Ambach – Die Deadline / Das Strandmädchen - Jörg Steinleitner - E-Book

Ambach – Die Deadline / Das Strandmädchen E-Book

Jörg Steinleitner

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Beschreibung

Zum ersten Mal in seinem Leben hat Felix Ambach Geld. Er träumt davon, ein neues Leben mit seiner großen Liebe Dana anzufangen – und endlich das Kunstfälschen aufzugeben. Aber sein skrupelloser Geschäftspartner Gabriel de Moño hat andere Pläne. Geschickt gewinnt er den jungen Holzbildhauer für seine Interessen. Erst, als ein Mensch stirbt und Dana in Gefahr gerät, wird Felix klar, auf was er sich da eingelassen hat. Doch dann winkt der größte Coup seiner Fälscherkarriere. Gabriel will ihn überzeugen, gleich mehrere Skulpturen eines der bedeutendsten Meister der Moderne zu fälschen: Pablo Picasso.

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97085-3

Juni 2017

© Matthias Edlinger/Jörg Steinleitner 2016

© Piper Verlag GmbH, München 2016

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Covermotiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Teil 3Die Deadline

Eins

Das Loch, das die Pistolenkugel in die Haut riss, war angesichts seiner mörderischen Wirkung lächerlich klein, kaum größer als der Nagel eines kleinen Fingers. Die Kugel bohrte sich unterhalb des linken Rippenbogens schräg nach oben. Sie durchschlug das Fettgewebe, die schräg verlaufende Bauchmuskulatur und passierte nach dem Durchtrennen der Magenwand die Überreste eines Butterbrots mit Käse. Dann durchtrennte sie das Bauchfell, ein äußerst schmerzhafter Vorgang, der sich im Gesicht des Opfers widerspiegelte. Sie zerriss das Zwerchfell und die Herzwand und eröffnete etwa einem halben Liter Blut den Weg in den Magen. Die Flüssigkeit im Magen führte unweigerlich zu einem starken Brechreiz des Sterbenden, er spuckte Blut. Der Anblick des nahenden Todes war ekelerregend, zugleich aber auch von faszinierender Farbenpracht. Das Rot von Menschenblut ist in seinem Farbton unverwechselbar. Nicht nur die Figur der Tänzerin, an der Felix Ambach kürzlich noch gearbeitet und die er im Stile des berühmten Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner gefälscht und beinahe fertiggestellt hatte, bekam einige rote Spritzer ab. Es traf auch die auf dem Ateliertisch liegenden Skizzen, einen überfüllten Aschenbecher, mehrere Schnitzmesser, ein Stemmeisen und andere Bildhauerwerkzeuge. Der Boden wurde mit Blut besudelt, sogar zwischen die Dielenbretter sickerte der Saft, wo er beinahe eine Ameise ertränkt hätte, die sich dort an den für das menschliche Auge kaum sichtbaren Überresten einer Mahlzeit labte. Die Ameise konnte sich in den Ritzen zwischen den Dielen in Sicherheit bringen. Die Kugel aber setzte ihr mörderisches Werk fort.

Während die Gesichtsfarbe des Getroffenen einen aschfahlen Ton annahm, trat das Geschoss schließlich unterhalb des rechten Schulterblatts wieder aus dem Körper aus, flog einige Meter weiter, zertrümmerte den über dem Werkstattwaschbecken hängenden Spiegel und blieb in der hölzernen Wand stecken. Der Schuss hallte nicht nach, Totenstille breitete sich aus.

Sechs Sekunden, nachdem die Kugel den Lauf der Pistole verlassen hatte, brach der Blutkreislauf des Bloggers und Journalisten Stefan Blank zusammen, sein Körper schlingerte, sackte weg; der Mann, der eben dabei gewesen war, den spektakulärsten Kunstfälschungsskandal seit Beltracchi aufzuklären, war so gut wie tot. Nur nicht sein Gehirn: Es verrichtete noch rund dreißig Sekunden seinen Dienst. Es mag erstaunen, aber der emsige Rechercheur Stefan Blank dachte im Moment seines Todes nicht an seine größte Story, auch nicht an Kunstfälschung im Allgemeinen oder an den Skandal um die gefälschten Riemenschneider-Heiligen im Besonderen (wegen denen er ja hier war und die wenige Monate zuvor im Rahmen einer Versteigerung des Münchner Auktionshauses Stettner für dreizehn Millionen an die katholische Kirche gegangen waren) – nein, Stefan Blank dachte an die Packung Sagrotantücher, die er in seinem Rucksack aufbewahrte. Gerne hätte er den Rucksack geöffnet, ein Tuch herausgezogen und sich das Blut von der Brust gewischt. Blut hatte außerhalb des Körpers nichts zu suchen. Hatte es seine gewohnten Bahnen verlassen, war es nichts weiter als Schmutz, der Kleider und andere Gegenstände besudelte. Stefan Blank aber hasste Schmutz. Seinen Tod hätte er sich sicherlich anders vorgestellt: reinlicher, geordneter und weniger infektiös. Doch zum einen hatte er ohnehin keine Wahl, zum anderen löste sich just in diesem Moment seine irdische Gedankenwelt auf. Ja, ihm war, als schwebte er nach oben an die Decke dieser Schnitzerwerkstatt, die sein Sterbeort geworden war. Ungläubig blickte er nach unten, sah sich selbst, wie er dalag und blutete und würgte und starb; wie dieser nichtsnutzige Fälscher Felix Ambach, den er ja praktisch überführt hatte, versuchte, ihn mit offensichtlich ungewaschenen Händen und einer stümperhaften Herzdruckmassage zu reanimieren. Stefan Blank war verwundert, dass er kein helles Licht am Ende irgendeines Tunnels sah und auch nicht sein ganzes Leben nochmals im Zeitraffer vor ihm ablief. Stattdessen rasten Bilder aus der Werkstatt an ihm vorbei. Die räumlichen und zeitlichen Dimensionen hatten sich aufgelöst. Eben noch hatte er in den Lauf der Waffe geblickt, die vor wenigen Sekunden auf ihn abgefeuert worden war; diese Pistole – es handelte sich um einen Klassiker der Waffenproduktion, eine Colt M1911 – lag nun auf dem Boden der Werkstatt und qualmte kaum sichtbar vor sich hin. Er sah den Elektroschocker neben sich auf dem Boden, das Gerät hatte ihm leider nicht wie erhofft das Leben gerettet. Und schließlich konnte er trotz des nahenden Todes mühelos beobachten, wie die Ameise jetzt doch absoff; es war einfach zu viel Blut, was da aus ihm heraussprudelte. Ein Liter – für eine Ameise ein Tsunami. Sie würden beide sterben. Die namenlose Ameise und Stefan Blank.

