Am Ende bin ich - Alexander Wachter - E-Book

Am Ende bin ich E-Book

Alexander Wachter

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

„Ich stellte mir vor, wie viele Menschen sich gerade in dieser Stadt befanden – die gehalten und geliebt werden wollten. Wer war ich, dass ich mich von einer Person so quälen ließ?“

Seine Liebe zu Aurora und der Kummer, der damit seinen Anfang nimmt, ist für Luca unerträglich. Er tröstet sich mit unzähligen neuen Bekanntschaften und lernt dabei Frauen und Männer kennen, die allerdings die Sehnsucht nach Aurora eher noch verstärken. Er genießt die Aufmerksamkeit und Zuneigung all dieser Menschen, denen er begegnet und verletzt sie mit seiner Zurückweisung. Im Laufe dieser Erfahrungen kommt er sich jedoch selbst immer näher. Schließlich weiß er, was Glück für ihn bedeutet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 250

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

»Ich stellte mir vor, wie viele Menschen sich gerade in dieser Stadt befanden – die gehalten und geliebt werden wollten. Wer war ich, dass ich mich von einer Person so quälen ließ?«

Seine Liebe zu Aurora und der Kummer, der damit seinen Anfang nimmt, ist für Luca unerträglich. Er tröstet sich mit unzähligen neuen Bekanntschaften und lernt dabei Frauen und Männer kennen, die allerdings die Sehnsucht nach Aurora eher noch verstärken. Er genießt die Aufmerksamkeit und Zuneigung all dieser Menschen, denen er begegnet und verletzt sie mit seiner Zurückweisung. Im Laufe dieser Erfahrungen kommt er sich jedoch selbst immer näher. Schließlich weiß er, was Glück für ihn bedeutet.

In dieser modern erzählten Geschichte begleiten wir einen jungen Mann auf seinem Weg der Selbstfindung. Die frische Tonalität der Lektüre unterhält, wirkt jedoch gleichzeitig inspirierend. Es ist ein Buch für alle, die wissen wollen, was Liebe ist oder auch sein kann.

Über den Autor

Alexander Wachter wurde 1994 in Feldkirch geboren. Der facettenreiche Österreicher arbeitete bereits als Steinmetz, Pfleger, Bibliothekar, Kellner, Redakteur und Social-Media Manager. Seit 2014 studiert er Englische Literatur und Informatik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wozu ihn ein einjähriges High School Jahr in New York inspirierte.

Seine Kurzgeschichten und Gedichte wurden in u.a. in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Er las und moderierte bereits auf Bühnen in Bayern und Österreich.

Seit 2019 ist er Stipendiat des Max Weber-Programms des Freistaats Bayern.

Er ist Mitglied der Münchner Autorengruppe Prosathek.

Alexander Wachter

Am

Ende

bin

ich

Diederichs

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 Diederichs Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: © shutterstock Images LLC

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-25551-0V001

www.diederichs-verlag.de

Inhalt

Vor 17 Jahren

Aurora

Patrick

Aurora

Ariadne

Bernhard

SportyBoy

Ivan

Leonie

StarkerMann

Max

Maria

Janis

Clemens

Diana

Clemens

Noah

Luca

Aurora

Danksagung

Für meine Mama,

die stärkste aller Sonnenblumen.

Sucht

Donnernde Tropfen finden

Durchsichtig gebrannten Sand.

Dahinter

Entblößen Teelämpchen

trostlose Treibende.

Der Rost hämmert synkopiert.

Darunter

Eine Sucht nach Geborgenheit.

Darauf

Einsam erkaufte Zweisamkeit.

Hohl schmeckende Fingerspitzen

Überlagern tosende Gedanken,

deren Müdigkeit bis ins Herz

Reicht.

Bis zum Morgen

Vielleicht.

Vor 17 Jahren

Über meinem Bett hing ein großes Wimmelbild. Ein Wald mit seinen Bewohnern war darauf abgebildet: Ich entdeckte kleine Kaninchen, die neben ihren Eltern hoppelten und deren Namen mich ins Stolpern brachte, sah Dachse aus ihren Höhlen kriechen, noch bevor ich wusste, was ein Dachs war. Ich erkannte Rehe, die grasten und Wildschweine, die sich im Dreck suhlten. Sie waren unterschiedlich, doch alle hatten ihre Familie. »Das ist Papa Hirsch und Mama Hirsch«, sagte ich und deutete mit meinem Finger auf die Tiere.

»Und wo ist Baby Hirsch?«, fragte mein Papa, der seinen Arm um mich gelegt hatte. Ich suchte und fand ihn gleich daneben. »Da ist er«, sagte ich. »Findest du Mama Maus?«, fragte Papa, und ich fand sie sofort. Sie trank neben ihrem Mann und ihrem Kind aus einer Pfütze.

Gestern hatte meine Mutter eine Maus in unserer Garage totgeschlagen. Ich dachte an den leblosen Körper auf dem Betonboden.

