Lammauftrieb - Richard Auer - E-Book

Lammauftrieb E-Book

Richard Auer

4,5

Beschreibung

Eine Schafherde grast malerisch an den Hängen hoch über Eichstätt, doch das Idyll trügt: Mitten auf dem Pfad liegt der Schäfer - ermordet. Und das kurz vor dem jährlichen 'Altmühltaler Lammauftrieb', den heuer der bayerische Heimatminister anführen soll! Mike Morgenstern nimmt die Ermittlungen auf und kann bald Unschuldslämmer nicht mehr von schwarzen Schafen unterscheiden.

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Richard Auer, Jahrgang 1965, studierte Diplom-Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt und hielt der Stadt auch danach die Treue. Mit seiner Frau und drei Söhnen sowie »Stadtkater Camillo« wohnt er mitten in der barocken Altstadt. Seit über zwanzig Jahren arbeitet er als Lokalredakteur beim »Eichstätter Kurier«. Im Emons Verlag erschienen »Vogelwild«, »Walburgisöl«, »Hausbock« und »Teufelsmauer«.

www.autorenwerkstatt-auer.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: iStockphoto.com/ROMAOSLO Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Hilla Czinczoll eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-883-0 Originalausgabe

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EINS

Tappen, tappen– keuchen, keuchen. Tappen, tappen– keuchen, keuchen. Tappen, tappen… Ich hätte ein Aspirin nehmen sollen, dachte Morgenstern. Nicht sollen– müssen. Und überhaupt: Je länger er unterwegs war, und das war noch gar nicht lange, desto mehr stellte er sich die Frage, was das überhaupt sollte.

Es war Sonntagmorgen, acht Uhr. Wahrscheinlich lag halb Eichstätt noch im Schönheitsschlaf. Aber er hatte sich in einem Anfall von Selbstdisziplin aus dem Bett geschwungen, hatte im Kleiderschrank den viel zu engen schnittlauchgrünen Polizeitrainingsanzug gesucht und nach einigem Wühlen auch gefunden, hatte seine seit vielen Monaten ungenutzten Joggingschuhe geschnürt und sich auf den Weg gemacht. Auf den Weg zum Neuen Weg.

Mike Morgenstern, Kriminaloberkommissar bei der Kriminalpolizei Ingolstadt mit Wohnsitz in Eichstätt, der selbst ernannten »Perle des Altmühltals«, hatte sich bei seiner diesjährigen Jogging-Premiere– wennschon, dennschon– eine besonders anspruchsvolle Strecke ausgesucht. Er hätte auf dem asphaltierten Rad- und Fußweg entlang der Altmühl laufen können, einer brettebenen Rentnerrennbahn, auf der ihm jetzt am Morgen allenfalls ein paar Hundebesitzer beim notorischen Gassigehen über den Weg gelaufen wären. Aber nein: Er hatte sich dafür entschieden, eine der steilen Flanken des Altmühltals hinaufzuächzen, auf einem sich schlängelnden Schotter- und Waldpfad, der vor einigen Jahren Teil des zweihundert Kilometer langen »Altmühltal-Panoramawegs« geworden war.

Der idyllische Pfad, den immer wieder Aussichtsbänke säumten, war vor bald zweihundert Jahren auf der Nordseite von Eichstätt, dicht hinter der Stadtmauer, angelegt worden– den Namen »Neuer Weg« trug er dennoch mit der gleichen selbstverständlichen Würde, wie es die Pont Neuf in Paris tat, die schon längst keine »neue Brücke« mehr war, sondern vielmehr die älteste der Stadt.

Tappen, tappen– keuchen, keuchen.

Morgenstern hatte den Reißverschluss seiner grünen Trainingsjacke weit geöffnet, um seiner wild arbeitenden Lunge Platz zu schaffen, um die Beklemmung zu überwinden, wie es die Radrennfahrer der Tour de France am berüchtigten Mont Ventoux tun. Für Morgenstern war der Neue Weg gerade der persönliche »Berg der Leiden«. Er hatte keinen Blick für den atemberaubenden Ausblick auf die Stadt, die direkt zu seinen Füßen im Tal lag, für die Dreifaltigkeit der Türme von Dom, Rathaus und Kloster St.Walburg, kein Auge für die stolze Willibaldsburg auf der anderen Talseite. Mit puterrotem Kopf, schwitzend, kämpfte er sich voran, in einem für Außenstehende gewiss lächerlich scheinenden Tempo, das jeden einigermaßen talentierten Nordic Walker zum Überholen herausgefordert hätte.

Doch für Morgenstern war zumindest an diesem Morgen nicht mehr drin. Früher, vor etlichen Jahren, da hatte er noch in Nürnberg einen Halbmarathon absolviert, mehr schlecht als recht hatte er sich damals ins Ziel geschleppt, aber der Beifall seiner Familie war ihm sicher gewesen. Heute allerdings war aus zweierlei Hinsicht kein guter Tag für sportliche Höchstleistungen: Zum einen hatte Morgenstern seit dem vergangenen Herbst keinen Fuß mehr in einen Joggingschuh gesteckt. Er hatte diesen Umstand gegenüber seiner Frau Fiona in den vergangenen Wochen gelegentlich mit dem harmlos klingenden Begriff »Trainingsrückstand« zu kaschieren versucht. Dass der uralte, aber treue Polizeitrainingsanzug gar so zwickte, war auch eine Folge dieser Nachlässigkeit.

Zum anderen, und das war an diesem Morgen das viel größere Handicap, war Morgenstern am vergangenen Abend bei einer spontanen Exkursion ins eigentlich überschaubare Eichstätter Nachtleben böse vom rechten Weg abgekommen. Im Laufe des Abends hatte er mehrfach die Lokalitäten gewechselt, wobei Qualität und Leumund der Gastronomiebetriebe von Mal zu Mal abgenommen hatten. Ganz am Ende war er in Begleitung eines eben erst kennengelernten Kumpans in einer unscheinbaren Pilskneipe im Westen der Altstadt gestrandet.

Die Kneipe mit dem sonderbaren Namen »Der Sausackschleifer« war Morgenstern bis dahin noch nie aufgefallen, und unter normalen Umständen hätte sich das auch nicht geändert. »Der Sausackschleifer« war das Sammelbecken für Nachtschwärmer im Kamikaze-Sturzflug, für heimatlose Ex-Rocker, für kurz geschorene Krypto-Neonazis, aber auch für harmlose Rentner, blasse Hartz-IV-Empfänger und kettenrauchende Damen schwer definierbaren Alters, die als Beruf durch die Bank »Hausfrau« angaben und darauf hofften, von einem der Herren zu einer Halben Löwenbräu eingeladen zu werden.

Hier also war Morgenstern gegen drei Uhr morgens gelandet, und wie sich herausgestellt hatte, war der Zeitpunkt in gewisser Hinsicht perfekt gewesen: Der Wirt hatte entschieden, die Kneipe in den nächsten Tagen zu schließen, und die Stammgäste waren soeben dabei, die im Laufe der Zeit angehäuften und teils heftig eingestaubten Spirituosenbestände zu stark ermäßigten Preisen zu dezimieren. Morgenstern fragte sich im Rückblick, wie er so verrückt hatte sein können, sich an diesem aberwitzigen »Resterltrinken« zu beteiligen.