Panik. Felix war in Panik. Sosehr er auch auf Blanks Brustkorb drückte – die Rippen hatten bereits entsetzliche Geräusche von sich gegeben –, das Gesicht des Journalisten wurde bleicher und bleicher. Die Lippen waren längst blau. Die Augen hatte er weit aufgerissen, aber sie sahen nichts mehr. Es roch nach Säure, Blut und verbranntem Schießpulver. Felix’ Herz raste, er war zu keinem klaren Gedanken fähig. Literweise Blut. Blank lief förmlich aus. Sein Hemd hatte sich bereits vollgesogen, jeder Pumpdruck auf den Brustkorb löste ein schmatzendes Geräusch aus. Felix hatte Blut an den Händen, am Hemd, auch seine Hose war rot besudelt. Der Boden, Blanks Rucksack, alles war voller Blut. Auch an der Wand waren Blutspritzer, auf der Werkbank, auf dem Mülleimer, auf der Säge, sogar bis zum Fenster hatte es gespritzt. Jetzt, da Blank nicht mehr würgte, sondern nur noch regungslos dalag, überkam Felix ein starker Brechreiz. Am liebsten hätte er sich neben den Journalisten gelegt, so elend, matt und leer fühlte er sich. Am liebsten wäre er tot gewesen! Von irgendwoher klingelte ein Telefon. Felix brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass es gar nicht weit weg war, es handelte sich um sein eigenes Handy. Er wischte seine blutige Hand an der Hose ab und griff in die Tasche.

»Gabriel«, brach es aus Felix hervor. »Ich … der …« Er würgte kurz. »Der Typ hier ist tot! Ich glaube, der ist tot!«

»Ruhig, Felix, ganz ruhig«, sagte Gabriel. Felix tat es gut, die Stimme seines Partners zu hören.

»Wer ist tot?«

»Dieser Journalist. Er kam hierher, er wusste alles, er hat mich gefragt, ob ich die Riemenschneider-Nothelfer gefälscht habe.«

»Gut, dass du ihn getötet hast«, sagte Gabriel vollkommen ungerührt.

»Ich … ich habe ihn nicht getötet … also … äh … es war ein Unfall. Ein Scheißunfall, Gabriel! Er … ich … er wollte mir die Pistole wegnehmen, da ist sie losgegangen. Es war ein Unfall.«

»Beruhige dich, Felix. Ein Unfall. Gut. Ich glaube dir«, erwiderte Gabriel.

»Was, du glaubst mir? Hast du den Arsch offen? Natürlich glaubst du mir. Wegen dir ist das doch alles passiert. Es ist doch deine Scheißwaffe!«

»Ruhig, ganz ruhig«, sagte Gabriel erneut. »Welche Waffe?«

»Jetzt tu nicht so! Die Pistole, die du mir gegeben hast!« Felix schüttelte den Kopf. Was spielte Gabriel für ein Spiel mit ihm? Es konnte doch gar nicht sein, dass er sich nicht mehr an die Waffe erinnerte, die er ihm vor wenigen Monaten gegeben hatte. »Du musst wissen«, hatte er damals gesagt, »bei unserem Geschäft geht es um viel Geld. Wir haben nicht nur Freunde da draußen.« Genau das hatte Gabriel gesagt – und nun? Felix war vollkommen durcheinander. »Gabriel, was soll ich denn jetzt machen? Ich meine …« Er blickte auf den völlig leblosen Blank in der Blutlache. »… der ist …« Felix’ Stimme brach, Tränen mischten sich in seine nächsten Worte. »… tot! Ich muss … also … soll ich die Polizei rufen …?«

»Nicht die Polizei«, unterbrach ihn Gabriel freundlich, aber bestimmt. »Ich helfe dir. Wir sind Partner. Hör mir gut zu. – Hörst du mir zu?«

»Ja.« Felix fühlte sich wie gelähmt.

»Also. Du machst alles genau so, wie ich es dir sage: Lass alles so liegen, wie es jetzt ist. Geh rüber ins Haus, hol ein Bettlaken und lege es über diese …« Gabriel räusperte sich und setzte nochmals neu an. »… und lege es über … diesen Menschen. Verlasse die Werkstatt und sperr sie von außen ab. Geh zurück ins Haus, verriegle die Tür von innen und koch dir einen Tee. Ich bin in vierzig Minuten bei dir und kümmere mich um alles. Ruf niemanden an, lass auf keinen Fall irgendwen rein. Tu nichts, außer warten und Tee trinken. Bis ich bei dir bin. Ich werde dein Problem lösen. Keine Sorge.«

»Mein Problem?« Felix fröstelte es. »Aber, Gabriel … Ich bin … ich bin doch kein Mörder … Ich wollte … das alles nicht! Dieser Idiot ist mir in den Arm gefallen. Ich hatte die Pistole an meinem Kopf, ich wollte ihm drohen, dass ich mich … aber er ist … du musst mir glauben, Gabriel …«

»Ich glaube dir«, unterbrach ihn Gabriel streng. »Ich bin in vierzig Minuten da. Tu, was ich dir gesagt habe. Bis gleich!« Dann war die Leitung tot.

Felix starrte noch ungläubig auf das Display seines Handys, als ihn ein freundliches »Grüß Gott« aufschreckte. In der Tür der Werkstatt stand ein Riese. Wegen des Gegenlichts konnte Felix nichts als dessen Silhouette erkennen. Noch ehe er überlegen konnte, wie er auf diesen zweiten Eindringling reagieren sollte, sprach der weiter: »Kommen wir gleich zur Sache: Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, ich bin nicht von der Gendarmerie.« Felix musterte den Fremden. Er trug das typische Gewand eines Priesters. Freundlich lächelte ihn der Mann an. Seine Augen waren unter buschigen Brauen verborgen. »Auch können Sie unbesorgt sein, was das eben Geschehene betrifft. Das ist Ihre ganz private Angelegenheit. Und – wenn ich mir eine eigene Meinung erlauben darf –, wenn Sie mich fragen, hat dieser Journalist seine gerechte Strafe bekommen. Hatte ich ihn nicht sogar gewarnt?«

Felix starrte den Mann im Priestergewand ungläubig an. Vor wenigen Minuten hatte er einen Menschen erschossen, und jetzt stand ein Priester vor ihm. War das ein Traum? Doch der Fremde sprach einfach weiter: »Ich bin wegen etwas anderem hier. Es geht um Ihre Nothelfer-Skulpturen.« Der Fremde räusperte sich. »Ich bin im Bilde.«

Felix hatte das Gefühl, seine Knie hätten sich in Gelatine verwandelt.

