Ameisen unterm Brennglas - Jens Steiner - E-Book

Ameisen unterm Brennglas E-Book

Jens Steiner

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Beschreibung

Eine Serie von Gewaltakten erschüttert die Schweiz: Ein unbekanntes Paar steckt ein Haus in Brand, schießt auf eine Raststätte, nimmt eine Geisel. Die Medien schreiben den Taten sogleich verschiedenste terroristische Hintergründe zu. Auch die Bevölkerung versucht, sich einen Reim auf die Vorkommnisse zu machen, unter ihnen: Toni Manfredi, der in seiner Wohnung im achtzehnten Stock eines Hochhauses beim Fernsehen obsessiv Krippenfiguren schnitzt. Martin Boll, der immer mehr den Zugang zu seiner konsum- und smartphoneabhängigen Familie verliert. Regina, Mutter eines umherstreunenden Zehnjährigen, deren viele Ehrenämter sie zunehmend den Verstand kosten. Sie alle wünschen sich Halt und Stabilität, doch ihre Welt gerät immer mehr aus den Fugen. Darauf reagieren sie mit Resignation – oder mit lautstarker Entrüstung und Aggression.

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Seitenzahl: 283

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Jens Steiner

Ameisen unterm Brennglas

Roman

Montag

I.

Seine Hand zittert, die Lider flimmern, der Mund fühlt sich an wie ausgetrocknet. Toni Manfredi räuspert sich und schluckt, doch die Dürre am Gaumen will nicht weg. Er lässt die Hand mit der Schere sinken und blickt hoch. An der Wand die Küchenuhr, das Ticken ihres Sekundenzeigers wie ein Stupsen in den Rücken. Verfluchter Nervösmacher, dieser Hüpfzeiger. Toni hebt die Hand erneut, macht ein-, zweimal Probeschnippeln in der Luft und nimmt die Raupe abermals in den Blick. Genauso grün wie der Basilikumzweig, auf dem sie sitzt. Sogar der Knick in ihrer Mitte hat etwas Pflanzenartiges. Aber Toni lässt sich nicht täuschen. In einer Minute wird der Scheinzweig sich in ein gefräßiges Teleskoptierchen zurückverwandelt haben, er weiß das.

In seinem Kopf eine Stimme: Ein Schnitt und ihre Tage sind gezählt, hopp jetzt! Aber Toni schafft es nicht. Madre mia, zischt die Stimme, diese Küche ist dein Revier, mach der Fressraupe den Garaus! Die Hand beginnt wieder zu zittern, im Kreuz meldet sich der alte Schmerz. Vor seinem inneren Auge sieht Toni, wie das Tier ihm den Basilikum Blatt für Blatt wegfressen wird. Seit Jahren schaut er diesen giftgrünen Mottenraupen zu, wie sie seine Küchenkräuter zugrunde richten. Und ist nicht imstande, etwas dagegen zu tun. Nur aufregen kann er sich. Aufregen ist sein Spezialgebiet.

Toni schleudert die Schere auf den Küchentisch, sie rutscht über die Kante und fällt zu Boden. Die Stimme in seinem Kopf grollt weiter. Sein Blick wandert zum Fenster, tastet sich durch das Wimmelbild von Straßen, Grünflächen und Häusern. Immer schön in die Ferne schauen, denkt er. Und dann loslassen! Einfach loslassen.

Sein Blick pflückt sich hier und dort etwas, lässt es fallen, wandert weiter. Lass los, alter Junge, lass jetzt los! Genieß, was du hier hast! So eine Sicht wie du haben wenige hier, das weißt du. In der Tat steht Toni in seinem achtzehnten Stock über allem. Nun ja, fast. Auf jeden Fall über Bethlehem, und das ist doch schon mal etwas. Wohnsilos, Scheibenhäuser, Plattenbau, dazwischen gezähmte Vegetation und verkehrsberuhigte Straßen, das Ganze eingefasst vom langen Bogen der Autobahn. Alles andere als der Geburtsort eines Menschenerlösers, dieses Bethlehem, aber auch keine so üble Gegend, wie überall gesagt wird. Eine Herberge für all jene, die von weit her gekommen sind und sich hier so etwas wie eine neue Heimat geschaffen haben. Ja, es ist ein besonderes Temperament, das in den Betonblöcken von Bern-Bethlehem wohnt. Doch dieses Temperament hat gelitten in den letzten Jahren. Eines Tages wird es komplett ruiniert sein, Toni weiß das besser als jeder andere, und er könnte sich endlos darüber aufregen. Aber man muss sich zusammenreißen. Alle hier müssen sich zusammenreißen, porca miseria!

Zehn Minuten später brodelt es in der alten Moka Express. Als die Kanne zu röcheln beginnt, dreht Toni dem Herd das Gas aus, klappt den Deckel auf und rührt zweimal um. Kurz darauf ergießt sich ein brauner Strahl in seine Lieblingstasse. Dieser Duft, herrlich! Kurzer Seitenblick zum Basilikumstrauch. Egal jetzt, soll das verdammte Tier sich totfressen dran. Toni geht mit der dampfenden Tasse ins Wohnzimmer. Der Tisch mit dem Schnitzwerkzeug, die Wand mit den Fotos, die Vitrine mit Mutters Nippsachen. Toni sieht sich das alles an und nickt. Tutto bene così. Er hebt die Tasse und trinkt. Tiefschwarz wie reines Pech, das Zeug. So stark, dass es wummert zwischen den Ohren. Genau so muss Kaffee sein. Und jetzt Schnitzen!

