Am anderen Ende der Stadt - Gérard Scappini - E-Book

Am anderen Ende der Stadt E-Book

Gérard Scappini

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Beschreibung

Fortsetzung von »Ungeteerte Straßen - Eine Kindheit in Frankreich« In lyrischer Prosa erzählt Scappini Szenen aus der frühen Jugend und Pubertät des jungen Franzosen Pascal. Ein Leben in den Anfängen, eine Identität in den Startlöchern: Im Panorama des Erlebten, Gefühlten, Gedachten entsteht das Mosaik einer Familie im Dickicht des Alltäglichen. Ein Bild der Gesellschaft und ihrer Normalität, aber auch ihrer widersprüchlichen Moral im Frankreich der 60er Jahre - durch die unbefangenen, wachen Augen des jungen Pascal. Filterlose Wahrnehmungen, die in verdichteten Anekdoten von Hoffnungen, Erwartungen, Enttäuschungen künden.

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Gérard Scappini · Am anderen Ende der Stadt

Gérard Scappini

Am anderen Ende der Stadt

Eine Jugend in Frankreich

PENDRAGON

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

WachsenAufwachsenHeranwachsen

1

In diesem neuen Viertel,

am anderen Ende der Stadt,

wohnen wir jetzt in einer Sozialwohnung.

Unter Proleten, sagt Mama anzüglich,

fühlt sich dein Vater am wohlsten.

Im vierzehnten Stockwerk

befindet sich unser neues Zuhause

mit Badezimmer und eigenem, separatem Klo.

Vom Balkon aus

eine unverbaubare Sicht auf den Hafen,

frohlockt Vater,

und mit einem Aufzug!

In der ungeteerten Straße

habe ich mich von niemandem verabschiedet.

Nicht einmal von Henri.

Jean-Claude

sehe ich dann Donnerstag im Training.

Vater hatte mir genau erklärt,

wie ich am Samstag nach dem Unterricht

zu unserem neuen Viertel hinkomme.

Heute Morgen

bin ich mit Jean-Baptiste

wie gewöhnlich ins Gymnasium gelaufen.

Aber ihn informiert,

oder mit ihm darüber gesprochen,

habe ich gar nicht.

Wie Mama bin ich vorgegangen

als sie sich,

damals von Opa Casenave

nur mit einer Eintragung,

in dieses dicke schwarze Buch

schweigend verabschiedete.

Vor Trennung fürchte ich mich,

kann meine Tränen beim Abschied

nicht aufhalten.

Und passende Worte dafür

fallen mir

selten

ein.

2

In unserem

unbekannten Viertel

blicke ich

auf eine

befremdende Umgebung, namenlose Gesichter,

und fünf verschiedene Wohnblöcke.

Im

einzigen Wolkenkratzer

wohnen wir.

Unser Haus trägt keinen Namen

nur eine Nummer: 14 A.

Es sieht sehr imposant, mächtig,

und auch streng aus.

Wenn ich ganz nahe davor stehe,

am Hauseingang,

und nach oben blicke,

bekomme ich ein Schwindelgefühl.

Vorübergehend.

Unsere neue Adresse:

Avenue des Fusilliers Marins,

Missiessy Bâtiment 14 A.

Keine ungeteerte Straße.

Alles gründlich asphaltiert.

Diese schmale Avenue,

befahren von Armee-Lastern und PKWs

mit Militärkennzeichen,

hat keinen Bürgersteig.

Die rechte Seite mit Platanen bepflanzt.

Seitlich von der Straße,

direkt hinter den Bäumen,

vierstöckige breite Häuser.

Fünf.

Mit Balkon.

Hintereinander gebaut, mit verblassten Fassaden,

geschlossenen Fenstern.

Entlang dieses engen Fahrweges laufe ich,

viermal täglich, stets mit einem Seitenblick,

muss dann links ab,

über einen steilen asphaltierten kleinen Hügel

steigen, dann bin ich

vor der oft weit geöffneten braunen Holztür

unseres Hochhauses.