»Aber …«, der Mann, der wie ein Pfarrer aussah, setzte eine gekonnte Pause, »Sie und ich, wir haben ein gemeinsames Interesse daran, dass die Öffentlichkeit nie erfährt, dass es sich hier um Fälschungen handelt. Nie!«

Erst jetzt, nachdem der seltsame Gast das letzte Wort sehr laut gesprochen hatte, fand Felix seine Stimme wieder. »Und was wollen Sie von mir?«

»Nun, mein kleiner Besuch bei Ihnen ist … formulieren wir es einmal vorsichtig … allenthalben mehr von symbolischem Wert. Oder präziser ausgedrückt: Uns wäre daran gelegen, bliebe die Wahrheit über die von Ihnen angefertigten Figuren unter uns. Aber ich denke, das ist auch in Ihrem Interesse.«

Während Felix noch versuchte zu begreifen, was hier vor sich ging, streckte ihm der namenlose Priester die Hand entgegen. Felix verharrte regungslos. Der Mann trat noch einen Schritt vor und zeichnete Felix, lateinisch klingende Worte flüsternd, mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. Dann sagte er, wieder in normaler Lautstärke: »Sollten Sie jemals die Wahrheit über besagte Skulpturen preisgeben, wird das für Sie nicht gut ausgehen.«

Felix nickte gedankenverloren, warf einen Blick über die Schulter zu dem in der Werkstatt liegenden Toten, ergriff dann die Hand des Mannes, die ihm plötzlich wieder angeboten wurde, und schlug ein.

Zwei

Gabriel de Moño zog routiniert eine Line Koks von dem Marmortisch in seinem Münchner Penthouse. Er atmete tief aus, ging zielstrebig auf den Einbauschrank zu, öffnete die Schiebetür aus edlem Palisanderholz und griff sich den großen schwarzen Hartschalenkoffer, den er für derlei Notfälle immer im Haus hatte. Auf dem Weg zum Ausgang blieb er kurz vor dem Spiegel im Eingangsbereich stehen und überprüfte sein Äußeres. Er entfernte eine Wimper von seiner sonnengegerbten Stirn und band die ergrauten Haare zum Pferdeschwanz. Selbstzufrieden grinste sich de Moño im Spiegel an. Aus der obersten Schublade des Designerboards kramte er noch seine verspiegelte Pilotenbrille hervor und schob sie sich lässig ins Gesicht. Wenige Augenblicke später stand er im Aufzug, auf dem Weg in die Tiefgarage.

Am liebsten hätte er die Reifen des Jaguar durchdrehen und quietschen lassen, um im Höchsttempo zu Felix zu fahren, aber Gabriel war kein Amateur. Dafür hatte er mit seinen fünfundfünfzig Jahren zu viel erlebt. Jetzt ging es darum, cool und besonnen zu bleiben. In angemessenem Tempo wühlte er sich durch den Stadtverkehr und wechselte auf die Autobahn. Ohne große Verzögerungen nahm er wenig später die Ausfahrt nach Hinteröx. Hoffentlich war Felix ruhig geblieben, hoffentlich war er nicht durchgedreht. Hatte er den überaus talentierten, aber eben auch unbedarften Fälscher überfordert? Als de Moño den Kramerladen im Ortskern passierte, kamen ihm zwei Polizeiautos und ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr entgegen. War Felix schwach geworden und hatte die Polizei gerufen? Oder hatte ein Nachbar die Ordnungskräfte alarmiert? Gabriel drosselte das Tempo. Er hatte ein ungutes Gefühl. Nach einer weiteren Kurve bremste er abrupt ab. Ein Holzlaster stand mitten auf der Straße. Polizeibeamte sammelten orange-weiße Hütchen ein und rollten Absperrbänder zusammen. Auch einige Schaulustige standen herum. Gabriel schlängelte sich vorbei und bog dann nach links in den Feldweg zu Felix’ Grundstück ein. Er war erleichtert. Ein Blick auf seine schwarze Rolex sagte ihm, dass er exakt zweiundvierzig Minuten gebraucht hatte. Er war stolz auf seine exakte Prognose. Den Jaguar parkte er so zwischen Haus und Werkstatt, dass er etwaig vorbeikommenden Wanderern die Sicht in den Kofferraum verwehrte, den er nun öffnete um den Hartschalenkoffer herauszunehmen. Er hob den Blick und entdeckte Felix, der mit versteinerter Miene aus dem Fenster starrte und ihm zunickte. Kurz darauf standen die Männer einander gegenüber und schüttelten sich geschäftsmäßig die Hand. »Du bleibst hier draußen und sorgst dafür, dass wir keinen unerwünschten Besuch bekommen, ich kümmere mich um das Problem.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, rollte Gabriel den großen Koffer über den Kies und verschwand in der Werkstatt.

Felix stand noch immer unter Schock. Er fühlte sich zu schwach, um zu helfen. Gleichzeitig raste sein Herz. Irgendwie musste er sich beruhigen. Die Worte des imposanten Kirchenmannes hallten in ihm nach: »Sie haben mich nie gesehen, klar?« Was war das nur für ein Scheißtag. Sollte er Gabriel von dem Priester erzählen? Besser nicht. Felix schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Aus der Werkstatt hörte er gedämpfte Geräusche. Zunächst eingepresstes Stöhnen, als ob ein Gewichtheber gerade eine 200-kg-Hantel in die Höhe stemmen würde. Dann ein Rumpeln, und schließlich ein surrendes Geräusch, das wie ein Reißverschluss klang. Plötzlich tauchten vor Felix’ innerem Auge Bilder von dem Campingurlaub auf, den er als Zwölfjähriger mit seinem verhassten großen Bruder unternommen hatte. Der Urlaub war von Christians Hänseleien und Gemeinheiten geprägt gewesen. Nur in seinem Zelt hatte sich Felix damals wohlgefühlt. Immer, wenn er den Reißverschluss am Eingang zugezogen hatte, hatte sich in ihm ein Gefühl von Sicherheit ausgebreitet. Für einen Moment fühlte er das auch jetzt. Doch dann wurde er wieder unruhig, weil es in der Werkstatt plötzlich totenstill war. Was zum Teufel tat Gabriel da drinnen? Felix öffnete wieder die Augenund ging langsam auf das Fenster der Werkstatt zu. Je näher er dem Gebäude kam, desto schwindliger wurde ihm. Ein kurzer Blick ins Innere reichte, er drehte sich wieder weg. Die Leiche lag nicht mehr auf ihrem Platz, aber das Blut war noch da. Viel Blut, und darin Schleifspuren. Felix setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf die Bank im Garten und zündete sich eine Zigarette an. Ihm war speiübel.

Währenddessen griff sich Gabriel einen Eimer und das Reinigungsmittel aus dem Notfallkasten. Die nächsten fünfzehn Minuten verbrachte er mit emsigem Putzen.