Toni stellt den Fernseher an, den Ton leise. Dann setzt er sich hin und greift zum Josef. Konzentriert geht er an die Arbeit, links und rechts seines Mundes vertiefen sich die Grübchen. Der Josef ist stets die erste Figur, wenn Toni eine neue Krippe in Angriff nimmt. Erste, weil einfachste. Steh figur, fast symmetrisch, ohne Zwischenräume. Danach Ochse und Esel, etwas schwieriger, und dann, als größte Herausforderung, die Maria mit dem Jesuskind. Für Toni auch sonst der Gipfel der Gefühle. Selbst vierzig Jahre in Bern haben den Katholiken in ihm nicht umbringen können. Einmal Weihrauch in der Nase gehabt und du kommst nicht mehr los von dem Zauberkram. Zum Ausklang wird er die drei Könige machen. Auch keine einfachen Figuren, aber nach der Santissima Madre und dem Sohn Gottes arbeitet seine Hand so sicher, dass nichts mehr schiefgeht. Er ist jetzt ganz ruhig. Es gibt in diesem Moment nur ihn und seine Schnitzerei. Tutto bene così. Ja, loslassen geht noch immer am besten mit der Schnitzerei. Bereits vor zwanzig Jahren hat er angefangen damit, aber richtig gut geworden ist er erst nach der Frühpensionierung vor vier Jahren. Chronisches Rückenleiden, dieser alte Kettenhund, der ihm Nacht für Nacht den Schlaf raubte. Lange war er zurechtgekommen damit, hatte die Schmerzen kleingeschwiegen, doch dann knüppelte das Biest ihn von einem Tag auf den anderen nieder. Sechs Wochen lang steif wie ein Brett. Irgendwann rief er dann doch bei Morgenthaler an. »Ich schreibe Ihnen jetzt dieses Attest. Für die Überbrückung bis zur Rente. Dafür machen Sie gefälligst Ihre täglichen Übungen, Herr Manfredo, sonst kann ich für nichts mehr garantieren!«, sagte dieser nach der Untersuchung. Lausiges Namensgedächtnis, aber sonst ein guter Mann, der Doktor Morgenthaler. Kein Laueri, wie so viele andere hier. Die Sache immer ohne Umschweife auf den Punkt.

Frühpension also, zwei Jahre vor dem Termin. Mit dem Schnitzen verdient Toni sich auch heute noch einen Zustupf. Man sieht’s der Wohnung an, klar. Er ist zwar ein reinlicher Mensch, auch Junggesellen können das, was einem die Frauenzimmer ja nie glauben, aber die Holzschnipsel liegen halt doch überall herum. Bekommst du einfach nicht weg. Eine Werkstatt kann er sich nicht leisten, aber ehrlich gesagt, warum sollte er? Es gefällt ihm hier oben.

Damals, als er die Wohnung bezog, war das anders. Nicht einen Schritt wagte er auf den Balkon raus, ihm wurde schon schlecht beim Gedanken daran. Minchia, hatte er Schiss damals! Der Bruder lachte ihn aus, er selber schämte sich in Grund und Boden. Aber das ist bald vierzig Jahre her, und mittlerweile ist Toni überzeugt: einmal achtzehnter Stock, immer achtzehnter Stock.

Punkt neun Uhr piepst der Wecker. Zeit für die erste Morgenthaler-Übung. Hinstellen vor dem Fernseher, Füße schulterbreit auseinander, langsam in die Knie, fünf Sekunden halten und wieder hoch, Rücken schön gerade. Und das fünfzehn Mal. »Vergessen Sie den ganzen Fitness-Kram, Herr Manfredini«, sagt Morgenthaler, »mehr als fünf, sechs einfache Übungen für zu Hause brauchen Sie nicht, um den Rücken zu stärken.«

Beim zehnten Durchgang brennt im Fernseher ein Haus. Ein Feuerwehrmann in Vollmontur gibt schreiend ein Kurzinterview. Über seinem Kopf kreisendes Blaulicht, zu seinen Füßen ein halbes Dutzend sandgelber Schläuche. Danach ist ein Mann mit einer Isolationsdecke auf den Schultern zu sehen, in seinem Blick eine Schicksalsergebenheit, wie man sie nur noch selten sieht. Geduldig gibt er dem Journalisten Auskunft, hinter ihm steht eine Schar Kinder. Dann wieder das Haus. Toni hält inne in seiner Übung. Genau wie damals, denkt er. Ein Lodern in den Fenstern, über dem Dach dicker, schwarzer Rauch und die Funken. Exakt das gleiche Bild! Toni stolpert zur Fernbedienung und stellt lauter.

»… konnten sich sämtliche Bewohner der umgebenden Häuser auf die Straße retten. Die Romanshorner Feuerwehr hat den Brand unter Kontrolle gebracht. Die Ursache ist unbekannt, Brandstiftung kann nicht ausgeschlossen werden.«

Das brennende Haus verschwindet und macht einem Politiker Platz, der mit einer Schere ein rotes Band zerschneidet und dafür tosenden Applaus bekommt. Toni steht noch immer reglos da, den Blick jetzt zur Decke gerichtet. Das Gedächtnis, dieses alte, undichte Gedächtnis, jetzt funktioniert es mit einem Mal. Ja, er erinnert sich. Das Dorf, wo die Großmutter lebte, wenige Kilometer nördlich von Salerno. Die Villa außerhalb des Dorfes, ein Herrschaftssitz, fast schon ein Palast! An jenem Tag aber gab’s nur Flammen, Rauch und bestialischen Gestank. Und Hitze. Toni weiß noch, wie es sich auf dem Gesicht anfühlte. Wie es ihm fast die Wimpern verbrannte, obwohl er, sein Bruder und die Nonna mindestens hundert Meter von der brennenden Villa entfernt standen.