»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte Papa. »Das stimmt nicht«, sagte ich und zeigte auf die Mäusefamilie. »Mama hat gestern Papa Maus tot gemacht. Jetzt sind Mama und Baby Maus alleine.« Papa beruhigte mich. »Du wirst sehen, bald kommt eine neue Papa Maus, und dann sind die drei wieder komplett.« Es ergab Sinn, doch mein Papa weinte plötzlich.

Er weinte auch noch am nächsten Tag, als wir in unserem Garten die neue Papa Maus entdeckten. Dabei schimpfte er mich immer aus, wenn ich traurig war.

Aurora

1

Die meisten Geschichten beginnen am Anfang, meine begann mit Aurora.

Wir hatten uns in einem Zugabteil kennengelernt. Der Zug bremste, und ihr Koffer fiel auf meinen Schoß. Sie entschuldigte sich, ich verliebte mich. Da waren ihre Augen, ihre Finger und ihr Lachen, das ich immer und immer wieder hören wollte. Wo sie denn ausstiege, fragte ich sie. »In München«, antwortete sie. »Cool, ich auch!« Es knisterte. Beim Aussteigen hatte ich ihre Telefonnummer und sie all meine Gedanken.

Für unser erstes Date überraschte ich Aurora mit einer Rafting-Tour die Isar hinab. Sie war Schwimmerin im Verein, also passte es. In ausgebeulten Neoprenanzügen folgten wir dem Gruppenleiter zum Fluss. Sie griff nach meiner Hand. Ein Erfolg. Die Wellen schlugen gegen das Boot, ihre Muskeln trieben das Paddel hinein. Sie lachte viel. Den Wildwasser-Bereich wollte sie gleich noch einmal fahren, im Mildwasser schloss sie die Augen und lehnte sich gegen mich. Zweiter Erfolg. Auf dem Heimweg schlief sie an meiner Schulter ein. Ihr Kopf wippte mit den Stoßdämpfern des Busses. Dritter Erfolg. Das Highlight aber folgte beim gemeinsamen Abendessen, denn als Dessert gab es Tartufo und Aurora-Küsse. Beide süß, beide süchtig machend. Und wie die Eiscreme schmolz auch ich an ihren Lippen dahin.

Aurora war strebsam. Sie gewann Goldmedaillen im Schwimmen, trainierte mehrere Male die Woche. Ihr Gesicht strahlte, wenn sie vom Schwimmen redete. An Land fühlte sie sich schwer und festgebunden, im Wasser aber war sie frei.

Wir besuchten beide die Ludwig-Maximilians-Universität. Sie studierte Betriebswissenschaften. »Einmal mehr Geld verdienen als meine Eltern«, sagte sie. »Einmal in einem richtigen Haus wohnen.« Sie hatte Träume. Für die Wohnung ihrer Eltern schämte sie sich, für die Armut, die einem Plattenbau anhaftete. Es war offensichtlich, sie brauchte es nicht auszusprechen. Ich bemerkte es: an ihrer Art, andere Häuser und deren Gärten anzuschauen. Und daran, dass ich sie nicht bis vor ihre Haustür begleiten durfte. Zu meinem Studium sagte sie nichts. Mit Informatik konnte man gut Geld verdienen, das wusste sie und das genügte ihr.

Zu unserem nächsten Treffen schenkte ich Aurora eine Sonnenblume. Sie ragte aus ihrem Rucksack, als wir Hand in Hand durch den Englischen Garten spazierten. Im Schatten einer Buche breitete ich meine Picknick-Decke aus. Aurora hatte Hummus und Obatzter dabei, für das Gebäck war ich zuständig gewesen. Umgeben von Karomustern, eine knorrige Wurzel in meinem Rücken und Auroras Kopf auf meinem Bauch redeten wir und vergaßen die Welt um uns herum.

Abends glühten Auroras Rücken und Schultern in einem schmerzhaften Dunkelrot. Der Bikinistreifen diente als Farbtonmesser. »Ich habe eine Aloe-Vera-Feuchtigkeitscreme bei mir zu Hause«, bot ich an. Sie drückte testend auf ihre brennende Schulter und mir dann einen Kuss auf den Mund. »Wie könnte ich da Nein sagen?«

Wir spazierten zu meiner Wohnung. Die gesamte Kaiserstraße war von Prachtbauten aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert gesäumt. Mein Studentenwohnheim bildete die einzige Ausnahme. Mit seiner Betonfassade und den rostigen Regenrinnen wirkte es wie eine Amphibie inmitten befellter Säugetiere.

