Die Ränder der Welt - Jens Steiner - E-Book

Die Ränder der Welt E-Book

Jens Steiner

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Beschreibung

Als Sohn estnischer Auswanderer wächst Kristian im Basel der Nachkriegszeit auf und freundet sich mit dem Nachbarsjungen Mikkel an. Mikkel rotiert wie ein Kreisel durchs Leben und macht sich, kaum erwachsen, auf nach Dänemark, wo er sich einer Gruppe junger Künstler anschließt. Und Kristian bald nachholt. Auch Kristian findet in Dänemark Inspiration für seine Bildhauerei. Aber dann schlägt Mikkel sein Leben aus den Fugen, indem er eine Affäre mit Kristians großer Liebe Selma beginnt. Die Wut jagt Kristian durch die Welt, bis ins ferne Patagonien, wo er neu anfangen kann. Erst viele Jahre später reist Kristian wieder zurück nach Europa und erhält einen mysteriösen Brief, der ihn auf die kleine Fähre nach Christansø schickt...

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Jens Steiner

Die Ränder der Welt

Roman

Hoffmann und Campe

»Zuweilen geschah es, dass sich die Worte der Toten mit den Gedanken der Lebenden trafen.«

 

Julio Cortázar

1.

Ein frühsommerlicher Morgen in den Schären von Gislövshammar. Windstille, die Welt gibt sich zart wie ein frisch gelegtes Ei. Du stehst am Rand des riesigen Landschilds, tunkst die Zehenspitzen ins Meer, die dabei entstehenden Wasserringe zerknittern dein gespiegeltes Gesicht. Kurz wirkt es, als würde es dich auslachen, und du denkst: Habe ich alles falsch gemacht? War mein Weg ein einziger Irrtum? Dann beginnst du selbst zu lachen. Über dein Spiegelbild. Über dich. Über diese Geschichte, die du so nie wolltest.

Flache Granitblöcke legen eine Spur ins Meer hinaus. Einige von ihnen sind mit runden Löchern versehen – Spuren einer Zeit, als man hier mit Vorschlaghammer und Brechstange Mühlsteine aus dem Fels schlug. Du folgst der Spur, springst von Stein zu Stein, bis du nicht mehr weiterkommst. Zögerlich hebst du den Blick und schaust aufs Meer hinaus. Diese Weite, diese Verschwiegenheit. Die Ostsee mag ein seichter Tümpel sein, jedoch: Die Rätsel um deine Herkunft, die sie birgt, hast du nie zu fassen gekriegt. Da ist etwas in diesem Meer, das nichts hergeben will.

Du setzt dich auf den äußersten Granitblock und lässt den Kopf in den Nacken fallen. Weil du die Bewegung zu schnell gemacht hast, stockt das Blut in deinen verkalkten Arterien; ein Schwindel ergreift dich, du kippst in diesen endlosen Himmel, und kurz ist es, als ob du zurückgeworfen wärst in jene ferne Zeit, als dir bei jeder Erregung der Boden unter den Füßen abhandenkam, in jenes törichte Alter, das nie mehr zurückzuholen ist. Dein Kopf damals voller wütender Gedanken, immerzu sich an den Rändern deiner Welt stoßend. Alles wollen, nichts können, alles sehen, nichts wissen. Doch jetzt bist du hier, in einer Welt mit ganz anderen Rändern, und du hebst den Kopf aus dem Mahlstrom deines Taumels. Ameisen vor den Augen, in den Gliedern ein Kribbeln. Du fühlst dich jung und zugleich greisenhaft alt.

 

Die Schären von Gislövshammar – walgraue, ins Meer greifende Felskrallen am Bug der skandinavischen Halbinsel. Im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel, doch frühmorgens ist es hier menschenleer. Eine Weile lang lauschst du einer Amsel hinter dir, bis sie ihr Flöten abrupt beendet. Als ob sie über sich selbst erschrocken wäre.

Auch du erschrickst zuweilen über deine eigene Anwesenheit. Dieses Ich, so nah und unausweichlich. Du kannst dich nicht daran vorbeilügen, du bist ich, und so stehe ich jetzt auf von meinem Stein, drehe mich um und blicke zurück aufs Land. Ein Holzzaun und zwei Häuser bilden einen Scherenschnitt vor dem mild glühenden Morgenhimmel. Schön wäre es, für ein paar Tage hierzubleiben, denke ich. Doch ich weiß: Nur die stetige Bewegung verhindert, dass ich meine Rückkehr abermals hinauszögere und mich noch einmal in einen anderen verwandle. Dreißig Jahre sind genug; es ist Zeit, mich Mikkel Jacobsen zu stellen. Ich drehe mich erneut um. Die Wasseroberfläche noch immer glasig glatt; weit draußen, auf der Horizontlinie, wie von einem Kind mit weichem Bleistift hingekrakelt: die Insel Bornholm. Ein Stück östlich davon wird Christiansø sein, das Ziel meiner Reise.

Ich musste das letzte Stück bis hierhin zu Fuß gehen, ich konnte nicht anders. Man soll sich beim Reisen Zeit nehmen, damit auch die Seele ankommen kann, sagt ein indianisches Sprichwort. Mich bremste die nackte Angst. In Sölvesborg hielt ich es nicht mehr aus, stieg aus dem Bus und trottete los. Nun habe ich die Schlussetappe meines Umwegs vor mir, der vor so vielen Jahren begann. Der mich um die halbe Welt geführt hat. Und den ich nicht beenden zu müssen glaubte. Bis mich die Vergangenheit doch noch aufstöberte.

Mikkel Jacobsen. Wie wir uns die Köpfe an dieser lumpigen Kindheit wund schlugen. Beide waren wir sehr jung aus dem Norden nach Basel umgepflanzt worden, kaum als Zugezogene zu erkennen und dennoch fremd, jeder dem anderen Rettungsleine, aber auch Labyrinth. Heillos verliefen wir uns im Wesen des anderen und wussten dennoch, dass das unser einziger Weg ist. Jetzt hat Mikkel mich also gefunden, und ich bin einmal mehr auf ihn hereingefallen. Der Schlaumeier weiß noch heute, wo er mich kneifen muss, damit ich zapple.

Und doch. Etwas in mir denkt, dass Christiansø ein Ort sein könnte, von dem aus ich ihn verstehe. Von dem aus das alles einen Sinn ergibt, der die Weite des europäischen Nordens mit den engen Straßen unserer Basler Kindheit verbindet, die Geschichte meiner estnischen Vorfahren mit der Geschichte meiner Familie in Patagonien. Hinüber nach Christiansø also, die Insel der Bastionen, der Maler, der Eiderenten und Kegelrobben. Hinüber zu Mikkel Jacobsen, der mir alles gegeben und alles genommen hat.

Ich packe meine Thermosflasche ein, schnüre die Schuhe, schultere den Rucksack. Ich springe von Granitblock zu Granitblock, zurück auf den Grasboden des Festlands. Zehn Kilometer sind es bis zum Fähranleger in Simrishamn, ich habe keine Eile. Zwei Stunden Fußmarsch. Genug Zeit, um Mikkels Anfänge zu befragen. Und meine eigenen.