Glücklicherweise war der alte Dielenboden speckig und so gesättigt, dass er das Blut nicht aufnahm. Auch war es noch nicht vollständig eingetrocknet, sonst hätte er die hartnäckigen Flecken nie aus dem Holz bekommen. Nachdem er die sechste Ladung Putzwasser verschrubbt hatte, waren die Blutflecken kaum noch zu erkennen. Gabriel richtete sich auf und sah sich in der Werkstatt um. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht: Da stand die Tänzerinnen-Skulptur, die Felix in seinem Auftrag geschnitzt hatte. Sie wirkte perfekt, wie ein echter Kirchner, saubere Arbeit. Gabriel näherte sich der Holzfigur, den Putzlappen noch immer in der Hand. Der weibliche Akt hatte eine verspielte, naive Anmutung, strahlte Ruhe aus. Gabriel berührte vorsichtig den Sockel der Skulptur und drehte sie leicht. Genervt schüttelte er den Kopf. Die komplette Vorderseite der Tänzerin war mit einer Vielzahl feiner Blutspritzer besprenkelt. Im Gegensatz zum Blut auf dem Boden hatte das unbehandelte Pappelholz diese kleinen Blutflecke bereits aufgesogen. Sie waren in die Maserung des Holzes eingezogen und festgetrocknet. Diese Flecken ließen sich nicht wegwischen. Die Fälschung war wertlos!

Enttäuscht und wütend drehte Gabriel sich um und erblickte Felix, der regungslos im Eingang der Werkstatt stand und auf den schwarzen Leichensack starrte. Der in der Mitte des Plastiksacks verlaufende silberfarbene Reißverschluss war bereits verschlossen, darunter zeichneten sich die Konturen des toten Journalisten ab.

»Die Figur ist im Arsch«, fauchte Gabriel.

»Ich …« Felix brach ab. Was sollte er sagen?

Gabriel rang um Fassung. Das mit der Figur war eine Katastrophe, aber es hatte jetzt keine Priorität. Er bellte einen spanischen Fluch, warf ärgerlich den Putzlappen in den schwarzen Plastikkoffer und griff nach dem Kopfende des Leichensacks. »Los, hilf mir!« Widerwillig packte Felix die Füße. Der Tote war leichter, als er gedacht hatte.

»Zum Kofferraum«, befahl Gabriel. Felix ging rückwärts voraus.

In dem Moment, in dem er aus der Werkstatt heraustreten wollte, hörte er plötzlich hinter sich Schritte im Kies. Blitzschnell drehte er sich um und erkannte Hubert Novak – sicher kam er, um ihm schon wieder einen schlecht bezahlten Auftrag anzubieten. Wie fast immer trug der Fünfzigjährige seine abgewetzte blaue Arbeitshose und ein Karohemd. »Ah, Hubert!«, schrie Felix panisch. »Bleib stehen! Bleib stehen!« Mit aller Kraft schob er die Leiche in seinen Händen, und damit auch den an der Kopfseite tragenden Gabriel, zurück in die Werkstatt. Schnell ließ er das Fußende des Sackes auf den Boden plumpsen, trat wieder aus der Werkstatt heraus und versuchte, die Tür zuzuziehen. Aber das ging nicht, die Leiche lag zu nah am Eingang. Felix warf Gabriel einen hilflosen Blick zu. Der nickte in Richtung Novak. Felix begriff, wandte sich um und trat Novak entschlossen entgegen. Hinter seinem Rücken hörte Felix ein schleifendes Geräusch. Er schwitzte vor Angst. Dann ging die Werkstatttür lautlos und wie von Geisterhand zu. Dies alles dauerte nur einige Sekunden.

Felix stand jetzt so nah vor Novak, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Er musste den Mann von der Werkstatt weglotsen. Unwillkürlich tat der Besucher einen Schritt zurück. »Ja, was ist denn bei dir los?« Er blickte fragend in Richtung Werkstatt. »Seid’s gerade am Leichenentsorgen, oder was?«

Felix war so sehr unter Stress, dass er nicht begriff, dass Novaks Frage als Scherz gemeint war. »Leichen? Wie kommst du denn darauf?«, antwortete er. Seine Stimme zitterte wie bei einem Kind, das gerade der Lüge überführt worden war. Doch dann kapierte er und schob hastig und verkrampft lachend hinterher: »Ach so, jaja, haha – so meinst du das! Klar, wir haben gerade den Deppenschorsch umgelegt.« Felix suchte in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch. Er spürte Schweiß auf der Stirn.

Der ältere Mann strich sich nachdenklich durch den leicht angegrauten Vollbart. »Kein guter Witz. Aber wahrscheinlich weißt du das noch gar nicht«, murmelte Novak mehr zu sich selbst. »Den Schorsch hat’s heute erwischt. Auf der Hauptstraße. Schwerer Verkehrsunfall.«

»Aha«, erwiderte Felix eher desinteressiert. Eigentlich hätte ihn die Nachricht schockieren müssen. Immerhin hatte Georg Seefellner, genannt »Deppenschorsch«, ihm als Strohmann geholfen, seine ersten gefälschten Holzskulpturen in den Kunstmarkt zu schleusen. Der Deppenschorsch war zwar geistig minderbemittelt, aber Felix hatte dessen unerschütterlichen Frohsinn stets geschätzt. Trotzdem spürte er in diesem Moment keinerlei Mitgefühl für Seefellners Schicksal. Er hatte andere Probleme. Ohne sich von Felix’ Desinteresse irritieren zu lassen, fuhr Novak mit seiner Erzählung fort: »Auf seinem Bonanza-Rad haben’s ihn zusammengefahren. Ein Holzlaster. Sieht übel aus. Kann sein, dass er es nicht überlebt.«

Im Gegensatz zu Felix verfolgte Gabriel, der noch immer in der Werkstatt herumfuhrwerkte, Novaks Bericht sehr aufmerksam. Seefellner wusste einfach zu viel. Tatsächlich war er der einzige verbliebene Zeuge, der Felix mit den Fälschungen in Verbindung bringen konnte. Aber mit ein bisschen Glück war er vielleicht wirklich schon tot.

»Und – was willst jetzt du von mir?«, fragte Felix, nachdem Novak aufgehört hatte, von Seefellner zu sprechen.

Ohne auf die Frage zu reagieren, wandte sich Novak dem Jaguar zu und meinte: »Toller Schlitten. Hast du Besuch?«

»Nein, also, ja … also schon.« Felix starrte den Wagen an, dessen Kofferraum immer noch offen stand.

»Der ist in letzter Zeit oft da, bei dir, oder – der Jaguarmann?«

»Ja, also … es geht so. Er ist ein … also, ich … ähm …« Ehe Felix weiterstammeln konnte, hörte er das Quietschen der Werkstatttür. Entsetzt drehte er sich um.

Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen ging Gabriel auf Novak zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Guten Tag, Gabriel de Moño mein Name. Wir …« Er zwinkerte Felix zu. »… arbeiten zusammen.«

»Aha!«, meinte Novak spitz und musterte Gabriel mit zusammengekniffenen Augen. »So feine Kundschaft hast du jetzt also.« Sein Blick wanderte erneut zu dem Jaguar. »Aus München … soso …« Gabriel lächelte ihn offen an. Doch Novak blieb bei seinem grimmigen Gesichtsausdruck.