Ich durchforstete meinen Badezimmerschrank nach der Feuchtigkeitscreme. »Du kannst von hier sogar den Englischen Garten sehen«, hörte ich Aurora sagen. Sie inspizierte meine Bücherregale und den Inhalt meines Kühlschranks. Sie kaute auf einer Karotte, als ich aus dem Bad mit der Creme in der Hand zurückkam. »Ich hab sie gefunden.« Aurora zog ihr Top aus, dann ihren BH. »Cremst du mich ein?«

Zittrige Finger am Creme-Tubenverschluss, schwitzige Hände auf ihren Schultern und an ihrem Rücken. Ich spürte ihre Haut, aufgeheizt von der Sonne, noch zarter als in meiner Vorstellung. Subtil unter dem intensiven Aloe-Vera-Geruch roch ich sie: Tannen und Rosen, warm und feucht, das Aurora-Aroma.

Sie fuhr mit ihrer Hand unter mein T-Shirt, ertastete meine Nippel. »Du bist dran«. Sie zog an meinem T-Shirt: aus. An meiner Hose: aus. Meinen Briefs: aus. Ich stand vor ihr, nur noch Socken am Leib. Sie begutachtete mich, fuhr meinen Rücken entlang zu meinem Hintern, legte ihre Hand an meine Brust. »Das wollte ich schon machen, als ich dich das erste Mal gesehen habe.« Ein Flüstern an meinem Ohr. Sie ging auf die Knie.

Danach lagen wir auf dem verschwitzten Laken, abgedeckt, Aurora in meinem Arm. Ihre Finger strichen mir die Haare aus der Stirn. Sie schaute mich an und lächelte – und mir wurde klar, dass ich mich verliebt hatte. Ich drückte sie fest, ließ sie meine Liebe spüren. »Ich mag deine Wohnung«, sagte sie. »Ich mag dich«, erwiderte ich. Sie rollte sich auf die Seite, ihre Brust gegen meine. Zwei Herzen, gemeinsam schlagend. »Du bist wirklich toll, Luca. Ich fühle mich wohl mit dir.« »Und ich mich erst mit dir!« Ich möchte sie für mich haben. »Ich habe dich wirklich gern, Aurora. Ich möchte es richtig machen mit dir.« Ihr Herzschlag wurde schneller. Es auszusprechen fühlte sich eigenartig an. Noch nie hatte ich diese Frage gestellt: »Willst du meine Freundin sein?«

Aurora lächelte. Es war ein anderes, mir unbekanntes Lächeln. Nervosität und Ablehnung sprachen daraus. Sie sagte viele Worte, ich hörte nur eines.

»Nein.«

2

Meine Mutter freute sich über meinen Besuch. »Wie lange wirst du bleiben, Schatz?« Ich wusste es nicht. Ein paar Tage mindestens. Genügend Zeit, um den Kopf freizubekommen, um ihn mit Dingen vollzustopfen, die nichts mit Aurora zu tun hatten.

Noch hatte es nicht funktioniert. Ihre Stimme geisterte ununterbrochen in meinem Kopf.

»Du bist mir wichtig, Luca.«

»Ich möchte dich in meinem Leben haben, Luca.«

»Du bist ein großartiger Mann, Luca.«

Aurora verspottete mich. Lobte mich in Sopran und wollte dennoch keine Beziehung mit mir. Ich sei »zu lieb«, »zu gut«, damit könne sie nicht umgehen. Ich sagte ihr, ich sei eigentlich ganz anders, kompliziert und egoistisch. Das werde sie schon noch merken – doch sie glaubte mir nicht. Also war ich egoistisch und sagte unser nächstes Treffen ab. Damit sie dachte, ich wolle sie nicht sehen. Damit ich verbarg, wie sehr ich es wollte. Bislang bereute ich es.

Ich fuhr in die Heimat.

Von der U-Bahn in die Regionalbahn, in den Bus nach Bad Eglheim – der bekannteste Kurort in Niederbayern. Zumindest wenn man meiner Mutter Glauben schenkte. Dem mit ätherischen Mineralien angereichertem Wasser des Dorfes wurden seit dessen Gründung heilsame Attribute zugesprochen, doch spätestens nachdem das Forscherpaar Marie und Edgar von Linde in den 1960ern Wasserproben analysiert hatten, galt der Verdacht als bestätigt. Die Tourismusmaschinerie schmiss ihre Kurbeln an, Thermen und Spa-Anlagen sprossen über Nacht aus dem Boden, und ehemalige Viehbauern sahen sich bald in der Rolle von Hoteliers. Gut betuchte Familien bauten Prunkhäuser, um alljährlich in einem artgerechten Domizil zu residieren. In der Sommerzeit schwoll die Einwohnerzahl auf das Doppelte an, im Winter standen die meisten Häuser leer. Hier wurde ich geboren, hier bin ich aufgewachsen.

Als Sohn der Sekretärin des Bürgermeisters kannte ich viele Einwohner, noch mehr kannten mich. Meine Mutter hatte mich früher mit zur Arbeit genommen. Mit einem Bilderbuch war ich genügsam und quengelte wenig. Der alte Bürgermeister steckte mir heimlich Bounty-Riegel zu, wenn meine Mutter telefonierte. Ich bildete mir ein, dass sie nichts davon mitbekam – weder meinen Schokoladenmund noch die klebrigen Abdrücke in meinem Bilderbuch. Nach der Geburt meines Bruders wechselte sie auf Teilzeit. Sie nahm Bene und mich selten mit ins Büro und arbeitete oft von zu Hause. Mit unserem Vater ließ sie uns ungern alleine – selbst als die beiden noch verheiratet waren.