Nur etwas war anders als hier in Romanshorn: keine Feuerwehr. Und niemand, der etwas unternahm. Alle hatten gewusst: Die Feuerwehr kommt nicht, und wir helfen nicht, wir können nicht, wir dürfen nicht. Alle hatten für sich gedacht: das System. Jeder wusste Bescheid über die Machenschaften der örtlichen Clans und wünschte sich insgeheim, nie etwas davon gehört zu haben.

Toni stellt den Ton wieder auf leise, macht seine Übung fertig. Dann geht er zurück an den Schnitztisch, setzt das Messer an, und die Holzschnipsel fliegen erneut. Aufpassen jetzt, bloß nicht verschnitzen! Doch das mit dem Aufpassen ist einfacher gesagt als getan. Elender Hausbrand, denkt er. Warum piesackt der ihn so? Warum geht der ihm nicht mehr aus dem Schädel? Er steht auf, macht sich in der Küche einen weiteren Kaffee. Dann wählt er die Rohlinge für Ochse und Esel, die Maria mit dem Jesuskind und die drei Könige aus, bügelt zwei Hemden, schaut nach der Raupe im Basilikum, ohne sie zu finden, spült die Kaffeetasse, blickt aus dem Fenster. Er probiert’s mit Hinlegen, danach mit einem Schachproblem, aber es nützt alles nichts. Die Hände bleiben feucht, der Mund trocken, im Kopf noch immer die Unruhe. Als er sich vor den Fernseher stellt, um die nächste Morgenthaler-Übung zu machen, erscheint erneut das brennende Haus von Romanshorn. Wieder der Griff zur Fernbedienung.

»… die Täterschaft ist unbekannt, aber da in dem Haus zwei jüdische Familien wohnhaft sind, kann ein rassistisches Tatmotiv nicht ausgeschlossen werden. Im Moment konzentriert sich die Suche auf einen gestohlenen Fiat Ducato der Firma Carrosserie Bischofberger in St. Margrethen, der kurz vor Ausbruch des Brands in unmittelbarer Nähe des Hauses gesichtet wurde. Hinweise aus der Bevölkerung nimmt die Polizei unter folgender Nummer entgegen …«

In Tonis Kopf wieder die Bilder von damals, der quellende Blumenkohl aus schwarzem Rauch, der einstürzende Dachstock der Villa, das Bullern der Flammen, die Explosionen, das Schweigen der Leute, die Angst seiner Nonna. Toni wischt mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, stellt den Fernseher auf leise und öffnet die Balkontür. Kurz Luft schnappen, dann zurück zum Josef. Er will ihn unbedingt bis zum Mittagessen fertig haben.

Unglaublich, dieses Wetter, denkt er, als er sich an die Balkonbrüstung stellt. Wie die Sonne seit Tagen herunterbrennt. Als ob der Oktober Sommer spielen wollte. Unten auf dem Parkplatz kein Mensch. Auf der Autobahn, von der zwischen den Bäumen ein kleines Stück sichtbar ist, der übliche Nachmittagsverkehr. Bald ist Stoßzeit. Schräg gegenüber Block 4a. Alles in Ordnung dort. Abgesehen von der Flagge. Rui Tavares, dieser Schlufi, hat sie immer noch draußen hängen. Obwohl die WM längst vorbei ist. Irgendwann ist doch genug, denkt Toni. Irgendwann muss man sagen, wir gehen jetzt wieder zur Alltagsordnung über, oder etwa nicht? Und dann diese Größe. Herrgott noch mal! Toni hat ja selber zwei im Blumenkasten gehabt, eine Schweizer- und eine Italienerflagge, beide gleich groß, wegen der Dankbarkeit, aber Tavares mit seiner überdimensionierten Portugiesenflagge! Passt doch nicht auf so einen kleinen Balkon. Schon aus ästhetischen Gründen. Aber wundern tut’s einen dann doch wieder nicht. Haben kein Auge fürs richtige Maß, die Leute hier. Da sieht’s auf der anderen Seite der Stadt, bei den Gutsituierten in Muri oder im Spiegel, schon anders aus. Aber da gehören sie nicht hin, weder Tavares von Block 4a noch Toni selber, das ist schon klar. Sie gehören hierhin nach Bethlehem. Das ist ihr Biotop, ihre Herberge, der sie ihrer Lebtag nicht entkommen werden.

So, jetzt aber! Zurück an die Arbeit. Toni tritt in die Wohnung und schmeißt die Balkontür mit lautem Scheppern hinter sich zu.

II.

Der Geruch von frischem Harz. Ein Mistkäfer, der einen Wurzelstock quert. Und jetzt aus dem Lichtkorridor weit vorne ein Geräusch. Trapp-di-trapp, trapp-di-trapp. Der Junge späht zwischen den Tannenstämmen hindurch. Vorne auf dem Weg ein schwarzes Pferd und sein Reiter. Geschwind wie der Wind kommen sie heran. Ab ins dichte Unterholz, aber schnell, und tief hinuntergeduckt!

Trapp-di-trapp, trapp-di-trapp. Wie ein Geist zieht die Silhouette des Reiters hinter dem Tannenspalier vorbei. Blickt stur geradeaus, der Reiter, im Kopf nur seine Mission. Niemand auf der Welt weiß, was für eine Mission. Aber irgendeine wird er schon haben. Weil Quizfrage: Welches Menschenwesen hat keine Mission?

