunde eine ganz oben befestigte Glocke zum Bimmeln brachte. Unter Applaus wurden die beiden Sportskanonen an ihren Seilen auf den festen Waldboden hinabgelassen.

Hecht drängte sich nach vorn zum Ausbilder. »Ich würde vorschlagen, dass mein Kollege und ich gleich als Nächste weitermachen. Dann haben wir das hinter uns.«

»Wenn ihr meint … Gerne.« Und schon stellte der Ausbilder dem neugierigen Nachwuchs die beiden Ermittler vor: »Wir haben hier zwei altgediente Kollegen von der Kriminalpolizei, die auf eigenen Wunsch ihre Teamfähigkeit erproben wollen. Wir wissen alle, dass unser Beruf ständig Situationen bereithält, in denen es darum geht, sich bedingungslos aufeinander verlassen zu können, Nervenstärke zu bewahren, aber im Fall der Fälle auch heil nach Hause zu kommen.«

»Das mit dem eigenen Wunsch stimmt nicht so ganz«, murmelte Morgenstern, während sein Klettergurt am Seil eingehakt wurde. Dann machten sich die beiden unter den Augen von fünfunddreißig Jungpolizisten auf den Weg nach oben.

Es blieb beim Versuch. Schlimmer noch: Die Kletteraktion wurde zum Fiasko. Die beiden schafften es mit allergrößter Mühe und unter grotesken Verrenkungen auf Balken Nummer zwei, dann war für sie bereits Endstation. Zwei Männer in ihren frühen Fünfzigern auf verlorenem Posten. Morgenstern saß auf dem Balken, Hecht stand neben ihm, beide komplett außer Puste. Morgenstern hatte bereits zittrige Knie, den klassischen »Knieschnackler«, außerdem fiel ihm – zu spät – ein, dass er eigentlich schon immer unter Höhenangst gelitten hatte.

Unter den Zuschauern auf festem Grund und Boden setzte allmählich Unruhe ein, weil das alles doch sehr, sehr lange dauerte. Hecht reichte Morgenstern die Hand, in der Hoffnung, der Kollege könne irgendwie aus seiner Sitzposition nach oben finden. Aber daraus wurde nichts. Die beiden Helden kamen keinen Meter weiter, begannen, sich gegenseitig zu beschimpfen, und mussten zur Erheiterung des Nachwuchses schließlich aufgeben. Hecht hielt sich den maladen Rücken, Morgenstern war völlig verkrampft.

»Was treiben Sie beide denn üblicherweise an Sport?«, fragte der Ausbilder argwöhnisch, als man die Ermittler mit vereinten Abseilkräften wieder aus gerade mal drei Metern auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht hatte.

»Boule«, sagte Morgenstern nach einigem Nachdenken.

»Und Sie, Herr Hecht?«

»Schach.«

»Habe ich mir fast gedacht. Wenn ich mir das so ansehe, entdecke ich doch allerhand Optimierungsmöglichkeiten.« Er blickte die Kommissare fröhlich an und wedelte mit seinem Handy: »Das Video habe ich übrigens schon an den Polizeipräsidenten geschickt.«

»Wie bitte?« Morgensterns Pulsschlag ging gegen jede kardiologische Wahrscheinlichkeit noch weiter nach oben.

»Das hat er bei mir angefordert. Ich dachte, das wäre mit Ihnen abgestimmt. Sei’s drum. Wie heißt’s in Bayern immer so schön? Ober sticht Unter.« Dann zeigte er sich erfreulich generös: »Ich erlasse euch im Gegenzug die nächsten Stressbewältigungsübungen – da müsste man mit verbundenen Augen über ein wackliges Seil balancieren, unter sich einen schlammigen Tümpel. Da sehe ich bei euch beiden buchstäblich schwarz.«

Die beiden machten sich auf den Rückweg zum Bus. Trödelnd, schimpfend. Auf halbem Weg entdeckte Hecht etwas abseits ein rätselhaftes eingezäuntes Gärtchen oder was immer das sein mochte. Mit einer Infotafel – und das war für Hecht das entscheidende Signal, sich die Sache näher anzusehen. Morgenstern blieb muffelig auf dem Weg stehen. Sollte sich Hecht, dieses berüchtigte »Gscheidhaferl«, doch allein schlaumachen, er wusste schon lange, dass der Kollege einen bildungsbürgerlichen Tick hatte.

»Das musst du dir anschauen«, rief Hecht schließlich.

»Was ist es denn?«, fragte Morgenstern.

»Eine alte Wolfsfalle.«

»Hä?« Morgenstern trottete an. Tatsächlich: Der Zaun umgab eine Art Brunnen, einen kreisrunden, über drei Meter tiefen Schacht, sorgsam aus Steinen geschichtet. In der Mitte war ein Pfahl aufgerichtet – mit einem kleinen Podest, auf dem in aller Unschuld ein hölzernes Schaf thronte.

»Eine historische Wolfsfalle«, wiederholte Hecht.

»Na und?«

»Ist doch interessant«, beharrte Hecht und rekapitulierte wie ein Einserschüler die kargen Informationen, die er wenige Augenblicke zuvor der Infotafel entnommen hatte. »Die haben hier früher mit diesem Ding da Wölfe gefangen. Eine Grube, oben mit ein paar dünnen Zweigen abgedeckt, drüber ein lebendes Schaf, das die ganze Nacht gottserbärmlich vor sich hin blökt. Und wenn dann ein Wolf kommt und will das Schaf auf seinem Podest schnappen, dann fliegt er in die Grube. Aus die Maus.«

Morgenstern fiel ein altes Kinderlied ein, das er prompt zu singen begann: »Ist ein Wolf in ’n Brunn’ gefallen, hab ihn hören plumpsen, wär er nicht hineingefallen, wär er nicht ertrunken … Hab ich meinen Jungs immer vorgesungen, als die noch klein waren.«

»Heißt aber eigentlich: Ist ein Mann in ’n Brunn’ gefallen«, behauptete Hecht. »Es war ein Mann … Passt dann auch wunderbar zum Sprichwort ›Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein‹.«

»Ach, Spargel, tu mir einen Gefallen und rutsch mir doch den Buckel runter mitsamt Wolf und Mann – und vor allem mitsamt unserem Polizeipräsidenten. Soll der doch selber diese Leiter hochkraxeln.«

Hecht nickte. »Am besten zusammen mit unserem Chef Adam Schneidt. Dann könnten sie mal zeigen, wie teamfähig sie selber sind, unser Kriminaldirektor und der Herr Präsident.«

Es schien so, dass zumindest das Team Hecht-Morgenstern in Not, Niederlage und Blamage und vor allem mit Blick auf gemeinsame Gegner wieder enger zusammengerückt war. So gesehen hatte sich das Konzept der Jakobsleiter auch in diesem kniffligen Fall tadellos bewährt.