Stundenlang saßen Bene und ich nachts auf der obersten Stufe unserer Treppe, aneinander gelehnt, die Hintern kalt auf dem Granitquader und lauschten unseren Eltern beim Streiten. Sie hatten die Küchentür geschlossen, doch wir hörten sie deutlich. Ihre Schreie verstanden wohl selbst die Nachbarn. Bene blieb nie lange wach. Er schlief ruhig. Nur seine Beine zuckten, als die Anspannung aus ihnen wich.

Als die Trennung offiziell wurde, verschwand unser Vater. Genauso wie unser Fernseher und der Couchtisch. Von seinem Grill blieb nur das gehackte Brennholz, von seinem Auto nur die Ölflecken auf dem Teer zurück. Zuletzt verflog auch der Geruch seines Aftershaves aus unserem Badezimmer. Nach einem Jahr stand er unangekündigt vor unserer Haustür, braungebrannt, unrasiert. »Tut mir leid, Jungs. Papa brauchte eine Auszeit.« Bene verzieh ihm sofort, Mutter und ich bis heute nicht.

Die Küche roch nach Zitronenkuchen und Zigarettenrauch. Der Küchenstuhl knarrte unter meinem Gewicht. Der gelbe Bezug war von den vielen Jeans, die darauf gesessen hatten, bläulich verfärbt. Mein Handy zeigte keine Nachricht von Aurora an. Sie hatte mir seit meiner Absage nicht mehr geantwortet. Ich legte es mit dem Bildschirm nach unten auf den Tisch. »Wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken?«, fragte meine Mutter. Ich schüttelte den Kopf und nahm einen Bissen vom Kuchenstück. »Schmeckt sehr lecker.« Sie zog an ihrer Marlboro Light und aschte ab. »Henrik hat die Zitronen geschnitten. Sie sind etwas klein und unförmig.«

»Schmeckt trotzdem gut.«

Henrik war untalentiert in vielen Dingen, nur meine Mutter enttäuschen konnte er gut. Ihr Kiefer mahlte oft, wenn sie von ihm sprach. Letzte Woche feierten sie ihr Fünfjähriges. »Er hat daran gedacht«, sagte sie, als hätte sie es ihm nicht zugetraut. »Hat mich sogar mit Blumen und einem Frühstück überrascht. Nur hat er vergessen, Brot zu kaufen. Die Rühreier waren auch angebrannt.«

»Aber der Wille war da«, warf ich ein.

»Der Wille war da«, stimmte sie mir zu.

Unterbewusst griff ich nach meinem Handy. Immer noch keine Antwort. Ich spürte die Hand meiner Mutter nach meiner greifen, ihre Augen meine suchen. »Was ist los? Ich merke doch, dass dich etwas bedrückt.« Einzugestehen, dass es mir schlecht ging, bedeutete, dass ich mich mit Aurora auseinandersetzen musste. Dass es ein Problem gab. Dass sie keine Beziehung mit mir wollte. »Alles in Ordnung, Mama. Bin nur etwas müde.« Ihr Blick strafte mich Lügen. Sie kannte mich zu gut.

Mein Bruder begrüßte mich überschwänglich, als er aus der Schule nach Hause kam. Er spielte mir Comptine d’un autre étéauf dem Klavier vor. Bene, der Autodidakt, hatte nie Klavierunterricht genommen, sondern brachte sich die Stücke selbst bei. »Wie findest du’s?«, fragte er mich, der letzte Ton hing noch im Raum. Während der achtel Noten rutschten seine Es und Ds vor die Hs, und er verpasste gerne den Einsatz des Fußpedals, ansonsten klang es toll. »Nichts auszusetzen. Krass, wie gut du geworden bist.«

»Bald bin ich so gut wie du, sagt Mama.«

Das klang sehr nach unserer Mutter. Ich hatte mich schon lange nicht mehr an die Tasten gesetzt, dennoch erzählte meine Mutter ihrem Kaffeekränzchen zu gerne, »wie schade« das doch sei. »Luca wäre eigentlich sehr talentiert. Aber man kann sie nicht zwingen. Also was soll man machen?« Reihum zustimmendes Nicken, Seufzer und Schulterzucken.

»Komm, ich muss dir etwas zeigen«, sagte Bene und führte mich in sein Zimmer. Seine Stimme klang reifer, sein Gang wirkte erwachsener. Keine Federn saßen mehr in seinen Achillessehnen, stattdessen setzte er seine Schritte ruhig, breitbeiniger, maskuliner. Die Pubertät hatte seinen Körper fest im Griff, seine Launen glücklicherweise noch nicht.