Es entstand ein kurzer Moment der Stille, der Felix jedoch viel zu lang erschien. Er hätte gerne etwas gesagt, um die angespannte Stimmung zu lösen, aber ihm fiel nichts ein. Ein Mann war gerade gestorben, und ein anderer stand vielleicht kurz davor. Beide hatten direkt mit den Riemenschneider-Skulpturen zu tun, die er gefälscht hatte. Die Leiche in der Werkstatt hatte er auf dem Gewissen, daran bestand kein Zweifel. Dass er jedoch auch mitverantwortlich für Seefellners schweren Verkehrsunfall war, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Unversehens wechselte Novak die Blickrichtung, fixierte nun wieder Felix und fragte schnell: »Und was war das da Schweres, Schwarzes, was ihr eben raustragen wolltet’s?« Felix schoss das Blut in die Wangen. Sein Magen bäumte sich auf. Regungslos starrte er Novak an.

»Herr …«, durchbrach Gabriel mit geschmeidiger Stimme die auf eine plausible Antwort wartende Stille, »… wie war noch einmal Ihr Name?«

»Novak heißt er.« Felix hätte gerne laut und deutlich geantwortet, aber es gelang ihm nur eine Art Röcheln.

»Herr Novak«, nahm Gabriel dankbar den Ball auf, als wäre nichts gewesen. »Wissen Sie gar nicht, wie erfolgreich Felix neuerdings ist?« Felix drehte seinen Kopf unmerklich Gabriel zu, um dessen Mimik sehen zu können. Gabriel sprach scheinbar völlig entspannt weiter. »Er ist auf dem besten Weg ein großer Künstler zu werden.«

Novak schaute verständnislos. »So, Künstler. Ich dachte, du wärst Schreiner. Und der schwarze Sack?«

»Das ist auch Kunst«, erwiderte Gabriel. »Kennen Sie Christo und Jeanne-Claude, die beiden Verpackungskünstler? Jeanne-Claude ist ja leider gestorben, aber …« Gabriel tat so, als reagiere er auf Novaks noch immer verständnislosen Blick. »Nicht möglich? Die kennen Sie nicht? Das müssen Sie sich mal anschauen – im Internet oder in einem Fotoband. Die haben doch den Reichstag eingepackt und den Pont Neuf in Paris. Das müssen Sie doch mitbekommen haben. Erinnern Sie sich nicht?« Gabriels Erstaunen wirkte absolut authentisch. »Und unser Felix«, er legte seinem Partner die Hand auf die Schulter und schaute ihn stolz von der Seite an, »steigt jetzt auch in diese künstlerischen Footprints.«

»Also, ehrlich gesagt«, brummelte Novak. »Für mich hat der Sack nicht wie ein Kunstwerk ausgesehen. Eher so …« Er kratzte sich am Bart und wandte den Blick in Richtung der verschlossenen Werkstatttür. Nach einer Weile des Schweigens meinte er direkt zu Felix: »Soso, Kunst machst du jetzt.« Erneut schwieg er scheinbar gedankenverloren. Dann wandte er den Blick wieder Gabriel zu, sagte: »Tja, dann … mach ich einmal wieder weiter«, und verließ grußlos den Hof.

Felix atmete auf. Doch Gabriel ließ ihm keine Verschnaufpause. »Los, schnell!«, befahl er, und beide eilten zurück in die Werkstatt. Sie standen bereits mit der Leiche am offenen Kofferraum, da schrak Felix erneut zusammen: Novak war zurückgekehrt, er war nur noch vier oder fünf Meter von ihnen entfernt. Sein Schritt war schnell und entschlossen. Entsetzt suchte Felix Gabriels Blick. Der nickte nur und hievte den Kopfteil des Leichensacks schnell ins Wageninnere. Aber die Beine standen über. Felix knickte sie mit Gewalt ein und drückte sie in den Kofferraum. Die Gelenke knacksten, die Leiche war zum Glück noch nicht erstarrt. Als Novak wieder bei ihnen stand, schlug Gabriel gerade die Klappe des Kofferraums zu. Felix’ Herz raste. Er starrte Novak an. Der nahm davon keine Notiz, sondern klopfte dreimal auf das Blech des Wagens und meinte: »Holzauge, sei wachsam! Jetzt hab ich doch glatt vergessen dir zu sagen, warum ich eigentlich hier bin.«

»Warum … bist du … eigentlich hier?« Felix’ Stimme zitterte.

»Ich wollte fragen, ob ich deinen Bandschleifer ausleihen kann – weil meiner kaputt ist.«

»Ja, ja, klar«, antwortete Felix hastig. Er war unendlich erleichtert. Aber seine Antwort war voreilig gewesen. Denn wenn er den Bandschleifer jetzt holte, dann würde Novak ihm in die Werkstatt folgen und womöglich noch Blut oder andere Spuren der Leichenentsorgung sehen. Deshalb würgte Felix hervor: »Ich bring ihn dir vorbei, den Bandschleifer.«

»Kann ich ihn nicht gleich mitnehmen?«

»Nein, nicht, weil … ich muss ihn erst suchen.«

»Ja, komm, dann helf ich dir … beim Suchen.« Ohne zu warten, tat Novak mehrere beherzte Schritte. Schon hatte er die Hand an der Klinke und drückte die Tür zur Werkstatt auf.

»Halt!«, rief Felix. »Hubert!«

Novak hielt inne und drehte sich um. »Ja, sag einmal, was ist denn heut los mit dir? Bist ja ganz aufgescheucht! Ich bring dir den schon wieder, den Bandschleifer. Außerdem hab ich eh noch was gut bei dir.« Felix verstand die Anspielung sofort. Er hatte sich vor Monaten heimlich an Novaks Haushaltskasse bedient und war aufgeflogen.

Ehe Felix etwas stammeln konnte, sprach Gabriel ruhig, aber sehr bestimmt: »Herr Novak, bitte verlassen Sie uns jetzt. Wir werden Ihnen in dreißig Minuten das gewünschte Werkzeug vorbeibringen. Aber jetzt gerade ist es ungünstig. Wir haben hier noch etwas Dringliches zu erledigen.«

»Dringlicher als ich, soso«, murmelte Novak grimmig.

Gabriel lächelte ihn an und nickte aufmunternd. »Wir bringen Ihnen das Werkzeug. Versprochen. Gehen Sie jetzt bitte.«

Novak schüttelte den Kopf und sah Felix noch einmal mit festem Blick an. »Gut, dann also … bis dann.«

Die Männer schauten dem Dörfler hinterher, bis er hinter der verwilderten Hecke am Gartenzaun verschwunden war.

»Und jetzt?« Felix sah Gabriel ratlos an. »Was machen wir mit ihm?« Der Holzschnitzer nickte dem verschlossenen Kofferraum zu, als wäre er ein Mensch.

