Endstation Altmühltal - Richard Auer - E-Book

Endstation Altmühltal E-Book

Richard Auer

3,0

Beschreibung

Hollywood im Altmühltal Ein internationaler Starregisseur mit Eichstätter Wurzeln kehrt in seine Heimat zurück, um dort einen aufwendigen Historienfilm zu drehen. Die ganze Stadt ist bei Massenszenen in die Filmarbeiten eingebunden. Doch dann wird ein Location-Scout leblos im Tiefen Brunnen der Willibaldsburg gefunden, und ein Fan der Hauptdarstellerin verunglückt tödlich. Die Kommissare Mike Morgenstern und Peter Hecht tauchen in die nebulöse Welt des Showgeschäfts ein.

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Richard Auer, Jahrgang 1965, studierte Diplom-Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt und hielt der Stadt auch danach die Treue. Mit seiner Frau und drei Söhnen sowie Kater Lorenzo wohnt er mitten in der barocken Altstadt und arbeitet seit dreißig Jahren als Lokalredakteur im Altmühltal.

www.richardauer.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus mauritius images/Reinhard Rohner/imageBROKER, shutterstock.com/kuzmaphoto

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-771-2

Originalausgabe

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Prolog

Niemals hätte sich Mike Morgenstern vor sechs Jahren träumen lassen, dass er jetzt immer noch in Eichstätt wäre. Falls sich diese Idee aber dennoch als Traum in eine seiner unruhigen Nächte geschlichen hätte – es wäre ein Alptraum gewesen. Was bitte schön sollte er, der Nürnberger, der Großstädter, der Franke, mit Frau und zwei Söhnen in der ebenso altehrwürdigen wie biederen Bischofsstadt Eichstätt?

Für ihn war immer klar gewesen, dass dieses Städtchen im Altmühltal, Idyll hin oder her, nur eine Randnotiz in seinem Leben bleiben würde, eine Episode, eine Fußnote, eine Marginalie, über die er irgendwann einmal im Nürnberger Freundeskreis herzlich lachen würde. »So schnell wie möglich zurück!«, hatte er sich geschworen, damals, als er unangenehmerweise von seinem geliebten Nürnberg zur Kripo nach Ingolstadt versetzt worden war. Keine schöne Geschichte. Über die ganze Angelegenheit deckte er nur zu gern den Mantel des Schweigens. Säckeweise hatte er Samen ausgestreut, um Gras über die Sache wachsen zu lassen. Und immer hatte er darauf gehofft, dass ihn die Nürnberger zügig zurückholen würden. Heim. Nach Hause.

Der Kriminaloberkommissar hatte sich gründlich verschätzt, und der Hauptfehler, das war ihm längst klar, lag darin, dass er sich damals ausgerechnet in Eichstätt und nicht in Ingolstadt niedergelassen hatte.

Seine Gattin Fiona hatte seinerzeit mit ihm und den Kindern nach einem Ort gesucht, an dem man »siedeln« konnte, wie sie sagte, und in ihren strengen Augen war die Regionalmetropole Ingolstadt gleich mal mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Es war ein grauer Novembertag gewesen, als sich die Familie einen ersten Eindruck von der »Schanz« verschaffen wollte. Die Ingolstädter Fußgängerzone hatte sich in ihrer ganzen Filialisten-Beliebigkeit von der deprimierendsten Seite präsentiert, und alle Schönheiten der Stadt blieben den Blicken der ratlos durch die Straßen stromernden Familie verborgen. Spätestens am Rathausplatz als vermeintlich »guter Stube« Ingolstadts hatte Fionas Miene sich verdüstert, als sie sah, wie zwischen Sparkasse und Neuem Rathaus der Stadt in architektonischer Hinsicht der Charme ausgetrieben worden war. Es war auch nicht besser geworden, als sie auf dem ziemlich proletarischen Viktualienmarkt an einer simplen Biertischgarnitur ein Mittagessen eingenommen und dabei vergeblich nach so etwas wie lässigem Großstadtflair gesucht hatten.

Morgenstern war schon wild entschlossen, dann eben in Zukunft mit dem Zug von Nürnberg zur Arbeit nach Ingolstadt zu pendeln – da hatte Fiona die Idee, sich doch einmal das Nachbarstädtchen Eichstätt näher anzusehen. Eine ihrer Freundinnen habe da vor Ewigkeiten Sozialpädagogik studiert – und schwärme immer noch, wie schön es damals gewesen sei. Morgenstern hätte sich wehren müssen, das war ihm heute klar.

»Wehret den Anfängen …«, hatte das nicht schon immer seine Oma im Hersbrucker Land gepredigt? Wenn es etwa um die Frage ging, wie man dem vermaledeiten Giersch in ihrem Blumengarten Einhalt gebieten konnte, diesem alles überwuchernden Unkraut, dessen Wurzeln schier unausrottbar die Beete durchschnürten. Die Großmutter hatte auch noch ein paar andere Binsenweisheiten auf Lager, und eine davon, die sich Morgenstern wohl besser hinter die Ohren geschrieben hätte, lautete: »Nichts hält so lange wie ein Provisorium.«

Da war er also nun in Eichstätt, in einer recht passablen Mietwohnung, pendelte wacker mal mit dem betagten roten Land Rover der Familie, mal mit der Bayerischen Regiobahn, mal mit dem Schnellbus der Firma Jägle die fünfundzwanzig Kilometer zwischen den Städten Eichstätt und Ingolstadt hin und her, die nun privat beziehungsweise dienstlich zur Heimat auf Zeit geworden waren. Schleichend hatten sich alle an das Leben im beschaulichen Eichstätt gewöhnt, in einer Gegend, in der die Uhren besonders langsam zu ticken schienen. In einer Stadt, in der nach Ansicht vieler Einheimischer idealerweise alles unverändert bliebe, weil die Erfahrung sie lehrte, dass meist nichts Besseres nachkam. An einem Ort, der an jedem Fleck den Geruch von Vergangenheit, von guter alter Zeit, von Geschichte ausdünstete. Von Weihrauch ganz zu schweigen.

Eine Insel der Seligen? Weit gefehlt, und das wusste kaum einer besser als Mike Morgenstern, Kriminaloberkommissar im Beförderungsstau. In den letzten sechs Jahren hatte er rund um Eichstätt reihenweise Verbrechen aufgeklärt. Zunehmend fand er sich in dieser kleinen Welt zurecht, aber heimisch war er nie geworden. Umso mehr traf das für seine Söhne zu, Marius und Bastian. Die beiden waren mittlerweile im Teenageralter, Marius ging ans örtliche Willibald-Gymnasium, Bastian an die bistumseigene Knabenrealschule Rebdorf. Morgenstern hatte noch gemault, ob denn in dieser Stadt alles von der Kirche unterwandert sei, hatte aber auch keine Alternative gewusst.

Fiona hatte sich komplett in der Stadt integriert, von der Ortsgruppe von Amnesty International bis zum Elternbeirat. Beruflich war sie seit einiger Zeit als Gästeführerin im Einsatz. Weiß der Kuckuck, wie sie das als Auswärtige eingefädelt und schließlich auch die anspruchsvolle Prüfung der städtischen Tourist-Information geschafft hatte. Mike Morgenstern hatte sie zuvor bis zum Überdruss in bester Lehrer-Lämpel-Manier abfragen müssen.