An zwei Dinge konnte er sich noch erinnern: Zum einen an den Schlager »Anton aus Tirol«, der wie in einer Endlosschleife das musikalische Unterhaltungsprogramm bestimmt hatte. Zum anderen daran, dass der Wirt eine Lokalrunde nach der anderen spendiert hatte, was man als höflicher Gast tunlichst nicht ausschlug. Als er gegen halb fünf schließlich ins zartrosa aufkeimende Morgenrot hinausgetorkelt war, hatte sein Magen das Problem bereits auf eigene Faust… nun ja.

Ein Aspirin wäre die richtige Wahl gewesen, aber ein knackiger Dauerlauf, so sinnierte Morgenstern nun, würde seine Sinne ebenfalls einigermaßen klar machen. Unter keinen Umständen wollte er Fiona und seinen beiden Söhnen als verkaterter Kopfschmerzkandidat mit fahlgrauem Gesicht unter die Augen treten. Er hoffte darauf, nach einer fünf Kilometer langen Tour frisch wie der blühende Tag am Frühstückstisch zu erscheinen und Fragen nach seinen nächtlichen Abenteuern wegzulächeln. »Ein Mann muss seinen Weg gehen«, würde er sein Lieblingsmotto anführen.

»Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer…« Zu allem Überfluss fing sich Mike Morgenstern, der schwitzende Mann in Grün, nun auch noch einen musikalischen Ohrwurm ein, ausgerechnet Xavier Naidoos Fußball-WM-Hymne von 2006. Musikalisch war sie für Morgenstern indiskutabel, aber zum Neuen Weg passte sie ganz gut.

Mühsam tappte er weiter auf steinigem Pfad, der sich nun in einigen wenigen Kurven durch eine Art Urwald voller umgestürzter Baumleichen den Steilhang hinaufschraubte. Oben ging der verwilderte Buchenwald über in Trockenrasen, der nur von einzelnen verkrüppelten Bäumen und Wacholdersträuchern Struktur erhielt, ehe sich hinter dornigen Schlehenhecken steil die Abraumhalden der Wintershofer Kalksteinbrüche auftürmten. Endlich hatte Morgenstern die Hochfläche erreicht.

Mit pochendem Kopf, wild schlagendem Herzen und schmerzender Lunge spürte er, dass er es dieses Mal übertrieben hatte. Er drückte die Hand auf seinen schmerzenden Bauch: Seitenstechen! Und zudem hatte er in der linken Wade schon mehrfach ein unangenehmes Ziehen gespürt. Da kündigte sich ein Krampf an. Doch Morgenstern war wild entschlossen, nicht klein beizugeben. Jetzt, wo er endlich, endlich die Steigung überwunden hatte, jetzt, wo ihm die Welt des Altmühltals quasi offenstand, da würde er doch nicht kehrtmachen wie ein geprügelter Hund!

Ganz vorsichtig, um den Wadenkrampf nicht unnötig zu provozieren, tappte er weiter. Systematisch atmend, immer im Rhythmus der Laufbewegung und so bewusst, als ginge es um eine tibetanische Meditationsübung, lief er auf dem schmalen Weg Richtung Westen. Weit unter sich sah er das Eichstätter Freibad mit seinen drei blauen Becken in der Sonne glänzen. Einzelne Schwimmer, das konnte er sogar aus der Ferne sehen, zogen schon jetzt am Morgen ihre Bahnen. Das, so hatte ihm Fiona beim Saisonauftakt am Muttertagswochenende erklärt, seien die immer gleichen älteren Damen, die bereits um Punkt acht Uhr auf den Einlass warteten, um sich dann zügig im Schmucke ihrer geblümten Badeanzüge und rosafarbenen Bademützen mit aufdrapierten Plastikblüten zum Bahnenschwimmen zu begeben– Eichstätts legendäre »Bodweiber«.

»Dieser Weg wird kein leichter sein…« Im– gemächlichen– Laufrhythmus summte Morgenstern nun wieder diese ihm so verhasste Melodie vor sich hin, unfähig, das Lied irgendwie auszuknipsen. »…nicht mit vielen wirst du dir einig sein. Doch dieses Leben bietet so viel mehr…«

Die gesamte Hangflanke zur Linken war bewachsen mit Haselnusssträuchern, eine hundert Jahre alte, verwilderte Plantage, die fast bis zur Talsohle hinabreichte, durchzogen von Pfaden und Querwegen, bevölkert von Eichelhähern und Eichhörnchen. Eben erst hatten zwei dieser Nager vor Morgenstern die Flucht in einen Walnussbaum ergriffen. »Der Teufel ist ein Eichhörnchen«– dieser Satz fiel Morgenstern aus irgendeinem Grund ein, und er überlegte, was damit eigentlich ausgedrückt werden sollte.

Es sollte wohl bedeuten, dass das Böse immer dann auftauchte, und zwar zunächst in ganz harmloser Form, wenn man nicht damit rechnete. Pah, ausgerechnet das hübsche Eichhörnchen, dieses kleine, buschige, frech-fröhliche Wesen, sollte dem Gottseibeiuns Gestalt verleihen? Wem war bloß so etwas eingefallen? Der Teufel, der steckte vielmehr in einer halb vollen Flasche Asbach Uralt, der wartete wie ein Dschinn in einer staubigen Flasche Metaxa auf seine Befreiung, der tarnte sich in der grünlichen Farbe eines sechsundfünfzigprozentigen Escorial.

Um Himmels willen, was hatte er, Mike Morgenstern, in der letzten Nacht nicht alles durcheinandergetrunken. Und am Ende hatte der Wirt dem ganzen Lokal gar noch einen angeblich uralten Schnaps spendiert– mit dem Hinweis, das sei nun ein unglaublich edles und hochwertiges Destillat, das mit entsprechender Andacht genossen werde möge. So etwas habe wohl noch keiner in der Runde verkostet. »Ex und hopp!«– Morgenstern erinnerte sich noch vage an den etwas unpassenden Dankesruf der proletarischen Gästeschar.

Er tappte weiter. Ihm schien, als ob das Seitenstechen sich beruhigte. Recht so: Heute würde sich ihm niemand in den Weg stellen, dachte er in einem Anflug von heroischer Stärke. Dann sah er die Schafe. Viele Schafe.

Eine riesige Schafherde hatte sich quer über seiner Laufstrecke zwischen Haselnussplantage und den Steinbruchhalden breitgemacht, rupfte das trockene Gras des Magerrasens, der sich den ganzen Hang entlangzog, und versperrte den Weg. Braune Ziegen mit spitzen Hörnern knabberten an dornigen Büschen, ein struppiger schwarzer Hund zog irgendwo weit unten seine Bahn, um die Herde beisammenzuhalten.

Morgenstern blieb stehen. Ihm war klar, dass er sich nur mit Mühe durch die dicht gedrängte, wogende Herde würde schieben können, und der Schäfer wäre bestimmt nicht begeistert, wenn ein grüner Jogger die Tiere mit Geschrei und wedelnden Armbewegungen in alle Himmelsrichtungen davontreiben würde.

Jetzt erst sah er, dass der ganze Weg mit Schafköteln übersät war. Er stand mittendrin, seine guten Joggingschuhe starrten bereits vor Dreck. Das war wohl der Preis fürs Schäferidyll, dachte er, denn ein Idyll war es auf jeden Fall, wenn hier am Morgen die Tiere auf die Weide geführt wurden wie schon vor tausend Jahren– Schafkötel hin oder her. Morgenstern sah dem Treiben eine Weile zu. Wo war eigentlich der Schäfer?