~

Hier ein Faden. Mein erster Aufbruch in die Welt. Es war im Jahr 1947, kurz nach meinem vierten Geburtstag. Wir hatten in kleinem Rahmen gefeiert, mit Streuselkuchen von Tante Leena und einem dreistimmigen Chor, der estnische Volkslieder zum Besten gab. Dass wir für das Fest im Raumschiff geblieben waren, hatte mich nicht gestört. Von Vater ein Nonsens-Gedicht, von Mutter eine gestrickte Mütze, ich hatte keinen weiteren Wunsch übrig. Doch die Ankunft des Frühlings änderte alles. Nun war ich fest entschlossen, die Welt da draußen zu meiner eigenen zu machen. Hölzernes Knarren unter meinen Füßen, fast rutschte ich auf den glatt gewetzten Treppenstufen aus. »Kristi, nicht so schnell.«

Als ich die Hand nach der Klinke ausstreckte, kniete sich Mutter auf meine Augenhöhe. Sie zupfte mein Hemdchen und die Hosenträger zurecht, sagte: »Du musst da nicht hinaus, weißt du?«

Wortlos stemmte ich die Haustür auf. Ich würde mich in diesen Tag hineinwuchten, koste es, was es wolle. Vom Hafen her der Motorenlärm der Lastkraftwagen und das Dröhnen der Kräne, links von mir das Johlen der Kinder am Brunnen. Wie die Motte zum Licht strebte ich darauf zu.

Es war erst April, doch das Wetter schon fast sommerlich. Die Wärme hatte die Kinder von Kleinhüningen zum Pumpbrunnen am Kronenplatz getrieben. Barfüßig tapsten sie herum, glänzende Spuren auf dem Pflasterstein hinterlassend, immer wieder hin zur Pumpe, wo ein Junge hebelte, als ob es um Leben und Tod ginge. Hin und in den Wasserstrahl greifen, schnell wieder wegrennen. Die Mutigsten blieben länger und spritzten sich vor lauter Angstlust selbst patschnass.

Mehr als einmal hatte ich ihnen vom Fenster aus zugeschaut, skeptisch, aber nicht ohne Interesse. Das Raumschiff – unsere Wohnung im ersten Stock – war mir ein sicherer Hort, ich hatte ihn nicht leichtfertig aufgeben wollen. Doch an diesem Morgen hatte mich der Irrsinn gepackt. Mein kleines Herz raste. Eines der Mädchen kannte ich vom Laden um die Ecke. Alles an ihrem Gesicht war zu groß: die Schaufelzähne, die Nasenlöcher, die Augen. Sie strahlte mich an, und mein Herz raste noch schneller. Dann der Junge mit dem tänzelnden Gang. Auch ihn kannte ich. Oft stand er am Straßenrand und kaute auf einem bräunlichen Stängel herum. Wenn ich mit Mutter an ihm vorbeiging, machte er ein paar Schritte mit, um sich gleich wieder zurückfallen zu lassen und uns herausfordernd hinterherzublicken.

Jetzt hatte der Tänzeljunge den besten Platz erobert. Beidhändig schaufelte er drauflos, in schweren Schwallen platschte das Wasser auf den Boden. Rufen, Kreischen, Johlen. Ein weiterer Junge stürzte herbei und zettelte ein Scharmützel an. Im Rücken der beiden machte auch ich einen Satz auf den Strahl zu: kurz die Hand ins kühle Nass und schnell weg. Dann kam das Mädchen mit den großen Zähnen hinzu und der Junge in der viel zu langen Hose und dieses Kind, das weder Junge noch Mädchen zu sein schien, alle waren jetzt am Brunnen, der Pumpjunge pumpte, pumpte, pumpte, alle spritzten und johlten, und ich mittendrin, ich mittendrin, ich mittendrin.

Ein Aufschrei neben mir, ein ausgestreckter Zeigefinger, Blicke, die in meine Richtung gingen; der Brunnen spuckte einen letzten Schwall Wasser aus, und für einen Augenblick war alles still. Dann ging das Geplapper los. Ich verstand kaum ein Wort. Ich hatte ihre Sprache noch nicht richtig gelernt. Aber ich sah ihre Blicke. Sah das Entsetzen in ihren Augen. Schnell versteckte ich meine linke Hand hinter dem Rücken. Rannte los, zum Raumschiff. An jenem Tag verstand ich zum ersten Mal, dass es den sechsten Finger an meiner linken Hand nicht geben durfte.

 

Zurück im Raumschiff also. Der Ort, in dem sich der größte Teil meines bisherigen Lebens abgespielt hatte. Mir war es ein ganzes Universum, derweil es für meine Eltern bloß eine enge Zweizimmerwohnung im alten Dorfteil von Kleinhüningen bedeutete. Man sagte hier noch immer Dorf, dabei war die Siedlung bereits Jahrzehnte zuvor zum Basler Stadtviertel geworden. Kaum jemand kam freiwillig hierher. Hier wohnten Rheinschiffer oder Arbeiter in den neuen Fabriken. Oder ein mittelloser estnischer Sprachlehrer, der nach zwei Invasionen – erst der russischen, ein Jahr später der deutschen – im heimatlichen Tartu seine Siebensachen gepackt und mit Frau und Kind das Weite gesucht hatte.

Obwohl mir das Raumschiff groß genug erschien, saß ich oft an einer der zwei Öffnungen, die uns mit der Außenwelt verbanden. Vom Küchenfenster aus sah ich hin und wieder ein Auto, öfter Arbeiter mit Handwagen, und über den Hausdächern den Siloturm des Rheinhafens und die riesigen Kräne bei den Kohlehalden. Das Fenster in meinem Zimmer ging auf den Hinterhof. Tief geduckt befand sich dort eine Schreinerwerkstatt, von der stets ein Geruch von frischem Sägemehl zu mir hochstieg. An diesem Fenster saß ich nachmittags, wenn Vater das Raumschiff in seiner Forschermission verlassen hatte. Der Schreinerlehrling kletterte in seinen Pausen gerne auf einen Stapel Bretter, um dort auf seiner Mundharmonika zu spielen. Sein zerknautschtes Gesicht wirkte dabei wie eine aufgepustete Papiertüte, aus der nach und nach die Luft entwich. Ich wartete auf den Moment, in dem nur noch ein faltiger Lappen an dem Instrument hängen würde, doch in letzter Sekunde schoss ein Fuder Luft in das Tütengesicht. Und ich selbst fragte mich, ob es wirklich der Lehrling war, der auf der Harmonika spielte, oder nicht eher die Harmonika, die auf dem Lehrling spielte.

Irgendwann wusste ich über seine Pausenzeiten Bescheid. Ein Winken und ein stilles Grinsen begrüßten sich, er legte los. Nie ein einziges Wort zwischen uns. Als ob wir uns geschworen hätten, unsere Komplizenschaft geheim zu halten. Solange er da unten für mich spielt, bleibt unser Raumschiff in Kleinhüningen, dachte ich.

Es war Vater gewesen, der mir die Idee vom Raumschiff ins Hirn gepflanzt hatte. »Nichts, mein Sohn, nichts bleibt«, sagte er eines Abends an meinem Bett und wühlte mit den Fingern in seinem Bart herum, »alles geht, vergeht, verblüht, verblasst und verstreut sich. Alles ist Streusand. Abend für Abend kommt der Sandmann, streut uns seine Prise übers Gesichtchen und zaubert uns weg von hier. Immer und immer wieder. Bis hin zu jenem Herrgottsdonnertag, an dem es keinen Ort mehr gibt auf der Welt, wo wir unser Raumschiff nicht für wenigstens eine Nacht vertäut haben. O Himmelherrgottssakrament, o Kruzifix, o Sackzement! O glorreicher Glückstag, nie werden wir dich erleben.« Dann gab er mir einen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer.