Nach und nach war Morgenstern klar geworden, dass es in absehbarer Zeit nichts mehr werden würde mit der Rückkehr nach Nürnberg, und irgendwann hatte Fiona ihm das auf seine vorsichtige Nachfrage hin auch klipp und klar beschieden. »Träum weiter!«, hatte sie erklärt und sich dann sämtlichen vom Gatten vorgetragenen Argumenten unzugänglich gezeigt. Am Ende hatte er sich – ganz heimlich – eingestanden, dass er selbst sich durchaus, bei näherer Betrachtung, unter Einbeziehung sämtlicher Vor- und Nachteile, nun ja, doch einigermaßen arrangiert hatte. Das letzte Wort hatte Fiona ihm dann noch zugestanden – natürlich wieder ein Sinnspruch der Oma: »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«

29. Juni

Kriminaloberkommissar Peter Hecht hatte Namenstag. Und im Unterschied zu den allermeisten Menschen im einst durch und durch katholischen Altbayern hielt Hecht große Stücke auf diesen Ehrentag. Mochten die Kollegen doch die Köpfe schütteln, diese vom Glauben abgefallenen Kameraden, von denen die meisten nicht einmal wussten, welcher Tag im Jahr denn ihrem Namenspatron gewidmet war: Nein, Peter Hecht war da noch vom alten Schlag. Und deswegen hatte er an diesem 29. Juni zwei Paar Weißwürste und drei Brezen mit ins Büro gebracht, dazu zwei Plastiktütchen mit süßem Senf.

»Fehlt bloß noch das Weißbier«, sagte Morgenstern. Mike Morgenstern war als Hechts Bürokollege als einziger Gast zu der Namenstagsprivatorgie eingeladen. Und das, obwohl auch er in Sachen Heiligenkalender gänzlich ahnungslos war.

»Kein Weißbier im Dienst«, sagte Hecht und zauberte als Alternative zwei Flaschen Paulaner-Spezi aus seiner Aktentasche. Die Würste erwärmte er in einem Wasserkocher, den er üblicherweise für seinen Kamillentee benötigte. Sorgfältig achtete er darauf, dass das Wasser nicht zu sieden begann und die dicht an dicht platzierten Weißwürste nicht etwa aufplatzten. »Die besten Weißwürste in der ganzen Region«, behauptete Hecht. »Natürlich von mir daheim, von meiner Stammmetzgerei in Schrobenhausen.«

Morgenstern schwieg aus Höflichkeit. Erstens, weil er als waschechter Nürnberger die südbayerische Leidenschaft für Weißwürste nicht teilte, sondern im Zweifelsfall immer Bratwürste bevorzugte. Zweitens, weil er wusste, dass die Menschen jenseits der Donau in blindem Lokalpatriotismus grundsätzlich die Würste ihres eigenen Sprengels für die besten von ganz Bayern, der Welt, der Galaxis und des Universums hielten. Er selbst konnte kaum einen Unterschied erschmecken, man hätte ihm wohl auch Weißwürste aus der Dose unterjubeln können.

Sie hatten gerade eben mit ihren Spezi-Flaschen auf Hechts Jubeltag angestoßen und dann mit dem Festmahl begonnen, als das Telefon läutete. »Da gehen wir jetzt nicht dran«, entschied Morgenstern mit vollem Mund und versuchte, das Läuten zu ignorieren. Schließlich lugte er doch aufs Display und erkannte die Nummer. »Verflixt, der Schneidt!«

Kriminaldirektor Adam Schneidt, ihr Vorgesetzter, wollte sie sprechen. Die beiden ließen den Chef eine Weile bimmeln, in der Hoffnung, das würde sich von selbst erledigen. Allerdings hatten sie dessen Hartnäckigkeit unterschätzt. Es klingelte und klingelte. Schneidt schien zu wissen, dass seine Untergebenen im Büro saßen.

Schließlich gab Morgenstern sich einen Ruck und hob den Hörer ab. »Morgenstern hier.«

»Ist der Hecht auch da?«, fragte Schneidt ohne Umschweife. Sein militärischer Tonfall ließ nichts Gutes ahnen.

»Ja, ich reiche Sie mal weiter.«

Hecht nahm den Hörer stirnrunzelnd entgegen und wischte sich mit dem Ärmel einen Klecks Händlmaier-Senf aus dem Mundwinkel. Er stellte das Telefon auf Lautsprecher um, damit Morgenstern mithören konnte.

»Herr Hecht, ich wollte Ihnen meine besten Glück- und Segenswünsche zum Namenstag aussprechen. Wie Sie wissen, bin ich ein Mann, der noch an den guten alten Traditionen festhält.«

Hecht fiel vor Überraschung der Hörer aus der Hand und natürlich geradewegs auf das Senfhäufchen im Teller.

»Das ist wirklich schön, dass Sie extra deswegen anrufen. Wir essen gerade ein paar Weißwürste. Zur Feier des Tages.«

»Dann essen Sie mal schön fertig, und danach kommen Sie beide bitte in mein Büro. Ich habe einen Spezialauftrag für Sie.«

»Um was geht es denn?«

Schneidt sagte nur ein Wort, bevor er auflegte: »Hollywood.«

Unter normalen Umständen hätte sich diese Rätselnuss nicht leicht knacken lassen. Aber hier war der Fall eindeutig. Seit Wochen war der Donaukurier voll mit Berichten über die Vorbereitungen für einen großen Kinofilm. Und in jedem zweiten Zeitungsbeitrag fiel das Wort Hollywood. Mal hieß eine Überschrift »Hollywood im Altmühltal«, mal war die Rede von einem »Hauch von Hollywood«, der in der Region zu erwarten sei, dann wieder ging es ganz konkret darum, dass der Regisseur und Filmproduzent Robert Neumayer, der »bekanntlich« die Hälfte des Jahres in Los Angeles und ansonsten in Berlin lebte, seiner alten Heimat die Ehre erweise und ihr mit einem internationalen Kinofilm »ein Denkmal aus Zelluloid« errichten wolle. Geplant war demnach ein Film des Genres »Mantel und Degen«, ausgestattet mit einem Budget von sechzig Millionen Euro. Der Titel stand schon fest: »Kettnerin«.

Mike Morgenstern selbst hatte all das nur am Rande mitverfolgt. Aber seine Frau Fiona hatte sich umso stärker damit beschäftigt und ihm immer wieder einmal Passagen aus der Zeitung vorgelesen.

Auch Peter Hecht war voll im Bilde. Während er sich ein Stück Wurst in den Mund schob, gefolgt von einem großen Stück Breze, erzählte er Morgenstern alles, was er dazu wusste. »Der Neumayer verfilmt so eine historische Geschichte. Da geht’s um eine Frau aus der Gegend von Eichstätt, die sich irgendwann im 18. Jahrhundert als Mann ausgegeben hat und bei den Österreichern Soldat geworden ist.«

Morgenstern tippte sich ans Hirn. »So was kannst du auch bloß mit den Österreichern machen.«

»Spar dir deine Ösi-Witze«, beschied ihm Hecht. »Auf jeden Fall war diese Frau, Kettner hieß sie, ein richtiger Draufgänger, eine Kriegsheldin. Und als man ihr am Ende draufgekommen ist, dass sie eine Frau ist, hat die österreichische Kaiserin Maria Theresia sie ehrenhaft nach Hause entlassen. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«

Morgenstern dachte kurz nach, dann fiel der Groschen. »›Mulan‹?«, fragte er. »Das hört sich an wie diese Disney-Geschichte aus China. Da war doch auch so eine Frau in der Armee.«

»Geeeenau«, sagte Hecht gedehnt. »Der Film über die Kettnerin soll jetzt die europäische Antwort auf ›Mulan‹ werden. Ein Blockbuster.«

»Mulan für Arme?«, fragte Morgenstern.