Er zeigte mir eine Leinwand, die er für unseren Vater bemalt hatte. »Er wollte doch etwas, das er in seine neue Wohnung hängen kann. Henrik hat gemeint, ich solle unbedingt braun verwenden, aber jetzt sieht es aus wie ein Kackhaufen. Was meinst du?« Mein Bruder, die Künstlerseele, mied jegliche Autorität, reagierte empfindlich auf Kritik und war überaus perfektionistisch. Die Wände seines Zimmers zeigten Benes Kreativität: Aquarellgemälde und Kreidebilder, Bleistiftlandschaften und Acryl-Lebewesen. Die Leinwand in seinen Händen wurde dem Anspruch tatsächlich nicht gerecht. Darauf war ein abstraktes Geflecht aus Linien abgebildet, das sich zu einem Knäuel ballte. »Wieso hörst du auch auf Henrik?«

»Frag mich nicht.«

Gemeinsam überlegten wir uns einen neuen Ansatz für das Bild. Bene fing sofort an. Er genoss es, alleine zu sein und sich kreativ zu verausgaben. Ich bewunderte ihn dafür, wie glücklich er mit sich war. Er brauchte niemanden außer sich selbst. Noch immer keine Nachricht von Aurora.

Die Hitze drückte schwer in mein Zimmer. Der Wetterbericht hatte Regen angekündigt, aber davon merkte ich nichts. Ich las ein Buch, das Sarah mir ausgeliehen hatte, The Comfort of Others – bis mir die Augen zufielen. Im Halbschlaf bildete ich mir ein, dass mein Handy piepte. Und tatsächlich: Eine Nachricht war eingegangen. Von Aurora leider nicht. Noah hatte mir auf Snapchat geschrieben. Er hatte wohl auf der Karte gesehen, dass ich in Eglheim war. Sein Snapchat-Bitmoji zeigte ihn mit blonden Haaren und Vampirzähnen. Wie originell. Ich öffnete die Nachricht: »Hey, was machst du?« Erst wollte ich nicht zurückschreiben, dann antwortete ich: »Liege im Bett. Versuche zu schlafen.« Seine Antwort ploppte auf, bevor ich die App geschlossen hatte. »Uhhh … In Egl?« Darauf antwortete ich nicht mehr. Noah schrieb weiter. Ich öffnete die Nachrichten erst am nächsten Morgen. »Hast du keinen Bock mehr auf mich? War doch letztes Mal echt geil«, war seine letzte gewesen.

Noah war Mitglied meiner alten Volleyball-Mannschaft. Ich hatte seine Bewegungen auf dem Spielfeld beobachtet, das Spiel seiner Muskeln unter dem dünnen Stoff, die Schweißperlen, die an seinen Schläfen hingen und seinen Hals hinunterrannen. Seine Stimme hatte den Umkleideraum erfüllt, er hatte Scherze gerissen, mit allen gelacht – doch seine Blicke galten mir. Er hatte Erfahrung, ich nicht. Er war schwul und ungeoutet. Ich wusste nicht, was ich war. Wusste es selbst heute nicht.

Mir gefielen Frauen. Ich hatte immer feste Freundinnen gehabt, sah mich nur mit Frauen an meiner Seite, einer Ehefrau und Kindern. Männer hatten mich nie interessiert, nicht auf diese Weise zumindest – bis sie mich doch interessierten. Ich redete es mir aus. Das lag bestimmt an der angeborenen Vergleichssucht oder einer Art Eifersucht auf diese gut aussehenden Männer. Ich wollte einer von ihnen sein, nicht mit einem von ihnen sein. Doch im Laufe der Zeit verloren diese Argumente ihre Kraft. Immer öfter erwischte ich mich mit dem Wunsch, einen Mann zu halten, von einem Mann gehalten zu werden. In meinem Träumen wechselten sich weibliche und männliche Liebschaften ab. Noah war der einzige Mann, mit dem ich je etwas Intimes teilte, verliebt in Männer war ich allerdings schon des Öfteren gewesen. »Schwule sind einfach unnatürlich«, hatte meine Mutter einmal zu mir gesagt, ohne sich über dessen Bedeutung für mich im Klaren zu sein. Mir stellte sich die Frage, ob ich mich der möglichen Ausgrenzung und Anfeindung aussetzen wollte. Nur weil ich auch Männer mag. Letzten Endes würde ich vielleicht mit einer Frau glücklich werden.

Und nun war ich mir sicher: Ich wollte Aurora.

Ich schrieb Noah zurück und entschuldigte mich. Nicht zu antworten war gemein gewesen. Er konnte nicht ahnen, dass Aurora in mein Leben getreten war. Da erhielt ich eine Nachricht und Adrenalin schoss ein.

Aurora schrieb: »Wie geht es dir? Hast du kurz Zeit?«

3

Markus wohnte immer noch im Nachbarhaus. Seine Eltern hatten den Dachboden ausgebaut, damit für seine Freundin und ihn genug Platz war. Für ein eigenes Badezimmer, neues Parkett und maßgeschneiderte Einbauschränke wurde gesorgt, an der Isolierung der Fenster hatte man gespart. Direkt unter dem Dach heizten sich die Räume drastisch auf. Besonders an Sonnentagen wie heute.