Ein paar hundert Schafe dürfte die Herde haben, schätzte er, während er ratlos und schwer atmend mitten im Schafdreck stand, dazu noch dreißig Ziegen. Er ging langsam auf die Tiere zu, und mit kleiner Verzögerung wandten die ihm ihre Hinterteile zu, drückten und schoben sich nach links und rechts weg, um unter allseitigem Blöken und verärgertem Meckern eine Schneise zu bilden. »So ist’s brav, ganz brav«, sagte Morgenstern beruhigend und setzte endlich seinen Weg Richtung Westen fort, mindestens bis zu einer steil in die Hangflanke geschnittenen, bewaldeten Schlucht mit dem unheilschwangeren Namen »Wolfsdrossel« wollte er kommen.

Wolf! Morgenstern blieb abrupt stehen. Der Anblick, der sich ihm nun bot, nachdem die Schafe den Weg frei gemacht hatten, ließ einen kalten Schauer über seinen Rücken fahren. Ein großer schwarzgrauer Hund stand mitten auf dem Weg, mit gesträubtem Fell und blitzenden Augen, bereit zum Angriff, sollte der schwitzende Fremde mit dem grünen Trainingsanzug noch ein, zwei Schritte weitergehen.

Morgenstern hob langsam die Hände, als wolle er sich bei dem Tier entschuldigen. »Ruhig, ruhig, ich tue dir nichts«, murmelte er und starrte dabei auf den Kopf des Schäferhundes. Die Schnauze, das sah er erst jetzt, glänzte rot. Und hinter dem Hund, quer auf dem Weg, lag lang gestreckt ein Mann am Boden, ein Mann im langen schwarzen Kittel und mit rustikalen Bergschuhen an den Füßen. Der Schäfer.

Morgenstern war schlagartig nüchtern. »Verdammt, warum passiert so was ausgerechnet mir?«, flüsterte er und nahm langsam die Hände nach unten. Er sah sich um, auf der Suche nach einem Stock, mit dem er sich im Ernstfall gegen den Hund verteidigen konnte.

Das Tier fing prompt unangenehm zu knurren an und bleckte sein blutverschmiertes Gebiss, wodurch die markanten Reißzähne eindrucksvoll zur Geltung kamen. Morgenstern versuchte in einem Anflug von Wagemut dennoch, den liegenden Mann etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Wenn er sich nicht täuschte, war da am Hals eine schreckliche Wunde, eine vielleicht tödliche Verletzung. Der Mann jedenfalls regte sich nicht.

Mit einem Mal fing der Hund zu bellen an, laut und furchteinflößend. Das war zu viel für Morgenstern. Schon immer, seit seiner Kindheit in Nürnberg, hatte er sich vor Hunden gefürchtet, und hier wurde sein größter Alptraum wahr.

Er drehte sich um, ging erst langsam, dann immer schneller, bis er schließlich in halsbrecherischer Geschwindigkeit zurückrannte in den Wald, weit hinab ins sichere Tal. Hinter sich hörte er noch immer den Hund bellen, und irgendwann schien es ihm, als ginge das Bellen in ein heiseres Heulen über, als wolle da ein einsamer Wolf dem Vollmond seine ganze Verzweiflung künden.

Morgenstern war völlig außer Atem, als ihm endlich zwei Fußgängerinnen mit Nordic-Walking-Stöcken entgegenkamen.

»Haben Sie ein Handy dabei?«, ächzte er ohne Begrüßung.

Die Frauen, beide um die sechzig Jahre alt, sahen ihn erstaunt an.

»Guten Morgen erst mal«, sagte die eine patzig, merkte dann aber doch, dass hier irgendeine Art von Notfall vorliegen könnte.

»Ich brauche dringend ein Handy«, schnaubte Morgenstern. »Da oben«, er deutete in Richtung Westen, »da ist ein Unfall passiert.«

»Was für ein Unfall denn?«, wollte die andere Walkerin wissen.

»Haben Sie nun ein Handy oder nicht?«, blaffte Morgenstern.

Die Frau nestelte an ihrem sportiven Blouson, öffnete einen Reißverschluss und zog ein Smartphone heraus. »Was ist da oben passiert?«

Jetzt erst merkte Morgenstern, dass er sich selbst nicht ganz darüber im Klaren war, was er da gesehen hatte. Der Hund hatte ihn dermaßen rasch in die Flucht geschlagen, dass er allenfalls einen winzig kurzen Blick auf den Schäfer geworfen hatte.

»Da oben ist ein Schäfer mit seiner Schafherde, und einer von den Hunden hat ihn angefallen. Der Mann liegt am Boden, und der Hund steht mit blutigem Maul über ihm. Da kommt keiner ran.«

»Sind Sie sich sicher?«

»Ganz sicher«, sagte Morgenstern. »Ich war direkt dort. Der Hund wollte mich auch angreifen, dann bin ich hier runtergerannt.«

Entschlossen tippte die Walkerin die Notrufnummer. Dann reichte sie das Gerät an Morgenstern weiter.

Die Einsatzzentrale meldete sich, und Morgenstern setzte seine Meldung ab: »Hier ist Morgenstern, Mike Morgenstern von der Kripo, Kriminaloberkommissar.«

Die beiden Damen sahen ihr verschwitztes Gegenüber überrascht an– der Mann mit dem hochroten Kopf und dem unvorteilhaft geschnittenen Trainingsanzug war also Kriminalbeamter?

Ungeduldig schilderte Morgenstern die schwer zu beschreibende Position, an der er den Schäfer gefunden hatte. Warnend erläuterte er die Gefahr, die gewiss nach wie vor vom Hund ausgehe, ein Tier, das sich in seiner Schilderung mehr und mehr als der Hund der Baskervilles, der Geisterhund aus dem Dartmoor, darstellte, ein gespenstisches Monster mit bluttriefenden Lefzen, das nicht davor zurückgeschreckt sei, seinem eigenen Herrn an die Gurgel zu gehen, weswegen ein Erste-Hilfe-Einsatz momentan so gut wie unmöglich sei.

Die Leitstelle versprach, sofort alle verfügbaren Kräfte einschließlich Hubschrauber, Notarzt und Hundeführer loszuschicken. Er selbst solle umgehend wieder zum Schäfer zurückkehren und mithelfen, so gut er könne.

Morgenstern verfluchte sich für seinen Entschluss, ausgerechnet nach einer solchen Nacht die Sportsaison zu eröffnen, nur um dann auf einen Toten zu stoßen. Sein Mund war trocken, seine Schläfen pochten, im Hinterkopf spürte er einen bohrenden Schmerz. Das Seitenstechen hatte wieder eingesetzt, und nun krampfte sich auch noch sein flauer, übersäuerter Magen zusammen, Gallensaft drängte durch die Speiseröhre nach oben. Kalter Schweiß perlte Morgenstern auf der Stirn.