»Wenn für dich sechzig Millionen Euro Peanuts sind …«

»Und dieser Neumayer kommt tatsächlich aus der Gegend?«

»Wenn ich’s dir sage: Der ist ein waschechter Eichstätter. Das ist ganz ähnlich wie früher beim Bernd Eichinger. Der war aus Rennertshofen und ist ein Weltstar geworden. Ich sag’s immer: Die Provinz ist besser als ihr Ruf.«

»Vor allem, wenn man nicht mehr dort leben muss«, knurrte Morgenstern, der bei der Arbeit immer noch hartnäckig auf seinem Status als Nürnberger bestand.

»Der Neumayer hat sich einmal um Kopf und Kragen geredet. Als junger Mann hat er einem Radiosender gesagt, das Beste an Eichstätt wäre der Zug nach München. Das hängt ihm bis heute noch nach. Er nennt’s eine Jugendsünde.«

Sie räumten ihre Teller zur Seite, tranken im Stehen ihre Flaschen leer und machten sich auf den Weg zu Adam Schneidts Büro. »Spezialauftrag«, murmelte Morgenstern.

Schon vor der Tür hörten sie leise Marschmusik. »Der Radetzkymarsch«, sagte Hecht kopfschüttelnd, bevor er anklopfte.

Kriminaldirektor Adam Schneidt saß an seinem Schreibtisch, aus einem kleinen, billigen CD-Spieler dröhnten die berühmt-schmissigen Klänge von Johann Strauss. Schneidt dirigierte mit der rechten Hand lässig mit. Er trug – Morgenstern traute seinen Augen nicht – eine uralte dunkelblaue Uniformjacke. Die hatte eindeutig nichts mit Polizeitradition zu tun, sondern erinnerte am ehesten an den Kölner Karneval. Der Chef nickte den beiden Kommissaren kurz zu und beschied ihnen, auf seinem Sofa Platz zu nehmen. Da saß auch schon eine Kollegin, mit der sie in den vergangenen Jahren schon mehrfach zusammengearbeitet hatten: Antonia Grabsky.

Hecht und Morgenstern quetschten sich rechts und links zu ihr auf die speckige, durchgesessene Couch und harrten der Dinge. Grabsky, etwa dreißig Jahre alt, schien bisher ebenso wenig zu wissen wie sie.

Endlich war der Marsch zu Ende. Schneidt schaltete den CD-Player aus, dehnte und reckte sich auf seinem Stuhl und sagte: »Das war halt noch Musik!« Dann stand er auf und präsentierte sich samt seiner Uniformjacke in voller Größe. »Da staunen Sie, was!«, sagte er stolz und setzte sich wieder.

»In der Tat«, sagte Morgenstern. »Üben Sie für die Ingolstädter Faschingsgesellschaft Narrwalla?«

»Morgenstern, Sie werden sich mit Ihrer frechen fränkischen Schnauze noch einmal richtig Ärger einhandeln.« Schneidt winkte ab. »Diese Jacke ist ein Original aus dem Fundus unseres Bayerischen Armeemuseums hier in Ingolstadt. Wie Sie wahrscheinlich nicht wissen, bin ich ein maßgeblicher Unterstützer unseres Museums, seit vielen Jahren Mitglied im Verein der Museumsfreunde. Das eröffnet mir, uns, gewisse Möglichkeiten.«

Morgenstern quetschte sich auf dem engen Sofa in die Ecke, um den Körperkontakt zu Kollegin Grabsky aufs Unvermeidliche zu reduzieren. »Ist Ihnen die Uniform der bayerischen Polizei nicht schick genug?«, forschte er nach.

Schneidt hob mahnend den Finger: »Morgenstern, ich hätte manchmal gute Lust, Sie in den Streifendienst zu versetzen. Dann können Sie den ganzen Tag in Uniform durch die Stadt laufen. Eine Uniform, die ich in der Tat sehr schätze. Im Vergleich zu unserer früheren grünen Kleidung ist das neue Blau doch ein ästhetischer Quantensprung. Das habe ich auch schon unseren Innenminister wissen lassen. Aber warum ich Sie hergebeten habe: Morgen beginnen die Dreharbeiten für die ›Kettnerin‹. Ich selbst und meine Freunde vom Armeemuseum unterstützen die Arbeiten logistisch, im Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten. Aber das nur am Rande. Jedenfalls bin ich in Kontakt mit unserem Regisseur und Produzenten Robert Neumayer.«

»Echt?«, platzte Antonia Grabsky heraus.

Schneidt lächelte geschmeichelt. »Natürlich, Frau Grabsky. Bei Dreharbeiten dieses Kalibers geht es nicht ohne die Polizei. Das muss alles seine Ordnung haben. Da braucht man Sondergenehmigungen, Verkehrssperrungen und vieles mehr. Aber wir tun das natürlich gerne: Wie Sie wissen, ist der Freistaat Bayern nicht zuletzt Filmland. Ich sage nur –«

»Laptop und Lederhose?«, schlug Morgenstern vor und verdrehte dazu die Augen.

»Sie haben es erfasst, Morgenstern. Es ist das erklärte Ziel unserer Staatsregierung, Bayern als Standort einer florierenden Filmbranche zu festigen. Da gibt es klare Anweisungen von ganz oben.«

Schneidt war erneut aufgestanden, in seiner Uniformjacke wirkte er nun wie ein General zu Beginn einer Schlacht. Er deutete auf die große Landkarte, die an der Wand hinter seinem Schreibtischstuhl hing und die ganze Region Ingolstadt, aber ganz knapp auch noch die umliegenden Großstädte München, Nürnberg, Regensburg und Augsburg umfasste.

Mit einem Kugelschreiber wies er auf Eichstätt, Ingolstadt, Weißenburg und Neuburg und kündigte an: »Wir werden hier, im Herzen Bayerns, Filmgeschichte schreiben. Ich bin sicher, dass das neue Werk von Herrn Neumayer erst der Anfang sein wird. Der Grundstein. Wenn den Filmleuten erst einmal klar wird, was wir hier zu bieten haben, dann geben sich bei uns die Filmteams die Klinke in die Hand. Das habe ich alles auch schon dem Kultusminister gesagt.«

Morgenstern staunte wieder einmal, wie gut vernetzt sein Vorgesetzter war. Er hegte allerdings gewisse Zweifel, ob die Kontakte tatsächlich so eng waren, wie Schneidt das nur allzu gern schilderte.

Hecht räusperte sich schließlich: »Ähem, Herr Schneidt. Das ist alles hochinteressant. Aber wir würden nun doch wissen wollen, welchen Auftrag Sie ganz konkret für uns drei haben.«

»Ach so?« Schneidt runzelte die Stirn. Es sah so aus, als ob er bei seinem staatstragenden Kurzvortrag ungern unterbrochen werden wollte. »Nun gut: Robert Neumayer hat sich mit einer heiklen Information an uns gewandt, an den Polizeipräsidenten. Es geht um die Hauptdarstellerin. Die Darstellerin der Soldatin Kettner.«

»Luzie Petterson«, sagte Antonia Grabsky.

»Genau diese«, bestätigte Schneidt. »Frau Petterson lebt und arbeitet überwiegend in London, aber nun ist sie für mehrere Drehtage bei uns, im Altmühltal, in Eichstätt.«

»Luzie Petterson«, wiederholte Hecht.

»Richtig«, bestätigte Schneidt.

»Und wo ist das Problem?«, fragte Morgenstern ungeduldig.

Schneidt schwieg für einen Moment, als billige Möglichkeit, die Spannung zu erhöhen und gleichzeitig seinen Informationsvorsprung auszukosten. Er atmete demonstrativ aus.