»Mir ist es eh recht, wenn Meine nicht so viel anhat. Je weniger, desto besser«, meinte Markus. Er selbst – in Unterhose und Unterhemd – verschmolz mit seinem Fernsehsessel, Bierflasche in der Hand. Schmatzende Geräusche begleiteten jede Bewegung seiner nackten Arme und Oberschenkel auf dem Leder, das sich ungern von ihm löste. Seine Füße hinterließen Schweißabdrücke auf dem Parkett. »Wo ist Madlene?«, erkundigte ich mich nach seiner Freundin. »Gerade noch einkaufen. Wir grillen nachher die Forellen, die wir gestern gefangen haben.«

Markus, das Individuum, existierte nicht mehr. Seitdem Madlene bei ihm eingezogen war, gab es nur noch ein Wir: Wir haben uns das Fußballspiel angesehen. Wir mögen keine Pilze. Wir haben komplett vergessen, dich zurückzurufen. Den Markus, der im Urlaub immer die meisten Shots hinuntergekippt und ohne Scheu jede Frau angequatscht hatte, mit dem ich bis um fünf Uhr in der Früh Rennspiele gezockt und mit dem ich über alles sprechen konnte, existierte nicht mehr. Manchmal vermisste ich ihn.

»Falls du mitessen möchtest, wir haben genug.« Ich dankte ihm, lehnte aber ab. »Stimmt«, erinnerte sich Markus. »Die Frau, von der du mir erzählt hast, kommt ja heute. Wie hat sie noch mal geheißen? Arina?«

»Aurora.« Allein ihren Namen zu sagen, freute mich. Ein Meer aus Vokalen, das ungebrochen die Stimmbänder hinauf an der Zunge entlang aus dem Mund rollte. »Ich hole sie um vier vom Busbahnhof ab.« Der Sessel schmatzte, und Markus lehnte sich mit der Bierflasche zu mir. Wir stießen an. »Geil, Mann. Das erste Mal, dass dich ein Mädel aus München hier besuchen kommt. Freust dich schon?«

Ich freute mich und hatte doch Angst vor dem Wochenende mit ihr. Was wäre, wenn es ihr hier nicht gefiele? Was, wenn sie meine Familie und Freunde nicht mochte? Ich ihr zu ländlich war? Es hing viel von diesem Wochenende ab. Eine Uniklausur war nichts dagegen.

Nachdem Aurora mir geschrieben hatte, telefonierten wir. Sie habe nachgedacht, wolle mich sehen. Ich sei aber nicht in München. »Dann komme ich zu dir.« So einfach, so unkompliziert.

Jetzt war sie auf dem Weg zu mir. Sie ärgerte sich vermutlich gerade über den unbequemen, beengten Sitzplatz oder schlief an das Fenster gelehnt mit der Stirn gegen das Glas gedrückt. War sie auch aufgeregt, mich zu sehen? Unsicher, wie sie sich verhalten sollte? Vermutlich nicht.

Ich stand zu früh am Busbahnhof. Das Gebäude bot mir Schatten, dennoch schwitzte ich mehr, als ich es mir wünschte. Ich übte meinen Gesichtsausdruck für unser Wiedersehen, achtete aber nicht mehr darauf, als sie endlich aus dem Bus stieg. Sie fiel mir in die Arme, lockerte die Umarmung erst nach mir. »Du hast es geschafft. Willkommen in meinem Kuhdorf«, sagte ich. Ich trug ihren Rucksack für sie. Er hatte rote Striemen auf ihren Schultern hinterlassen. Aurora sagte, sie liebe die ländliche Idylle. Vor meinem Haus blieb sie einen Moment stehen und drückte meine Hand. »Hier bist du also groß geworden.« Es war keine Frage, sie wollte verstehen.

Wir aßen die Reste des Mittagessens. Aurora verputzte zwei Portionen, während ich keinen Appetit verspürte. Ihre Nähe schnürte mir den Magen zu, ihr Anblick sättigte mich. Meiner Mutter und Henrik hatte ich einen Eid abgenommen, nett zu Aurora zu sein und mich nicht zu blamieren. Henrik riss sich am Riemen. Er unterhielt sich angeregt mit Aurora über seinen Garten. Sie überzeugte ihn von sich, indem sie seine Blumenarten benennen konnte. »Die Gerberas? Ich denke auch, dass die sich toll neben der Terrasse machen würden«, sagte sie, und Henrik schenkte ihr einen Blick, den ich von mir selbst kannte. Er klopfte mir anerkennend auf die Schulter. »Die schnappst du dir.«

Meine Mutter überzeugte man weniger schnell. Sie redete wenig und brachte sich auch in keine Unterhaltung ein. Als ich sie fragte, was sie von Aurora hielt, meinte sie knapp: »Hübsches Mädchen. Hat noch kein einziges Mal ›Danke‹ gesagt.« Ich hoffte, dass Aurora ihre ablehnende Haltung nicht bemerkte. Meine Mutter hatte die Couch in meinem Zimmer mit einem Bettlaken überzogen: Auroras designierter Schlafplatz. Aurora sah die Couch und runzelte die Stirn. »Dann möchtest du getrennt schlafen?« Ich nahm ihren Rucksack und stellte ihn neben mein Bett. »Außer du willst alleine auf der Couch schlafen.« Sie antwortete mit einem Kuss.