Ich verstand Vater selten. Seine Art zu sprechen, irritierte mich dennoch nicht. Vielleicht, denke ich heute, war das Gemurmel, das mir damals wie ein endloser Zauberspruch vorkam, sein Bollwerk gegen eine Gegenwart, die ihm einiges abverlangte. Meinen Eltern war drei Jahre zuvor eine schwierige Flucht gelungen, sie waren der doppelten Zerstörung der estnischen Zivilgesellschaft durch die Rote Armee und die Nationalsozialisten gerade noch entkommen. Nun lebten sie in der Schweiz, doch die Möglichkeiten, die sie hier hatten, erwiesen sich als begrenzt. Und an eine Rückkehr würde noch lange nicht zu denken sein. Andererseits waren meine Eltern enge Verhältnisse gewohnt. Vater hatte in den zwanzig Jahren der estnischen Unabhängigkeit sämtliche Angebote von Freunden ausgeschlagen; er hätte es zu einer zwar nicht gut bezahlten, aber angesehenen Anstellung bringen können, doch jede sich darreichende Hand hatte er zurückgewiesen. Er hatte auch bewusst darauf verzichtet, nach Schweden zu flüchten, wie es die meisten Esten taten. Schon immer schien er auf diese eigenbrötlerische Existenz zugestrebt zu sein, die er in Basel ohne Einschränkung führen konnte – wenn auch in engeren Verhältnissen, als er es sich wohl vorgestellt hatte. Eine Klage über die Wohnung in der Arbeitervorstadt Kleinhüningen hörte ich dennoch nie, auch nicht von Mutters Seite. Vielmehr versuchten die beiden mit ihrem Blick auf die Dinge die Welt um sich herum besser zu machen, als sie war. Sanft und geduldig war dieses Bemühen. Als ob die Wirklichkeit ein verträumtes Kind wäre.

Die Ausstattung dieser Wirklichkeit bestand aus einem fensterlosen Schlafzimmer für die Eltern, einem Zimmer für den Sohn, das dem Vater von frühmorgens bis zur Mittagszeit als Arbeitsraum diente, einer Küche und einem Korridor, der nicht über die Größe eines Wandschranks hinauskam. Während Vater sich nach dem Frühstück in mein Zimmer zurückzog, um an seinen Übersetzungen zu arbeiten, richtete Mutter sich am Küchentisch ein, legte Papierbögen aus und fertigte Schnittmuster an. Sie hatte in Estland Modeschneiderin gelernt. Da sie in unseren ersten Basler Jahren Schwierigkeiten hatte, eine Arbeit zu finden, tüftelte sie an einer Idee, mit der sie bereits in Tartu geliebäugelt hatte. Sie wollte einen Katalog mit Schnittmustern herausgeben, die jede mittelbegabte Hausfrau meistern konnte.

Wäre sie bloß schneller gewesen. Hätte sie bloß das nötige Kapital aufbringen können. Dann wären wir womöglich zu immensem Reichtum gekommen, so wie Frau Aenne Burda aus Offenburg, die mit ihren Schnittmustern und ihrer Modezeitschrift wenige Jahre später Millionen von deutschen und Schweizer Frauen eine treue Begleiterin werden sollte. Doch das Schicksal hatte den Erfolg von Frau Burda und das Scheitern meiner Mutter von langer Hand eingefädelt. Als Mutter Mitte der vierziger Jahre voller Hoffnung an unserem Küchentisch saß und ihren Katalog zusammenstellte, war bereits alles entschieden. Frau Burdas Mann hatte in den späten Dreißigern eine jüdische Druckerei in Mannheim zu einem Spottpreis gekauft und im Krieg haufenweise Aufträge vom Regime bekommen. Der Mann meiner Mutter hingegen war ein Angehöriger des jungen, stolzen estnischen Bürgertums, das mittlerweile fast ganz ausgelöscht war. Kurz: Frau Burda hatte die besten Startbedingungen gehabt, meine Mutter nie eine Chance. Doch als die deutsche Wirtschaftswunderfrau sich Anfang der fünfziger Jahre mit Wucht in die Haushalte und Köpfe drängte, war Mutter längst auf einem anderen Weg. Und verschwendete keinen einzigen Gedanken mehr an ihren Katalog. Es war nicht ihre Art, einer nie gehabten Chance nachzutrauern.

Noch aber lag Deutschland in Ruinen, und meine Mutter saß am Küchentisch, hantierte mit Schere, Bleistift und Seidenpapier, während ich hinter ihrem Rücken zur Speisekammer huschte, den Schlüssel umdrehte und in den nach Trockenwurst riechenden Raum schlüpfte. Ich zog die Tür bis auf einen Spalt zu und kauerte mich neben den Kartoffelsack, hielt mein Gesicht an den Lichtstreifen. Jeden einzelnen Rückenwirbel unter dem Stoff ihres Kleids sah ich, ich sah ihre Ellbogen, die wie spitze Flügelchen über den Tischrand hinausragten, sah das Spiel ihrer Zehen unter dem Stuhl, hörte das Knistern des dünnen Papiers unter ihren Händen, das Geräusch der Schere auf der Tischoberfläche, das Kritzelkratzen, wenn sie Zwischenergebnisse auf das Sudelpapier schrieb. Ich hörte auch, wie sie den Bleistift hinwarf, hörte das Rollrattern seiner sechs Kanten auf der Tischplatte. Diese Hingabe! Nie liebte ich Mutter so sehr wie in diesen Minuten, und immer wenn meine Liebe drohte, aus der Speisekammer hinauszuschwappen und die Küche zu überfluten, setzte das Summen ein.

Als ich es zum ersten Mal vernahm, suchte ich verwundert die Dunkelheit hinter mir ab, aber da war nichts und niemand. Nur dieses Summen, langsam lauter werdend. Und mit einem Mal wusste ich: Das ist der sechste Finger, der das macht. Und dabei klingt wie ein betrunkener Mönch bei Vollmond. Komm her, dachte ich. Komm nur näher ran, du kleiner Summgeselle, ich möchte dich gerne … In diesem Moment drehte Mutter sich mit einem Ruck um. Ein Blick wie ein Hieb mit dem Holzlineal auf die Knöchel – das Summen verstummte. Ihr Gesicht hellte sich auf, ein Lächeln strich liebevoll und zugleich streng über meinen Kopf. Schon drehte sie sich zurück, und der Bleistift nahm seine Tänze wieder auf. Ich presste meine Lippen zusammen und pferchte den sechsten Finger in eine harte kleine Faust.

Ich war nicht der Erste in der Familie mit einem überzähligen Finger. Auch ein Cousin meines Vaters war elffingrig auf die Welt gekommen. Ein Bauer aus dem Nachbardorf, im Nebenberuf Tierarzt, hatte sich wenige Monate nach der Geburt um die Amputation gekümmert. Zum Einsatz kamen eine Klauenschere und eine Flasche Chloroform. Es wurde eine groteske Schnippelei. Der Onkel litt sein Leben lang unter einem schwachen Herz und an einer Hand, die in wichtigen Momenten ihren Dienst versagte. Er starb mit sechsundfünfzig Jahren. Als Großvater Jüri von meiner sechsfingrigen Linken hörte, riet er sofort zur Amputation, trotz der unseligen Geschichte seines Neffen. Doch Vater ließ es nicht zu.

Noch oft würde ich in diesen frühen Jahren die Flucht in die Speisekammer ergreifen. Dass meine Verstecklust sich mit der Zeit nicht auswachsen, sondern im Gegenteil zur verhängnisvollen Labyrinthliebe gedeihen würde, wusste ich damals nicht. Während ich mich nun, auf der letzten Etappe meines Umwegs, an jenen Anfang erinnere, spüre ich, wie sich mein Magen verklumpt, und ich denke, dass all dieses Erinnern mich um keinen Deut klüger macht. Und doch weiß ich genau: Ich muss noch einmal zurück, ein einziges Mal, bevor ich mich Mikkel stelle. Also gehe ich weiter in dieser Geschichte, dumm wie eh und je.

 

Ich war ein folgsamer Schüler. Ich hatte früh gelernt, worauf es ankommt im Raumschiff-Leben. Still kauerte ich in der Speisekammer, wenn Vater in die Küche kam, um sich einen Kaffee zu brauen. Rücken an Rücken führte er mit Mutter ein Pausengespräch.

»Die Hermes spuckt wieder Sätze. Wie Gletscherwasser gluckern sie aufs Papier. Herrlich.«

»Brr«, machte Mutter.