Als der Reiter nicht mehr zu sehen ist, erhebt sich der Junge, greift an seine rechte Gesäßtasche. Steinschleuder immer noch da. Glück gehabt. Er greift nach seiner linken Gesäßtasche. Karten auch da. Doppelglück! Er nimmt den Stapel, mischelt ihn auf, sucht nach einer bestimmten Karte, wie hieß sie nochmals, eine von diesen Ritter-Karten war’s. Ah, da ist sie. Rächender Ritter Parshath. Doch das Pferd dieses Ritters ist geflügelt, und vor allem ist es weiß. Passt nicht. Er sucht weiter. Hier, hier ist er. Gaia, Ritter des Dunklen Windes. Sein Schwert furchterregend, das Pferd blauschwarz glänzend vor lauter Kraft. Ja, vielleicht der.

Der Junge studiert die Karte, hebt den Kopf, schaut sich um. Gaia, Ritter des Dunklen Windes, wo bist du hin? Über ihm greift Wind ins Laub, in der Ferne ertönen eine Autohupe und ein aufheulender Motor, dann herrscht wieder Stille. Trügerisch. Eine lumpige Trickkiste, diese Stille. Hat dieser Ritter Gaia sich etwa versteckt und lauert, hinter dem dicken Stamm einer Eiche vielleicht, mit Morgenstern und Streitaxt?

Ihm ist schon klar, dass die Ritter ausgestorben sind, seit mindestens fünfhundert Jahren, vielleicht auch tausend, aber vorsichtig sollte er trotzdem sein. Vorsicht ist der Vater der Blauen Mauritius, sagt sein Opa jeweils mit verschmitztem Lachen, wenn er seine Briefmarkensammlung hervorholt. Dann stellt er die Kaffeetasse außer Reichweite und greift mit seinen feinen Zahnarzthänden zur Pinzette. Eine Blaue Mauritius hat sein Opa zwar nicht, aber er wird schon recht haben mit seinem Spruch. Warum? Weil er eine reine Wundertüte des Wissens ist, ganz einfach.

Der Junge weiß selber auch schon einiges. Mehr als viele andere in seinem Alter jedenfalls. Zum Beispiel, was ein Wiedergänger ist. Oder wie alt Riesenschildkröten werden. Oder wie die heimliche Freundin vom Gemeindepräsidenten heißt. Oh ja, weiß er. Und noch ein paar Sachen dazu.

Unwillkürlich hält er den Kartenstapel an die Nase und schnuppert daran. Immer noch dieser komische Geruch. Cheeseburger Royal oder so. Er steckt die Karten in die Hosentasche. Übrigens findet er nicht, dass man das Klauen nennen muss. Hatten halt dagelegen, auf der Ablage neben dem Waschbecken der Schulhaustoilette, und er hatte gedacht: Die Putzfrau schmeißt die sowieso weg, weil Quizfrage: Welche Putzfrau auf der Welt interessiert sich für Yu-Gi-Oh!-Karten? Also nehm ich sie besser in meine Obhut.

Obhut. Komisches Wort. Obhut, Heldenmut, Tunichtgut. Simsalabim, zackbumm, heirassa. Und jetzt weitergehen! Tippeln durchs Laub, Kontrollblick nach links, Kontrollblick nach rechts, nichts regt sich. Laub ist was Tolles! Das Rascheln unter den Füßen! Komische Wörter sind auch toll. Rambassa, zambassa, schnapsibumba! Knister, plister, hello Mister!

Natürlich hätte er die Karten schon lange an den rechtmäßigen Besitzer zurückgeben müssen. Hat er aber nicht, weil wie soll man das anstellen? Zurückgeben ist definitiv komplizierter als Nehmen. Und jetzt sind Herbstferien, und der richtige Besitzer der Karten ist mit seinen Großeltern in Frankreich. Im ganzen Schulhaus hat der Blödi es herumgetrötet: drei Tage Euro Disney, als Höhepunkt irgend so eine Glöckner-von-Notterdam-Show, dann Paris mit Eiffelturm und Shoppen auf der Schangselisee, auf dem Rückweg noch schnell vorbeischauen im Europapark. Angeber!

Rechts hinter den Brombeeren, nur einen halben Steinwurf entfernt, taucht der Fluss auf. Bisschen die Beine ins kühle Wasser wäre nicht schlecht jetzt, aber an der Stelle kommen immer die Hundehalter vorbei. Hat er keine Lust drauf. Er dreht nach links ab. Als er an einem Pilz vorbeikommt, der wie ein riesiges Ohr an einem Baumstamm hängt, hebt er einen toten Ast auf. Große Pilze wollen, dass man sie anstochert. Weltgesetz. Warum sollen sie sonst so groß sein?

Ratsch, patsch, flatsch! Schnatschdiwatsch, patschdiflatsch! Als der Pilz komplett zerfetzt ist, lässt er den Ast fallen und nähert sich einem feuchten Baumstumpf. Er greift in die linke Gesäßtasche, nimmt blind drei Karten und steckt sie ins weiche Fleisch des Holzes. Er geht ein paar Schritte zurück, sammelt Steinchen und zieht die Steinschleuder aus der rechten Gesäßtasche. Er zielt, schießt und verfehlt. Noch einmal. Und noch einmal. Beim dritten Versuch ist ein dünnes Schmatzen zu hören.

Er geht zum Baumstumpf hin. Eine der Karten ist links oben angefetzt. Möbius, der Frostmonarch. Blitzschnell dreht der Junge sich um. Nein, nichts. Diese magische Drohung: Du schaust die Figur auf der Karte an und eine Sekunde später steht sie leibhaftig hinter dir.