Die Avenue des Fusilliers Marins

endet vor dem Süd-Eingang zum Arsenal.

Vater erreicht seine Arbeitsstelle durch den

Haupteingang,

hat einen fünfminütigen Gehweg, neben der

kleinen Autobahn,

die in die Stadt führt.

Auf der linken Seite dieser Straße,

mit Laternen beleuchtet,

die Kneipe Au Bon Port,

mit einer verwaisten Terrasse, die als Parkplatz

dient, und verdunkelten Fenstern.

Erst abends öffnet sie ihre Tür.

Passt zu der Proleten-Gegend, ereifert sich Mutter.

Vater schüttelt den Kopf.

Fremd, fühle ich mich hier,

aussortiert,

vermisse meinen alten Stadtteil, meine Kumpel,

unsere Boules-Spiele dort.

Für unser Gebäude ist ein Hausmeister zuständig:

Mohamed.

Aus Algerien, aber hier geboren, immer lächelnd

und zuvorkommend.

Mohamed siezt alle.

Er spricht Französisch

mit einem starken arabischen Akzent.

Ich verstehe ihn schlecht.

Vater,

wenn er mit ihm sprechen muss, duzt ihn.

Zwischen den Jahren

bekommt er von den Anwohnern Trinkgelder.

Wie der Briefträger.

Als Zeichen des Dankes verbeugt er sich, lächelt,

zeigt dabei seine goldenen Zähne.

Vater spendiert ihm nichts.

Er hat doch seinen Lohn, antwortet er verärgert,

als Mutter ihn darauf anspricht,

und wohnt auch noch mit seiner Familie umsonst!

In dieser noch nie bewohnten Wohnung,

die noch frisch nach Gips und Farben riecht,

Kabel lose hängen, und in jedem Zimmer volle

Kartons herumstehen,

fehlt mir noch Vertrautheit und Wärme.

Wenn ich auf dem Klo sitze,

irritiert es mich noch,

gleichzeitig die Stimmen meiner Eltern,

oder Marie-Louises wahrzunehmen.

Im Badezimmer sperre ich mich ein.

Selbst zum Zähneputzen.

Diese Demütigung

in der Villa Marie-Rose kann ich bis heute nicht

vergessen,

als ich ausgerechnet nackt vor dem Waschbecken

stand und Mutter ungeniert

auf und ab durch die Küche ging.

Wieso

darf ich nicht das einzige Kinderzimmer

bekommen?

Du bist selber schuld, antwortet Mutter,

hättest du die Grundbegriffe der Musik lernen

wollen,

vielleicht später auch Geige gespielt wie ich,

würdest du

jetzt dort einziehen!

Warum

kann ich Mutter nicht daran erinnern,

in der Villa Marie-Rose befand sich das Klavier

in meinem Schlafzimmer,

und hatte ich damals schon etwas verweigert?

Zwecklos ist es doch:

Mutters Repliken kenne ich mittlerweile zu gut.

Beugen

muss ich mich,

vor Marie-Louise und ihrem Talent.

3

Es dauert Tage,

und Mutters ganze Überredungskunst,

bis sie Vater weichgekocht hat, wie sie es nennt,

dann endlich

Geld vom Sparbuch bekommt.

Sie lebt richtig auf:

plant, nimmt Maß, kombiniert, geht täglich in

die Stadt,

manchmal sogar bis zu zweimal,

besorgt und prüft Angebote,

handelt ein Werbegeschenk aus,

entscheidet sich.

Über ihrer nagelneuen Anrichte

und in ihrer gesamten Länge lässt sie

einen Wandspiegel anbringen,

an dessen vier Ecken ziselierte Ornamente

die haltenden Schrauben verstecken.

Ein hellbrauner, glänzender Tisch

und sechs Stühle,

mit weißem Leder überspannt

und hohen Lehnen, stehen mitten im Raum,

direkt darüber ein Kronleuchter.

In einer schmalen Wandnische

bringt sie fünf Bretter an,

verwandelt sie so in ihre Bibliothek.