***

Am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass der Polizeipräsident einen ziemlich schrägen Sinn für Humor hatte. Er hatte das kurze Video aus dem Walderlebniszentrum, dieses Dokument des Scheiterns, ins Intranet der Behörde einstellen lassen, verbunden mit dem Hinweis, jeder Einzelne im Präsidium möge angesichts dieser sportlichen »Glanzleistung« eine kleine private Gewissenserforschung betreiben, wie es um die eigene Fitness bestellt sei.

»Der kriegt von mir nie wieder Spargel«, echauffierte sich Hecht, während er die vorbereiteten Kilotüten für die tägliche Abholung im Büro sortierte. Morgenstern ging ihm dabei, ohne dass er das geplant hatte, zur Hand, beschriftete die weißen Plastikbeutel mit schwarzem Edding-Marker. Für die Namensliste der Kunden verwendete er das Flipchart, das ihnen Kriminaldirektor Schneidt vor Ewigkeiten ins Büro gestellt hatte – damit sie dort bei ihren Ermittlungen die Verdächtigen und deren Beziehungen »visualisieren« könnten.

»Momentan gibt’s nichts zu visualisieren«, stellte Hecht nüchtern fest. »So ruhig war’s schon lange nicht mehr. Das hat schon fast etwas Beunruhigendes. Ich sage dir eines: Da liegt was in der Luft.«

»Nun male den Teufel nicht an die Wand«, sagte Morgenstern und begann unmittelbar darauf, mit seinem Filzstift auf die Namensliste einen Strichmännchen-Beelzebub mit gehörntem Kopf und einem Dreizack in der weit ausgestreckten Hand zu zeichnen. Gerade als er ihm – »Punkt, Punkt, Komma, Strich« – ein breites Grinsen ins Gesicht malte, flog unangekündigt die Tür auf: Kriminaldirektor Adam Schneidt.

»Ich habe Arbeit für Sie!«

»Wer sagt’s denn«, meinte Hecht zu Morgenstern.

Schneidt warf einen Blick auf das Strichmännchen mit der Teufelsgabel und sah dann Morgenstern, der immer noch den Edding in der Hand hielt, stirnrunzelnd an.

»Gerade eben hat man in einem Waldstück bei Kipfenberg eine Leiche gefunden. Ein Mann, der da alleine Waldarbeiten durchgeführt hat.«

»Ein Unfall«, sagte Morgenstern. »Ich kann es nicht glauben, dass es immer noch Leute gibt, die mutterseelenallein mit der Motorsäge in den Wald gehen.«

Schneidt legte einen Finger vor den Mund und machte »Psch«. »Vielleicht lassen Sie mich einfach mal ausreden. Dieser Mann ist übel zugerichtet. Das ist alles ziemlich mysteriös.«

»Wie denn?«, fragte Morgenstern.

»Ich habe gerade im Moment erst die Alarmierung von unserer Polizeiinspektion in Eichstätt bekommen. Der Mann kommt aus Arnsberg und ist nach dem Frühstück in seinen Wald gefahren. Zum Mittagessen ist er nicht nach Haus gekommen, ans Handy ist er nicht gegangen. Also ist seine Frau selbst rausgefahren, mit einem Nachbarn, der sie begleitetet hat. Da haben sie ihn gefunden. Und jetzt ist da draußen Großeinsatz.«

»Wegen eines Unfalls?«

»Himmel hilf! Der Mann ist da draußen totgebissen worden. Von einem Tier. Jedenfalls deutet vieles darauf hin. Er ist an der Kehle schwer verletzt und verblutet. Mehr weiß ich noch nicht.«

»Ein Wolf …«, dachte Hecht laut nach. »Kann es sein, dass das ein Wolf war?«

»Möglich. Leider«, sagte Schneidt. »Ich bin ja selbst Jäger. Aber Sie beide wissen bestimmt genauso gut wie ich, dass wir inzwischen im Altmühltal schon zwei nachgewiesene Wolfsrudel haben.«

Die Oberkommissare nickten. Die Lokalzeitung war voll mit Berichten über die Rückkehr der Wölfe.

»Das eine gibt es schon seit Jahren, das streift durch die Wälder westlich von Eichstätt. Und das zweite hat sich mehr im Osten angesiedelt. Im Köschinger Forst und in seiner Umgebung. Kommen Sie mal mit, ich zeige Ihnen das auf meiner Karte.«

Die Ermittler ließen Spargel und Flipchart liegen und stehen und folgten Adam Schneidt in dessen Chefbüro. Hinter seinem überbordenden Schreibtisch samt Kunstledersessel hing eine große Karte der Region Ingolstadt. Mit einem Bleistift deutete Schneidt aufs Papier. »Hier, gleich im Norden von Ingolstadt, wird’s immer waldiger, dazwischen locker eingestreut die Dörfer mit ihren Äckern und Feldern. Ideales Gebiet für die Jagd, ideales Gebiet für Wölfe.«

Wie Napoleon vor der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt kringelte der Kriminaldirektor die beiden Wolfsreviere mit seinem Bleistift ein – und deutete dann auf eine Stecknadel mit rotem Kopf, die er bereits bei Gungolding in die Karte gesteckt hatte. »Hier ungefähr liegt der Tote. Sie beide nehmen mit der Inspektion in Eichstätt Kontakt auf, fahren sofort dorthin und erstatten mir dann umgehend Bericht. Wenn das tatsächlich ein Wolf gewesen sein sollte – dann gnade uns Gott.«

»Warum?«, fragte Morgenstern in aller Unschuld.