»Frau Petterson braucht einen unauffälligen Personenschutz. Nach Möglichkeit rund um die Uhr. Und ich sage Ihnen auch, warum: Es gibt einen Mann, der Frau Petterson seit zwei Jahren stalkt. Wir wissen nicht, wer er ist, aber es war in der Vergangenheit mindestens einmal schon ganz knapp, da ist er ihr in jeder Hinsicht zu nahe gekommen. Das war bei Dreharbeiten in Hamburg, vor einem Jahr. Nachts ist er in ihr Hotelzimmer eingedrungen und wollte sich zu ihr ins Bett legen. Getarnt mit einer Sturmhaube. Es ist ihr gelungen, ihn mit Geschrei zu verjagen, aber seither hat sie panische Angst vor diesem Mann.«

»Ist es seit zwei Jahren derselbe?«, fragte Morgenstern.

»Sieht so aus. Es gibt auch Briefe von ihm, widerwärtige Liebesbriefe.« Schneidt malte beim Wort »Liebesbriefe« mit den Händen Anführungszeichen in die Luft. »Die Kripo in Hamburg ermittelt federführend, aber bisher tappen die Kollegen im Dunkeln. Ich bin mit ihnen in Kontakt, und sie warnen dringend davor, diesen Menschen zu unterschätzen.«

»Ist ja super«, sagte Morgenstern. »Wir drei müssen jetzt sieben Tage lang Wache schieben. Gibt’s da niemand anderen, der das machen kann? Ich meine: Wir sind hier immerhin von der Mordkommission, und soweit ich das überblicke, gibt es bisher weder Mord noch Totschlag. Bloß Stalking. Wenn ich allein an meine Überstunden denke …«

Schneidt warf Morgenstern einen vernichtenden Blick zu. »Sie wollen sich also drücken!«

»Ach nö, ich denke nur, dass es junge Kolleginnen und Kollegen gibt, die für so eine Aufgabe besser geeignet sind. Oder noch viel besser wäre, Frau Petterson engagiert sich eine Security-Firma, so richtige Bodyguards. Ich habe da mal einen Kinofilm gesehen, ich glaube mit Whitney Houston und …«

»… Kevin Costner«, vervollständigte Antonia Grabsky mit einem seltsam romantischen Gesichtsausdruck.

Adam Schneidt, jetzt wieder ganz der General, schnitt den beiden das Wort ab. »Ich habe mir das alles schon überlegt: Sie beide, Herr Hecht und Herr Morgenstern, stehen in zweiter Reihe. Sie halten einfach ein bisschen die Augen offen. Wie Sie das anstellen, ist Ihre Sache. Die eigentliche Arbeit macht Frau Grabsky. Sie wird sich sozusagen von Frau zu Frau persönlich um Frau Petterson kümmern.«

Antonia Grabsky schaute fassungslos in die Runde. »Ich soll …«, stotterte sie, »ich darf … mehrere Tage?«

Schneidt nickte gönnerhaft. »Ich war so frei, Frau Grabsky, Sie bereits entsprechend anzukündigen. Sie werden von Frau Petterson mit offenen Armen empfangen. Ihr Auftrag ist, ihr nach Möglichkeit nicht von der Seite zu weichen. Stellen Sie sich einfach vor, Sie wären ihre persönliche Assistentin.«

Antonia Grabsky hielt es für den Moment nicht mehr auf dem Sofa. Sie machte einen begeisterten Juchzer, sprang auf, und es schien fast so, also wolle sie Kriminaldirektor Adam Schneidt vor Freude umarmen. Dann überlegte sie es sich anders und umarmte stattdessen erst Morgenstern und dann Hecht. Letzterer bekam sogar einen dicken Kuss auf die Backe – woraufhin er augenblicklich errötete.

Als sich die Lage einigermaßen beruhigt hatte, erklärte Schneidt alles Weitere. Die Dreharbeiten würden bereits am nächsten Morgen beginnen, für Luzie Petterson sei ein Zimmer im Hotel Adler mitten am Eichstätter Marktplatz reserviert, Antonia Grabsky bekomme den Raum direkt gegenüber, um der Schauspielerin zu jeder Zeit so nah wie möglich zu sein. Die Filmcrew habe fast das gesamte Hotel gebucht und sich zudem auch in einem modernen Hotel auf der anderen Altmühlseite einquartiert. Außerdem gebe es noch eine Reihe von Wohnmobilen, die auf dem Großparkplatz am Freiwasser, ebenfalls direkt am Fluss, Aufstellung beziehen würden. »Mitten im Sommer hat die Stadt nicht so viele Zimmer frei«, erklärte Schneidt. »Das wird mühsam genug werden, die ganzen Touristen auf Abstand zu halten.«

Er kramte nach einem Schnellhefter und überreichte ihn Morgenstern. »Hier haben Sie den gesamten Zeitplan für die Dreharbeiten, samt allen Orten.«

Morgenstern warf einen Blick auf den Ordner. »Auf der Willibaldsburg geht’s los, wie schön.« Er las vor: »Fechtszene im Innenhof des Gemmingenbaus der Burg, langsame Verlagerung ins Gebäude, über Treppenstufen bis zum sogenannten Tiefen Brunnen.«

»Und was machen wir da?«

»Sie beide halten sich diskret im Hintergrund und passen auf, dass niemand stört. Wir alle erwarten, dass sich unsere Region im besten Licht zeigt.«

»Im Rampenlicht«, sagte Hecht.

»Endlich mal«, sagte Schneidt. »Bis heute waren wir eine unterbelichtete Region. Aber das werden wir ändern.«

»Sie klingen wie ein Tourismusmanager«, sagte Morgenstern. »Fehlt bloß noch, dass Sie eine Anstellung beim Naturpark Altmühltal kriegen. Als Naturpark-Ranger oder so …«

»Für einen guten Zweck tue ich alles«, gab Schneidt zurück und strich über seine Uniformjacke. »Wussten Sie übrigens, dass unser Ministerpräsident ein Fan von Regisseur Neumayer ist?«

»Kommt der am Ende auch noch vorbei?«, fragte Morgenstern ins Blaue hinein.

»Dazu kann ich nichts sagen. Dazu darf ich nichts sagen«, meinte Schneidt mit bedeutungsschwerem Blick – und hatte damit natürlich die Antwort schon gegeben.

30. Juni

Am nächsten Morgen trafen sich Hecht und Morgenstern schon um acht Uhr in einem der Eichstätter Bäckerei-Cafés am Marktplatz auf einen schnellen Kaffee. Morgenstern hatte von seiner Wohnung aus einen kurzen Weg, Hecht war von Schrobenhausen herübergefahren. »Im Donaumoos hat’s einen höllischen Nebel«, sagte er. »Aber im Altmühltal scheint mal wieder die Sonne. Gut fürs Filmteam. Hast du schon was von der Crew gesehen?«

Morgenstern deutete auf den Platz, in dessen Mitte der Bistumsheilige Willibald segnend auf einem großen plätschernden Brunnen aus Jura-Marmor stand. Fahrradtouristen standen herum und machten Fotos, und mitten unter ihnen stand Antonia Grabsky, ihre Kollegin. »Die Grabsky ist jedenfalls schon da«, sagte er und winkte.

Hecht grinste. »Das ist mal wieder typisch Morgenstern. Klar steht da unsere liebe Kollegin – aber die Frau links daneben, die kennst du nicht, oder?«

»Äh …«

»Luzie Petterson. Bekannt aus Funk und Fernsehen. Mann, Mike, du bist als Personenschützer echt ein Totalausfall, ob du nun in der ersten, zweiten oder zehnten Reihe stehst.«

Morgenstern kniff die Augen zusammen. Tatsächlich: Da stand neben Antonia Grabsky eine blonde, schmale, gut aussehende Frau mit markanter spitzer Nase, und sie trug irgendeine Art von historischer Uniform.