»Geht’s Ihnen nicht gut?«, fragte die Walkerin mit dem Handy besorgt. »Sie werden ja ganz blass.«

Morgenstern nickte kurz, dann ließ er sich ohne Gegenwehr von der Frau auf eine der hölzernen Aussichtsbänke drücken, saß einen Moment lang still versunken, bis er zur Seite kippte. Bevor er ohnmächtig wurde, hörte er noch eine zweifelnde Frauenstimme: »Und der soll bei der Kriminalpolizei sein?«

Als Morgenstern zu sich kam, hörte er unten im Tal ein Martinshorn und über sich das Dröhnen eines Hubschrauberrotors. Die Rettungsmaschinerie war also in vollem Gange, wenn es denn in diesem Fall überhaupt etwas zu retten gab. Die beiden Walkerinnen waren Morgenstern nicht von der Seite gewichen, eine von ihnen hatte sich zu ihm auf die Bank gesetzt und seinen Kopf in ihren Schoß gebettet– warum auch immer. Stabile Seitenlage war das jedenfalls keine. Abrupt richtete er sich auf.

»Geht schon wieder«, sagte er.

»Sind Sie sicher?«

Morgenstern war sich da alles andere als sicher. Der rasche Wechsel von der Horizontalen in die Vertikale hatte schon wieder ein Schwindelgefühl ausgelöst. »Ich muss wieder da hoch. Muss mich kümmern«, murmelte er. Dann stand er auf und eilte mit langen Schritten zurück zum Schäfer, zur Schafweide. Die Walkerinnen folgten ihm, teils aus Fürsorge, teils aus Neugierde.

Nach zehn Minuten waren sie wieder am Unglücksort. Die Schafherde hatte sich inzwischen großflächig über das Gelände verstreut; schon von ferne sah Morgenstern mehrere Polizeikollegen in Uniform, Beamte der Eichstätter Inspektion. Die beiden Schäferhunde sprangen aufgeregt um die Polizisten herum. Von Angriffslust, gar animalischer Mordgier war nichts zu erkennen. Der Schäfer lag immer noch auf dem Weg, über ihn hatten sich ein Notarzt und ein Sanitäter gebeugt.

»Ah, da kommt der Morgenstern«, rief einer der Beamten.

Morgenstern erkannte ihn. Es war der gemütlich-dickliche Ludwig Nieberle, ein kreuzbraver Eichstätter Streifenpolizist, mit dem er schon öfter zu tun gehabt hatte. »Was ist mit dem Schäfer los?«, fragte er als Erstes und behielt dabei furchtsam die Hunde im Auge.

»Vor denen musst du keine Angst haben«, sagte Nieberle, dem der Blick nicht entgangen war. »Das sind ganz Brave. Ich habe selber einen Hund, ich kenne mich aus.«

»Brav?«, fragte Morgenstern ratlos. »Der eine hat seinen Herrn angefallen. Ich hab doch das blutverschmierte Maul gesehen. Und mich hätte er auch fast gepackt.«

Nieberle schüttelte den Kopf. »Nein, das hast du falsch interpretiert. Der wollte seinen Herrn verteidigen. Und zuvor hat er die Wunde abgeleckt. Deswegen hat er die blutige Schnauze.«

»Bist du dir sicher? Dann hat der Hund den Schäfer also nicht gebissen? Kein Angriff?«

»Sieht nicht danach aus.«

»Und was dann?«

Der Streifenpolizist blickte bedächtig hinüber zum Notarzt, der immer noch über den Schäfer gebeugt war. »Ein Schnitt«, sagte er. »Ein langer, glatter Schnitt. Wie mit einem Messer. Ich habe es nur kurz gesehen, dann hab ich weggeguckt. Für solche Sachen habe ich nicht mehr die Nerven.«

»Ein Messer«, wiederholte Morgenstern fassungslos.

»Ein tiefer Schnitt«, präzisierte Nieberle.

Morgenstern ließ die Nachricht sacken. »Und ausgerechnet ich bin als Erster auf ihn gestoßen«, sagte er schließlich mit einer großen Portion Selbstmitleid in der Stimme.

Der Notarzt erhob sich schwerfällig und drehte sich suchend um. Er winkte Nieberle zu sich, Morgenstern folgte.

»Da war nichts mehr zu machen«, sagte der Notarzt. »Der Mann ist verblutet. Die Halsschlagader glatt durchtrennt, da wären wir, auch wenn wir früher gekommen wären, chancenlos gewesen. Er hat bestimmt drei Liter Blut verloren. Das haben wir sonst nur bei ganz, ganz schlimmen Verkehrsunfällen.«

Der gemütliche Ludwig Nieberle schloss für einen Moment die Augen. »Dann ist jetzt wohl der Herr Morgenstern dran, Herr Doktor«, sagte er. Und als der Notarzt erkennbar nichts mit dieser Aussage anzufangen wusste, fügte er hinzu: »Darf ich vorstellen, Mike Morgenstern von der Ingolstädter Kriminalpolizei. Er hat den Mann vorhin gefunden. Privat sozusagen.«

Morgenstern reichte dem Arzt die Hand. »Dann werde ich wohl hier übernehmen.« Er zögerte kurz. »Hätten Sie vielleicht zufällig ein Aspirin für mich?«

Nach einer weiteren halben Stunde wimmelte es am Neuen Weg von Menschen– allerdings nicht wie sonst an Sonntagen üblich von Spaziergängern, Joggern, Wanderern und Hundebesitzern, sondern von Amtspersonen verschiedenster Art. Die Beamten der Polizeiinspektion hatten die Zugänge, die zum toten Schäfer führten, großräumig mit Trassenbändern abgesperrt und zusätzlich Feuerwehrleute postiert, die Schaulustige zurückschickten oder auf parallel laufende Wege verwiesen. Aus Ingolstadt waren zwei Experten von der Spurensicherung eingetroffen, machten Fotos von der Leiche und suchten die gesamte Umgebung nach Hinweisen ab.

Nach Rücksprache mit dem Notarzt war klar, dass die tödliche Verletzung des Schäfers in der Tat von einer scharfen Waffe, am wahrscheinlichsten von einem Messer, herrührte. Der Tote wies zumindest auf den ersten Blick keine weiteren Verletzungen auf; der Angriff musste wohl überraschend gekommen sein.

»Heimtückischer Mord«, sagte Morgenstern. »Wir werden den ganzen Hang, die Hecken und auch den Wald bis zur Stadt hinab nach der Tatwaffe absuchen müssen. Aber zuvor brauchen wir jemanden, der uns die Schafherde wegschafft. In dem ganzen Gewimmel hat die Spurensicherung sonst keine Chance.«

»Schon unterwegs«, sagte Nieberle. »Da drüben ist ein Mann von der Naturschutzbehörde im Landratsamt. Ich habe den vorhin gleich mal anrufen lassen. Der kennt fast alle Schäfer im Altmühltal persönlich und hat mir versprochen, dass er uns einen Schäfer aus der Gegend organisiert. Der kommt mit seinen eigenen Hunden und treibt unsere Herde in einen Pferch. Sonst können wir die heute Abend weiß Gott wo einsammeln.«

Morgenstern winkte den amtlichen Naturschützer zu sich. Der brauchte– wie alle an diesem Morgen– eine Weile, bis er Morgenstern in Sportkleidung mit Morgenstern, dem Mordermittler, in Einklang brachte. Er musste sich dringend umziehen, außerdem brauchte er seinen Ausweis und sein Handy. Und einen Kaffee, dachte Morgenstern.

»Kennen Sie den Schäfer hier?«, fragte er den Naturschützer vom Landratsamt, einen etwa fünfunddreißigjährigen, groß gewachsenen, schlaksigen Mann in Jeans und Sakko.