»Die reinste Musik.«

»Apropos. Leena könnte Karten für den Schubert am Samstag besorgen.«

»Du hooolde Kunst, in wie-hie-viel, gra-ha-haue-en Stunden …«

»Nicht die Lieder, Jaan. Die vierte Sinfonie.«

»Oho! Die Tra-ha-hagische!«

»Tragisch ist, dass wir auch dafür kein Geld haben.«

»Ach. Schuberts Sinfonien sind sowieso nichts gegen seine Lieder. Hast mich in eine bessre Welt entrü-hückt …«

Mutter seufzte. »Schön wär’s trotzdem. Wieder mal in ein Konzert.«

»Jakob ist stinkreich, Marie. Ich verstehe nicht, warum Leena ihren Mann nicht …«

»Ach was. Jakob ist genau wie sein Biedermeierschrank. Ein Kunstwerk, prächtig zum Ansehen, aber im Grunde genommen ein Wrack. Finanziell zumindest.«

Derweil schlich ich ins Zimmer hinüber und stieg in die Truhe, die neben meinem Bett stand. Ich kauerte mich zwischen Zusatzdecken für den Winter und Ersatzleintücher und ließ den Deckel bis auf einen Spalt herab. Kam Vater herein und setzte sich an seinen Arbeitstisch, war ich ganz Auge, ganz Ohr. Ich beobachtete, wie er die Kaffeetasse hob, hörte das Pusten und das Schluckgeräusch in seiner Kehle. Sah, wie er mit dem Zeigefinger die Zungenspitze antippte, die Seiten des Wörterbuchs umblätterte. Flitz-flitz-flitz machte es, während die Seiten sich vom einen Stapel hoben und sich im Stapel nebenan wieder ablegten. Das große estnische Wörterbuch, eines von vier Büchern, die Vater damals auf der Flucht dabeigehabt hatte. »Mein wichtigstes Arbeitsinstrument«, wie er immer sagte. Als Vierjähriger stellte ich mir vor, dass es darum gehe, an dem Buch jene Stelle zu finden, wo man hineinblasen und das Arbeitsinstrument zum Klingen bringen konnte. Aber Vater blies nirgendwo hinein, er feuchtete bloß seinen Finger an und blätterte um.

Irgendwann sein Murmeln. Allmählich wurde es lauter, melodischer, verwandelte sich in einen Singsang. Wie ein kleiner Musikantentrupp klang das, ein Trio aus Tuba, Fiedel und Quetschkommode. Und in meiner Truhe drin schwoll zugleich das Summen meines sechsten Fingers auf.

Wurde es am Tisch wieder still, verstummte auch mein Finger. Ich hielt mein Auge näher an den Spalt und sah, wie Vater die drei gerahmten Fotos auf dem Schreibtisch betrachtete. Das größte zeigte seine Eltern, Jüri und Minni Aavik, vor ihrem Haus auf der Insel Hiiumaa, Anfang des Jahrhunderts. Der strenge Blick des Vaters, alle fürchteten ihn. Das zweite Foto zeigte meinen Vater selbst, Jaan Aavik, als Student der Universität Tartu, in den späten zwanziger Jahren. Auf dem dritten war meine Mutter zu sehen, Marie Aavik, geborene Bergmann, angebliche Ururenkelin des deutschbaltischen Weltumseglers Otto von Kotzebue, im geblümten Sommerkleid am estnischen Liederfest von 1938. Ich weiß bis heute nicht, wer das Foto aufgenommen hat, aber Mutters geschmeichelter und zugleich beschämter Blick lässt darauf schließen, dass der Mensch hinter der Kamera ihr etwas bedeutete. Es war ein Blick, den ich als Kind selten sah.

Wie hätte ich die Kraft des Erstarrungszaubers, der Vater in diesen Augenblicken erfasste, ermessen können? Ich war zwar in Estland geboren, hatte das Land aber vor meinem ersten Geburtstag verlassen. Meine Eltern hingegen mussten ihre Heimat mit einer Heftigkeit vermissen, die ihnen körperliche Schmerzen zufügte. Im Jahr 1947, als ich auf dem Kleinhüninger Dorfplatz zum ersten Mal mit der Welt zusammenstieß, hatten meine Eltern längst verinnerlicht, dass sie ihre Heimat wohl nie mehr sehen würden. Stalin hatte das Land fest im Griff; bereits während des Kriegs hatte er begonnen, es zu russifizieren, und er würde seine Arbeit wie ein gewissenhafter Chirurg weiterführen.

Auch die Geschichte, deren wahren Anfang ich hier noch immer suche, reicht in dieses Land zurück. Sie reicht zurück nach Tartu, auf die Insel Hiiumaa, und zu Opa Jüri und Oma Minni, die ich beide nur ein einziges Mal gesehen habe. So wie mein Vater ein Stück weit Jüri und Minni war, so bin auch ich sie, nur eben noch ein bisschen weniger als er. Ich bin so viele, die ich nie kannte. Ihre Träume zucken in meine eigenen Träume hinein, sie geben mir stumme Befehle, sitzen in meinem sechsten Finger und summen mir ihre Geschichte vor, und das ist keineswegs beruhigend.

Als Flüchtlinge fern der Heimat, als Paar in so einer engen Wohnung zu überleben, bedeutete für meine Eltern, stets die Form zu wahren. Man ging durch den Tag wie eine Turnerin über den Schwebebalken, Hader und Wallungen wurden auf flüchtige Gesten eingedampft. Beide hatten darin eine bewundernswerte Meisterschaft erlangt. Ich wollte es ihnen nie gleichtun. Und tat es dennoch. Erhob sich Vater von seinem Platz, um sich den nächsten Kaffee zu kochen, kletterte ich aus meiner Truhe, tippelte in die Küche, hin zu meiner Blechschatulle. Sie enthielt alles, was ich brauchte, um meinen Eltern nachzueifern: acht Farbstifte, einen Spitzer von Caran d’Ache, vier Wachskreiden und eine Telexrolle von meiner Tante. Unter dem Schnipp-Schnipp von Mutters Schere und dem Fauchen des Gasherds klaubte ich meine Arbeitsgeräte aus der Schatulle, und mein kindlicher Geist nahm seine Arbeit auf.

Mundlose Gesichter, Würfelkühe, Riesenblumen, Krakelkatzen. Ich war kaum talentierter als andere Kinder, doch mauserte ich mich bald zum Meister der Platzausnutzung. Erst wenn jede Ecke und jeder Zwischenraum mit buntem Leben bevölkert war, rollte ich die Telexrolle ein Stück weiter auf, um neue Gebiete meiner Fantasie zu erkunden.

Dann und wann holte Mutters Blick mich aus der Versenkung, ihre Augen wie ferne Sonnen. Sie musste sich dieser Ferne bewusst gewesen sein, denn es schien mir, als versuchte sie, die Sonnenwärme ihres Blicks so zielgenau wie nur möglich auf mich zu richten. So saßen wir in unserer Arbeitsküche und tauschten stumme Liebesbekundungen aus. Und irgendwann  – nie blieb es aus – fiel ihr Blick auf meine linke Hand, und ich hatte den Eindruck, dass sie die Geschichte, die auf mich zukommen würde, mit all ihren Irrwegen bereits kannte.

~

Meine Zeit im Raumschiff, vertäut auf dem Planeten Kleinhüningen. Tagaus, tagein stille Arbeit. Schnittmuster für nichts und wieder nichts. Angefeuchtete Fingerspitzen auf dem Dünndruckpapier des großen estnischen Wörterbuchs: flitz-flitz-flitz. Und auf meiner Telexrolle tausend bunte Monster. Stetiger Tatendrang erfüllte das Raumschiff, aber auch dieser Geruch von Vergeblichkeit.