»Ja logisch«, log Morgenstern, »das sieht ja ein Blinder mit Krückstock, dass das die Petterson ist.«

Hecht sah seinen Kollegen schief von der Seite an. »Du kennst sie überhaupt nicht, gib’s ruhig zu. Du bist wirklich ein Banause.«

»Und wenn schon. Ist wahrscheinlich besser für meine professionelle Distanz. Für mich würde es jedenfalls keinen Unterschied machen, ob da die Grabsky vor der Kamera steht oder die Petterson …«

»Banause!«, wiederholte Hecht und stutzte dann. »Seltsam«, sagte er. »Auch wenn du keine Ahnung von Tuten und Blasen hast: Mit dem blonden Pferdeschwanz und der spitzen Nase sieht Kommissarin Grabsky ihr wirklich ein bisschen ähnlich.« Hecht knipste für einen winzigen Moment ein kleines Lächeln an, ließ es aber sofort wieder erlöschen.

Ein Wagen fuhr am Marktplatz vor, eine Audi-Limousine. Die Frauen stiegen ein und fuhren davon. Zur Willibaldsburg. Die beiden Oberkommissare tranken ihren Kaffee aus und folgten ihnen wenig später.

Die Willibaldsburg war eine riesige, lang gestreckte Anlage auf einem Bergsporn, der in kühnem Bogen von der Altmühl umflossen wurde. Einst war die Burg mit dieser Lage ziemlich uneinnehmbar gewesen, zumal ihr riesige Bastionen aus der Renaissancezeit vorgelagert waren. Den Eingang zum Burgkomplex bildete ein schier endloser gepflasterter Tunnel, an dessen Ende sich eine weite, überwiegend als Parkplatz genutzte Fläche anschloss. Der Parkplatz war an diesem Morgen gefüllt mit einer ganzen Flotte von Lastwagen und sonstigen Lieferfahrzeugen. Robert Neumayers Filmkarawane hatte hier für diesen Vormittag ihr Lager aufgeschlagen.

Mit einiger Mühe fand Hecht einen Stellplatz für seinen Dienstwagen. Auf der ganzen Fläche herrschte Gewusel – Menschen gingen mit wichtiger Miene hin und her, schleppten Kabel, Scheinwerfer und Metallteile unklarer Bestimmung zu einer riesigen, zehn Meter hohen Mauer, hinter der sich das zentrale Burggebäude versteckte. Ein Tor führte hindurch, und die beiden Kommissare kamen in einen Renaissance-Innenhof, wie man ihn allenfalls im Florenz der Medici erwartet hätte, nicht aber in einem Städtchen im Altmühltal.

Morgenstern wusste von einem früheren Burgbesuch mit seiner Familie, dass hier das Jura-Museum beheimatet war, eine weltberühmte Ausstellung von Fossilien, die in der unmittelbaren Umgebung gefunden worden waren, einschließlich eines Exemplars des Urvogels Archaeopteryx. Außerdem fand sich im selben Komplex auch noch ein weiteres Museum – das Museum für Ur- und Frühgeschichte, das sich unter anderem mit den Römern im Altmühltal befasste, aber auch mit dem Originalskelett eines Mammuts aufwarten konnte. Und nicht zuletzt gehörte zu diesem Museum des Historischen Vereins Eichstätt auch der »Tiefe Brunnen«, erreichbar über eine eigene Tür, von der aus man eine Treppe in einen großen Raum hinabsteigen musste. Morgensterns Söhne Bastian und Marius hatten sich damals einen Spaß daraus gemacht, durch ein dickes stählernes Sicherheitsgitter in den Brunnen hinabzuspucken. Es hatte lange gedauert, bis in der Tiefe ein kleines Platschen zu hören war: Der Brunnen war über fünfundsiebzig Meter tief.

Im Renaissance-Hof waren sämtliche Hinweise auf die beiden Museen vom Filmteam abgeschraubt oder mit unauffälligen Laken abgehängt worden. Quer durch den Hof hatte man einen Schienenstrang gelegt, auf dem bereits eine fahrbare Kamera platziert war. Überall standen Schauspieler in Uniformen herum, ausgestattet mit Degen und altertümlichen Musketen. An einer der Wände waren mehrere roh zusammengezimmerte Obst- und Gemüsestände aufgebaut wie bei einem Wochenmarkt. Wacklige Leitern lehnten an Mauern. Quer über den Hof war – warum auch immer – eine endlose Wäscheleine gespannt. Daran flatterten blütenweiße Bettlaken, Unterwäsche von grotesker Größe, Hemden und Hosen. Alles in Weiß. Morgenstern fühlte sich an die uralte Werbekampagne für das Waschmittel »Weißer Riese« erinnert, bei der dem Fernsehzuschauer bildhaft gezeigt wurde, wie endlos viel Wäsche sich mit einer einzigen Packung dieses Wundermittels porentief reinigen ließe.

Er wandte sich an einen der Musketiere: »Wo finden wir denn den Herrn Neumayer?«

Der Soldat Ihrer Majestät, der Kaiserin Maria Theresia – oder wessen Untertan auch immer –, deutete auf eine Tür in der Ecke des Hofs. »Die sind da unten, beim Brunnen. Aber stören Sie bloß nicht – da ist purer Stress. Wie immer halt. Das wird heute ein ganz aufwendiger Take. Der Neumayer steht total unter Strom.«

Was der Soldaten-Darsteller damit gemeint hatte, hörten die Kommissare schon, als sie am Eingang zum Brunnenraum standen. Mit lauter Stimme gab Robert Neumayer Anweisungen, eher schon Befehle, an sein Team. Irgendetwas mit der Beleuchtung des ziemlich düsteren Gewölbes schien ihm noch nicht zu passen. Hecht und Morgenstern gingen hinein.

Es drängten sich überraschend viele Menschen rund um das zentrale Bauwerk in diesem Raum: den über drei Meter breiten Brunnenschacht. Im Hintergrund erkannte Morgenstern eine hölzerne Konstruktion, ein mittelalterliches Tretrad mit einem endlos langen Seil: ein Hamsterrad für Menschen. Damit hatten wohl irgendwelche armen Menschen in mühsamer Plackerei einst Wassereimer aus der Tiefe heraufbefördert, vielleicht hatte man aber auch einen Esel verwendet.

Regisseur Neumayer war unschwer zu erkennen: Er trug eine olivgrüne Militärjacke und eine Art Cowboyhut, dazu Jeans und Converse-Turnschuhe. Der Mann war etwa fünfundfünfzig Jahre alt, schmal, hager, mit faltigem, braun gebranntem Gesicht. Er warf Hecht und Morgenstern einen skeptischen Blick zu, weil die beiden sich neugierig umblickten.

»Und wer bitte schön sind jetzt Sie beide?«, fragte er mit einem Ton, der alles andere als freundlich klang. »Sind wir hier nicht schon genug Leute, die sich gegenseitig auf den Zehen rumlatschen?«

Hecht räusperte sich, ging zu Neumayer und flüsterte ihm ins Ohr, wer sie waren. Neumayer schien einen Moment lang zu erstarren, aber dann erfasste er die Lage: Die Polizei kam ihrer vornehmsten Pflicht nach: für Sicherheit zu sorgen.

»Braucht ja nicht jeder zu wissen, dass wir hier im Auftrag von Kriminaldirektor Schneidt ein bisschen die Augen aufhalten sollen«, erklärte Hecht im Wisperton.

»Schneidt?«, fragte Neumayer laut. »Welcher Schneidt? Kenne ich nicht!«

Morgenstern konnte sich ein extrabreites Grinsen nicht verkneifen. Da hatte ihr Chef seine Wichtigkeit wohl wieder einmal deutlich überschätzt. Die galt anscheinend nur in seinem überschaubaren Ingolstädter Reich.