»Warum?« Schneidts Stimme überschlug sich fast. »Warum? Weil seit ein paar hundert Jahren in Deutschland kein Mensch mehr einem Wolf zum Opfer gefallen ist. Weil dann ganz Europa auf uns schaut. Weil uns die Bevölkerung auf die Barrikaden geht. Darum! Also raus jetzt!«

Die Kommissare machten besorgte Mienen.

»Vielleicht war’s ja ein verwilderter Hund«, sagte Schneidt, der ihnen bis zur Bürotür gefolgt war.

»Oder doch ein Unfall«, meinte Morgenstern. »Ich bin unbedingt und immer für die Unfallversion.«

»Sie sind mir vielleicht so ein Mordermittler …«, stöhnte Schneidt.

»Mord? Wenn’s ein Wolf war, war’s kein Mord.«

»Müssen Sie eigentlich immer das letzte Wort haben, Morgenstern?«

»Warum kommen Sie eigentlich nicht selbst mit, Herr Schneidt?«, wollte Morgenstern wissen. Als Jäger müsse er doch mehr als jeder andere an dieser Sache interessiert sein.

Doch er kannte die Antwort bereits, auch wenn er die so nie aus dem Munde seines Vorgesetzten hören würde. Adam Schneidt vertrug den Anblick von Toten gar nicht gut und mied ihn wie der Gottseibeiuns das Weihwasser. Erstaunlich eigentlich für einen Mann, der angeblich das edle Waidwerk betrieb, das Handwerk der Jägerei. Aber offenbar verstand Schneidt es irgendwie, fein säuberlich zwischen dem Tod von Mensch und Tier zu trennen. Falls er überhaupt ein richtiger Jäger war. Morgenstern hatte den Verdacht, dass der Chef schon lange nicht mehr auf die Pirsch gegangen war – dafür aber umso lieber mit seinesgleichen an honorigen Ingolstädter Stammtischen saß und sich aufs Schwadronieren im Jägerlatein beschränkte.

Und so ging Schneidt erst gar nicht auf Morgensterns Hinweis ein. Nein, bekundete er, einer müsse hier schließlich im Präsidium Stallwache halten und die Koordination übernehmen. »Ich bin sicher, dass sich da draußen schon bald die gesamte deutsche Presse auf den Zehen herumtrampelt.«

Ganz so schlimm war es dann freilich nicht, als Hecht und Morgenstern endlich am Unfallort in den Gungoldinger Wäldern angekommen waren. Sie hatten sich erst ein paarmal verfahren, obwohl ihnen die Kollegen von der Inspektion Eichstätt im Detail erklärt hatten, wie sie hinkommen würden, über Hofstetten hinab Richtung Altmühltal. Ein Aktiver der Freiwilligen Feuerwehr Gungolding hatte ihnen an der entscheidenden Einfahrt zum richtigen Forstweg sogar noch die Richtung gewiesen, und trotzdem hatten sie sich verfranzt.

Der Ort, an dem der Tote gefunden worden war, lag tief im Wald an einem von Felsen übersäten Steilhang. Ein alter Buchenmischwald wie aus Rotkäppchens Zeiten, durchsetzt mit einzelnen Fichten. Ein Rettungswagen des Roten Kreuzes, ein Notarztwagen, ein Feuerwehr-Vielzweckfahrzeug, ein Streifenwagen der Polizeiinspektion Eichstätt, mehrere Privatautos: Der Forstweg war rechts wie links gesäumt von einer Fahrzeugflotte.

Der Leiter der Eichstätter Polizeiinspektion, Manfred Huber, entdeckte die Kriminalkollegen als Erster und ging auf sie zu. »Nicht zu dicht ran, würde ich empfehlen«, sagte er zur Begrüßung. »Das ist wirklich nichts für empfindliche Gemüter. Ein paar von den Leuten haben sich schon übergeben. Da muss das Kriseninterventionsteam ganze Arbeit leisten.«

»So schlimm?«, fragte Hecht.

»Schlimmer. Inzwischen haben wir die Leiche abgedeckt. Aber überall ist noch Blut.«

»Wer ist es?«

»Ganz eindeutig der Mann, dem der Wald hier gehört. Ein Christian Bergmüller aus Arnsberg. Gleich hier aus dem nächsten Dorf. Seine Frau hat ihn identifiziert. Dann ist sie zusammengeklappt. Nervenzusammenbruch. Ich habe sie in die Klinik Kösching bringen lassen.«

»Und er ist Bauer? Ein Landwirt?«, fragte Hecht.

»Nein, ist er nicht. Er hat eigentlich mit Land- und Forstwirtschaft gar nichts am Hut. Nach allem, was ich bisher erfahren habe, ist er erst seit fünf oder sechs Jahren in Arnsberg. Er hat sich da ein schönes großes Haus gekauft und kurz darauf dieses Waldstück. Das muss ein Heidengeld gekostet haben. Das war für ihn wohl mehr ein Hobby. Eine Liebhaberei. Aber das werdet ihr gleich feststellen, wenn ihr ihn seht.«

»Aha?«, sagte Morgenstern ratlos.

»Folgt mir.« Inspektionsleiter Manfred Huber lotste Morgenstern und Hecht zu der Stelle, an der der Tote unter einer golden glänzenden Plane lag. Er beugte sich vor und zog die Plane ein Stück zur Seite.

Zunächst kamen nur die Beine zum Vorschein. Christian Bergmüller hatte rustikale Bergschuhe bei der Waldarbeit getragen. Darüber nicht etwa die übliche dunkelgrüne Forstarbeiterhose mit integriertem Schnittschutz, sondern eine Hose aus hellem, grobem gewalkten Wollstoff. Darüber eine Lodenjacke mit Hirschhornknöpfen. Er wirkte damit auf Morgenstern wie ein altmodischer Bergbauer aus dem Berchtesgadener Land – oder wie ein britischer Aristokrat auf Moorhuhnjagd. Jedenfalls entsprach seine Ausstattung in keiner Weise dem, was man sich unter einigermaßen korrekter Arbeitssicherheit vorstellte. Eher schien es so, als habe sich da jemand sehr bewusst in Szene gesetzt.