Das überdurchschnittlich warme Jahr 1947 war mittlerweile im Juni angekommen, und ich wusste: Bald würde ich meinen zweiten Anlauf wagen, um die Welt da draußen zu meiner Welt zu machen. Pausenlos drang das Kreischen der Kinder durch das offene Küchenfenster und konkurrierte mit dem nöligen Summen meines sechsten Fingers.

Meine Eltern taten das Ihrige, um mich für das nächste Mal besser zu wappnen. Bereits am Tag meines ersten Ausflugs hatten sie mir zwei tägliche Deutschstunden verordnet. Das hieß, man sprach ab sofort während des Mittag- und Abendessens kein Estnisch mehr. Irgendwie hatten sie bis dahin vergessen, dass ich die neue Sprache erst noch lernen musste. Ihre Gespräche bestanden, seit wir hier waren, aus einem Kuddelmuddel von Estnisch und Deutsch. Vater hatte ein Kindermädchen gehabt, das aus einer verarmten deutschbaltischen Familie stammte. Als er in der Schweiz ankam, sprach er ein besseres Hochdeutsch als viele, die hier aufgewachsen waren. Mutter stammte aus einer deutschsprachigen Familie. Ihr Deutsch ließ allerdings zu wünschen übrig, da man es in ihrer Familie, wie Vater meinte, über die Generationen »verschludert« habe.

Juni 1947, mein zweiter Versuch also. Ich stemmte die Haustür auf. Über den Lagerhäusern beim Hafen stieg eine Rauchsäule hoch. Linker Hand eine Linde als grün flirrendes Schattengespenst. Dahinter, am Pumpbrunnen, die Kinder. Ich wagte nicht hinzuschauen. Zögerlich ging ich zur Hecke auf der anderen Straßenseite. Kauerte mich über eine Ameisenstraße. Starrte in das Gewusel und wusste nicht, wie die Geschichte jetzt weitergehen sollte. Bis ich merkte, dass es am Brunnen still geworden war. Die Kinder standen schon fast bei mir. Das Mädchen, an dem alles groß war, erkannte ich zuerst. »Salü, Kristian«, sagte es und zeigte mir seine immensen Schaufelzähne. »Salü, Kristian«, wiederholte ein Junge, kaum größer als ich. Dann alle zusammen: »Salü, Kristian.« Vielstimmiges Giggeln.

Sie rochen nach Milch und feuchter Wolle. Als einer den Kopf zu mir neigte, sodass er fast umkippte, begriff ich, worum es ging: Sie wollten den Finger sehen. Auf nichts anderes hatten sie gewartet in all den Wochen. Meinen Namen hatten sie wohl vom alten Hitzberger erfahren, vielleicht auch von Frau Schwitter vom Laden zwei Straßen weiter. Und bestimmt hatten sie meinem Vater hinterhergeblickt, wenn er nach dem Mittagessen rausging, um seine tägliche Mission zu erfüllen. Sie hatten sich gefragt, was dieser seltsame Mann mit solch feinen Händen in dieser Welt zu suchen hatte.

»Salü, Kristian«, »Salü, Kristian«, und immer noch das Schielen auf meine linke Hand. Als ein Junge danach griff, suchte ich in meiner Panik den Blick des Mädchens, an dem alles groß war. Sie lächelte mir aufmunternd zu.

Dann sah ich den Schlaksigen mit dem Tänzelgang. Allein kauerte er in der Nähe des Pumphebels und beschäftigte sich mit seinen Murmeln. Kurz schaute er zu uns herüber, sein Blick zornig. Schon wandte er sich wieder den Murmeln zu.

Dies war meine zweite Eroberung der Welt. Auch wenn ich kaum etwas von dem begriff, was um mich herum vorging. Warum beschützte mich das Mädchen, an dem alles groß war? Warum mochten sie mich plötzlich? Und warum war der Schlaksige am Brunnen böse auf mich?

 

Seit jenem Tag im Juni 1947 gehörte ich nach Kleinhüningen. Ich passte nicht so schlecht hierhin. Das ehemalige Fischerdorf zwischen Basel und Lörrach war ein Ort der von weither Angereisten und knapp Geduldeten. Und es kamen viele in dieser Zeit. Basel litt heftig unter der Wohnungsnot, manche Zuzügler schliefen vorübergehend in Schulhäusern. Es wurde fieberhaft abgerissen und neu gebaut. Das alte, kleinräumig gewürfelte Kleinhüningen verschwand und machte gestaffelten Wohnblöcken Platz.

Dass wir in Basel und nicht in Stockholm gelandet waren, war auch auf Tante Leena zurückzuführen, die seit vielen Jahren hier lebte. In ihren Briefen hatte sie meinen Eltern das rauschende Leben versprochen: Einführung in die maßgeblichen Kreise der Gesellschaft, eine Wohnung, die sich sehenlassen kann, und natürlich eine angemessene berufliche Position. Vater kannte das hochfliegende Gemüt seiner Schwester. Er wusste, dass sie nicht einmal die Hälfte ihrer Versprechungen halten konnte. Doch die Anhänglichkeit, die er für sie hegte, wie auch seine Liebe zur deutschen Sprache bewogen ihn schließlich, sich gegen Stockholm und für Basel zu entscheiden.

Tante Leena hatte Anfang der dreißiger Jahre in Berlin den Spross einer altreichen Basler Familie kennengelernt und ihn, ohne zu zögern, geheiratet. Jakob Sarasin trug gestreifte Stresemannhosen, rauchte kubanische Zigarillos und roch stets leicht nach Sauerkraut. Alles an ihm sah nach 19. Jahrhundert aus, aber auch in diese Zeit hätte er wohl nicht gepasst. Jakob Sarasin passte in kein Jahrhundert. Vielleicht benahm er sich deshalb so, als ob er vor langer Zeit in einer Abstellkammer deponiert und dort vergessen worden wäre. Trotz seiner Herkunft hatte er kaum geerbt, abgesehen von einer Wohnung im Nobelquartier St. Alban. Er selbst behauptete, zwischen seinen Eltern und ihm habe sich kurz vor deren Tod eine unüberwindliche finanzielle Grube aufgetan, aus Diskretionsgründen könne er das nicht weiter ausführen. Als Vater diese Geschichte zum ersten Mal hörte, brach er in schallendes Gelächter aus. Doch das Lachen verging ihm schnell. Jakob Sarasin machte nie Witze.

Als wir ihn kennenlernten, verdiente Jakob sein Geld in einem städtischen Amt. Mehr erfuhren wir nicht über seine Arbeit – vielleicht wusste nicht einmal Tante Leena, was genau er machte. Es war, als ob er morgens das Haus verließe, um ein paar Straßen weiter in einer Tür zu verschwinden und dahinter reglos den Abend abzuwarten. Irgendjemand musste Jakob Sarasin vor langer Zeit jegliche Träume und Ambitionen von der Hirnschale gekratzt haben. Was zurückblieb, war dieser unerklärliche Geruch nach Sauerkraut und eine Bitterkeit, die sich in allerlei Schrullen Ausdruck verschaffte.

Seine Frau wirkte neben ihm wie ein frisch geschlüpftes Küken. In Leena Sarasin-Aaviks Leben gab es kein Zögern. Sie war von einer eigenwilligen Schönheit, galt als großes Freundschaftstalent und teilte mit ihrem Bruder eine künstlerische Ader, die in unserer Familie nie zuvor zutage getreten war. Leena war so vieles aufs Mal, aber was sie in erster Linie ausmachte, war dieses Feuer in ihr drin, das nie erlosch.