Ich nahm Aurora zum Volleyball-Platz mit. Markus und Madlene begleiteten uns. »Luca meinte, ihr hattet selbstgefangene Forellen. Toll! Wie habt ihr sie zubereitet?«, fragte Aurora. Ihr Gespür für Menschen war beeindruckend. Sie verstand, ins Gespräch zu kommen und zu gefallen. Markus zeigte sich ähnlich begeistert wie Henrik: »Voll die Granate, Luca. Und scheint echt ’ne Liebe zu sein.«

Der aufgeheizte Sand verbrannte uns die Fußsohlen, also behielten wir die Schuhe an. Aurora zeigte Einsatz, schmiss sich öfter in den Sand als ich. Der Schweiß ließ den Sand kleben. »Ich sehe aus wie ein paniertes Schnitzel«, sagte sie. Ich gab ihr recht. »Zum Anbeißen.« Sie strich mir um die Hüfte. »Dito.« Ihre Aufschläge erinnerten an Geschosse. Sie gingen kugelartig ins andere Feld nieder. Ich bewunderte die Präzision ihrer Bewegungen. Sie hatte mir einmal erklärt, dass es beim Schwimmen darum ging, Bewegungsabläufe zu perfektionieren. Diesen Anspruch merkte ich ihr auch hier an. Zwischen jedem Satz küsste sie mich. Es gab sandige Küsse, haarige und nasse – doch alle fühlten sich richtig an.

Direkt neben dem Volleyballfeld trieb die Eglheimer Ache. Die Strömung war schwach, das Wasser erfrischend kalt. Die Haut, an der gerade noch der Sand geklebt hatte, fühlte sich glatt an. »Ich glaube, ich brauche deine Aloe Vera noch mal«, sagte Aurora. Ihre Haut leuchtete krebsrot. »Echt eigenartig, normalerweise kriege ich nie so schnell Sonnenbrand.«

Die Creme war natürlich in München, ich hatte sie nicht mitgebracht. Stattdessen trug ich ihr zurück im Haus eine Aftersun meiner Mutter auf. Mein Puls pochte in meinen Ohren, als ich sie einschmierte. An dieser Stelle waren wir schon einmal gewesen – und danach wollte sie nicht meine Freundin sein. Ich spürte erneut den Stich ihrer Ablehnung in meiner Brust und stoppte abrupt. »Luca, alles okay mit dir?«, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf und sagte ihr, dass nichts okay war. Ich musste nicht erklären.

»Luca.« Eine Anspannung lag in der Luft, vor der ich mich fürchtete. »Luca, ich möchte eine Beziehung mit dir ...«

Stille.

Meint sie das ernst? »Aber ...?«, fragte ich. »Kein Aber! Ich weiß nicht, ob es klappt. Aber ich will es versuchen. Du bist so lieb, so gut. Ich mag, wer ich bin, wenn ich mit dir bin.« Die Endorphine tröpfelten langsam ein. Ich glaubte meinen Ohren nicht, wollte es genau wissen. »Bist du dir wirklich sicher?« Ich glaubte meinen Augen nicht. Diese Frau möchte meine Freundin sein! »Nur, wenn du auch wirklich willst.« Sie nickte, küsste, liebkoste mich. Ich glaubte meiner Haut nicht, die ihre Wärme spürte.

In der Nacht, als ich ihre Brust sich heben und senken hörte, ihre Silhouette in meinem Arm sah und ihre Hand auf meiner Brust lag, ihre Beine an meine gekuschelt, begann ich es zu glauben. Ich fiel in einen Endorphinrausch. War ich jemals glücklicher?

4

Verliebtsein war ein wunderschönes Gefühl. Als würden Geburtstag und Weihnachten auf einen Tag fallen. Jeden Tag. Wochenlang. Es war eine Naturgewalt, der man sich mit Freude ergab – manchmal sanft und lau, oft tosend und ungestüm. Vermutlich biologisch bedingt, vermutlich vergänglich, aber, ach, so schön.

Zurück in München schlief Aurora oft bei mir. Mein Bett war kleiner hier, wir stapelten. Viermal Sex am Tag reichte uns nicht. Unsere Lippen schmerzten, aber ich bekam nicht genug von ihr. Neben ihr zu sein und sie nicht zu berühren: reine Folter. Noch schlimmer war es nur, sie nicht zu sehen.