Es wäre wirklich besser, die Karten wieder loszuwerden. Vor allem als Sohn eines Schulpflegemitglieds. »Wir stehen unter erhöhter Beobachtung«, sagt Mama immer. Was eine Schulpflege ist und was sie dort genau macht, weiß er nicht. Mit Putzen hat’s jedenfalls nichts zu tun. Was er aber weiß, ist, dass er braver zu sein hat als die anderen. Mama sagt: »Ich will ja nicht so sein, und du weißt, dass ich nicht so bin, aber mach mir um Gottes willen keinen Blödsinn, sonst flieg ich aus dem Gremium raus.«

Draußen vor dem Wald jetzt ein Rauschen. Schnell hinter den Baumstumpf gekauert. Ein Auto, auf dem Feldweg. Kastenwagen oder so was. Rumpeln, Rauschen, Staubwolke. Hat Möbius, der Frostmonarch, jetzt etwa ein Fahrzeug? Nein, es ist die Carrosserie Bischofberger. Aus St. Margrethen. Steht da schwarz auf weiß. Schnell lesen kann er nämlich. Im Rechnen immer das Schlusslicht, dafür im Lesen der König. Seit der ersten Klasse. Über dem Bischofberger-Schriftzug prangt ein roter Blitz. Sieht komisch aus, anfängermäßig irgendwie. Der Wagen verschwindet hinter einem Hügel. Wieder ist es still.

Und wenn Mama doch aus dem Gremium rausfliegt, was dann? Müssen sie auf der Straße betteln gehen? In Kartonschachteln schlafen, beim Warenlager vom Lidl vielleicht oder bei der Rollschuhanlage? Mama will immer eine von den Guten sein. Gehört zu ihrer Mission. Deshalb ist sie in diesem Schulpflege-Gremium, deshalb geht sie jeden Samstag drei Stunden lang auf dem Markt einkaufen, damit auch alle sehen, wie sie die lokalen Bauern unterstützt, deshalb ist sie in jedem dämlichen Sportfest-Komitee. Und nie zu Hause.

Er schaut sich um. Er denkt: Wer will schon einer von den Guten sein? Lieber obdachlos und immer auf der Hut. Lieber schnell weg von hier.

III.

Links von ihm ein Glucksen, rechts ein Rotz-Hochziehen, dann auf beiden Seiten Stille. Martin Boll stellt den Topf mit den Fusilli hin, sagt: »So, und jetzt fehlt nur noch das Gemüse.« Keine Reaktion. Links Mia, die grinsend mit dem Daumen übers Handy wischt, rechts Noah, mit einem zerknüllten Papierschnipsel Tischfußball spielend.

»Das Gemüse!«

Immer noch keine Reaktion.

»Mia!«

Mia wischt und grinst weiter. Ohne aufzublicken, sagt sie: »Ich hab gestern.«

»Noah!«

Noah steht auf und geht in die Küche. Martin blickt ihm streng hinterher. Die liebste Bande auf der Welt, keine Frage. Trotzdem. Verwöhnung lauert überall. Man darf der Bande nicht böse sein deswegen. Die Strenge soll sie dennoch zu spüren bekommen.

Martin greift zur Schöpfkelle und verteilt die Fusilli in die Teller, dann nimmt er die Fleischgabel und macht dasselbe mit den Hamburgern. Herrlich! Endlich wieder mal etwas Rechtes zu futtern. Grundehrliche Kohlenhydrate und Proteine. Und wenn das Gewissen noch seine Portion Gemüse braucht, bitte, dann tun wir dem Gewissen halt den Gefallen!

Noah kommt mit dem Gemüse. Martin blickt auf das Grünzeug, presst die Lippen zusammen und denkt: Was muss, das muss.

Mia guckt auf ihr Handy und grinst. »Na, was gibt’s?«, sagt Sandra, die hinter ihrem Rücken auftaucht.

»Nichts.«

»Was, nichts?«

»Jenny eben.«

»Führt sie wieder mal neue Kleider vor?«

»Nö. Sie macht Scheiß.«

»Anständig reden, Mia«, ruft Martin.

»Was denn für Scheiß?«, sagt Sandra und stupst Mia an.

»Sandra!«, ruft Martin.

»Vergiss es«, murmelt Mia, wirft sich die Haare über die Schulter und macht ein Foto von sich.

»An den Tisch, Kinder, wir essen!«

»Apropos Kleider«, sagt Sandra. »Pimkie hat die Preise runtergesetzt. Die hellblaue Jeans, die wir probiert haben vor zwei Wochen, die kostet jetzt nur noch neunundzwanzig neunzig. Wollen wir noch mal hin, Schätzchen?«

Mia setzt sich, ohne vom Handy aufzublicken. »Hm. Vielleicht.« Sie grinst und macht noch ein Foto.

»Mia«, sagt Martin. »Wir essen jetzt, und du weißt, was das bedeutet.«

Mia verdreht die Augen und legt das Handy neben ihren Teller. Martin setzt den strengen Blick auf. Man muss einfach hartnäckig sein. Kaum hat man sich’s versehen, ist das Verwöhnkästchen wieder in ihrer Hand. Ständig funkt es ins Leben hinein mit seinen Schmeichelbildchen und Aufforderungspiepschen.