Darunter stellt sie

auf einen kleinen dreibeinigen Tisch

das Grammophon ihres verstorbenen Bruders

mit ihrer Schallplattensammlung

klassischer Musik.

In ihrem schön eingerichteten Wohnzimmer

schlafe ich.

Ein neues Bett bekomme ich: ein Sofa,

ein klappbares.

Im Flur steht mein Kleiderschrank.

Das ist unser Zimmer Pascal, schwärmt Mutter,

zwinkert mir mit ihrem rechten Auge zu.

Hier, sie zeigt auf den braunen Wohnzimmertisch,

kannst du deine Hausaufgaben erledigen, sagt sie,

während ich ein Buch lese

oder ein Klavierkonzert höre.

4

Unser Gymnasium liegt im Stadtzentrum,

schon eine gute halbe Stunde Fußmarsch

von der neuen Siedlung entfernt.

Marie-Louise und ich

sollen den Bus benutzen um dorthin zu kommen,

aber

Vater

bezahlt uns nur

zwei Busfahrten,

wir müssen sparen, Pascal, weiht er mich ein,

von Mann zu Mann

unser Umzug hat viel Geld gekostet,

die Waschmaschine, der Kühlschrank,

dein neues Sofa,

damit ihr es schön habt, verstehst du,

auch ich laufe täglich zur Arbeit. Und bei jedem

Wetter, witzelt er.

Nur zweimal läuft Marie-Louise mit ihrer neuen

Freundin Josephine.

Jeden Tag, allein, marschiere ich, viermal zum

Gymnasium

um mein Taschengeld aufzubessern.

Sogar bei Regen!

Und wenn glücklicherweise mein Unterricht

ausfällt,

verbringe ich

diese unbeaufsichtigte Zeit am Bahnhof,

kaufe mir,

mit dem erlaufenen Fahrgeld, ein Gleisticket,

setze mich auf eine verwaiste Bank,

beobachte dann die ankommenden,

und weiterfahrenden Züge.

Ich stelle mir diese fremden Städte vor,

die eine helle, weibliche Stimme

durch den Lautsprecher ansagt.

Nice, Monaco, Turin.

Ich male sie mir bunt aus.

An diese Orte wandere ich aus,

beginne ein neues Leben,

mit unbekannten Eltern, einem älteren Bruder.

Eine Lokomotive zischt,

spuckt eine weiße Dampfwolke aus,

pfeift,

zersplittert meine Gedanken,

reißt mich aus meinem Traum.

Noch sitze ich am Gleis eins.

Eine gurrende Taube

mit ruckartigen Vorwärtsbewegungen,

scheint mich zu begrüßen.

Fahrgäste winken Verwandten, oder Bekannten

zu,

wechseln noch eilig ein paar belanglose Worte.

Der Zug ruckt, setzt sich mühsam in Bewegung,

beschleunigt,

schlängelt sich aus der Stadt, verschwindet aus

meinem Blick.

Jetzt

muss ich mich

zur Schule sputen.

5

Mitten in der Nacht renne ich auf die Toilette.

Gerade rechtzeitig

um mich in die Kloschüssel zu übergeben.

Mit tränenden Augen,

einem säuerlichen Geschmack im Mund

bleibe ich

auf unsicheren Beinen,

leicht nach vorne gebückt,

noch vor dem Klo stehen.

Mutter, die mein Würgen gehört hat,

eilt zu Hilfe, holt ein Handtuch.

Ich koche dir einen Thymiantee, murmelt sie

um Vater und Marie-Louise nicht aufzuwecken.

Ich hatte das Gefühl

mein Magen wollte sich aus meinem Körper

hinaus katapultieren,

sich von mir trennen.

Klatschnass

bin ich.

Mein

Kopf brennt.

Komm Pascal, trink den Tee,

er wird deinen Magen beruhigen.

Wir sitzen am gelben Resopal-Küchentisch,

mit den vier dazu gehörenden gleich farbigen

Stühlen,

die Mutter für unsere neue Wohnung

vor einer Woche ausgesucht hatte.