»Ich kenne den Schäfer, der für diese Hänge zuständig ist. Ich habe immer wieder mit ihm zu tun. Aber ich müsste natürlich erst sehen, ob er es auch wirklich selbst ist, es könnte theoretisch auch ein Helfer von ihm sein. Wissen Sie denn noch nicht, wer der Tote ist?«

Morgenstern schüttelte den Kopf. »Können Sie ihn für uns zweifelsfrei identifizieren?«

»Wenn’s sein muss.« Langsam näherte er sich dem Toten, über den längst eine Wolldecke gelegt war. Morgenstern zog die Decke so weit zurück, dass der Kopf, nicht aber die furchtbare Wunde sichtbar wurde. Den Anblick wollte er jedermann gern ersparen– sich selbst ebenfalls.

Der Naturschützer schluckte, als er das fahle Gesicht, die geschlossenen Augen, sah. Er nickte. »Eindeutig. Es gab vor einiger Zeit einen Wechsel. Seit diesem Jahr kümmert sich der Schäfer aus Pollenfeld um die Flächen hier oben, und das ist er, zweifelsfrei. Der Mann heißt Franz-Xaver Heiß. Wie gesagt, aus Pollenfeld. Wir arbeiten schon lange mit ihm zusammen. Gibt ja nicht mehr viele Hüteschäfer hier im Altmühltal.«

Morgenstern deckte den Toten wieder ganz zu. »Er hat bestimmt Familie?«, fragte er. »Die müssen wir benachrichtigen. Kennen Sie seine Familie, Herr…?«

»Kempf, Michael Kempf. Ich leite die Untere Naturschutzbehörde und bin da auch verantwortlich für die Beweidung unserer Magerrasen. Deswegen die vielen Kontakte mit den Schäfern. Ich war immer mal wieder bei Herrn Heiß oben in Pollenfeld, ist nicht weit, fünf Kilometer nördlich von hier, auf der Jurahöhe.«

»Ist er verheiratet, hat er Kinder?«

»Nicht dass ich wüsste. Ich habe immer nur seine alte Mutter gesehen, die auch für ihn gekocht hat. Ein typischer Junggeselle. Das gibt’s auf den Dörfern öfter.«

»Und der macht die Schäferei ganz alleine?«

»Nein, er hat in der Regel einen oder zwei Helfer, von denen man aber nicht viel zu sehen bekommt. Bulgaren oder Rumänen. Es gibt inzwischen einige, die hier arbeiten, auch in den Steinbrüchen oder auf den Erdbeerfeldern.«

Über den Pfad kam ein schmaler Mann in Cordsakko und Rautenpullover angelaufen. Morgenstern atmete auf. »Da kommt mein Kollege, Oberkommissar Peter Hecht«, erklärte er dem Naturschützer.

»Wie schaust du denn aus?«, sagte Hecht zur Begrüßung. »Kommst du grade vom Polizeisport?«

Morgenstern verzog gequält das Gesicht, und Hecht wurde auch gleich wieder ernst.

»Ich bin so schnell es ging von Schrobenhausen rübergefahren. Am Sonntagmorgen ist zum Glück nicht viel los auf den Straßen. Was wissen wir schon über den Toten?« Hecht zückte seinen Notizblock, und Morgenstern und Kempf bilanzierten das wenige, was bisher bekannt war.

»Wo hat er die Schafe während der Nacht, und wann treibt er sie über die Weide?«, wollte Hecht wissen.

»Der Pferch ist gleich da drüben, Richtung Henkerskapelle«, sagte Kempf und wies nach Osten.

»Henkerskapelle?«, fragten Hecht und Morgenstern wie aus einem Munde.

»Ja, genau. Da drüben, gleich hinter den Hecken, da war im Mittelalter der Eichstätter Hinrichtungsplatz. Da hat der Schäfer eine provisorische Koppel, wo er nachts die Schafe einsperren kann. Dort steht auch ein fahrbarer Wassertank, ein Anhänger, der früher mal für Milchtransporte zur Molkerei verwendet worden ist. Dann haben die Schafe immer genug Wasser. Das ist wichtig hier oben an den Südhängen, da wird es schnell sehr heiß.«

»Und wann treibt er die Schafe raus?«, wiederholte Hecht. »Wir müssen die Tatzeit irgendwie eingrenzen.«

»Ach, das ist natürlich seine eigene Sache. Der Heiß hat ein uraltes Wohnmobil, das er direkt neben der Koppel abstellt und in dem er in der Regel die Nacht verbringt. Dann muss er die Schafe nicht allein lassen. Ich denke, dass er sich in der Früh erst einen Kaffee kocht, danach den Wassertrog für die Schafe füllt, genauer gesagt ist das eine alte Blechbadewanne. Und wenn die Herde getrunken hat, zieht er los. Dann ist es zwischen sieben und acht Uhr, würde ich tippen.«

»Sie kennen sich aber gut aus«, staunte Morgenstern.

»Na, das ergibt sich mit der Zeit«, gab der Naturschützer zurück. »Wir haben uns hier in den letzten Jahren ganz intensiv mit der Schäferei beschäftigt. Da gibt es ein riesiges Naturschutzprojekt namens Altmühlleiten, mit dem wir den Hüteschäfern unter die Arme greifen wollen. Wir haben über das Projekt auch den Wassertank angeschafft. Wenn Sie sich den später mal anschauen, werden Sie sehen, dass da sogar unsere Werbung drauf ist, ›altmuehlleiten.de‹. Und in dem Zusammenhang haben wir uns die Arbeitsabläufe unserer Schäfer ganz genau angesehen: Was brauchen die? Womit können wir denen die Arbeit erleichtern? Wie schaffen wir es, dass die ihre Lämmer für ein ordentliches Geld vermarkten können? Kennen Sie das Konzept ›Altmühltaler Lamm‹?«

Morgenstern glaubte sich dunkel erinnern zu können, dass ihm der Begriff schon einmal untergekommen war. Allerdings kam ihm das ganze Gespräch zu diesem Zeitpunkt doch etwas deplatziert vor. Ganz in der Nähe lag immer noch der tote Schäfer, es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis man ihn in die Gerichtsmedizin nach München abtransportierte.

»Sie würden also sagen, dass der Schäfer nicht vor sieben Uhr hier am Hang gestanden ist?«, fragte Morgenstern.

»Vor sieben Uhr halte ich für unwahrscheinlich. Aber ganz sicher weiß man’s natürlich nicht.«

»Dann müssen wir Zeugen finden, die ihn zuletzt lebend gesehen haben«, erklärte Morgenstern. »Und wir müssen wissen, wer sich da am frühen Morgen alles am Hang herumgetrieben hat. Das Gelände ist zwar groß, aber wenn hier jemand rumschleicht, könnte er trotzdem irgendwem aufgefallen sein. Einem Anwohner unten in der Stadt oder in Wintershof, einem Hundebesitzer, der in aller Frühe schon unterwegs ist, Senioren mit Schlafstörung, die es bei Sonnenaufgang schon aus dem Bett treibt.«

»So wie dich«, fügte Hecht hinzu. »Ich hätte nie gedacht, dass du so früh auf den Beinen bist. An einem Sonntag.«

»Ausnahmen bestätigen die Regel«, nuschelte Morgenstern. »Muss fit werden für den Halbmarathon von Eichstätt nach Neuburg im Herbst. Den Lions-Lauf.«

»Da hast du noch einen weiten Weg vor dir«, meinte Hecht. »Du bist blass wie der Tod. Weißt du was: Ich schicke dich jetzt nach Hause. Ich kümmere mich hier um alles Weitere. Und am Nachmittag sehen wir uns wieder.«

ZWEI

Fiona wartete bereits auf ihn: Der Frühstückstisch war gedeckt, es duftete nach Kaffee und frischen Semmeln, um deren sonntäglichen Verkauf sich in Eichstätt ein halbes Dutzend Bäcker balgten. Marius und Bastian, die Söhne der Morgensterns, neun und sieben Jahre alt, saßen am Tisch und aßen Schokoladencroissants.