Manfred Huber nickte den beiden Kriminalbeamten zu, warf ihnen einen vielsagenden, warnenden Blick zu, dann beugte er sich erneut zu dem Toten und zog die Plane gänzlich zur Seite. Morgenstern warf nur einen einzigen Blick auf den Mann, dann erfasste ihn ein Schaudern: Gänsehaut am ganzen Körper. Er wandte sich ab. Peter Hecht hatte die etwas besseren Nerven und blickte wie gebannt auf den Toten.

»Ich decke ihn wohl besser wieder zu«, sagte Huber. »Jedenfalls habt ihr beide jetzt eine Vorstellung davon, was hier passiert ist.«

»Wohl wahr«, sagte Morgenstern. »Das ist ja fürchterlich.«

»Du hast ja gar nicht richtig hingesehen«, sagte Hecht.

»Mir reicht, was ich gesehen habe. Die Kehle …« Er sprach nicht weiter, sondern schluckte schwer.

»Ja, das ist der klassische Kehlbiss«, bestätigte Huber. »Ein Wolf, das steht für mich außer Frage. Wir haben hier in der Vergangenheit schon ein paar Angriffe auf Schafe und Damhirsche gehabt, in ihren Gehegen. Ich war jedes Mal vor Ort. Das sah leider ziemlich ähnlich aus. So machen das die Wölfe. Was mich allerdings wundert, ist, dass der Angreifer dann nicht weitergemacht hat.«

»Vielleicht ist er gestört worden«, überlegte Morgenstern. Und fügte ein gemurmeltes »Gott sei Dank« an.

»Das wollen wir uns alle gar nicht erst vorstellen«, entschied Huber.

»Schauen wir, dass wir den Mann nach München schaffen, in die Rechtsmedizin«, entschied Morgenstern. »Und vorher muss die Spurensicherung noch eine ordentliche Dokumentation machen.« Er schüttelte sich. »Ein Wolf, der Menschen angreift! Ich fasse es nicht. Das wird ein heißer Sommer.«

Von hinten drängte sich ein Mann an den Leichnam heran und machte Anstalten, die Plane erneut wegzuziehen, um sich Christian Bergmüllers fürchterliche Verletzungen ganz genau anzusehen.

»Geht’s Ihnen noch gut?«, fragte Morgenstern überrascht. »Was machen Sie denn da?«

Huber übernahm die Vorstellung. »Das ist der Herr Holzgruber. Der Wolfsbeauftragte für den Landkreis Eichstätt. Ich habe ihn vorhin direkt angerufen. Er ist bei uns der maßgebliche Experte für alles, was mit Wölfen zu tun hat.«

»Für ganz Oberbayern, ich bin für ganz Oberbayern zuständig«, stellte Adam Holzgruber mit Stolz in der Stimme klar.

»Und: Was sagen Sie über unseren Toten? So als Experte?«

»Ich bin ratlos. Es sieht tatsächlich nach einem Wolfsangriff aus. So etwas hätte ich mir bis heute auch mit viel Phantasie nicht vorstellen können. Aber das muss man natürlich mit einer Genprobe überprüfen.«

Holzgruber, ein etwa vierzigjähriger Mann mit langem blondem Haar, das in einem kleinen Pferdeschwanz mündete, wischte sich über die Augen. »Ich habe ja schon viel gesehen, aber das hier sprengt alle Dimensionen. Ich habe keinen Schimmer, wie das passieren konnte. Am helllichten Tag … Wenn es ein Wolf war, dann war er vielleicht krank, verletzt. Ein Tier, das nicht mehr regulär auf Jagd gehen kann und sich deswegen an einem Menschen vergreift. Das könnte eine Antwort sein. Oder ein Tier, das an Tollwut erkrankt ist? Ein normaler, gesunder Wolf macht so etwas nicht.«

»Wenn Sie das sagen …« Morgensterns Skepsis angesichts dieser Spekulationen war unüberhörbar. »Ein normaler Wolf«, wiederholte er. »Was ist schon normal?«

»Auf jeden Fall müssen wir alle gemeinsam aufpassen, dass jetzt keine Kampagne gegen die Wölfe einsetzt«, sagte der Berater.

»Wir alle gemeinsam?«, wiederholte Morgenstern auch diese Formulierung. »Ich mache hier überhaupt nichts gemeinsam mit Ihnen. Ich mache einfach meinen Job. Wir schauen uns die Sache gründlich an, sichern Spuren, warten aufs Ergebnis der Rechtsmedizin, und dann ist der Fall für uns erledigt. Alles andere ist Politik. Da halten wir uns raus.« Dann blickte er ins Rund der Anwesenden. »Kann uns vielleicht jemand etwas über Herrn Bergmüller sagen? Kennt ihn vielleicht jemand etwas genauer? Ich denke, dass es noch etwas dauert, bis wir mit seiner Frau sprechen können.«

Es war der Bürgermeister von Kipfenberg, der sich zu Wort meldete, sich kurz vorstellte und dann empfahl, ein wenig Abstand zu den anderen zu halten. Hecht, Morgenstern und der Rathauschef gingen gemeinsam Richtung Autos.

»Christian Bergmüller«, seufzte der Bürgermeister und lehnte sich an den Dienst-Audi, mit dem die Ermittler gekommen waren. »Eigentlich kommt er aus der Frankfurter Gegend. Aber dann hat er beruflich hier bei uns zu tun gehabt. Mir hat er mal gesagt, dass er sich dabei ins Altmühltal ›schockverliebt‹ hat. Seltsames Wort, nicht wahr. Aber es war anscheinend Liebe auf den ersten Blick. Ist ja auch wirklich schön bei uns.«

»Bis auf die Wölfe«, sagte Morgenstern. »Was hat er denn beruflich gemacht?«

»Er war Wirtschaftsberater. Bei einer großen Firma in Frankfurt. So ganz klassisch, mit Büro im Wolkenkratzer. ›Mainhattan‹ hat er immer gesagt.« Der Bürgermeister schwieg eine Weile, räusperte sich dann. »Das ist schon eine ganz andere Welt als die unsrige, in der der Bergmüller unterwegs war. Da ist das große Geld daheim. Und er hat wohl richtig gut verdient. Einen Bonus nach dem anderen. Das weiß ich, weil er damit gerne mal kokettiert hat. Damit so ein Bauernbürgermeister wie ich auch weiß, wo der Barthel den Most holt.«

»Deswegen hat er sich auch das Stück Wald kaufen können«, sagte Hecht, und Morgenstern glaubte, Neid aus der Stimme seines finanziell nicht auf Rosen gebetteten Kollegen herauszuhören.