Die Küchentür hinter mir hat sie zugemacht.

Hast du gestern

etwas in der Stadt gegessen und nicht vertragen?,

fragt sie besorgt.

Nein, antworte ich einsilbig.

Mein Erbrochenes sah orange, mehlig aus,

und wische mir reflexartig den Mund ab.

Meine Muscheln Marinière?

Ich nippe an meinem Tee.

Du isst nicht, Pascal, du verschlingst alles,

wie dein Vater, rügt sie mich.

Sie holt eine leere Tasse,

gießt sich einen Kräutertee ein.

Ich habe nur mit Thymian, Rosmarin, Basilikum,

einem bisschen Weißwein, und Crème fraîche

gekocht!, ergänzt sie,

um mir ihre Unschuld zu beweisen.

Sie trinkt ihren Tee aus,

stellt die Tasse auf die Untertasse,

um unversehens mit bedächtiger Stimme zu

erzählen.

Als Säugling hätte sie mich gestillt.

Tag und Nacht.

Nach ein paar Monaten,

sobald

ich gierig aus ihrer Brust mich satt getrunken

hatte,

erbrach ich alles.

Meine Milch

wolltest du anscheinend nicht mehr, sagt sie.

Sie bleibt einen Augenblick still, als ob sie noch

Erinnerungen ausschachten müsste.

Mager warst du geworden.

Du weintest, rudertest mit deinen dünnen Armen,

schriest,

presstest deine winzigen Fäuste zusammen,

führtest sie in deinen Mund,

saugtest daran.

Eine panische Angst dich zu verlieren, führt sie

weiter fort, überkam mich,

ich rannte mit dir zu unserem Arzt.

Über ihn bekamst du die Milch einer fremden Frau

verordnet.

Ihr Kind war bei der Geburt gestorben. Und sie

wohnte nur ein paar Straßen weiter.

Du trankst ihre Milch aus der Flasche.

Sie schmeckte dir.

Danach rülpsen, nicht erbrechen.

Und schlafen.

Gerettet

warst

du.

Mit Marie-Louise, später,

hatte ich dieses Dilemma nicht, seufzt sie.

Sie verstummt,

start ihre Tasse an,

meidet meinen Blick.

Fühlt sich Mutter von mir verraten?

6

Wir sitzen schon am Küchentisch,

als Vater nach Hause kommt.

Flüchtig nur küsst er Mutter,

wortlos händigt er ihr die Tageszeitung aus,

die er täglich von der Arbeit mit nach Hause

bringt.

Mit einem erzwungenen Lächeln begrüßt er

Marie-Louise und mich.

Trüb sein Gesicht.

Dicke Luft, denke ich verunsichert.

Mama schaltet das kleine grüne Transistorradio

reflexartig ein,

gerade säuselt Jacques Brel Ne me quitte pas.

Von seiner Stimme abgelenkt,

denke ich an Claudine.

Spaghetti,

mit einer frischen Tomaten- und Basilikumsauce

hat Mutter wieder hingezaubert,

die ein Aroma verbreitet, als ob sie mit einem

Weihrauchfass diesen Duft durch die Wohnung

geschwenkt hätte.

Sie schenkt Vater Rotwein ein.

Uns Leitungswasser.

Stumm bleibt er. Blickt auf seinen Teller.

Wickelt um seine Gabel die Spaghetti herum.

Ist was passiert Robert, wispert Mutter,

mit deiner Mutter?

Vater trinkt seinen Rotwein aus.

Mutter erhebt sich, ohne einen Ton zu sagen.

Den Küchentisch räumt sie mit Marie-Louise auf.

Ich hole das Kaffeegeschirr

aus dem Küchenschrank,

stelle es schweigsam auf dem Tisch ab.

Mutter füllt mit der neu erworbenen italienischen

Kaffeekanne die Tassen auf.

Robert, ist etwas passiert?, wiederholt sie jetzt

beunruhigt.

Margot, sagt Vater,

ich muss ein Bankkonto eröffnen.