Am Rand seines Gesichtsfelds, ganz links außen, regt sich etwas. Ein Insekt? Martin dreht den Kopf blitzschnell nach links, aber da ist nichts, da ist nur Noah, der seine Fusilli schlabbert, beziehungsweise doch, da ist durchaus noch etwas anderes, und zwar eben dieses undefinierbare Dings, dieses Sich-noch-immer-Regende, immer noch am Rand seines Gesichtsfelds, das sich mit seinem Kopf nach links bewegt hat. Noah blickt von seinem Teller auf, Martin dreht den Kopf zurück, und das Dings, das Sich-immer-weiter-Bewegende dreht sich mit. Blasig, irgendwie bunt, eine Art langsam rotierender Saugtrichter. Jetzt kommt das Dings tiefer hinein in das Sehfeld, dreht sich schraubenmäßig weiter. Martin blinzelt, blinzelt, blinzelt, aber das Dings geht nicht weg, er schüttelt den Kopf, kurz und möglichst unauffällig, Sandra sieht es trotzdem, schaut auf, sagt »Hm?«, und er sagt »Nichts«, senkt den Kopf, und da ist das Dings schon wieder weg.

Martin versetzt dem Hamburger mit der Gabel einen herzhaften Hieb, schneidet sich ein Stück ab, steckt es sich in den Mund. Endlich Stille am Familientisch. Nur das Klappern des Bestecks und das Schlabbern, wenn Noah die Fusilli wie ein Staubsauger in den Mund zieht. Martin überhört es großmütig.

Damit er nicht über dieses Blasendings in seinem Augenwinkel nachdenken muss, sich nicht fragen muss, was und woher und warum, sagt er: »Ich hab jetzt also freigenommen für morgen. War nicht so einfach. Dass mir bloß keiner krank wird. Dienstag ist der beste Tag, müssen wir ausnützen. Besser als Mittwoch und auch besser als Freitag und besser als Samstag sowieso. Wobei, morgen hat’s bestimmt auch nicht wenig Volk.«

Sandras Lächeln die reinste Zustimmung. »Was meinst, Schatz? Um neun Uhr losfahren? Dann wären wir um zehn oder so in Konstanz. Ach, mir egal, du bist der Häuptling. Auf jeden Fall zuerst zum Aldi. Damit der mühsame Kram schnell erledigt ist. Dann muss ich zum dm, ich brauch dringend ein Schaumbad und Bodylotion und einen Vorrat Ladyshave, und Mia bestimmt auch ganz viele Sachen, was, Schätzchen? Dann könnt ihr den Rest. Media Markt und so, was weiß ich. Ich geh dann noch einen Espresso am See und bisschen Sonnenschein ins Gesicht.«

Martin sagt nichts. Er könnte. Aber er tut’s nicht. Meine herzensgute, wunderbare, liebe Sandra, denkt er stattdessen. Meine herzensgut-wunderbar-liebe-Espresso-am-See-Sandra.

Espresso-am-See-und-ein-veganes-Crispy-Cracker-Dingsbums-dazu-und-im-Gesicht-die-viel-zu-große-Sonnenbrille-weil-dies-das-Näschen-kleiner-und-süßer-aussehen-lässt-Sandra. Ein wahrer Jungbrunnen ist sie, wirklich, mit ihrer Unbekümmertheit, ihrer Begeisterung, aber manchmal …

»Poah«, ruft Mia. »Nazi-Anschlag in Romanshorn. Die haben ein ganzes Haus abgefackelt! Krasse Typen!«

»Mia, hab ich nicht gesagt, dass das Handy …«

»Aber in dem Haus haben Juden gewohnt, Daddy!«

»Zeig mal her«, sagt Sandra und stibitzt ihrer Tochter das Gerät aus den Fingern.

»Sandra, jetzt Herrgott noch mal!«, ruft Martin und lässt die Faust auf den Tisch sausen. Es knallt und scheppert, lauter, als er wollte.

Sandra hält sich Mias Handy an die Brust und schaut ihren Mann entgeistert an. »Entschuldigung«, flüstert sie, »Entschuldigung, Schatz, ich, ich wollte nur kurz …« Sie legt das Handy auf den Tisch, Martin schnappt es und lässt es in seiner Hosentasche verschwinden.

Martin Boll hält seine Familie für die beste und lustigste Bande weit und breit, dazu hat er jedes Recht der Welt. Nur gerät sie manchmal aus dem Ruder. Manchmal ist es von allem ein bisschen zu viel, doch seine Bande merkt es nicht, macht einfach weiter, wird lauter, gröber, überdrehter, wie eine Horde Kleinkinder, wie Teenager, wie die Seniorengruppen in der Rigibahn nach dem ersten Frühschoppen. Aber auch die beste Bande der Welt soll mal zur Ruhe kommen. Da wird er zum Prinzipienreiter, was er sonst nicht ist, doch in diesem Fall lässt er sich das gern zum Vorwurf machen.

»Woran erkennt man eigentlich Juden?«, fragt Noah.

»Am Käppi«, sagt Sandra.

»Die meisten Juden haben kein Käppi. Borat zum Beispiel«, wendet Mia ein.

»Borat ist ein Jude?«

»Den Schauspieler meine ich. Der, wo Borat spielt. Wie heißt er noch mal? Baron Sascha oder so. Aber meistens erkennt man sie am Namen. Alles mit Grün zum Beispiel ist jüdisch, oder Gold, oder Baum.«

»Was, Baumgartners sind Juden?«, ruft Noah.

»Nö, die sind bestimmt keine Juden. Juden sind gescheit. Baumgartners nicht«, sagt Sandra und lacht. »Ab und zu stimmt das mit dem Namen eben doch nicht, gell, Schatz? Wie auch immer. Ich jedenfalls behandle jeden gleich, ob er nun ein Jude ist oder sonst irgendwas. Und das solltet ihr auch tun.«

»Mama hat recht. Und das Käppi heißt Kippa. Wer nimmt noch ein Stück Fleisch?«, sagt Martin und spießt einen Hamburger auf die Gabel.

»Grüninger!«, ruft Noah.