Wenn wir nicht beieinander waren, schrieben wir uns Nachrichten: über interessante Menschen, die wir auf der Straße gesehen hatten, lustige Dinge, die uns selbst oder Freunden passiert waren oder humorvolle Memes aus dem Internet.

Sie schrieb: »Wie nennt man einen trainierten Waschbären?«

Ich schrieb: »Keine Ahnung. Wie denn?«

»Na, eine Waschmaschine.«

Ich schickte viele Lachsmileys.

Unsere digitalen Gespräche blieben locker, über ernste Themen redeten wir persönlich. Wobei Aurora ernste Themen ungern besprach. Oft konnte sie keine Worte für das finden, was sie sagen wollte. Sie drückte ihre Gefühle nonverbal aus. Gefiel ihr mein Hemd nicht, hob sie die Augenbraue. Mochte sie es, strich sie mir über die Brust. Keine Worte, dennoch verstand ich sie.

Sie zeigte mir ihre Lieblingsmusik, schickte mir Lieder, die ich mir anhörte, wenn ich alleine im Bett lag. Von Mozartsinfonien zu Boogie-Woogie-Templates, von Filmmusik zu Techno-Beats war alles dabei. Da sie kaum über Persönliches sprach, glaubte ich, sie teilte mir ihre Gefühle mithilfe ihrer Liedempfehlungen mit. Aufmerksam lauschte ich den Texten und suchte nach offensichtlichen Bedeutungen. Ich interpretierte Zeilen: Stuck in a rut you can’t get out klang nach einer Aufforderung zur Aufmunterung, Only you can make me come alive nach einer Liebeserklärung. Ich nahm alles von ihr, das sie bereit war zu geben.

Aurora hinterließ Spuren in meinem Leben, die man sah: frisches Gemüse in meinem Kühlschrank. Lockige Haare in meiner Wohnung. Kratzspuren auf meinem Rücken. Vieles sah man nicht: Die Sensation der Berührungen ihrer Fingerkuppen an meinem Körper. Die Unruhe, wenn sie nicht bei mir war. Die Gewissheit, alles zu erreichen, solange sie bei mir war. Sie spornte mich an.

Wir joggten, radelten, spielten Tennis, Bowling und Golf, tauchten im Starnberger See und wanderten auf den Schafreuter. Mit Aurora mitzuhalten: unmöglich. Dennoch versuchte ich es. Je anstrengender, je abenteuerlicher, je riskanter, desto glücklicher war Aurora. Ihre Leidenschaft steckte mich an. Ob Hoch zu See oder im Gebirge ‒ mit ihr wollte ich überall hingehen. Bald warfen meine Zehen Blasen, meine Knie waren aufgeschürft, meine Finger aufgekratzt und meine Arme voller blauer Flecken. Auf meinen Schultern schälte sich die Haut wegen des Wanderrucksacks und um mein rechtes Bein schlängelten sich Pusteln. »Du stellst dich aber auch an«, sagte Aurora, als ich zusammenzuckte, während sie mir eine Salbe auf die Eiterbläschen schmierte. Sie massierte den Wirkstoff in meine Wade ein. »Deine Muskeln sind echt groß geworden.« Ich gefiel ihr immer besser, was mir große Freude bereitete.

Zusätzlich zum Sport, den wir gemeinsam ausübten, tauchte Aurora ab. Sie trainierte mehrere Male die Woche für Schwimmwettkämpfe. Bei den Trainings war ich nicht geduldet, doch an Wettkampftagen saß ich im Publikum und feuerte sie an. Ihre Eltern kündigten sich stets an, waren bislang jedoch nie aufgetaucht.

Gegen Aurora wirkten andere Mitstreiter ungelenk, ihre Arme teilten das Wasser mühelos, mit ihrem Fußschlag ließ sie alle hinter sich zurück. Sie würde bald die Deutsche Meisterschaft schwimmen, hatte sie mir gesagt. »Habe jetzt endlich die eine Minute auf hundert Meter Kraulen hingelegt. Jetzt muss ich die Zeit nur noch bei einem Wettkampf schwimmen.«

Heute kam sie bei 00:58 an. Die Menge jubelte, die jungen Männer lautstarker als die anderen. Bei der Siegerehrung winkte sie ihnen vom Podium aus zu, mich sah sie in dem Gedränge nicht, obwohl ich ihren Namen rief.

Später folgte ich dem Pfad aus nassen Fußabdrücken zu den Umkleidekabinen. Selten hatte sie so erschöpft ausgesehen. Ihre Eltern waren wieder nicht aufgetaucht. »Aber, Schatzi«, sagte Aurora mit neuer Kraft in der Stimme. »Ich hab’s geschafft.« Ich nahm ihre Tasche für sie. »Ich habe nie daran gezweifelt.« Sie legte ihren Kopf an meine Schulter, als wir zur U-Bahn spazierten und den beginnenden Regen ignorierten.