Leena hatte in Basel nicht nur in eine angesehene Familie eingeheiratet – viele in den besseren Kreisen machten zwar einen Bogen um Jakob, aber vor dem Namen Sarasin katzbuckelte man doch –, sie galt auch als Adlige. Meine Eltern erfuhren wenige Tage nach ihrer Ankunft, dass Leena sich hier einen abenteuerlichen Stammbaum angedichtet hatte. Dabei hatte sie nicht nur uns geschickt in den baltischen Adel eingewoben, sondern auch Mutters möglichen, aber nie bestätigten Ahnen, den Seefahrer Otto von Kotzebue, zu ihrem eigenen gemacht. Die Nummer tat ihre Wirkung: Leena galt nicht nur als exotischer Vogel, sondern zugleich als Produkt eines vertrauenerweckenden Zusammenhangs. Die Kombination von Adel und außerordentlicher Leistung – Kotzebue hatte immerhin dreimal die Welt umsegelt – wirkte beruhigend auf die Gemüter der alten Basler Gesellschaft.

Es war das Feuer in ihr drin, das Leena jegliches Maß verlieren und jede Lüge mit einer um ein kleines Stückchen größeren Lüge überdecken ließ und diese mit einer noch größeren Lüge. Vater kannte das Verfahren. Und so war er an jenem Abend anlässlich der Schweizerrunde, die Leena einmal die Woche in ihrer Wohnung versammelte, nicht überrascht, als man ihn auf die gloriose Vergangenheit der Familie ansprach. Aus dem Stegreif dichtete er eine weitere Geschichte hinzu. »Die herrlichste Figur von allen war der alte Lamsdorff«, legte er los und kicherte ob der Posse, die er himmelhoch zu stapeln gedachte, »aber warum schauen jetzt alle so verdutzt, hast du den seehundschnäuzigen Eierkopf etwa nie erwähnt, Leenchen? Nun, dann müssen wir das schleunigst nachholen. Graf Lamsdorff, meine Herrschaften, verbrachte in seinem Leben mehr Zeit in Danzig und Berlin als in Tartu. Wie einer dieser Bocksteiflinge bei Fontane trat er da auf, zumindest deuteten die alten Fotografien darauf hin: Vatermörder, Monokel, Frackweste. O ja, immerrrrr wie aus dem Ei gepellt, der Herrrrr Graf! Doch wenn er auf seinem Gut residierte, war es, als hätte er nie einen Schritt über seine Besitztümer hinaus gemacht. Die Knechte mussten ihn auf seine Klepperstute hinaufwuchten – brrrr, alte Talvike, brrrr, jetzt sei doch rrrruhig! – und ihm die Pfeife nachreichen. Dort oben blieb er den ganzen Tag wie festgewachsen auf dem Sattel. Und dann die Feste. Ach, Kinders! Zu seinem siebzigsten Geburtstag war alles, was in der Gegend Rang und Namen hatte, eingeladen. Ich stand als kleiner Steppke zwischen Ottomane und Biedermeiersekretär, vor meinen Augen ein Heer von kräftigen Mädchenwaden in Wollstrümpfen, pausenlos hin und her huschend und mit ihnen der Duft von Gänsebraten, Sauerkrauteintopf, Bohnensuppe. Strömlinge an Zwiebeln und Karotten gab es, Schweinskopfsülze, Piroggen, Piroggen, Piroggen, und zu allem dazu die unsterbliche Preiselbeermarmelade. Berge von Krautrouladen wurden von den Mädchen, die man extra vom Peipussee hatte kommen lassen, herbeigeschleppt, schüsselweise Pilzragout mit dicker Sahne obendrauf, Blinis bis zum Abwinken, hach, Blinis, Heringssalat mit Pfifferlingen, hach, Heringssalat, geräucherter Schinken, hach, huch, hui, mariniertes Flussneunauge, Scholle, Sprotte, Hornhecht, Blutwurst, Jagdwurst, Bierwurst. Nie fehlte die Rote Bete, bitte schön, meine Herren, was muss, das muss, und natürlich Soljanka mit Speck, Zwiebeln und sauren Gurken. Zum Nachtisch dann Streuselkuchen und Quarkröllchen mit Schokoladenglasur. Und die Bäuche der Herrschaften füllten sich, die Zungen lösten sich, die Finger tapsten wurstig zwischen den Speisen herum, die ihrerseits immer häufiger zu Boden plumpsten, perlten, bröckelten, das Parkett wurde glitschiger, und die strammen Mädchen vom Peipussee schwitzten, und ich kleiner Popeljaan stand da zwischen Trumeau und Hirschgeweih und konnte mich nicht sattsehen. Kinders, was waren das für Zeiten! Drei Jahre später war der alte Seehund tot.«

»Ach, mein Bruder und sein Elefantengedächtnis«, rief Leena. »Genau so war es, Freunde, genau so! Ich hab alles vor Augen wie ein frisch gemaltes Ölbild, die Farben noch immer feucht. Schweinskopf, Blutwurst, Heringssalat. Hihi! Und diese russischen Mädchen! Es ist einfach herrlich, meinem kleinen Erzählbruder zuzuhören, nicht wahr?«

Die Gäste von Leenas Schweizerrunde nickten stumm. Sie waren milde irritiert über die Wortschwälle, die der Neuankömmling auf sie niedergehen ließ. Und das in diesem makellosen, leicht überkandidelten Hochdeutsch.

Hin und wieder wurde die Runde unversehens lauter. »Aber der Hungerbühler ist doch ein Charmeur allererster Güte, Marta. Bist du dir sicher, dass er es war, der dich im Trois Rois derart angebellt hat.«

»Oooho ja, Leena. Hungerbühler bellte wie ein Sennenhund«, rief Frau Schlumberger, »und das nicht zum ersten Mal.«

»Ach, Marta, wirklich?«, seufzte Leena, halb besorgt, halb amüsiert.

»Berner Sennenhund oder eher Appenzeller?«, fragte Vater.

»Pst, Jaan«, zischte Leena.

»Auch im Braunen Mutz übrigens«, nuschelte Herr Vögtlin nervös ins Gespräch hinein.

»Wie bitte?«

»Auch im Braunen Mutz bellt der Hungerbühler herum. Kürzlich an einem Samstagabend. Die Kellnerin hatte Tränen in den Augen, als sie in die Küche huschte. Ich war Zeuge.«

»Ach, Sie gehen in den Braunen Mutz, Herr Vögtlin«, sagte Leena, nun wieder lauter, »ist ja interessant.«

»Seit wann muss ich mich dafür schämen, dass ich in den Braunen Mutz gehe?«

»Das hab ich nicht andeuten wollen, lieber Herr Vögtlin. Ich staune nur.«

»Also, ich bin schon immer in den Braunen Mutz gegangen«, sagte Herr Vögtlin mit gekränkter Stimme. »Das heißt, so oft geh ich dann auch wieder nicht. Nicht dass Sie mich falsch verstehen.«

Herr Vögtlin schlug das rechte über das linke Bein und flötete durch die Nase. Das Fräulein Berthelod, welches das Gespräch stumm mitverfolgt hatte, warf einen Seitenblick zu Herrn Tschudi.

Die Schweizerrunde, das waren Herr Tschudi und das Fräulein Berthelod, Herr Meierhans und das Ehepaar Schlumberger, oft auch Frau Schlumbergers Bruder, der nervöse, stets leise durch die Nase flötende Herr Vögtlin. Manchmal war auch die spindeldürre, alle anderen überragende Frau Gisin dabei, pausenlos damit beschäftigt, sich kleiner zu machen. Und mittendrin natürlich Leena Sarasin-Aavik, Nachfahrin des großen Deutschbalten Kotzebue. Knapp außerhalb des Kreises, in einem blinden Winkel, saß Jakob und rauchte stumm seine Zigarillos ab. Noch weiter draußen ich. Die Erwachsenen beachteten mich kaum mehr als eine alte Hauskatze, die sich alle halbe Stunde streckt und in eine neue Schlafposition kringelt. Nur wenn wieder mal ein Gegenstand herunterfiel und am Boden zerschellte – im Laufe der Jahre demolierte ich den ganzen Bric-à-Brac, der in der Wohnung herumstand –, blickten sie sich kurz um. Jakob lächelte verträumt, Leena schnitt bereits das nächste Thema an. Es war eine der angenehmeren Eigenschaften des Ehepaars Sarasin, dass es sich um zerbrochene Einrichtungsgegenstände nicht scherte. Wahrscheinlich waren Leena und Jakob sogar froh um diesen stillen Jungen, der ihren Hausrat ungefragt dezimierte.