Mia rümpft die Nase. »Welcher Grüninger?«

»Der vom Sportladen. Ist der Jude?«

»Noah, Fleisch?«

»Juden machen keinen Sport.«

»Warum machen sie keinen Sport?«

»Noch einen Hamburger, Mia?«

»Dürfen sie eben nicht. Wegen den Gesetzen.«

»Dann nehm ich ihn halt selber«, sagt Martin, »es sind übrigens nur die Orthodoxen, die nicht dürfen. Die andern sind genauso wie wir. Fast.«

»Und warum muss ich nächste Woche ins Fußballtrainingslager? Ist das auch ein Gesetz?«, ruft Noah.

Mia seufzt. »Klappe, Noah!«

Martin weiß, er sollte der Diskussion ein Ende setzen. Aber das geht jetzt gerade nicht. Das drehende Blasendings ist nämlich wieder da. Ein blasiges Drehdings, ein sich schraubender Blasentrichterballon, wie soll man es denn nennen? Jetzt wandert es vom Rand in Richtung der Mitte. Wenn man zu ihm hinschaut, schneller. Wenn man geradeaus schaut, langsamer. Also besser geradeaus schauen. Sowieso besser gar nichts tun. Eben noch war es hellblau, aber nun wird es orange und entfaltet dazu ein komisches Muster, aber woher kommt es denn, dieses farbspuckende Drehblasendings, und woher kennt er das, irgendwie kommt es ihm bekannt vor? Und noch wichtiger: Was macht das Ding hier, was sagt es ihm? Denn irgendwas sagt es doch, es ist ja nicht für nichts da, es hat eine Mitteilung für ihn, dieses Blasendings. Wenn man es nur wüsste, aber er kann sich nicht konzentrieren, der Lärm rundherum wird immer lauter, das Schwafeln wird zum Plärren, das Plärren zum Kreischen, Namen drängeln sich in seine Gehörgänge, Felix Grüninger, Mark Zuckerberg, Hans-Peter Baumeler, Jeff Goldblum, jemand lacht schallend, jemand anderer kreischt, das Drehfarbendings flimmert weiter, Martin hebt die Hand und knallt sie auf den Tisch, einmal, zweimal, dreimal, das Geschirr scheppert, ein Wasserglas kippt um und entleert sich, und dann ist endlich Ruhe am Tisch, und das Schraubenmusterdings weg.

IV.

Mit einer geübten Bewegung lässt Toni Manfredi die Fixfertigrösti und die Bratwurst von der Pfanne in den Teller gleiten. Er greift zum Zweiliterkarton, schenkt sich Wein ein, trägt Teller und Glas ins Wohnzimmer, schaltet auf den Regionalsender um und setzt sich hin. Er dankt dem Herrgott für das täglich Brot, nickt still dem gerahmten Bild seiner Mutter zu. Dann schneidet er die Bratwurst in kleine Stücke, legt das Messer hin und beginnt zu essen.

Im Fernseher die Ankündigungsmelodie der Mittagsnachrichten. Erst Syrien, das übliche Herunterleiern von Scharmützeln, Anschlägen, Anzahl der Toten, die abermals fruchtlosen Bemühungen auf dem politischen Parkett. Dann Berlin, London, Jerusalem und irgendeine internationale Konferenz in irgendeinem Kurort, die Teilnehmer stellen sich gut gelaunt zum Gruppenfoto auf. Dann endlich Romanshorn.

Der Brand bei zwei jüdischen Familien sei vielleicht nur die Nebenwirkung eines gescheiterten Banküberfalls gewesen, heißt es. In dem Gebäude nebenan befinde sich nämlich die Filiale einer regionalen Sparkasse. Womöglich hätten die Einbrecher, die offenbar durch den Keller ins Gebäude eingestiegen seien, einen Kurzschluss und in der Folge den Brand ausgelöst, definitive Schlüsse könne man aber noch nicht ziehen. Dem Antisemitismus-Motiv werde man weiter nachgehen.

Dann ein Interview mit einem Anwohner, der behauptet, einen der Täter gesehen zu haben. Toni stellt lauter und spießt ein Stück Wurst auf die Gabel.

»Wie sah der Mann denn aus?«

Bart, mittelgroß, dunkel.

»Wie dunkel?«

Ziemlich dunkel.

»Schwarz?«

Der Interviewte überlegt. Nein, sagt er. Aber dunkel. Der sei ihm sofort aufgefallen.

»Weil er dunkel gewesen ist?«

Der Interviewte wiegt den Kopf. Nein.

»Warum dann?«

Weil er irgendwie auffällig gewesen sei.

»In welcher Weise auffällig?«

Das könne er jetzt nicht mehr sagen.

Romanshorn wird abgelöst von Oberhofen am Thunersee, wo ein Rentner in seinem Dacia Duster einen Abhang hinuntergerollt ist. Das Auto habe Totalschaden erlitten, heißt es, der Rentner sei wie durch ein Wunder mit ein paar Prellungen davongekommen. Auch hier ein Interview mit einem Anwohner.

»Was genau haben Sie gesehen?«

Gesehen habe er gar nichts. Nur ein blechiges Rumpeln gehört. Er sei sofort aus dem Haus gerannt.

»Und was haben Sie dann gesehen?«

Den umgedrückten Zwetschgenbaum in seinem Garten. Dreißig Jahre lang habe er ihn gehegt. Und jetzt sei er futsch.

»Und das Auto?«

Jesses, das habe halt da gelegen.

»Und der Fahrer?«

Ja, Herrgott, der auch, wo denn sonst?