»Wo bist du denn so lange gewesen?«, fragte Fiona vorwurfsvoll. »Ich dachte schon, wir müssen dich suchen gehen. Wann bist du eigentlich heute Nacht heimgekommen? Und außerdem stinkst du ganz schrecklich.«

Jetzt erst merkte Morgenstern, dass er seine Joggingschuhe besser vor der Wohnungstür gelassen hätte. Der Schafdreck stank zum Himmel. Eilig streifte er sich die schmutzigen Schuhe von den Füßen und stellte sie nach draußen. »Schafscheiß«, sagte er entschuldigend, und es blieb offen, ob er damit nur seine Sportschuhe oder die Gesamtsituation meinte.

Er trank einen Schluck Kaffee, den ersten dieses Tages, dann erklärte er Fiona mit wenigen Sätzen, was er am Neuen Weg erlebt hatte. Die Kinder bombardierten ihn mit Fragen, aber Morgenstern wich aus. »Und jetzt muss ich mich dringend hinlegen«, schloss er und stand auf. »Bis Mittag muss ich einigermaßen fit sein.«

»Ich bring dir noch ein Aspirin ins Schlafzimmer«, sagte Fiona.

»Gute Frau«, murmelte Morgenstern dankbar.

Dank eines gerade mal zweistündigen Tiefschlafs und der pharmazeutischen Künste der BayerAG war Morgenstern gegen zwölf Uhr Mittag so weit wiederhergestellt, dass er sich für halbwegs einsatzfähig hielt. Peter Hecht war immer noch am Berghang zugange, erklärte aber, er habe so weit alles geklärt. Die Spurensicherung habe den ganzen Tatort unter die Lupe genommen. Vom Tatwerkzeug, mutmaßlich einem Messer, fehle allerdings jede Spur. Die Schafherde werde inzwischen von einem anderen Schäfer betreut, der seinen eigenen Hund mitgebracht habe.

»Und die Familie des Schäfers?«, fragte Morgenstern vorsichtig.

»Da gibt es tatsächlich nur die alte Mutter. Irgendwer aus Pollenfeld hat sie, kurz nachdem du weg warst, hergebracht. Ich glaube, der Bürgermeister war’s. Sie hat nur stumm in die Ferne geschaut und sich dann auf eine Bank gesetzt. Der Doktor wollte ihr ein Beruhigungsmittel geben, aber sie hat das abgelehnt. Und dann wollte sie wieder nach Hause. Immerhin ist das nun erledigt. Sie hat ihren Sohn identifiziert. Damit hat alles seine bürokratische Ordnung. Was sein muss, muss sein.«

»Hast du sie gefragt, ob sie jemanden verdächtigt?«

»Ich hab’s tatsächlich versucht, aber sie hat nur den Kopf geschüttelt. Sie hat noch gemeint, wir sollen den Kiril fragen, das ist ihr Helfer auf dem Hof.«

»Was ist das für ein Landsmann?«

»Laut Bürgermeister ist er Bulgare. Der Bürgermeister weiß das, weil dieser Kiril anscheinend ordnungsgemäß im Rathaus gemeldet ist.«

»Nichts wie hin«, sagte Morgenstern. »Wir schauen uns den Burschen gleich mal genauer an.«

Eine halbe Stunde später trafen sich Hecht und Morgenstern am Ortsschild von Pollenfeld und fuhren dann hintereinanderher zum Hof des Schäfers. Das Anwesen lag am Dorfrand in Richtung Seuversholz. In einiger Entfernung drehten sich in gleichmütiger Synchronbewegung drei Windräder. Die Jurahochfläche war das Eldorado der bayerischen Windenergie, einige Jahre lang hatte unter Investoren geradezu Goldgräberstimmung geherrscht.

Auf einer Koppel grasten ein paar Pferde auf magerer Weide. Gleich daneben befand sich eine weitere Wiese, auf der ein paar Schafe im Schatten einiger verhutzelter Apfelbäume dösten. Der Hof des Schäfers bestand aus einem heruntergekommenen Wohnhaus, einem verwitterten Stadel und mehreren Garagen, an die sich ein Hundezwinger anschloss. Gemeinsam bildeten die Teile des Anwesens eine U-Form.

Mitten im Hof stand ein angeschrammtes blaues Auto mit bulgarischem Kennzeichen. Das Scheunentor stand halb offen. Morgenstern und Hecht parkten ihre Autos daneben.

»Hallo, ist da jemand?«, rief Morgenstern.

»Ja, hier«, tönte es aus der Scheune zurück. Die beiden Kommissare gingen aus der gleißenden Maisonne in das dämmrige Gebäude hinein. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. In die Scheune integriert war ein grob verputzter, gemauerter Raum mit einer stählernen Tür, die einen Spalt geöffnet war und nun ganz aufging. Ein Mann mit einem mächtigen Schnurrbart kam heraus, bekleidet mit einer kurzen Hose und einem T-Shirt, über dem er eine ehemals weiße, blutverschmierte Schürze aus Plastik oder Gummi trug.

»Hallo«, sagte Morgenstern und wedelte präventiv mit seinem Dienstausweis. »Wir sind von der Kriminalpolizei.«

»Polizei«, sagte der Mann mit ängstlichem Unterton. »Habe ich schon gewartet.«

»Sieht auf den ersten Blick nicht danach aus«, sagte Morgenstern und deutete auf die blutige Schürze. »Und das am Sonntag.«

»Geht nicht anders. Schafe werden heute geholt.«

»Darf ich reinschauen?«, fragte Morgenstern und wartete erst gar nicht auf eine Antwort, sondern ging auf die Tür zu.

»Bitte«, sagte der Bulgare. »Kühlraum.«

Morgenstern hatte eigentlich erwartet, dass sein Magen mittlerweile eingerenkt wäre, aber das stellte sich nun als Irrtum heraus. Als er den Kopf in den Kühlraum steckte, blickte er nicht nur in eine von oben bis unten weiß geflieste Kammer, sondern vor allem auf fünf blutige, an stählernen Haken aufgehängte Schafkörper. Die Tiere, ausgeweidet, ohne Fell, hingen kopfüber und erinnerten ihn spontan an die groteske Körperwelten-Ausstellung mit toten Menschen, die hin und wieder in deutschen Großstädten für Aufruhr und Publikumsansturm sorgte, in Morgensterns Augen aber nichts anderes war als die moderne Variante von abstoßender Jahrmarktsbelustigung aus längst vergangenen Jahrhunderten. Eilig wandte er sich um, als er spürte, dass ihm übel wurde.