»Den Wald und ein fix und fertig renoviertes, tolles historisches Jurahaus in Arnsberg. Der Vorbesitzer hat seine ganze Energie reingesteckt und dann am Ende doch alles verloren. Bei dem ging nämlich durch die ganze jahrelange Renoviererei die Ehe in die Brüche, es war ein relativ junges Paar mit zwei kleinen Kindern. Und dann mussten sie verkaufen. Das ist damals über einen Nobelmakler gelaufen – und da hat Bergmüller zugeschlagen. Für ihn aus seiner Frankfurter Perspektive war das wahrscheinlich ein Schnäppchen. Ich kann mich noch gut an die Anzeige im Internet erinnern: ›Romantik pur im Altmühltal – gepflegter Luxus in atemberaubender Landschaft‹. Seitdem haben wir den Bergmüller hier bei uns in Arnsberg.«

»Das klingt jetzt aber nicht gerade euphorisch«, stellte Morgenstern nüchtern fest.

»Nun ja. Wie das halt mit neu Zugezogenen so ist.«

»Weil sie sich nicht integrieren wollen?«, fragte Hecht.

»Bei Bergmüller war’s genau andersrum. Der wollte sich immer ein bisschen zu viel integrieren im Dorf.« Er seufzte. »Aber was soll’s. Jetzt ist er tot.«

»Hat er Familie, außer seiner Frau?«

»Nein, glücklicherweise nicht, wenn man das so sagen will. Wenn es da Kinder gäbe, würde ich es wissen. Die haben zu zweit in diesem riesigen Jurahaus gewohnt, mit hübschem Garten. Seine Frau hat einen grünen Daumen.«

»Und er ist ein Naturfreund, mit seinem Wald«, sagte Morgenstern und schlug sich gegen das Ohr. »Verdammte Stechmücken.«

»Sie haben ihn ja gesehen. Er war nicht ganz der typische Waldbesitzer. Er hat das, ehrlich gesagt, ziemlich inszeniert. Bergmüller, der Bäumeflüsterer. Er war damit auch immer wieder mal in der Zeitung. Sogar in der Süddeutschen.«

»Als Bäumeflüsterer?«

»Genau. Als Waldversteher. Er hat sich selbst gerne als ›Spätberufenen‹ bezeichnet. Als Saulus, der sich zum Paulus gewandelt hat. Erst Frankfurt, dann Altmühltal. Und jetzt ist er tot. Mitten in seinem geliebten Wald. Ein Opfer der Natur. Tragisch.«

»Das Schicksal hat manchmal schon einen skurrilen Sinn für Dramatik«, stellte Hecht fest. »Da wäre er wohl besser in seinem Frankfurter Großstadtdschungel geblieben.«

»Wer rechnet schon mit einem Wolf?«, fragte der Bürgermeister zurück. »Da vorne steht übrigens sein Auto.«

»Der nagelneue Geländewagen?« Morgenstern, selbst Eigentümer eines uralten roten Land Rovers, sah die lindgrüne Limousine mit scheelem Blick an, was dem Bürgermeister nicht entging.

»Ein Nobelhobel für die gehobene Waldarbeit. Ich muss jetzt jedenfalls schleunigst zurück ins Rathaus. Die Bürgerschaft beruhigen. Bei mir steht das Handy schon nicht mehr still. Das hier geht rum wie ein Lauffeuer.«

Hecht und Morgenstern kehrten noch einmal zum Unglücksort zurück. Zwei Beamte der Spurensicherung, wie meistens stocksauer wegen des allgemeinen elefantösen Herumgetrampels auf einem Todesschauplatz, machten Fotos von allem und jedem. Und nicht zuletzt von einer Motorsäge der Marke Stihl, die den Kommissaren bisher noch nicht aufgefallen war, weil sie ein paar Meter den Hang hinabgerutscht war. Das Schwert der Kettensäge glänzte dunkel im Sonnenlicht, mattrot.

»Blut?«, fragte Hecht.

»Sieht ganz danach aus«, sagte einer der Spurensicherer in seinem weißen Overall. »Könnte sein, dass sich unser Mann noch mit der Säge zu wehren versucht hat.«

»Dann müsste er den Wolf ziemlich heftig erwischt haben«, spekulierte Morgenstern und bekam schon wieder eine Gänsehaut. Die Vorstellung vom Kampf eines einzelnen Menschen gegen ein Raubtier – mitten in der Einsamkeit eines bewaldeten Steilhangs – sprengte seine Phantasie. Das malte man sich mal besser nicht zu konkret aus.

Hecht hingegen hatte angesichts der Kettensäge umgehend eine Idee. »Wenn Bergmüller den Wolf mit der Säge erwischt hat, dann muss es eine Blutspur geben. Wo immer der Wolf jetzt gerade steckt, mit einem guten Spürhund müsste der im Nu zu finden sein.«

»Ein Spürhund aus unserem Präsidium?«, fragte Morgenstern. »Da gibt’s doch diesen Schäferhund, den Maxl, der immer die Drogen suchen darf.«

»Nein, wir brauchen einen richtigen Jagdhund, ich glaube, das heißt Schweißhund. Den besten in der ganzen Gegend.«

Ein allseits bekannter Beamter der Polizeiinspektion Eichstätt, der dicke, gemütliche Ludwig Nieberle, gesellte sich zu den beiden Ermittlern. »Das ist einfach. Das macht der Vorsitzende von unserem Jägerverein persönlich. Der wohnt in Titting. Den rufen wir gleich mal an.«

»Du hast seine Nummer?«, staunte Morgenstern.

»Ich nicht, aber der Chef. Den Hund brauchen wir alle naslang. Jedes Mal, wenn irgendein Autofahrer ein Reh oder eine Wildsau anfährt und das Viech sich noch verletzt ins Unterholz rettet. Der Willibald Baumeister hat den besten Hund weit und breit. Bayerischer Gebirgsschweißhund. Hört auf den schönen Namen ›Krüger‹.«

»Krüger?«, fragten Hecht und Morgenstern wie aus einem Munde.

