America´s next Magician - Isabel Kritzer - E-Book

America´s next Magician E-Book

Isabel Kritzer

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Beschreibung

25 Länder. 5 mächtige Magicians. Wer herrscht?Ein verheißungsvoller Kuss, der über die Zukunft entscheidet.Eine neue Macht, die für das Reich kämpft.Ein Junge aus dem goldenen Palast, der den Kaiser stürzen will.Die Regentschaftswahl ist entschieden, die Rebellion entfacht! Eine Serie von Attentaten auf Magicians und ein teuflischer Racheplan drohen California ins Chaos zu stürzen. Gleichzeitig versucht Josephine zu begreifen, was passierte, was Wahrheit und was Lüge ist. Statt Antworten eröffnet ihr ein Besuch bei Tekre Industries, dem bedeutendsten Nachrichtendienst, beunruhigende Geheimnisse. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, als der Kaiser sie in seinen goldenen Palast einlädt. Hightechwaffen beziehen am Himmel Stellung, Totgeglaubte leben und Magie liegt in der Luft Romantisch und mythisch, das große Finale in 2086!

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America’s next Magician

Band 2 der Next Magician Dilogie

Isabel Kritzer

Copyright © 2020 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Illustrationen: Anna Jane Greenville

Weltkarte: Magali Volkmann

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-908-1

Alle Rechte vorbehalten

DISCLAIMER

Alle Orte, die sonstige Handlung und sämtliche Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit Bestehendem und lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Für Simon,

weil du mich auf diesem Weg begleitet hast.

Für Kathrin,

weil du stets mit Motivation an meiner Seite warst.

Für Filippos,

weil ich den ›epic shit‹ erst wegen dir geschrieben habe.

Auf in die Rebellion!

Inhalt

Über Band 1

Vorwort

Playlist

Die vier Gilden des Kaiserreiches Eterny

1. Die wahre Eiskönigin

2. Der Anfang von etwas Großem

3. Der Kampf der Magicians

4. Flügel

5. Die Schlacht der Elemente

6. Ein ganzes Land

7. Tödliche Regierungsgeschäfte

8. Für die Zukunft Californias

9. Das Grauen ruht auch in der Gegenwart nicht

10. Zwischen den Attentaten

11. Im Headquarter von Tekre Industries

12. Höhenangst oder Schwindelzustände

13. Das Kostbarste auf der Welt

14. Ivan der Schreckliche

15. Nachtschwarz

16. Freveltat

17. Der Anfang vom Ende

18. Saludo sapiens!

19. Roter Nebel

20. Oh doch, du kannst!

21. Meine Entscheidung

22. Auf Abenteuerreise

23. Ein letzter Tanz

24. Ihre kaiserliche Majestät

25. Totales Chaos

26. Ivans Geheimnis

27. Die Stunde danach

28. Der Schakal

29. Schlechte Nachrichten

30. Rothaarig

31. Eine falsche Programmierung

32. Die Regentin der République Française

33. Helle Panik

34. Mein Fall ins Bodenlose

35. Elektroschilde und Plasmablitze

36. Assembler

37. Magische Macht

38. Asche und Rauch

39. Alles, was bleibt

40. Alles geht in Flammen auf

41. America’s next Magician

42. Spion des Feindes

43. Wiedergeboren

44. Wingman

45. Acht Stühle

46. Die Siegesfeier

47. Hurra, America!

Nachwort

Danksagung

Über Band 1

CALIFORNIA’S NEXT MAGICIAN

Wir schreiben das Jahr 2086. Ein Großteil der Landfläche der Erde ist durch das Abschmelzen der Gletscher im Meer versunken. Die Macht im neuen Kaiserreich Eterny – den früheren USA – und seinen fünfundzwanzig Ländern liegt in den Händen mächtiger Magier, den Magicians. Zwischen ihnen finden alle fünfundzwanzig Jahre in jedem der Länder Regentschaftswahlen statt.

Fünfundzwanzig Kandidaten erhalten einen silbernen Brief als Einladung zur Regentschaftswahl, der sie verpflichtet, ihre magischen Fähigkeiten bei gefährlichen Prüfungen auf die Probe zu stellen. Sie müssen sich unter ständiger Beobachtung und Kamerapräsenz gegen ihre Mitstreiter durchsetzen und vor allem eines – überleben!