»Alles kein Problem. Ich mache die Werkstatt jetzt noch fertig, und du packst dir eine Reisetasche. Und dann fahren wir so schnell wie möglich los.« Gabriel trommelte fröhlich auf den Kofferraum. »Unser Freund hier muss weg. Die sommerlichen Temperaturen setzen ihm zu. Wir wollen ihn ja nicht braten, oder?«

»Wie, wir fahren los? Für was brauche ich eine Reisetasche?«

»Felix, vertrau mir. Ich weiß, was zu tun ist. Wir werden für einige Tage verschwinden – mit ihm. Und da wäre es gut, wenn du ein paar Kleider zum Wechseln dabeihättest. Wir sind doch keine Penner.«

»Wohin willst du denn? Was hast du vor?« In Felix’ Bauch kribbelte es ungut. Er hatte Angst.

»Felix, du hast ’nen Typen umgelegt! Das ist Mord. Für dumme Fragen ist da beim besten Willen keine Zeit. Geh jetzt und pack deine Tasche, ehe dieser komische Vogel wiederkommt!« Gabriels Stimme hatte nun wieder diese herablassende Schärfe, dieses unheimliche Zischeln, das Felix nicht mochte. Wie sehr bereute er es, sich auf den Kunstberater eingelassen zu haben. Aber solange die Leiche hier herumlag, hatte er keine Wahl. Sie musste weg.

Drei

Nachdem Felix die alte rote Sporttasche und den Bandschleifer auf dem Rücksitz des Jaguar abgelegt hatte, schloss er das Wohnhaus und die Werkstatt ab. Minuten später hatten er und Gabriel das Grundstück verlassen, den Bandschleifer an den noch immer verwunderten Hubert Novak übergeben – und der schwarze Jaguar glitt mit gleichmäßigem Motorgeräusch auf der Autobahn in Richtung München. Die Mittagssonne stand hoch am Himmel und blendete. Gabriel wählte mehrfach dieselbe Telefonnummer und sprach unverständliche Worte – vermutlich war es Ungarisch oder Russisch – auf eine Mailbox. Felix wunderte sich über Gabriels Sprachbegabung. Es klang sehr selbstverständlich, wie sein Partner in der fremden Sprache parlierte. Felix selbst verlor bis nach München kein Wort. Die Ereignisse hatten ihm zugesetzt. Die vorbeirauschende Landschaft und die kühle Luft aus der Klimaanlage taten ihm gut. Trotzdem glaubte er Verwesungsgestank zu riechen.

Nach fünfzig Minuten Fahrt, sie hatten München bereits östlich umrundet, meinte Felix: »Wo willst du denn jetzt hin mit der Leiche?«

Gabriel zog die Augenbrauen hoch. Er klang etwas genervt, als er sagte: »Wir bringen sie an einen sicheren Ort.«

»Und … wo … ist das?« Felix fühlte sich mit einem Mal sehr klein.

»Sei unbesorgt, ich habe gute Kontakte.«

Kontakte. Felix schluckte. Nach einer Weile meinte er: »Gabriel, ich muss aufs Klo.«

Jetzt traf ihn ein prüfender Blick des Partners. »Ist es dringend?«

»Ja«, hauchte Felix.

»Da kommt gleich eine Raststätte, in zwanzig Kilometern.«

Während sein Harndrang immer stärker wurde, versuchte Felix sich abzulenken. Er dachte an Dana. An ihre langen Wimpern, mit denen sie ihn vorgestern im Bett an der Wange zart gekitzelt hatte. An ihr erstes Treffen, bei dem sie wie selbstverständlich ihre Kleider ausgezogen und plötzlich nackt vor ihm gestanden hatte. Und schließlich dachte er daran, wie er sich noch vor Stunden – bei der Arbeit an der Skulptur – darauf gefreut hatte, dass Dana bald von ihrem Tanz-Workshop aus London wiederkommen und sie gemeinsam in eine unbeschwerte Zukunft starten würden.

Aber so schnell konnten sich die Dinge ändern: Er war jetzt nicht nur ein Fälscher, sondern auch noch ein Mörder, ein Schwerverbrecher. Da gab es nichts zu beschönigen. Gut, dass Dana weit weg war. Aber in drei Tagen würde sie wieder zurück sein – und dann würde Felix ihr eine Menge verheimlichen müssen. Geheimnisse waren Gift für eine Beziehung. Aber was sollte er tun?

Felix spürte, dass Gabriel ihn von der Seite musterte. Nachdem er tief Luft geholt hatte, sagte der Kunstberater: »Mach dir keine Sorgen, Felix. In ein paar Tagen ist das alles vergessen.«

Felix wandte Gabriel den Blick zu. Wie er da mit der verspiegelten Sonnenbrille am Steuer seines Jaguar saß, strahlte er Hoffnung und Zuversicht aus. Er wirkte wie der erfahrene Pilot eines Kampfjets, der alles im Griff hatte. Felix dachte wieder an Dana. Sie hatte ihn vor dem Mann gewarnt. Auch wegen dessen Kontakten zur Unterwelt. Aber wenn Gabriel wirklich über solche Kontakte verfügte, dann würde er wohl auch wissen, wie man eine Leiche beseitigte.

Als sie den Münchner Flughafen hinter sich gelassen hatten, setzte Gabriel endlich den Blinker und nahm die Ausfahrt zum Rastplatz. Felix’ Blase schmerzte mittlerweile unerträglich. Gabriel steuerte den Wagen zunächst an eine Zapfsäule. »Ich tanke gleich voll, dann müssen wir später vor der Grenze nicht noch einmal halten.«

»Okay«, sagte Felix und stürmte aus dem Wagen in Richtung Toiletten davon. Erst, als er erleichtert vor der Schüssel stand, wurde ihm klar, was Gabriel gerade eben gesagt hatte: »… vor der Grenze nicht noch einmal anhalten.« Felix wurde es schwindlig. Er zog den Reißverschluss seiner Hose zu und suchte mit der linken Hand Halt an der Kachelwand. War Gabriel wahnsinnig? Wollte er wirklich mit der Leiche über die Grenze fahren? Zum Glück war Felix gerade allein in der Rastplatztoilette, denn in einem Schwall entlud er seinen Mageninhalt genau zwischen zwei Pissoirs. Säuerlich stinkend glitt sein Erbrochenes an der Wand nach unten. Danach fühlte Felix sich besser. Sein Kreislauf fing sich wieder. Hastig eilte Felix zu den Waschbecken, spülte sich den üblen Geschmack aus dem Mund und wusch sich das Gesicht mit kaltem klarem Wasser. Dann betrachtete er sich im Spiegel. Seine Wangen waren blass, und sein Bart war aus der Form geraten. Er musste ihn mal wieder stutzen. Seine Haut sah alt aus. Auf jeden Fall älter als sechsunddreißig. Am Hals entdeckte er ein eingewachsenes Barthaar. Gerade, als er daran herumfummeln wollte, hörte er aus dem Vorraum die Stimme einer Mutter, die ihrem Sohn erklärte, wie man die Schranke zum Klo öffnete. »Du musst da oben zuerst das Geld einwerfen und dann geht die Schranke auf, Jonathan.«

Bevor der kleine Jonathan ihn mit der Sauerei auf der Herrentoilette in Verbindung bringen konnte, verließ Felix zügig den Waschbeckenbereich. Am Drehkreuz blickte der Junge ihn mit großen Augen an und verlor dabei das Kleingeld aus der Hand. Es schepperte zu Boden. »Pass doch auf, Jonathan«, war das Letzte, was Felix aus der Toilette hörte.