Nieberle lächelte. »Krüger wie Mike Krüger. Wegen des Kinofilms ›Die Supernasen‹. Der Baumeister-Willi hat Sinn für Humor.«

Wie sich herausstellte, hatte der Jägervereinsvorsitzende darüber hinaus auch noch einen Sinn dafür, zur rechten Zeit daheim zu sein. Samt Hund. Und so war Baumeister keine zwanzig Minuten später bereits am Unglücksort – an dem der tote Christian Bergmüller nach wie vor unter der Plane lag, dringend bereit für die Abholung, denn schon schwirrten allerhand Insekten um den Leichnam herum.

Baumeister war ein schnauzbärtiger, etwas beleibter Rentner, ein Jagdgewehr umgehängt, der schwer schnaufend den Hang heraufgekommen war und sich dabei wohl sogar ein wenig von »Krüger« hatte ziehen lassen. Nun verneigte er sich vor Bergmüllers Leichnam, bekreuzigte sich sogar und ließ sich dann die Kettensäge zeigen.

»Ein Wolf? Ich habe schon lange gewarnt, dass ein solches Unglück nur eine Frage der Zeit ist. Aber auf uns Jäger hört ja niemand. Als wenn nicht wir die Leute wären, die bei Tag und Nacht hier draußen unterwegs sind.« Er schnaubte verächtlich und deutete dann vage den Berg hinauf, Richtung Süden, wo er die Landeshauptstadt München und somit die Bayerische Staatsregierung wusste.

Wie er ungefragt ausführte, sei die Jägerschaft schon in Alarmbereitschaft, seit sich vor Jahren die erste Wölfin ins Altmühltal verirrt und sich hier sesshaft gemacht habe. Jetzt gebe es schon zwei Rudel. »Tendenz steigend«, sagte Baumeister und führte mit dem rechten Arm eine imaginäre, kühn nach oben weisende Zickzacklinie aus. Und dann kam es, wie es kommen musste. Der Oberjäger machte erneut eine Zickzackgeste, nur dieses Mal von oben nach unten – und allen Umstehenden war klar, was er damit bildhaft andeuten wollte: Hier im Gungoldinger Wald hatte in einem schon lange aufziehenden, unheilschwangeren Gewitter ein tödlicher Blitz eingeschlagen.

»Krüger«, der Crack unter den Schweißhunden in Eichstätts weiter Umgebung, schnupperte an der Kettensäge.

»Brav, Krüger, brav«, sagte sein Herr und Meister beruhigend. »Und jetzt such den Wolf! Such!«

Der rotbraune Jagdhund schaute eifrig den Jäger an, dann alle anderen, er wedelte angesichts der Herausforderung und willkommenen Abwechslung im drögen Hundealltag freudig mit dem Schwanz. Dann schnüffelte er sich durchs Laub.

»Der findet den Wolf im Nu«, versprach Willibald Baumeister. »Ihr müsstet mal sehen, wie schnell der eine angefahrene Wildsau aufstöbert. Aber wenn man dann vor ihr steht, wird es natürlich brandgefährlich, für Hund und Jäger.« Zum Beweis seiner Wehrhaftigkeit nahm Baumeister sein Gewehr von der Schulter. »Sicher ist sicher«, sagte er. »Nur fürs Protokoll: Falls ich den Wolf dann wirklich erschießen muss, ist das reine Notwehr und nichts anderes, von mir aus kann man es auch Gnadenschuss nennen. Damit mir da nicht am Ende irgendwelche verrücken Naturschützer einen Strick draus drehen.«

»Schon gut«, sagte Morgenstern. »Wir haben’s alle gehört.«

Supernase »Krüger«, inzwischen von der Leine genommen, lief in weiter werdenden Kreisen um Motorsäge und Todesopfer herum, den Kopf ständig tief am Boden. Am Ende aber kehrte er zur Goldplane zurück. Schwanzwedelnd.

»War das alles?«, fragte Morgenstern vorwurfsvoll und wandte sich direkt an den tierischen Oberschnüffler. »Los, such ’s Wolfi!«

Die anderen sahen den Oberkommissar skeptisch an. »Wolfi«, sagte Hecht und tippte sich an die Stirn.

Jäger Baumeister versuchte nun aber gleichfalls, seinen Fährtensucher aufs richtige Gleis zu heben. Der kluge Krüger erkannte den Ernst der Lage, nämlich dass sich sein Herrchen hier vor versammelter Zuschauerschaft zu blamieren drohte. Er nahm erneut Anlauf, ausgehend vom Premiumprodukt des schwäbischen Unternehmens Stihl. Doch wieder fand sich keine heiße Spur. Auch keine kalte.

»Das gibt’s doch nicht!«, klagte Baumeister. »Egal wie viele Leute hier schon rumgelaufen sind, bei so einer Blutspur ist das für meinen Krüger doch ein Kinderspiel.« Er blickte kurz auf die Goldfolie, wirkte einen Moment lang peinlich berührt, weil der Begriff »Kinderspiel« wirklich nicht den Ernst der Lage widerspiegelte.

»Vielleicht hat er Angst vor einem Zusammentreffen mit dem Wolf«, schlug Hecht vor.

»Mein Schweißhund hat keine Angst, vor nichts und niemandem«, schnarrte Baumeister. »Der ist stressresistent, da könnte sich mancher Polizist eine Scheibe abschneiden.«

»Nanana«, sagte Hecht. »Nicht ausfällig werden. Jedenfalls wird das hier nichts.«

»Das Ganze ist mir ein Rätsel«, sagte der Jäger zerknirscht und versuchte dann ein letztes Mal, eine Wolfsspur aufzustöbern. Doch es blieb dabei. »Fehlanzeige«, sagte er schließlich und führte frustriert den gescheiterten Fährtensucher an der Leine ab, wobei er ihn aus der Hosentasche trotz des Misserfolgs alle paar Meter mit Hundeleckerli versorgte.

Was für eine Blamage, dachte Morgenstern. Nach allem, was er über Jäger wusste oder in der Zeitung gelesen hatte, mochten die so etwas gar nicht.