Oft drehte sich das Gespräch um das Theater. »Ein Graus, dieser Don Carlos gestern auf der großen Bühne«, rief Leena, während ich unter einem Schaukelstuhl lag und durch einen Wald von behosten und bestrumpften Beinen spähte. »Mir dreht sich jetzt noch der Magen um. Was hat dieser Mann bei uns in Basel schon geboten, eine Ausnahmeerscheinung, keine Frage. Und jetzt das! Ich kann᾽s mir nicht erklären, ich kann᾽s mir einfach nicht erklären, Freunde. Der Marquis von Posa zum Beispiel! Seit wann interessiert sich das Publikum für Rückenansichten. Und dann diese Blasiertheit, das hat der alte Schiller nicht in diese Figur hineingelegt.«

»Das alles hat ja bereits letztes Jahr angefangen«, entgegnete Frau Schlumberger, »im Kirschgarten, wissen Sie noch? Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Den Gajew hat er da gespielt. Schrecklich! Man hat ja nicht so richtig drauf geachtet, weil die Anja so brillant war, aber schon da ist ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen. Fürchterlich, dieser Mann.«

Derweil schielte Mutter in die Richtung von Frau Gisin. Deren Reaktion dauerte kaum länger als einen Wimpernschlag an. Niemand sah die Röte, die den zwei Frauen ins Gesicht stieg. Niemand außer dem Beobachter unter dem Schaukelstuhl.

Je länger diese Abende dauerten, desto gelangweilter wirkte Mutter. Mit ihren stillen Blickwechseln konnte sie sich nur kurzzeitig ablenken. Kleine Zuckerstückchen für jene Wünsche, die für immer tief in ihr drin verborgen bleiben würden.

In der Estenrunde fühlte sie sich wohler. Da gab es andere Protagonisten, andere Themen, andere Peinlichkeiten. Eine Vermischung mit der Schweizerrunde war schon deshalb nicht möglich, weil Leenas Flunkereien nicht für die Ohren der Estenrunde gedacht waren. Ihre Hauptdarsteller: das Ehepaar Saar, Herr Uibo, meine Eltern, Leena, Jakob.

Das Ehepaar Saar war ein Jahr vor uns aus Tartu nach Basel gekommen. Herr Saar verschonte nichts und niemandem, machte sich über alle lustig. Jede Alltagsbegegnung erlebte er als Komödie: »… und dann sagt doch dieser Herr Müsli, vielleicht hieß er auch Hüsli oder Knüsli: Säged Sie emol, Häär Saaaaar, händ Sie lieber e Stumpe oder e Kruuume under dr Naase, oder rauched Sie am Änd gar nööd?, worauf ich dem guten Mann entgegne: »Jetzt hören Sie mal, Herr Mäuslein, zu den schönsten Exemplaren gehört mein Riechorgan zwar nicht, da mögen Sie recht haben, aber Rauch hab ich an seinem Ende noch keinen aufsteigen sehen.« Ein Gluckern hüpfte durch seine Brust, Vater kicherte leise mit. Die beiden verstanden sich aufs Beste.

Herr Uibo war einige Jahre vor dem Krieg nach Basel gekommen und hatte in der chemischen Industrie gearbeitet. Bald hatte er begriffen, dass es in diesem Kosmos wimmelte vor Nazifreunden und die Basler Chemieunternehmen im nationalsozialistischen Deutschland den großen Reibach machten. Herr Uibo, ein kleiner Buchhalter von außergewöhnlichem moralischem Rückgrat, kehrte der Chemie noch vor dem Krieg den Rücken.

 

Irgendwann passte ich nicht mehr unter den Schaukelstuhl. Stattdessen saß ich in meiner Ecke und las. Ab und an legte sich mein Blick kurz auf den Buchrand, erfasste das Täppeln von Vaters Füßen, und ich wusste, dass er im Kopf ganz woanders war. War Vater überhaupt jemals da, wo er gerade war? Neben ihm Mutter, mit kaum sichtbaren Zuckungen im Gesicht das Gespräch kommentierend. Aus welcher Welt waren die beiden gekommen? Und in welcher Welt hatten sie mich abgeholt?

Ein Blick traf mich, fordernd und freundlich zugleich: Mutter. Sie wusste immer, wann ich taumelte in meiner Ecke. Still deponierte sie ihr Lächeln bei mir. Doch ich erwiderte es nicht. Ich hatte etwas gewittert. Mutter würde mir das Land, aus dem sie mich einst geholt hatte, nie zeigen. Ich würde es mir selbst suchen müssen. Irgendwo in einer Falte zwischen Estland und Basel lag es, mein Herkunftsland, und wartete auf mich. Auch jetzt noch suche ich meinen allerersten Anfang. Noch immer habe ich keine Ahnung, wo er sein könnte.

~

Bei den Sarasins am Sevogelplatz blieb ich der Satellit, der mit Abstand um das Geschehen kreiste. In Kleinhüningen hingegen war ich längst mittendrin. Die Kinder der Schiffer und Hafenarbeiter nahmen mich als denjenigen, der ihnen an jenem Apriltag in seiner ganzen Kühnheit und Verletzlichkeit entgegengetreten war. Allen voran Marie-Luise Kalbermatten, von der ganzen Welt nur das Mareili genannt.

Das Mareili war die ältere Schwester sämtlicher Kinder vom Kronenplatz. Bereits im Kindergarten hatte sie heulende Kameraden vom Boden aufgehoben und ihnen mit der eigenen Spucke den Dreck von den Schürfwunden abgerieben. Das Mareili war von Anfang an zu groß und zu gütig für ihr Alter gewesen. Was wir anderen lange nicht wussten: Das Mareili war auch früh zur Geschäftsfrau geworden. Ab der zweiten Klasse ließ sie Matrosen mit zweifelhafter Neigung im Schatten des Siloturms unter ihren Rock schauen. Und kassierte für jeden Blick zwanzig Rappen. Ein Jahr später hatte sie eine beträchtliche Stammkundschaft. Ein weiteres Jahr später verpasste sie einem von denen, die herumfingern wollten, ihre erste Ohrfeige. Spätestens, als sie in der sechsten Klasse war, hatten sich alle Lüstlinge von ihr abgewandt.

Die Kinder vom Kronenplatz, das waren neben dem Mareili die kleine Gerda, der stets verheult dreinschauende Friedel, Jolanda, Franz, Hubi, Emilie, das Kläuslein und Michi, die ich lange für einen Jungen gehalten hatte. In ihren Spielen übernahm ich jede Rolle, auch wenn es nur die eines Pfostens war, der die Ecke des Spielfelds markierte. Und natürlich war da auch Mikkel, der Tänzeljunge, stets aus dem Hintergrund unser Tun beobachtend. Ab und zu zeigte er uns, wie man es besser machte, um sich gleich wieder zu verziehen. Als ob ihn das alles nicht interessierte.

Kleinhüningen war in den Jahren nach dem Krieg zu dem geworden, was man ein aufstrebendes Stadtviertel nennt. Der Hafen wurde vergrößert, man baute Fabriken und Wohnblöcke. Ein kleines Zahnrad im brummenden Maschinenraum der Schweizer Nachkriegswirtschaft. Doch viele Menschen, die hier lebten, kamen zeitlebens auf keinen grünen Zweig.