Josephine stammt aus dem Land California. Sie durchlebt die Schrecken der fünf Aufgaben dort, wächst über sich hinaus und verliebt sich in den größten Bad Boy von Eterny. Dabei wird sie zum Volkssymbol für Emanzipation und Wandel. Josephines Mutter präsentiert sich als geniale Entwicklerin und Vorstandsvorsitzende von Tekre Industries. Doch wer ist sie eigentlich?

Die Zukunft, der Klimawandel, ein System, in dem Frauen weniger wert sind. Magie, Macht und Intrigen. Ein Kampf für Gleichberechtigung und Toleranz, um Loyalität und Vertrauen. Ein Phönix, eine Sphinx und viele weitere Spieler. Aber wer spielt am Ende richtig und wer pokert zu hoch?

Vorwort

California 2086

Lasst mich eines klarstellen:

I CAN and I WILL!

Ich bin Josephine Streisand.

Tochter von Lanahaa Streisand, der mächtigsten Rebellin dieses Kaiserreiches – vielleicht gar der verbliebenen Welt. Tochter von Leonardo Sinessa, dem ehemaligen Regenten Californias, seines Zeichens der größte Widerling dieser Welt, der es bisher nicht geschafft hat, mich umzubringen.

Freundin, oder auch nicht – wer weiß das schon? –, von Sullivan Tena­kulis, dem Sexiest Man Alive, einer der größten Magicians unserer Zeit und der einzige leibliche Sohn des Kaisers!

Enkelin von Tekre Streisand – dem Gründer von Tekre Industries, dem bedeutendsten Nachrichtendienst und Hightechwaffen-Unternehmen von ganz Eterny. Und Nachfahrin von Rovenna, der mächtigsten Magicia, die je geboren worden war.

Ich bin die amtierende Regentin von California, rechtmäßig ernannt von seiner göttlichen Heiligkeit dem Kaiser von Eterny und ich werde ihnen beweisen, dass ich das Land besser regieren kann als sie alle zusammen!

Playlist

Guardians at the Gate – Kevin Rix

Lux Aeterna – Clint Mansell & Kronos Quartet

Lay My Body Down – Rag’n’Bone Man

Sanctuary – Welshly Arms

Heart of Courage – Two Steps From Hell

Everybody Wants To Rule the World – Lorde

Lose You to Love Me – Selena Gomez

9 crimes – Damien Rice

Let Me Down Slowly – Alec Benjamin

Back to Black – Amy Winehouse

7 rings – Ariana Grande

Changes (feat. Talent) – 2Pac

Yellow Flicker Beat – Lorde

A Girl Like You – Edwyn Collins

110 (Prolog) – LEA

The Diary of Jane – Breaking Benjamin

Alles brennt – Johannes Oerding

Archangel – Two Steps From Hell

In My Blood – Shawn Mendes

Love in the Dark – Adele

Die vier Gilden des Kaiserreiches Eterny

Die Cuiny sind Gestaltwandler. Ihre Stärke bemisst sich an ihrem Wappentier. In dieses können sie sich verwandeln. Ist es magisch, sind sie äußerst stark. Ihre Gildenfarbe ist Grün.

Die Mensay sind Empathen und Heiler. Sie stammen von den Medizinmännern ab. Ihre Gildenfarbe ist Weiß.

Die Veritas sind Wahrheitsfinder und Illusionisten. Je nach Grad ihrer Kraft sind ihre Illusionen optisch, akustisch und sogar haptisch. Für sie steht die Farbe Gelb.

Die Gulets beherrschen die Magie der Elemente. Sie tragen die Farbe Blau und sind nun keine reine Männergilde mehr.

Die wahre Eiskönigin

Ich würde gern behaupten, die Welt stand jetzt und hier – in diesem unfassbaren Augenblick – für einen Moment still und ich hatte die Chance, das Chaos vor mir, das sich mein Leben nannte, aus der Perspektive einer Außenstehenden zu betrachten. Aber so was passiert nur in Filmen.

In der Realität erhob meine Mutter sich gerade von ihrem über unseren Köpfen schwebenden Thron aus Wolken. Sie trat auf die oberste Stufe der kleinen Nebeltreppe davor und hob die Hände in einer fast andächtigen Geste. Langsam, gefühlt in Zeitlupe, begann sie diese zusammenzuführen.

Ein Wind kam während der Bewegung auf. Er strich über mein blutbesudeltes rosafarbenes Kleid mit der abgerissenen Schleppe und kündete von nichts Gutem. Nahm zu, je mehr sich die Fingerkuppen ihrer rechten Hand denen ihrer linken näherten.

Sie setzte zum nächsten magischen Schlag an.