Der Jaguar stand noch immer an der Zapfsäule. Gabriel war nicht da, vermutlich bezahlte er gerade. Felix blickte sich um. Durch die Scheibe konnte er den Verkaufsraum der Tankstelle gut einsehen. Aber keine Spur von Gabriel. Felix entfernte sich mit zögerlichen Schritten vom Wagen und kniff die Augen zusammen: Sonnenschirme, parkende Autos und eine ältere Frau in Leggins, die vor ihrem Kombi stand und Dehnübungen machte. Weiter entfernt rauchten zwei Männer in bayerischer Tracht und unterhielten sich mit ausladenden Gesten. Wo war Gabriel? Hatte er sich aus dem Staub gemacht? Felix überkam ein mulmiges Gefühl. War es Gabriel zuzutrauen, dass er ihn hier mit der Leiche im Kofferraum im Stich ließ? Felix fuhr sich nervös durchs Haar. Er suchte weiter den Parkplatz ab. Da sah er den Kunstberater, ziemlich nah, aber von einem parkenden Van fast verdeckt. In der einen Hand hielt er ein Eis, in der anderen sein Telefon. Gabriel erblickte Felix und winkte ihm freundlich mit dem Eis zu. Eine Minute später hatte er sein Gespräch beendet, und beide standen wieder neben dem Jaguar.

»Gute Nachrichten, Felix, mein Freund. Ich habe unseren Partner in Tschechien erreicht …« Felix wollte keinen Partner in Tschechien, aber Gabriel sprach weiter. »Es geht alles klar. Morgen haben wir einen Termin, lösen das Problem, und dann sind wir schnell wieder zurück.« Felix empfand Gabriels blendende Laune als Provokation. Er bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Doch jetzt hielt ihm der Partner auch noch sein Eis vor die Nase. »Magst du mal schlecken?«

Gabriels flirtender Unterton widerte Felix an. Deshalb sagte er abweisend: »Ohne Gummi kostet aber extra.« Und öffnete die Beifahrertür. Gabriel warf Felix einen irritierten Blick zu, schaute auf den Autoschlüssel in seiner Hand und murmelte ratlos: »Ich hätte schwören können, dass ich abgeschlossen habe!«

Jetzt erst dämmerte Felix, was gerade passiert war. Da verließen sie beide den Wagen, in dessen Kofferraum auf gar keinen Fall jemand einen Blick werfen durfte, weil eine Leiche darin lag – und das Auto war die ganze Zeit unabgeschlossen?

»Bist du völlig bescheuert?«, zischte Felix Gabriel an. Dieser ging jedoch überhaupt nicht auf seinen Vorwurf ein, sondern meinte nur:

»Seltsam, wirklich seltsam.« Dabei wirkte er allerdings nicht über die Maßen verunsichert.

Wenig später rollte der Jaguar wieder über die Autobahn. Hinter Landshut verdichtete sich der Verkehr. Hier war die Autobahn nicht mehr so üppig ausgebaut, und so quälte sich das Blech zweispurig in Richtung Osten. Felix schaute nach draußen, studierte zur Ablenkung die Gesichter der Fahrer in den anderen Autos. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. War das ein Polizeiwagen? Das silberfarbene Fahrzeug lag zwar noch weit hinter ihnen, aber ganz klar: Der Wagen hatte Blaulichter auf dem Dach. Felix erinnerte sich an die letzte Polizeikontrolle, in die er geraten war, nachdem er nachts einen Pfarrer k.o. geschlagenund eine Kirche beinahe abgefackelt hatte, und das nur wegen ein paar alter Holzbalken.

»Die Polizei ist hinter uns«, flüsterte Felix. Seine Stimme bebte vor Angst.

»Was?«

»Mann, Gabriel, die Bullen!«

»Na und«, meinte der und wirkte regelrecht belustigt. »Haben wir denn was zu verbergen? Wir sind zwei Arbeitskollegen auf einem Kurztrip nach Tschechien in den Puff. Jetzt mach dich mal locker …« Der Polizeiwagen setzte den Blinker und wechselte auf die Überholspur. Er war nun auf gleicher Höhe mit dem Jaguar. Felix starrte geradeaus auf die Fahrbahn. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Gabriel den Polizisten zuwinkte. Felix beschlich das ungute Gefühl, in die Hände eines Wahnsinnigen geraten zu sein. Oder war Gabriel vollkommen zugekokst? Gerade vollendete er den eben begonnenen Satz: »… dann lebst du länger.« Der Polizeiwagen beschleunigte und hatte Sekunden später mehr als fünfzig Meter Vorsprung. Felix atmete auf.

Mittlerweile war es später Nachmittag geworden. Der Jaguar fuhr auf der linken Spur, eingeklemmt zwischen vollgepackten Urlauberautos. Gabriel überholte einen alten Kombi, der so mit Koffern und Tüten beladen war, dass man von außen nicht erkennen konnte, ob überhaupt Menschen in dem Fahrzeug saßen. »Sieht aus wie eine Installation von Erwin Wurm«, gluckste Gabriel und deutete auf den Wagen. Felix antwortete nicht.

Etwa zur selben Zeit kämpften die Ärzte im unweit von Hinteröx gelegenen Unfallkrankenhaus um Georg Seefellners Leben. Hätte Gabriel den Zustand von Seefellners Körper gesehen, hätte er sich vermutlich an eine Performance von Hermann Nitsch erinnert gefühlt. Seefellner hatte bei dem Zusammenstoß mit dem Lastwagen eine schlimme Schädelquetschung erlitten. Außerdem hatte ihm der Lenker seines Bonanza-Rads die Bauchhöhle aufgerissen. Doch das größte Problem für die Ärzte war der enorme Blutverlust. Es sah nicht gut aus für ihn.