Inzwischen hatten sich – erwartungsgemäß – auch etliche Journalisten eingefunden: Fotografen, Kamerateams, Radio- und Zeitungsreporter. Einige waren sogar aus München gekommen, nachdem die erste, noch etwas kryptische Eilmeldung des Polizeipräsidiums Ingolstadt in die Welt geschickt worden war. Darin war die fürchterliche Halsverletzung des Waldbesitzers nur angedeutet worden, verbunden mit dem knappen Hinweis, der Angriff eines Tieres, »eventuell ein großer Beutegreifer«, könne nicht ausgeschlossen werden. Wer immer den Begriff »großer Beutegreifer« ausgewählt hatte, er hatte sämtliche journalistischen Alarmglocken zum Läuten gebracht. Die eigentlich recht bürokratisch klingende Formulierung war längst hinlänglich bekannt als Synonym für Raubtiere des gefährlichsten Kalibers: Braunbären, Wölfe, Luchse, wenn’s sein musste auch Löwe, Tiger, Leopard, Puma, Grizzly oder Tyrannosaurus Rex.

Nachdem aber das Altmühltal längst bayernweit als Heimat von Wölfen Schlagzeilen gemacht hatte, musste man in den Redaktionen nur eins und eins zusammenzählen, um sofort eine journalistische Taskforce nach Gungolding zu entsenden. Ansprechpartner vor Ort war nun in erster Linie Mike Morgenstern, der sich nur zu gern vom örtlichen »Sheriff« Manfred Huber assistieren ließ. Tatsache war, dass sie beide zum jetzigen Zeitpunkt herzlich wenig wussten. »Wir ermitteln in alle Richtungen«, wiederholte Morgenstern mantraartig.

Zum Mann der Stunde wurde somit fast automatisch der Wolfsberater Adam Holzgruber, ob er wollte oder nicht. Ausführlichst musste er schildern, was es mit den beiden Wolfsrudeln im Altmühltal auf sich hatte, wie viele Tiere es inzwischen gebe, dass es sich beim Angreifer um einen lokalen Wolf oder ein »fremdes Tier« auf Durchreise handeln könne.

»Wir brauchen dringend einen Gentest, erst dann haben wir Klarheit«, sagte er wieder und wieder. »Bis dahin bin ich völlig ratlos. Wölfe machen so was nicht – normalerweise.« Und dass es seit Wochen keine Probleme mit Wölfen im Altmühltal gegeben habe, von denen man quasi jedes einzelne Tier persönlich kenne. »Keinen Einzigen würde ich als wirklich problematisch einschätzen.«

»Und jetzt?«

»Jetzt muss das Senckenberg Zentrum für Wildtiergenetik ran, mit der Genuntersuchung. Die haben eine Datenbank über alle Wölfe in Deutschland.« Beschwörend hob der Experte die Hände: »Wenn es überhaupt ein Wolf war. Frühestens in drei Tagen haben wir Klarheit.«

Morgenstern wusste, dass das drei verflixt lange Tage werden würden.

ZWEI

So war es denn auch. Die Medien übten sich erwartungsgemäß nicht in Geduld, ließen sich auch nicht vertrösten, sondern spekulierten munter darüber, was im Gungoldinger Forst vor sich gegangen sein mochte. »Bild« zeigte auf der Titelseite ein zähnefletschendes Raubtier mit der Schlagzeile: »Killerwolf im Altmühltal?« »Region in Angst« hieß es beim Eichstätter Kurier.

Es dauerte aber nur zwei Tage, bis es ein Ergebnis gab. Die Laboranten im Senckenberg Zentrum im hessischen Gelnhausen mussten wohl rund um die Uhr gearbeitet haben – anders war nicht zu erklären, mit welcher Geschwindigkeit das Gutachten vorlag. Als exklusive Verschlusssache – direkt für den bayerischen Ministerpräsidenten Ferdinand Glammer, wie Morgenstern im Präsidium erfuhr.

Glammer fackelte nicht lange und berief eine Pressekonferenz ein. Nicht in seiner Staatskanzlei am Hofgarten in München, sondern im Zentrum des Wolfsgeschehens: im Landratsamt in Eichstätt. Am Donnerstagvormittag um zehn Uhr fanden sich Morgenstern und Hecht dort ein, zusammen mit Kriminaldirektor Adam Schneidt und dem Polizeipräsidenten Leo Brandmayer.

Eine äußerst unangenehme Fahrt war das aus Morgensterns Sicht gewesen, alle gemeinsam im Wagen des Präsidenten, mit Chauffeur. Brandmayer hatte es sich nicht nehmen lassen, die beiden Oberkommissare vor ihrem unmittelbaren Vorgesetzten zum Gespött zu machen, als »Kletterkünstler« und »Spiderman für Arme« zu titulieren. Bis Morgenstern freundlich darauf hinwies, der Herr Präsident solle sich doch bitte beim nächsten Mal ein Spezialeinsatzkommando ins Auto setzen, wenn er so dringend auf der Suche nach Sportskanonen sei. Der Rest der Fahrt verlief dann in Schweigen – was auch daran lag, dass der Herr Präsident schon von Anfang an ein wenig beleidigt gewesen war. Nicht einmal er, Brandmayer, hatte bis dato erfahren, was der Gentest in Gelnhausen ergeben hatte. Ministerpräsident Glammer hatte diesen Auftritt ganz auf sich – und sein Kabinett – zugeschnitten.

Das zeigte sich bei der Ankunft auf dem Eichstätter Residenzplatz, einem riesigen ovalen Barockplatz, den man auf jeden Fall in Italien, auf keinen Fall aber im Herzen Bayerns vermutet hätte. Auf dem Platz trafen nach und nach schwarze Audi- und BMW-Limousinen mit Münchner Kennzeichen ein und rollten durch ein weit geöffnetes Tor in den Innenhof der ehemaligen fürstbischöflichen Residenz. Die Fahrer standen neben ihren Autos, rauchend, schwatzend.