Der Regisseur hatte sich direkt an den Polizeipräsidenten gewandt, der hatte die Sache an Schneidt delegiert, und dann hatten die beiden wohl ein- oder zweimal kurz telefoniert. Jedenfalls hielt Neumayer die Anwesenheit von zwei Vertretern der Staatsgewalt unter den gegebenen Umständen für überflüssig, und das machte er ziemlich unmissverständlich klar. »Alles schön und gut, aber jetzt gehen Sie beide bitte einfach nach oben und lassen uns hier unsere Arbeit machen. Zeit ist Geld.«

Hecht, der mit einer solchen Abfuhr nicht ansatzweise gerechnet hatte, setzte beleidigt zum geordneten Rückzug an.

Von »geordnet« konnte freilich schon drei Sekunden später keine Rede mehr sein, denn beim Zurückweichen stolperte Hecht über ein dickes Stromkabel, das nachlässig am Boden verlegt war. Er geriet ins Straucheln, taumelte, ruderte mit den Armen und konnte sich gerade noch am gut einen Meter hohen Brunnenrand abfangen.

Glück gehabt, dachte Morgenstern, der die tollpatschige Aktion seines Kollegen verfolgt hatte. Aber dann sah er, dass ein grober hölzerner Eimer, der auf dem Brunnenrand stand, durch eine Berührung des Kollegen ins Wanken geraten war. Der Behälter, befestigt an dem endlosen Seil des »Hamsterrads«, kippelte mehrmals hin und her. Auch Hecht sah das nun und unternahm den Versuch, das Schöpfgerät mit einem beherzten Griff zur Ruhe zu bringen.

Leider bewirkte er exakt das Gegenteil. Der sonst so besonnene Kollege war durch den Anpfiff des Regisseurs wohl ein wenig aus der Ruhe gebracht worden, denn in der Hektik brachte Hecht den Eimer jetzt erst recht in Schieflage. Wie gebannt blickten alle im Raum auf den Brunnen, und Morgenstern wunderte sich einen Moment lang, warum es für diesen kleinen Vorfall gar so viel Aufmerksamkeit gab. Erst dann wurde ihm klar, dass für die Dreharbeiten das stählerne Gitter über dem Schacht abgenommen worden war. Und nun stürzte der Eimer, zu allem Überfluss randvoll mit Wasser gefüllt, holterdiepolter in die schier endlose Tiefe, hinter sich das Tau, das den Sturz nicht abfing.

Hecht, Morgenstern und mehrere andere beugten sich über den Brunnenrand, blickten hinab in die Finsternis. Es dauerte mehrere Sekunden, bis der Eimer unten im Wasser aufschlug – mit einem überraschend dumpfen Plumpsgeräusch.

Morgenstern hatte einen Moment lang ein Déjà-vu: Ihm war so, als habe er diese Szene schon einmal erlebt. Da fiel es ihm wieder ein. Im Film »Herr der Ringe« hatte der tollpatschige Hobbit Pippin genau solch einen Eimer versehentlich in einen tiefen Brunnen geschubst – und damit die Schrecken der Finsternis herbeigerufen.

Morgenstern spürte, wie er am ganzen Körper fröstelte. Das mochte vielleicht auch daran liegen, dass es hier in der Brunnenkammer verflixt kalt war. »Alberne Assoziationen«, schalt er sich selbst. Dann sah er, dass rechts an der Mauer ein Knopf war, und er erinnerte sich wieder. Das war der Schalter für eine Lampe auf halber Höhe des Brunnenschachts.

Er drückte den Knopf – und tatsächlich ging ein Licht an. In der Tiefe lag im Wasser der Eimer. Man musste ihn einfach nur wieder heraufziehen. Morgenstern griff nach dem Seil, um sich irgendwie nützlich zu machen, und begann zu ziehen. »Wir bringen das gleich wieder in Ordnung«, sagte er in die Runde und nickte Hecht zu. »Nun pack schon mit an, Spargel!«

»Soll ich in die Tretmühle?«, fragte Hecht, ohne sich – ganz gegen seine Art – über die Verwendung seines ungeliebten Spitznamens zu echauffieren.

»Hilf einfach ziehen …«

Doch einfach war hier gar nichts, wie sehr sich die beiden Männer auch mühten. Der Eimer hatte sich an irgendwas da unten verheddert. »Weiß der Himmel, was die im Laufe der letzten Jahrhunderte da runtergeschmissen haben«, stöhnte Morgenstern. Er wollte fast schon aufgeben, beugte sich aber noch einmal über den Brunnenrand. Vielleicht war da unten ja was zu erkennen.

Eine Zehntelsekunde lang hatte er den schauderhaften Eindruck, da habe sich eine Hand aus dem dunklen Wasser gehoben. Dann ging das Licht, das über eine Zeitschaltuhr auf ganz kurze Dauer getaktet war, aus. Morgenstern taumelte zurück.

»Ich sehe zu viele gruselige Filme«, murmelte er. Er drückte noch einmal den Lichtknopf, beugte sich wieder über den Brunnen, während Hecht nach wie vor am Seil zerrte. Nun sah er es relativ deutlich: Da unten hing ein menschlicher Körper. Wenn wir Glück haben, ist es eine Puppe, dachte er.

Weitere Sekunden später war klar: Es war nicht sein Glückstag.

Denn auch die anderen sahen nun, was Morgenstern sah. Hecht hielt tapfer weiter das Seil fest, obwohl er noch nicht wusste, was in der Tiefe zu sehen war.

»Da ist eine Leiche«, riefen mehrere der Filmleute durcheinander.

Hecht sah Morgenstern an: »Wirklich? Oder ist das eine Requisite?«

Regisseur Neumayer stürzte nun gleichfalls zum Brunnenrand. »Was ist da los?«, fragte er. »Was gibt’s da zu gaffen?«

Wieder ging das Licht aus, wieder drückte Morgenstern auf den Einschaltknopf. In diesem Moment gab es einen Platsch, der Körper rutschte vom Eimer und tauchte komplett ab. Auch Hecht ließ nun das Seil zu Boden fallen. Hier ging es nicht mehr um irgendeinen alten Eimer.

»Eine Leiche«, stotterte einer der Augenzeugen vom Filmset.

»Ein Beleuchter! Wir brauchen ordentliches Licht!«, kommandierte Neumayer.

Keine Minute später war der kreisrunde Brunnenschacht in das gleißende Licht eines professionellen Arri-Scheinwerfers getaucht. Das Wasser unten war brackig. Gewiss hatten Generationen von Eichstätt-Besuchern nach Touristenart zum Spaß Müll aller Art hinabgeworfen, um es plätschern zu hören. Wahrscheinlich lagen auch jede Menge Münzen im Wasser, ein kleines Vermögen, versenkt in der abergläubischen Hoffnung, dass es Glück bringe. Jedenfalls war das Wasser da unten trüb wie ein Altmühltaler Nebeltag. Nur mit viel Phantasie konnte man erahnen, dass da ein Körper lag.

Morgenstern stellte sich direkt neben Neumayer. »Wann ist das Schutzgitter abgeschraubt worden? Wissen Sie das?«

»Ich glaube, gestern Mittag«, sagte er. »Eigentlich war da als Ersatz ein Netz angebracht. Das war so ausgemacht. Das ist hier alles für das Finale einer dramatischen Fechtszene vorbereitet. Die wollen wir heute Vormittag noch abdrehen.«

»Daraus wird wohl nichts werden«, entschied Morgenstern. »Wir müssen das jetzt klären, und zwar sofort.«

Er holte sein veraltetes Handy aus der Brusttasche seiner Jeansjacke, stellte fest, dass er hier – natürlich – keinen Empfang hatte, eilte nach oben in den Innenhof der Burg und rief von dort aus bei der Polizeiinspektion Eichstätt an. Bei Inspektionsleiter Manfred Huber, der zum Glück auch da war.