Felix war noch nie in Tschechien gewesen. Jetzt waren es noch zwanzig Kilometer bis zur Grenze. Da wandte sich Gabriel in ernstem Ton an ihn: »Schlechte Nachrichten.«

Felix, der eben erst angefangen hatte, sich zu entspannen, stöhnte: »Was ist los?«

»Wir müssen doch noch mal vor der Grenze raus. Jetzt muss ich aufs Klo.«

Als sie auf die Parkplätze zurollten, schlug Felix vor, bei diesem Stopp einzeln die Toilette aufzusuchen, damit immer einer das Auto mit der Leiche bewachen konnte. »Von mir aus«, sagte Gabriel, »bis gleich«.

Felix blieb sitzen und beobachtete, wie Gabriel einem spielenden Mädchen im Vorbeigehen durchs Haar strich. Das Kind trug ein pinkfarbenes Kleid und Gummistiefel, es sah putzig aus. Sein semmelblonder Pagenkopf erinnerte Felix an seine Nichte. Das Mädchen spielte mit einem Plastikstock, an dessen Ende ein Rad angebracht war. Wie man dieses Spielzeug wohl nannte? Felix warf einen Blick auf die Uhr im Cockpit des Autos. Gabriel ließ sich ganz schön Zeit. Das Mädchen rollte jetzt mit seinem Spielzeug direkt auf den Jaguar zu. Die Mutter stand rauchend an einem Bistrotisch und telefonierte aggressiv gestikulierend. Felix wunderte sich, wie wenig sich die junge Mutter um ihr Kind kümmerte. Plötzlich war das Mädchen mit dem Rollstock-Spielzeug verschwunden. Felix blickte sich nach rechts um und scannte den Bürgersteig. Weit und breit kein Kind. Er schaute in den Rückspiegel, aber auch da konnte er es nicht entdecken. Was war mit dem Mädchen passiert? Er drehte sich um, um direkt aus dem Rückfenster sehen zu können. Nichts. Kein Kind, keine Raststätte. Jetzt begriff er, was geschehen war. Der Schreck durchfuhr ihn wie ein Stromschlag: Die Klappe des Kofferraums stand offen. Was zur Hölle?

Sofort riss Felix die Autotür auf. Diese abrupte Bewegung ließ wiederum die noch immer telefonierende Mutter des Kindes aufschrecken. Auch sie hatte auf einmal realisiert, dass ihre Tochter verschwunden war. Felix umrundete mit einigen schnellen Schritten den Wagen und blieb wie versteinert stehen. Die Kleine in ihren Gummistiefeln versuchte, über die Stoßstange in den offenen Kofferraum des Jaguar zu klettern. Als sie Felix bemerkte, strahlte sie ihn an und streckte ihre Arme nach ihm aus.

»Bist du wahnsinnig?«, blaffte Felix das Kind an und schubste es zur Seite. Es begann zu weinen. Doch Felix hatte nur noch Augen für die Leiche. Das Ende des schwarzen Sacks, in dem Blanks Beine steckten, stand nach oben und ragte über den Kofferraumrand hinaus. Felix packte es und drückte es mit Gewalt nach unten. Aber der Körper war jetzt steifer als am Vormittag, er gab nicht nach. Und durch den Leichensack hindurch verströmte er den süßlichen Geruch des Todes. Es war ekelhaft. Die Mutter kam schnell näher. Sie hatte ihr Telefonat beendet. Felix war sich nicht sicher, was das Kind gesehen hatte.

Aber es war klar, dass die Mutter auf keinen Fall den Inhalt des Kofferraums sehen durfte. Um die Leiche mit Gewalt in den Wagen zu wuchten, war es zu spät. Kurz entschlossen packte Felix das Mädchen, nahm es auf den Arm und positionierte sich so vor dem Kofferraum, dass er die Seite, aus der Blanks Beine ragten, mit seinem Körper verdeckte. Das Kind hörte auf zu weinen. Inzwischen hatte die Mutter ihn erreicht und keifte los: »Lassen Sie sofort mein Kind los, sonst zeige ich Sie an!«

Felix, bemüht, sich möglichst breit zu machen, hielt ihr das Kind entgegen, aber das Mädchen sträubte sich. Es wollte gar nicht herunter von seinem Arm. Vielmehr begann es, mit seinem zerzausten Bart zu spielen. Da packte die Mutter es unter den Armen und entriss es ihm. Das Mädchen stieß einen Schrei aus, genauso wie Felix; das Kind hatte ihm einige Barthaare ausgerissen. Jetzt weinte es wieder. Felix spürte in seinem Rücken Blanks tote Füße.

»Sind Sie noch ganz normal?«, schnauzte ihn die Mutter an. Felix kam es so vor, als versuchte sie, an ihm vorbei in den Kofferraum zu spähen.

»Ich schlage vor, Sie passen das nächste Mal ein bisschen besser auf Ihre Tochter auf; das hier ist ein Rastplatz und kein Spielplatz!«

»Halt die Fresse, Waldschrat«, schrie die Mutter Felix ins Gesicht.

»Sachte, sachte.« Das war Gabriels Stimme. Felix hatte gar nicht bemerkt, wie sein Partner sich genähert hatte. Er trat zwischen Felix und die Mutter und kitzelte das Kind am Kinn. Das Mädchen lächelte. Die Mutter sah den gepflegten älteren Mann verstört an. »Na, du bist ja eine Süße«, gurrte Gabriel und sagte dann mit absolut glaubwürdiger, schmeichelnder Stimme zur Mutter: »… und, wie ich sehe, ganz die Mutter.« Der Blick der Frau hellte sich auf. Felix spürte noch immer die Trekkingsandalen des Toten in seinem Rücken. Während Gabriel die Tochter mit einem Fingerspiel beschäftigte und die Mutter scheinbar mühelos in ein Gespräch verwickelte, dessen Details Felix nicht mitbekam, tat der geschickte Kunstberater einige Schritte und erreichte damit, dass die Frau sich auch drehte und nach und nach mit dem Rücken zum Jaguar stand. Als Felix sich sicher war, dass sie ihn aus dem Blick verloren hatte, drehte er sich um, packte die Füße der Leiche, rammte sie mit aller Kraft in den Kofferraum und donnerte die Klappe zu.

Als die beiden Männer wieder im Wagen saßen, meinte Gabriel: »Das mit dem Waldschrat stimmt übrigens.«

»Wie bitte?«, fragte Felix empört zurück.

»Na, du könntest dich wirklich mal rasieren. Wenn du mich fragst, schicken wir dich in Tschechien zum Barbier.«

»Schicken wir dich …«, grummelte Felix. Gabriel behandelte ihn wie einen Idioten. Dann sah er das Autobahnschild, das die Grenze ankündigte: zehn Kilometer. Er bekam eine Gänsehaut.

Vier

»Gabriel«, fragte Felix mit zitternder Stimme, »warum muss die Leiche eigentlich ausgerechnet nach Tschechien? Warum können wir nicht hier irgendwo in den Wald fahren und sie vergraben? Die findet hier doch kein Schwein …« Felix sah aus dem Fenster. Er fand selbst, dass sein Vorschlag nur mittelmäßig überzeugend war.