Während der Rest der Polizeidelegation sich auf den Weg zum Versammlungsort im ersten Stock des Landratsamts machte, nahm Morgenstern gleich nach dem Aussteigen ganz nebenbei Kontakt zu einem der Chauffeure auf. Zu dem, der ihm unter all den ministeriellen Wagenlenkern am lässigsten erschien. »Und?«, fragte er. »Weiß man schon was?«

Der Chauffeur zuckte mit den Schultern und schnippte seine Zigarettenkippe auf das Pflaster. Morgenstern trat sie mit dem Cowboystiefel aus, wie man das unter Kumpels wohl so machte.

»Kommt ja eh gleich alles auf den Tisch«, sagte der Chauffeur. »Logisch war’s ein Wolf. Jetzt haben wir es amtlich. Ich fahr den Glammer – und der hat im Auto schon seine Ansprache einstudiert. ›Bayern ist kein Wolfsland‹ und so. Jetzt wird die Jagd eröffnet.«

Morgenstern grinste breit, klopfte dem Chauffeur auf die Schulter, wünschte ihm viel Geduld beim Warten auf die Rückkehr des bayerischen Freistaatoberhaupts und machte sich nun seinerseits auf den Weg in die Residenz.

Der Versammlungsort war im ersten Stock des Landratsamts, ein großer rechteckiger Sitzungssaal, in dem üblicherweise der sechzigköpfige Kreistag zusammensaß, um die Geschicke des Landkreises Eichstätt zu lenken.

Der Saal war eng mit Tischen und Stühlen möbliert, davor befanden sich in langer Reihe die Plätze der Referenten. An den Wänden hingen schwarz-weiße Grisaille-Tapeten – gewiss sündteure Unikate –, die irgendeine abstruse Geschichte aus der griechischen Mythologie erzählten, wie Morgenstern beim Hereinkommen feststellte. Hecht hatte bereits in der hintersten Reihe Platz genommen, und Morgenstern stellte sich neben ihn.

Ihre Vorgesetzten hatten sich in der Referentenbank platziert. Da saßen noch ein halbes Dutzend andere. Der Ministerpräsident, der bayerische Innenminister, der Minister für Wirtschaft und Jagdwesen, die Europaministerin des Freistaats, der Landrat von Eichstätt, der Bürgermeister von Kipfenberg.

»Fehlt bloß noch der Bischof«, flüsterte Morgenstern Hecht zu.

Im Saal wimmelte es von Journalisten: Kamerateams, Radioreporter, Zeitungsredakteure, Blogger – wie sich herausstellte, war sogar die internationale Presse vertreten, wie auch immer die so schnell den Weg zur spontanen Konferenz nach Eichstätt gefunden hatte. Und nicht ein einziger der Zuhörer wusste bisher, wie das Laborergebnis aussah.

Bis auf die Minister.

Bis auf Mike Morgenstern.

Morgenstern zögerte kurz. Dann schlenderte er lässig zur rechten Seite des Podiums, wo ganz außen Polizeipräsident Brandmayer saß, beugte sich leicht zu ihm hinab und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich hab gerade ein bisschen recherchiert, so ganz ohne Kraxeln, Klettergurt und Kameradschafts-Trallala: Das Labor hat eindeutig herausgefunden, dass es ein Wolf war. Verrate ich Ihnen einfach so in alter Verbundenheit. Als kleinen Wissensvorsprung Ihrerseits. Dann können Sie sich schon mal ein bisschen vorbereiten … Glammer will jetzt alle Wölfe in ganz Bayern abschießen lassen.« Er drehte sich um und überließ den verblüfften Vorgesetzten sich selbst.

Keine Minute später begann Ferdinand Glammer mit ebenso staatstragender wie sorgenvoller Miene seine einstudierte Rede. »Wir haben leider keine guten Nachrichten«, begann er – und Morgenstern nickte Brandmayer besserwisserisch-verschwörerisch zu. Sag ich’s doch, sollte das heißen.

»Das Senckenberg Zentrum für Wildtiergenetik hat uns heute Morgen den eindeutigen Befund zukommen lassen, wonach der tragische Todesfall in der Gemarkung Gungolding, Gemeinde Walting, auf den direkten Angriff eines männlichen Wolfes zurückgeht. Das haben die Genproben ergeben.« Damit gebe es im Freistaat nun ein klares Sicherheitsrisiko, »und jeder, der unsere Politik in der Vergangenheit mitverfolgt hat, wird wissen, dass die Sicherheit der Menschen bei uns in Bayern Priorität hat. Deswegen haben wir alle Verantwortlichen hier versammelt, um Ihnen anzukündigen, dass wir diesen Wolf, dieses Individuum, aus unserer schönen Heimat, aus unseren Wäldern und Fluren, entnehmen werden.«

»Gleich singt er die Bayernhymne«, flüsterte Morgenstern Hecht zu, der wie gebannt lauschte. »›Er behüte deine Fluren, schirme deiner Städte Bau …‹«, zitierte er das weiß-blaue »Lied der Bayern«.

»Pscht!«, machte Hecht.

Der Präsident räusperte sich. »Die Laborergebnisse haben gezeigt, um welches Tier es sich handelt. Wenn ich das so sagen darf: Es ist ein alter Bekannter. Ein Problemwolf.« Es handle sich um den Rüden mit der Kennziffer »GW3266m«, ein Tier, das schon in der Vergangenheit mehrfach in Schaf- und Damhirschgehege eingedrungen sei. »Er hat da regelrechte Massaker angerichtet«, erläuterte der Ministerpräsident. Zum besseren Verständnis habe man ein paar Fotos von diesen »Wolfsexzessen« vorbereitet, die nun gleich an eine Leinwand projiziert würden. Ferdinand Glammer präsentierte ein Wolfslächeln: »Ich muss Sie aber warnen: Diese Bilder sind nichts für zarte Gemüter. Wer sich das nicht zumuten will, sollte jetzt besser mal für ein paar Momente die Augen schließen.«

Und schon ging es – klack, klack, klack – los. Morgenstern sah sich die Fotos an – und spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. »Ist ja widerlich«, sagte er zu Hecht.

»I have nothing to offer but blood, sweat and tears«, kommentierte Hecht die grauenhaften Bilder von zerfleischten Schafen und blutverschmierten Junghirschen.

»Hä?«, fragte Morgenstern, mit dessen Englischkenntnissen es bedauerlicherweise nicht zum Besten stand.