Wenig später setzte sich – mit tüchtig Tatütata – eine Rettungsmaschinerie in Gang – wobei keiner ernsthaft damit rechnen durfte, dass hier noch jemand zu retten war. Wer immer in den knapp achtzig Metern Tiefe lag, befand sich da schon seit Stunden. Denn die Filmcrew war, wie Regisseur Neumayer schilderte, schon seit dem Morgen um fünf Uhr auf der Willibaldsburg zugange. Vom Team aber fehle dem ersten Eindruck nach niemand.

Kurz darauf standen auch schon zwei Sanitäter an der Eingangstreppe, und ihnen auf dem Fuß folgten ein Dutzend Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr Eichstätt, hinter denen sich wiederum ein Trupp des Technischen Hilfswerks drängte – der Katastrophenschutz also.

Morgenstern klatschte mehrmals in die Hände, damit alle auf ihn hörten, stellte sich und Peter Hecht ebenso knapp wie offiziell als zwei mehr oder weniger zufällig anwesende Kriminalkommissare vor, dann schickte er die gesamte Filmcrew einschließlich Regisseur nach oben. »Hier ist mindestens bis heute Mittag Sperrzone«, legte er fest. »Alles, was Sie bis dahin brauchen, nehmen Sie jetzt mit. Bis auf den Scheinwerfer. Den benötigen wir hier.«

Der Beleuchter wollte kurz aufbegehren, aber Neumayer gab ihm mit einer einzigen knappen Handbewegung zu verstehen, dass er besser den Anweisungen dieses Mannes in Jeansjacke und Cowboystiefeln folgen solle.

Fast schon im Gänsemarsch zogen ein Dutzend Filmleute ab. Kopfschüttelnd. Die Mehrzahl von ihnen, so schien es Morgenstern, hatte den Ernst der Lage noch nicht verstanden und ging fest davon aus, dass das alles nur ein Missverständnis war, das sich in Kürze zur allgemeinen Erheiterung aufklären würde. Das Prinzip Hoffnung gehörte bei den oft chaotischen Filmarbeiten ganz gewiss zum Standardequipment, dachte er. Aber er hatte den Körper da unten mit eigenen Augen gesehen – wenn auch nur für einen Augenblick.

Allen Rettern und Helfern gruselte es, als sie in die Tiefe blickten. »Kann man da runter?«, fragte der Feuerwehrkommandant ratlos. »Vielleicht haben sich da irgendwelche Gase angesammelt.«

Also schafften ein paar Feuerwehrleute einen Entlüftungsapparat herbei, einen Kasten mit Ventilator, mit dem üblicherweise verrauchte Gebäude begehbar gemacht wurden – Morgenstern hatte zuvor allen Ernstes vorgeschlagen, an einer langen Schnur eine brennende Kerze hinabzulassen, um zu sehen, ob es genügend Sauerstoff gab. »So hat man das vielleicht im 18. Jahrhundert in irgendwelchen Bergwerken gemacht«, beschied ihm der Kommandant.

Die Männer vom THW bereiteten derweil aus Stahlrohren und einer schweren Metallrolle eine Konstruktion vor, ein großes Dreibein, an dem sich einer von ihnen sicher hinabseilen konnte. Das dauerte eine ganze Weile, während der sich Morgenstern fragte, ob man nicht einfach eine Art XXL-Angelhaken an einem Seil hätte nach unten senken sollen, um den Körper an irgendeinem Kleidungsstück sicher zu fassen zu bekommen und dann nach oben ziehen zu können. Das hätte schließlich beinahe schon mit dem simplen Eimer geklappt. Aber das THW-Team war nicht zu bremsen. Mehr noch: Die Männer waren in beträchtlicher Sorge, dass demnächst auch noch die Dollnsteiner Bergwacht auftauchen und ihnen den seltenen Bergungsauftrag abnehmen könnte. Tatsächlich gab es wegen der zahllosen spektakulären Kletterfelsen westlich von Eichstätt, bei Dollnstein und Konstein, eigens eine Bergwacht, die immer wieder Verunglückte aus unwegsamem Gebiet zu retten hatte. Die hätte den THWlern hier gerade noch gefehlt.

Als die Konstruktion endlich stand und die Beleuchtung perfektioniert war (natürlich hatten sowohl Feuerwehr als auch THW darauf bestanden, dass die sündteure Arri-Lampe hier nicht den gebotenen professionellen Standards entspräche), ließ sich einer der Männer in einer dunkelblauen Wathose und Helm an einem Seil in den Brunnen senken.

Alle hielten den Atem an. Nur Morgenstern fragte in die Stille hinein: »Wie tief ist das Wasser da unten überhaupt?« Die Frage blieb unbeantwortet, während es Meter für Meter hinabging. Die Wände des Brunnens waren zum Teil gemauert, teils aber bestanden sie einfach aus glattem, blank poliertem Fels.

Endlich war der THW-Mann an der Wasserlinie angekommen. Er tauchte mit beiden Beinen ein und stand schließlich am Grund. Als erster Mensch seit Jahrzehnten. Das Wasser war nur etwa einen Meter tief.

»Ich hab sie!« Wie aus einer anderen Welt tönte seine Stimme nach oben. Der Mann zog einen Körper vom Grund. »Eine Frau!«, rief er. »Es ist eine Frau!«

Irgendwie schaffte es der Mann im Lauf der nächsten fünf Minuten, das Opfer mit einem kurzen Seil und verschiedenen Karabinern an seinem eigenen Klettergurt zu befestigen. Dann gab er aus der gespenstischen Unterwelt das Kommando, ihn nach oben zu hieven.

»Eigentlich gibt’s für so was ja eine Trage«, hörte Morgenstern von hinten einen THWler murren. Aber das hier war keine Übung, bei der es um Perfektion ging, sondern um eine rasche Bergung. Keine zwei Minuten später waren die Frau und der völlig durchnässte THW-Mann wieder an der Oberfläche.

Die Lampen des Filmteams und der Feuerwehr tauchten den Raum in gleißendes Licht. Zwei Rettungssanitäter legten die Frau auf eine Trage, einer von ihnen kontrollierte Puls und Herzfunktion. Eine überflüssige Maßnahme. Denn jeder konnte sehen, dass diese Frau schon seit Stunden tot war. Sie war etwa Mitte fünfzig, hatte ein freundliches, breites Gesicht, kurzes, dunkles Haar, das zu zwei auffälligen Zöpfen auslief, trug eine grüne Latzhose und dazu ein Ringel-T-Shirt.

Schweigend standen die Helfer um die Trage, bis der Feuerwehrkommandant ein Gebet, ein Vaterunser, sprach, an dem sich murmelnd alle anderen beteiligten.

Morgenstern stellte schließlich die entscheidende Frage: »Kennt jemand von Ihnen diese Frau?«

Gleich mehrere der Umstehenden nickten. Morgenstern fiel auf, dass mit Ausnahme einer Sanitäterin ausschließlich Männer den weiblichen Leichnam umringten.

»Wer ist es?«

Die Sanitäterin übernahm die Antwort, auch wenn es ihr sichtlich schwerfiel. »Das ist Klara Brandl. Hier aus Eichstätt. Wir kennen sie wahrscheinlich alle.«

Peter Hecht hatte bereits seinen edlen Montblanc-Füller und ein Notizbuch hervorgezogen und notierte mit.

»Und wer ist Frau Brandl, was macht die? Wie kommt die hierher?«, wollte Morgenstern wissen.

»Brandl macht hier in der Stadt alles Mögliche mit Kultur. Theater, Kabarett, sie organisiert Konzerte …«

»Aber was macht sie hier?«, fragte Hecht.