»Habe grade umgehängt«, sagte der Schnauzbart. »Werden gleich geholt.« Er schaute auf seine billige Armbanduhr. »Müssen gleich kommen.«

»Wer kommt?«, fragte Hecht, der sich zum ersten Mal einmischte, weil das dürre Gespräch aufgrund von Morgensterns Unpässlichkeit ins Stocken zu geraten drohte.

»Türken. Aus Ingolstadt. Kaufen Schafe.«

Auch Hecht warf nun einen Blick ins Kühlhaus, und er war nicht minder beeindruckt als zuvor schon Morgenstern. »Die haben ja noch die Köpfe dran«, stöhnte er. »Und die Zungen hängen raus.«

»Ganz normal«, sagte der Schnauzbart. »Schmeckt gut. Gut Qualität. Altmühltaler Lamm.«

»Jetzt aber raus hier«, entschied Morgenstern. »Wir müssen mit Ihnen über Ihren Chef sprechen. Über den Schäfer.«

Der Mann zog sich zu Morgensterns Erleichterung die Metzgerschürze aus und verwandelte sich in einen ganz normalen Saisonarbeiter, als käme er geradewegs vom Spargelfeld und nicht aus einem blutverschmierten Schlachthaus. Dann traten alle drei auf den Hof.

»Haben Sie Probleme mit dem Chef gehabt?«, fragte Morgenstern beiläufig.

»Probläme? Mit Chef? Nein.«

Hecht ließ sich den Ausweis zeigen und notierte Namen und Heimatadresse. »Seit wann sind Sie hier in Pollenfeld?«

»Fast zwei Monate. In einer Woche fahre ich nach Hause. Aber später komme ich zurück. Muss ja. Wer soll Hof machen?« Er hob die Hände zum Himmel.

»Da findet sich bestimmt eine Ausnahmeregelung für Sie«, sagte Morgenstern. Und dachte sich dazu, dass er den Mann unter den momentanen Umständen gewiss nicht in seine südosteuropäische Heimat abziehen lassen würde, sollte der Mörder des Schäfers bis dahin nicht gefunden sein.

»Hat er Sie gut bezahlt?«, fragte Hecht. »Man hört manchmal, dass es da Probleme gibt.«

Es war unübersehbar, dass der Bulgare nicht jedes Wort verstand. Aber das Wichtigste würde er schon mitbekommen.

»Gut bezahlt? Geht so. Vierzig Euro am Tag.«

Morgenstern überschlug kurz, dass das gerade mal tausendzweihundert Euro im Monat brachte– bei ununterbrochener Arbeit, die sogar am gottgeweihten Sonntag ins Schlachthaus führte. Kein Wunder, dass sich kein Einheimischer für solche Arbeiten finden ließ.

»Haben Sie Ihr Geld schon bekommen?«, bohrte Hecht mit feinem Riecher nach.

»Nein, noch nicht«, sagte der Bulgare.

»Warum nicht?«

»Chef hat gesagt, bekomme ich am Ende, wenn ich heimfahre. Habe nur zweihundert Euro gekriegt. Anzahlung.«

»Dann warten Sie also noch auf tausend Euro«, sagte Hecht und warf Morgenstern einen vielsagenden Blick zu. Der Bulgare nickte.

Hecht warf einen Blick auf seinen Notizblock. »Herr Kiril Amitow…« Der Mann sah ihn wegen dieser förmlichen Ansprache mit furchtsamer Miene an. »Hatten Sie Streit mit Ihrem Chef? Haben Sie mit ihm um Geld gestritten?«

»Nein«, sagte Amitow knapp. »Ist ganz normal. Geld kriegst du am Schluss.«

»Oder auch nicht«, sagte Morgenstern ebenso knapp. »Herr Amitow, wo waren Sie heute früh gegen sieben Uhr?« Er sah ihn eindringlich an, in der Hoffnung, aus seinem Mienenspiel Signale lesen zu können. Panik, Schrecken oder auch nur den verzweifelten Versuch, ein undurchschaubares Pokergesicht zu bewahren.

»Sieben Uhr?« Der Bulgare zupfte sich am Schnurrbart. »Im Stall, bei kranken Schafen, die nicht in der Herde sein können. Habe Heu gefüttert. Oma war dabei.«

Hecht notierte sich die Aussage sorgfältig mit seinem edlen Montblanc-Füllfederhalter.

»Haben Sie den Hof irgendwann am Morgen verlassen?«, legte Morgenstern sicherheitshalber nach. In diesem Moment kam ein schmutzig weißer Sprinter-Bus in den Hof eingefahren. Mit Ingolstädter Kennzeichen.

»Ah«, sagte Amitow mit unüberhörbarer Erleichterung. »Die Türken.«

Eifrig ging er auf den Wagen zu, dem jetzt zwei bärtige Männer mit weißen Käppis und langen, nachthemdartigen Gewändern entstiegen.

»Heute reiten wir wohl jedes Ausländerklischee«, sagte Morgenstern zu Hecht. »Die Türken, die ich so kenne, schauen wie du und ich aus. Aber die hier, das sind hundertfünfzigprozentige Moslems. Ganz strenge. Oder?«

»Jedenfalls sehr traditionelle«, sagte Hecht. »Hoffentlich keine Salafisten. Die sieht man doch manchmal in der Fußgängerzone in Ingolstadt. Bei denen müssen die Frauen tief verschleiert rumlaufen.«

»Das gibt’s in Eichstätt auch«, fiel Morgenstern ein. »Bloß sind das dann Klosterschwestern.«

»Blödmann!«, sagte Hecht mit Empörung in der Stimme.

Die beiden Türken warfen einen skeptischen Blick auf die ihnen unbekannten Kommissare, nickten dann aber kurz und wandten sich dem Bulgaren zu. Der lotste sie in den Schlachtraum, und wenig später kamen alle drei wieder zurück auf den Hof, mit einer Schubkarre, auf der drei geschlachtete Schafe lagen. Die Tiere legten sie ohne große Umschweife in den Laderaum des Sprinters, auf dem eine Plastikplane ausgebreitet war. Es folgte ein kurzes, leise geführtes Gespräch, das– soweit Hecht und Morgenstern das verfolgen konnten– zunehmend an Schärfe gewann. Schließlich ging Amitow noch einmal in die Scheune zurück.

»Was macht er jetzt?«, fragte Morgenstern.

»Der holt bestimmt noch ein Schaf«, tippte Hecht.

Seine Vermutung wurde kurz darauf bestätigt, allerdings nicht so, wie die beiden sich das vorgestellt hatten. An einem fasrigen Strick führte Amitow ein lebendiges, sich heftig wehrendes Schaf aus der Scheune. Das Tier protestierte mit lautem Blöken, als Amitow es in Richtung Lieferwagen zog. Schließlich packten die beiden Türken mit an, und zu dritt wurde das Tier in den Lieferwagen gehievt. Einer der Kunden band es irgendwie im Wagen fest, unmittelbar neben den bereits geschlachteten Schafen. Das Schaf blökte nun in Panik und Todesangst. Die Besucher knallten die Türen des Sprinters zu, gaben Amitow noch die Hand, nickten Hecht und Morgenstern der Vollständigkeit halber unverbindlich zu, stiegen in den Wagen und fuhren davon.

»Ziemlich rustikal«, sagte Morgenstern.

»Hygienisch grenzwertig«, stimmte Hecht zu. »Tierschutzverstoß, keine Kühlkette eingehalten. Und das alles unter den Augen der Staatsgewalt.«

»Welche Staatsgewalt?«, fragte Morgenstern.