Toni Manfredi putzt die letzten Reste Rösti vom Teller. Dann starrt er auf die alten Fotos an der Wand. Er selber in jungen Jahren, mit der Fußballmannschaft und dem Pokal, den sie für den Aufstieg in die dritte Liga gewannen, er selber und der Bruder mit der Nonna auf Capri, wenige Monate vor ihrem Tod, er selber mit den Arbeitskollegen beim Kegeln in der Eintracht, er selber mit den Neffen Maurizio und Gianni im Europapark.

Einmal mehr schnürt es ihm den Hals zu. Seit der Frühpensionierung passiert ihm das öfter. Wenn er die Fotos an der Wand sieht, wenn er an die Nonna denkt, wenn er an weit zurückliegende Jahre denkt, an diesen jungen Mann, den er kaum noch erkennt und der doch wenig anders war, als er jetzt ist. Ein kleines Leben. Doch er braucht sich nicht zu schämen dafür. So weit kommt’s noch! Klein, aber wahrhaftig war sein Leben, und darauf kommt es an, auf die Wahrhaftigkeit. Immer viel gearbeitet natürlich. Einzige Möglichkeit, dem schlechten Ruf seiner Landsleute in der Schweiz etwas entgegenzustellen. In vierzig Jahren war er jedenfalls keinen einzigen Tag arbeitslos gemeldet. Ein Leben ohne große Sprünge. Auch ohne Frau. Ohne Familie. Nein, er ist alles andere als ein Egoist, er hat sich immer um andere gekümmert. Die Mutter, die er vier Jahre lang hier bei sich in Bethlehem hatte, bis sie fast zugrunde ging vor Heimweh und zurück nach Kampanien fuhr. Und wenige Monate später tatsächlich starb. Seine zwei Neffen, zu denen er in den Jahren ihres Heranwachsens schaute und auch jetzt noch. Zumindest solange sie es zulassen. Und dann der alte Hungerbühler, sein erster Chef damals in den Siebzigern. Ein Mann, dem er viel zu verdanken hat. Eigentlich alles. »Bist einer der Besten, die ich hatte, Toni. Aber am Schluss kommt’s raus wie bei allen andern. Wirst mich vergessen, ich weiß es. Am Schluss denkt keine Seele mehr an den alten Hungerbühler. Ich nehm’s euch nicht übel, aber traurig ist’s trotzdem.« Hungerbühler hatte unrecht. Immer hat Toni Kontakt zu ihm gehalten. Als Hungerbühler nicht mehr gut zu Fuß war, hat er ihm die Einkäufe besorgt, mehr als fünf Jahre lang. Und als der Alte schließlich vom Krebs zerfressen im Bett lag und seinem Tod entgegensiechte, auch da hat Toni ihn nicht im Stich gelassen.

Hungerbühler. Polterer. Streithahn. Unermüdlicher Jasser in der Eintracht. Und Italienerbeschützer. Gab’s nicht viele davon, damals in den Siebzigern.

Man muss für die Menschen da sein. Toni hat’s nie einfach gehabt, aber die anderen auch nicht. Das ist seine Überzeugung, und zwar nicht erst, seit er Hungerbühler kennengelernt hat. Toni trinkt nochmals einen Schluck und wischt sich mit Zeige- und Mittelfinger über den Schnauz. Er wird heute Nacht nicht schlafen, er weiß das. Dieser verdammte Brand! Und natürlich auch der andere Brand, damals, die Nonna, ihre ständige Angst, ihre Armut, sein Vater, der kaum je Geld nach Hause brachte und noch vor seinem fünfzigsten Lebensjahr starb, all das. Porca Madonna! Und dann sein eigenes Leben, diese Lotterstraße von Salerno bis Bethlehem, voller Fehltritte und Versäumnisse. Kein Auge wird er zudrücken. Er kennt sich.

V.

Martin Boll betrachtet die zwei öligen Fusilli und den Salzstreuer auf dem Weißglas des Esstischs. Dann schaut er sich um. Keine Menschenseele in der Nähe. Er schüttelt den Kopf, kurz und heftig, wie eine Schneekugel. Er hält still und schaut den herumwirbelnden Flocken seines Bewusstseins zu. Flocken über Flocken, aber keine Blase, die zu wuchern beginnt.

Schade, irgendwie. Mit der Blase hatte er wenigstens sein privates Amüsement. Wenn die anderen ihn schon allein sitzen lassen. Warum lässt du mich jetzt im Stich, Blase? Nochmals schüttelt er den Kopf und wartet, sondiert mit der Nase in seinem Blickfeld herum, sucht und sucht, aber die Blase will und will nicht kommen.

Draußen in der Küche Geschirrgeklapper und Stimmen. Mia übt wieder mal ihre holländischen Sätze, nach jedem Versuch lacht Sandra schallend. Martin weiß, sie bestrafen ihn für seinen Wutausbruch von vorhin, für seinen Handknall auf die Tischplatte.

Ein Schlurfen ertönt, Martin schrickt auf. Es ist Noah. Stumm lässt der Junge sich aufs Sofa fallen und greift zur Fernbedienung. Seit wann braucht der Junge einen Fernseher? Der hat doch seit Monaten nicht mehr geglotzt! Jedenfalls nicht mehr, seit die Playstation in seinem Zimmer steht. Im Fünfsekundentakt wechseln die Sender, Werbung, Basketball, Talkshow, Werbung, Talkshow, Kochsendung, und es nimmt kein Ende. Martin lächelt. Zappen, das kenne ich, denkt er. Das haben wir auch gemacht, damals, vor zwanzig Jahren, als wir selber noch jung waren. Und zappen tut auch mein Sohn, mein komischer Sohn.