»Das könnte Ihnen am ehesten der Herr Neumayer sagen«, schaltete sich der Feuerwehrkommandant ein, ein Mann mit wachen Augen und dickem Schnauzbart. »Wir von der Feuerwehr haben das natürlich mitbekommen, weil wir für die Absicherung der Drehorte mitverantwortlich sind.«

»Ja und?«, fragte Morgenstern.

»Frau Brandl hat Drehorte ausgesucht. Für den Film. Sie kennt sich hier in der Gegend unheimlich gut aus. Und jetzt war sie … ich glaube, das heißt Scout.«

»Location Scout«, sagte ein junger Feuerwehrmann – wobei er sich mit der Aussprache des Worts »Location« ziemlich mühte.

»Hat sie Familie?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte der Kommandant. »Verwandtschaft schon, aber keinen Mann und keine Kinder.«

Morgenstern atmete auf – und schämte sich umgehend dafür. Er war schlichtweg erleichtert, dass ihm und Hecht die Überbringung so schlimmer Nachrichten an engste Familienangehörige erspart bleiben würde.

»Der Leichnam muss in die Rechtsmedizin nach München«, entschied er. »Wir kümmern uns drum. Und der Raum hier mit dem Brunnen wird vorerst verschlossen.«

»Aber die Dreharbeiten …«, wandte der schnauzbärtige Kommandant ein.

»Sind mir egal«, sagte Morgenstern. »Hier führt jetzt der Tod die Regie.«

***

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die aus Ingolstadt herbeigerufenen Experten der Spurensicherung ihre Arbeit getan hatten und der Leichnam abtransportiert war. Erst dann konnte es oben im Renaissance-Innenhof endlich mit den Dreharbeiten losgehen. Morgenstern stellte sich direkt neben Regisseur Neumayer, ganz nah bei der Hauptkamera, und sah eine Weile zu, was da geschah.

Laut Drehbuch kam es im Burghof zu einem Scharmützel zwischen einigen wenigen österreichischen und französischen Soldaten, die sich mit ihren Degen gegenseitig durch die Kulisse drängten. Die vollgehängte Wäscheleine und die Marktstände standen dabei unablässig im Weg. Ständig verhedderte sich einer der Kämpfer in einem Bettlaken, ein anderer kletterte akrobatisch Leitern hoch, um von dort auf einen Karren voller Äpfel zu springen, die wiederum fröhlich über den Boden kullerten und einen Widersacher zum Straucheln brachten. Und mitten in diesem skurrilen Getümmel kämpfte die Hauptdarstellerin Luzie Petterson, das blonde Haar unter einem Helm versteckt, zusammen mit ein paar wackeren Gleichgesinnten burschikos vor sich hin und machte dabei vor allem eins: bella figura.

Die Szene war der blanke Slapstick, wobei sich doch rasch herauskristallisierte, dass auf der Gegenseite, bei den Franzosen also, einer der Degenmänner einen Bösewicht zu mimen hatte, der sich deutlich weniger doof anstellte als seine Mitstreiter. Mit diesem Menschen nun, leicht erkennbar an einer schwarzen Augenklappe, lieferte sich die »Kettnerin« am Ende ein regelrechtes Fechtduell, wobei sie es sich aber nicht nehmen ließ, zwischendurch mit der linken Hand einen der herumkullernden Äpfel aufzusammeln und zweimal kräftig hineinzubeißen. Zwischendurch verhöhnte sie lautstark ihren Widersacher als Memme, Feigling und Muttersöhnchen.

Am Ende schließlich gelang es ihr, den Franzosen als letzten noch unbesiegten Gegner durch die Tür in der Ecke des Innenhofs in Richtung Brunnenraum zu drängen, während der zuvor so propere Hof als wüstes Durcheinander zurückblieb. Ende der Szene. Im Innenhof brandete Beifall auf. Das Team war offenbar fürs Erste hochzufrieden.

»Gar nicht schlecht«, sagte Hecht. Morgenstern hingegen, in Gedanken bei der Toten aus dem Brunnen, nölte herum, er könne sich erinnern, Vergleichbares immer wieder mal im Fernsehen gesehen zu haben. »Wo denn?«, fragte Hecht mit leicht beleidigtem Unterton.

»In jedem zweiten Piratenfilm, bei den drei Musketieren, in jeder einzelnen Rolle von Errol Flynn …«

»Man muss das Rad nicht immer neu erfinden«, sagte Hecht. Räumte aber dann ein, dass ihm die Nummer mit der Wäscheleine auch nicht wirklich originell vorgekommen war.

Plötzlich gesellte sich Antonia Grabsky zu ihnen. »Ich habe das vorhin nur durch Zufall mitbekommen, als ich zusammen mit Luzie Petterson in der Garderobe war, da draußen in einem Wohnmobil am Parkplatz. Ihr habt eine tote Frau aus einem Brunnen geholt.«

»Kann man als Kurzfassung so sagen«, meinte Morgenstern. »Sie war hier für Neumayer als Location Scout im Einsatz, hat ihm die Drehorte ausgesucht.«

»Ein Unfall?«, fragte Grabsky.

Morgenstern zuckte ratlos mit den Schultern. »Hoffentlich.«

Grabsky sah ihn mit großen Augen an. »Und wenn nicht?«

Hecht klinkte sich ein. »Keine Sorge, wir kümmern uns drum. Und zwar so, dass die Filmarbeiten weitergehen können. The show must go on.«

»Das hätte noch gefehlt«, sagte Morgenstern, »dass das Eichstätter Filmprojekt des Jahrhunderts gleich am ersten Tag in Zwangspause muss. Nein, wir machen einfach ganz solide unseren Job und finden heraus, was da los war. Und Neumayer dreht solange eine andere Szene. Das Problem ist allerdings, dass wir bloß ein paar Tage haben, dann rückt die ganze Truppe ab.«

Hecht steuerte wie so oft ein Zitat aus seinem Schatzkästlein der geflügelten Lebensweisheiten bei: »Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter.«

»Hunde, die bellen, beißen nicht«, sagte Grabsky.

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, gab Morgenstern zurück. »Und jetzt müssen wir dringend rausfinden, wer sich hier in den letzten Stunden alles rund um den Brunnen rumgetrieben hat. Grabsky, können Sie gleich mal Frau Petterson fragen – auf dem kurzen Dienstweg?«

Die Kollegin nickte und verschwand.

»Wo steckt denn jetzt schon wieder der Regisseur?«, fragte Morgenstern.

Hecht deutete in Richtung Brunnenraum. »Er ist gerade da rein verschwunden. Der Typ ist nicht zu bremsen.«

Sie fanden Robert Neumayer, der zwei Trassenband-Absperrungen ignoriert hatte, über den Brunnenrand gebeugt. Er starrte in die Tiefe. Die Kommissare stellten sich neben ihn und blickten ebenfalls nach unten. Eine kurze Weile herrschte Schweigen, dann holte Hecht seinen Block heraus. »Wir würden gerne wissen, was hier seit gestern alles los war«, sagte er.

Neumayer murmelte: »Es ging zu wie im Bienenstock. So ist das immer vor einer Aufnahme. Die Szenenbildner waren unterwegs, die waren heute die ganze Nacht im Einsatz. Wir haben den Hof ausgeleuchtet, Sie haben ja selbst gesehen, was es da alles zu machen gibt. Das stellt sich nicht von alleine auf.«

»Und hier am Brunnen? Was war da los?«

»Ich weiß es nicht genau. Die Abdeckung haben die Leute von der Burgverwaltung weggemacht. Da war stattdessen provisorisch ein Netz drübergespannt, so ein dunkelgrünes Netz aus dicker Schnur, ich habe das selbst gestern noch gesehen. Man kann ja so einen Schacht nicht einfach offen stehen lassen.«