»Ja, wir beide halt.«

»Ach so. Stimmt. Aber beim lebenden Schaf ist mit der Kühlkette alles in Ordnung. Immerhin.«

Amitow war die fehlende Diskretion bei der Geschäftsabwicklung mit den Türken nun sichtbar peinlich. Entschuldigend kam er auf die Polizisten zu. »Sind gute Kunden«, sagte er zur Erklärung. »Kaufen einmal in der Woche bei uns.«

»Was machen die mit dem Fleisch?«, wollte Morgenstern wissen.

»Essen es privat«, beeilte sich Amitow zu antworten, der merkte, dass zwischen den Lebensmittelvorschriften der Europäischen Union und den Vorstellungen der letzten Kunden eine gewisse Diskrepanz herrschte.

»Und wofür brauchen sie das lebende Schaf?«, fragte Hecht.

Amitow schüttelte den Kopf, als wolle er darauf lieber nicht antworten.

»Nun sagen Sie schon«, drängte Morgenstern. »Warum nehmen die ein lebendiges Schaf mit?«

Der bulgarische Helfer zögerte. Er kratzte sich unschlüssig unter der Achsel, zog dann ein riesiges Taschentuch aus der Hose, um sich umständlich zu schnäuzen.

Als er fertig war, schauten ihn die Kommissare immer noch erwartungsvoll an.

»Also, was ist jetzt mit dem Schaf? Die werden es wohl kaum für einen Privatzoo gekauft haben.«

Amitow gab sich einen Ruck, dann, statt einer Antwort, machte er eine einzige Handbewegung. Er hielt sich die flach ausgestreckte rechte Hand vor den Hals und zog sie mit einer raschen Bewegung nach rechts.

Morgenstern erschauerte. Er dachte an den Schäfer, der erst vor wenigen Stunden vielleicht durch genau die gleiche Handbewegung zu Tode gekommen war. Durch einen schnellen, scharfen, entschlossen geführten Schnitt durch den Hals. Er sah, dass Hecht den gleichen Gedanken hatte.

»Das ist in Deutschland verboten«, sagte Hecht schließlich. »Bei uns müssen Tiere vor dem Schlachten betäubt werden, das weiß doch jeder.«

Amitow zuckte mit den Schultern. »Geht mich nichts an. Ich habe Schaf nur geholt.«

Hecht hatte sich bereits beim Wegfahren des Sprinters das Autokennzeichen notiert. »Haben Sie Namen und Adresse der Kunden?«, fragte er.

Tatsächlich hatte Franz-Xaver Heiß die Daten in krakeliger Handschrift mit Kugelschreiber in einem speckigen Notizbuch notiert, das auf einem wackligen Tisch neben dem Schlachtraum lag. Hecht schrieb sich die Daten samt Telefonnummer auf. Es handelte sich um einen Ibrahim Moussadi von einem türkisch-islamischen Verein in Ingolstadt, irgendwo im Gewerbegebiet an der Manchinger Straße gelegen.

»Wir müssen mit der Mutter sprechen, mit Frau Heiß«, sagte Morgenstern und deutete aufs Haus. »Ist sie drin?«

Amitow nickte. »Schaut schon ganze Zeit zu.«

Tatsächlich stand hinter einem Fenster im Erdgeschoss eine Gestalt und starrte bewegungslos in den Hof.

Kurz darauf saßen Morgenstern und Hecht in einer schmucklos-zweckmäßigen Wohnküche, deren Inventar seit den 1970er Jahren unverändert schien. Weiße Resopalmöbel, ein durchgewetztes Sofa, ein paar einfache Holzstühle. Es roch leicht nach Schafmist, stellte Morgenstern fest. Der Schäfer und sein Gehilfe hatten das Prinzip der »Schmutzschleuse« zwischen Arbeits- und Wohnbereich offenkundig nicht verinnerlicht und waren in aller Regel mit ihrem Stallgewand und den verdreckten Schuhen in der Stube ein und aus gegangen.

Die Mutter des Schäfers war etwa achtzig Jahre alt, klein gewachsen und dazu vom Alter gebeugt. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, sei es als Reaktion auf den Tod ihres Sohnes, sei es, weil sie als Witwe ohnehin seit vielen Jahren nur noch Trauergarderobe im Schrank hatte.

Die Frau stellte sich Morgenstern als Philomena Heiß vor. Er drückte zum Zeichen des Beileids ihre knochige, von blauen Adern überzogene Hand. »Meinen Kollegen, Oberkommissar Hecht, haben Sie ja bereits heute Vormittag kennengelernt. Ich selbst habe Ihren Sohn heute früh tot gefunden.«

»Das hat man mir gesagt«, sagte die Frau. »Glauben Sie, dass er leiden musste?«

Morgenstern dachte eine Sekunde zu lange nach. Dann entschloss er sich zur Notlüge. »Ich glaube nicht, der Angriff muss Ihren Sohn völlig überrascht haben, und dann muss er ganz rasch das Bewusstsein verloren haben. Bei so viel Blutverlust.« Er schaute ihr in die Augen. »Sie kennen das vielleicht von den Schafen.«

Die Frau blickte starr zurück. »Schafe werden mit dem Bolzenschussapparat betäubt, das sollten Sie wissen. Dann erst macht man die Ader auf.«

Morgenstern und Hecht warfen sich einen Blick zu. »Ich glaube trotzdem, dass Ihr Sohn nicht lange leiden musste. Er hat bestimmt gleich einen Schock erlitten.«

»Wenn Sie das sagen…«

»Frau Heiß, Sie haben bestimmt schon darüber nachgedacht, wer als Täter in Frage kommt. Sie haben, so sagte mir Kollege Hecht, Ihren bulgarischen Betriebshelfer in Verdacht. Stimmt das?«

»Deswegen haben wir Herrn Amitow auch draußen auf dem Hof gelassen«, sagte Hecht.

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, meinte die Frau verzagt. »Der Kiril hat mit meinem Franz-Xaver ein paarmal gestritten, wegen aller möglichen Dinge.«

Hecht machte sich Notizen. »Welche Dinge?«, fragte er mit dem Ernst des Protokollführers.

»Einmal ging es um die Bezahlung. Und Kiril hat sein Auto immer an unserem Dieselfass in der Garage vollgetankt, einfach so. Es sind auch einmal zwei Lämmer gestorben, und der Franz-Xaver hat gemeint, dass Kiril dran schuld ist.« Philomena Heiß blickte auf. »Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Kiril muss sich um die Schafe kümmern, aber ich kann doch nicht mehr mit dem Zigeuner unter einem Dach wohnen.«

»Frau Heiß, mäßigen Sie sich bitte«, befahl Morgenstern. »Erstens ist Herr Amitow kein ›Zigeuner‹, und zweitens wissen wir überhaupt nicht, was er mit der Sache zu tun hat. Heute früh war er angeblich im Stall. Und Sie waren auch dabei. Können Sie das bestätigen?«

Philomena Heiß dachte nach. »Ja, wir waren die meiste Zeit zusammen im Stall. Und sein Auto ist den ganzen Morgen im Hof gestanden.«

»Gibt es noch ein anderes Fahrzeug, mit dem er schnell nach Eichstätt hätte fahren können, ohne dass Sie es merken?«

»Mein Sohn hat einen Jeep. Und dann gibt es noch den Bulldog und ein paar Fahrräder.«