Da war Mareilis Mutter, die alleinerziehende Anna Kalbermatten. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt in einer Wäscherei im benachbarten Klybeck-Quartier. Genauso wie ihre Tochter betätigte sie sich nebenbei als Geschäftsfrau. Einem Matrosen aus Koblenz kaufte sie alle paar Wochen ein paar Stangen Schmuggelzigaretten ab und brachte sie am Hintereingang der Wäscherei päckchenweise an den Mann.

Da war der alte Hitzberger, dem das Haus gehörte, in dem wir wohnten. Man erzählte sich, dass ihm vor Jahren die Frau davongelaufen war. Nacht für Nacht habe er sie, damals noch ein notorischer Wirtshaussäufer, wachgebrüllt, aus dem Haus und durch die Straßen geschimpft, bis sie schließlich zu einer Bekannten gerannt sei, die ein freies Kanapee hatte. Am nächsten Morgen, wenn er seinen Kater ausgeschlafen habe, sei die Frau zurück gewesen, und der Tag habe seinen Lauf genommen, als sei nichts geschehen. Doch eines Morgens sei sie nicht da gewesen. Als Hitzberger Wochen später endlich begriffen hatte, dass sie nie mehr zurückkäme, habe er sofort mit der Sauferei aufgehört. Trocken wie ein Mormone, von einem Tag auf den anderen. In meiner Kleinhüninger Zeit verließ er kaum je seine überheizte Wohnung. Manchmal sah ich hinter den Fenstern sein Mondgesicht voller Wut und Zermürbung. Kreuzte er meinen Weg, verspürte ich augenblicklich vehementen Stuhldrang.

Zum Kleinhüninger Menschenkabinett gehörte auch Frau Schwitter vom Dorfladen. Frau Schwitter hatte eine bemerkenswerte Eigenschaft: Sie schlief nicht und wurde dennoch nie müde. Ihr Körper hatte eine interessante Lösung gefunden, um mit dem Schlafmangel umzugehen. Er reduzierte sämtlichen Kräfteaufwand. Einer Echse gleich bewegte sich Frau Schwitter zwischen den Regalen, tippte in Zeitlupe die Beträge in die Kasse. Eines Tages würde man sie leblos hinter ihrer Ladentheke finden, ein Bündel reptilischer Lederhaut, wie zum Trocknen über den Schemel gehängt.

Weil Frau Schwitter nie schlief, konnte man zu jeder nächtlichen Stunde an die Hintertür ihres Ladens klopfen. Hatte Vater bis spätabends in der Stadt seine Englischstunden gegeben, gelüstete ihn manchmal nach Sardinen, und er rannte zu Frau Schwitter hinüber. Feierlich wurde dann am Küchentisch der Dosendeckel aufgerollt, feierlich schenkte er sich und Mutter einen Schnaps ein. Ich wurde auf den väterlichen Schoß gehoben, und dann verschlangen wir mit triefenden Händen unsere Sardinen und wurden dabei ganz anders. Vater erzählte einen schlechten Witz auf den anderen, Mutter neckte ihn, ich selbst lachte, obwohl ich wenig verstand, und alle drei zappelten wir herum und schleckten uns die öligen Finger ab, und für eine Weile wurde es laut in der sonst so stillen Wohnung. So musste Familienglück nach dem Bilderbuch aussehen. Wir wussten, dass es nicht lange halten würde. Unser Glück war von einer anderen, dunkleren Art.

 

Bei den Kindern von Kleinhüningen mauserte ich mich zur Attraktion – und dies nicht nur wegen des Fingers. Von Estland hatten sie zuvor nie gehört, mein Deutsch fanden sie lustig, meine Willigkeit, alles mit mir anstellen zu lassen, berauschend. Es war dem Mareili zu verdanken, dass ich nicht in einem Sandhaufen vergraben erstickte oder im Hafenbecken ertrank.

Eines Tages aber war das Mareili nicht da. Vielleicht war sie drüben im Klybeck bei ihrer Mutter, vielleicht stand sie am großen Hafensilo und ließ einen Matrosen die Konstruktion zwischen ihren Beinen studieren. Jedenfalls war das Mareili nicht da, und die anderen Kinder hatten einen Plan gefasst.

Da war dieser schweinsgesichtige Kohlefahrer Löffel, der nach Feierabend gern auf einen Humpen oder zwei im Wirtshaus reinschaute, bevor er seine Heimfahrt antrat. Fettglänzende Fratze, stets nach Streit suchende Augen, dralle Fäuste – man wollte dem Löffel lieber nicht in Armreichweite kommen. Es hieß, dass er seit fünfzig Jahren bei seiner Mutter wohne und diese ihm mit dem Teppichklopfer den Buckel verdrosch, wenn er mit einer Alkoholfahne nach Hause kam. Diesen Gerüchten hatte mal einer auf den Grund zu gehen. Also hoben die Kinder vom Kronenplatz mich als Auskundschafter auf die leere Pritsche des Kohlelasters, während der Löffel in der Krone sein Feierabendbier in sich reingoss.

Auskundschaften beim Löffel, was bedeutete das? Bevor ich nachfragen konnte, waren sie davongerannt, der Friedel, die schnelle Jolanda, der Franz, der Hubi, das Mädchen Michi. Ratlos saß ich auf den schwarzrußigen Jutesäcken, aber ich heulte nicht, das war ja der Vorteil an mir, das hatten sie längst herausgefunden, ich heulte nie.

Just als die Tür der Krone aufflog, bog Mikkel Jacobsen um die Ecke. Er trat an den Kohlelaster heran und machte das Räuberleiterchen. Ich blickte ihn stumm an und machte keinen Wank. Ich weiß nicht, was Mikkel aus meinem Blick las, aber seine Neugier auf meine Kratzbürstigkeit schien mit jeder Sekunde zu wachsen. Dann drehte er sich um und verschwand. Just als der Löffel einen letzten Spruch in die Gaststube schrie und die Tür losließ, rannte auch Mikkel davon. Ich legte mich flach auf die Jutesäcke.

Das Dröhnen des Motors, der Kohlestaub, die jähen Kurven – es war, als ob ich mitten durch die Höhle führe. Dass wir die Brücke ins Klybeck überquerten, nahm ich gerade noch wahr. Alles Weitere ging im Gewitter meiner Panik unter. Häuser kippten an mir vorüber, als ob man ihnen ein Bein gestellt hätte. Jede sich entfernende Straßenlaterne ein letzter Rettungsanker, den ich nicht mehr erwischt hatte. Mein Blick suchte den überzähligen Finger, in der Hoffnung, dass er mir etwas Schönes vorsumme. Vergeblich. Ich war dem schweinsgesichtigen Teufel ausgeliefert. Er fuhr mich direkt zur Abgabestelle für dumme Jungen.

Irgendwann hörte ich dieses Röhren. Ich hob den Kopf und sah den Schreinerlehrling, weit weg, auf seinem Solex. Jetzt bremste der Kohlelaster ab – quer auf der Straße ein Camion –, ich schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Der Löffel hupte, der Camion kam aus seiner Ausfahrt nicht heraus, nichts bewegte sich. Nur der Lehrling auf seinem röhrenden Solex. Immer näher kam er, und jetzt erkannte er mich, er winkte, ein Lachen ging quer über sein Tütengesicht. Doch dann ploppte der Camion aus der Ausfahrt, und der Löffel trat aufs Gas. Ich blickte flehend auf den kleiner werdenden Fleck aus Lehrling und Solex. Hatte er begriffen, dass er mich retten musste?

Ja, er hatte. Nächste Kreuzung, ein Polizist regelte den Verkehr, erneuter Stillstand. Ich sah, wie der Lehrling sich duckte, um noch schneller zu sein. Komm, komm, komm, flüsterte ich, und er kam, kam, kam. Kaum hatte er abgebremst, kippte ich schlaff in seine Arme. Der weiße Handschuh des Polizisten wedelte, der Löffel trat erneut aufs Gas. Und weg war der Kohlelaster.