Kalte Schauer jagten über meinen erschöpften Körper. Die flachen Ballerinas, die ich am Morgen für ein bisschen gemogelten Komfort angezogen hatte, kamen mir jetzt zugute. Ich war wie erstarrt. Der Schock über ihre Offenbarungen, ihre Magie und meine Herkunft, lähmte mich noch immer. Das bittere Gefühl ihres Verrats an mir hatte sich tief in meinem Herzen, den Gliedern und Knochen festgesetzt. Meine Welt stand kopf.

Unverwandt musterte ich die Frau, die mir all die Jahre so wehrlos und zerstreut vorgekommen war; die für mich nur eines symbolisiert hatte: meine Mutter. Schmerzhaft zog sich mein Magen zusammen, als mein Gehirn begann, mir ungewollt Erinnerungen an all die gemeinsamen Momente zu zeigen. Es war ein Best of Josephine and Lanahaa Streisand. Meine Kindheit, meine Pubertät, meine Studienzeit bis zur Wahl zogen in einem verwischten Strom farbiger Schemen einst glück­licher Stunden an mir vorbei. Bis die Übelkeit in meinem Magen obsiegte und ich die Bilder im selben Bruchteil der Sekunde, in dem sie aufge­ploppten, zusammen mit dem unguten Gefühl mental von mir schob.

Gebannt starrte ich nach oben, wartete nur darauf, dass sich die Fingerspitzen meiner Mutter berührten.

Immer näher und näher kamen sich die Hände.

Doch mit jeder weiteren Sekunde, die verstrich, wuchs in mir die Angst vor dem, was passieren würde. Meine Anspannung ließ den brennenden Wunsch entstehen, sie aufzuhalten. Mein Körper befand sich allerdings noch immer im Ausnahmezustand und reagierte nicht auf die Signale meines Geistes. Warum tat denn kein anderer etwas?

Meine Verzweiflung erreichte ein unerträgliches Maß. Gleichzeitig starrte ich gen Himmel.

Bunte Funken stoben auf, als Haut auf Haut traf. Gleißende Helligkeit hüllte den Platz einen Augenblick lang in eine Glocke aus purer Energie.

Es war Magie.

Reine Macht.

Sie erfüllte glitzernd die Luft – so wunderschön und tödlich.

Goldene Flecke färbten meine Netzhaut, verglimmten schwarz an den Rändern meiner Wahrnehmung und machten diese kurzzeitig unbrauchbar, als das Licht für meine Sehnerven zu viel wurde. Ich kniff die Augen reflexartig zusammen, nur um sie im nächsten Augenblick angstvoll aufzureißen und überrascht zu keuchen.

Die Helligkeit war gebündelt worden. Über Lanahaa schwebten vier unterschiedlich farbige Lichtkugeln: blau wie die Gulets. Weiß wie die Mensay. Gelb wie die Veritas. Grün wie die Cuiny.

Ich erkannte es sofort. Jeder wusste, welche Farben die vier magischen Gilden unseres Reiches repräsentierten, die zusammen mit dem Kaiser herrschten, seitdem sich der Rat der Magicians vor etwas mehr als fünfzig Jahren erhoben hatte. Gegen die Politik, die damals nichts auszurichten vermocht hatte und zum angeblichen Wohl der Menschen, die vor dem größten Feind von allen beschützt werden sollten: der Natur, die sich immer mehr von unserem Lebensraum einverleibte. Durch Stürme, Fluten und Dürren – durch Katastrophen, die auch heute noch keiner vollständig verhindern konnte. Magie dämmte immerhin manches ein. Doch den meisten Menschen, die jetzt auf dem großen Platz vor der Bühne standen, ging es wohl wie mir. Sie waren eingeschüchtert, ängstlich und ratlos, was die Kugeln über Lanahaas Kopf zu bedeuten hatten, abgesehen vom Offensichtlichen: Gefahr! Und sicher auch ratlos, ob meine Mutter damit alle vier Richtungen der Magie beherrschte oder deren Färbung nur eine Illusion war, die sie geschaffen hatte, um den Gedanken in unseren Köpfen zu platzieren. Um Furcht zu säen. Trugbild oder Realität, ganz egal. Manipulation war eine fast so mächtige Waffe wie Magie selbst. Zumindest das wusste ich, seit Ivan mich bei der Wahl gecoacht hatte.

Plötzlich glimmten die Kugeln gefährlich auf.

Mein Herzschlag vervielfältigte sich sofort. Ich hätte gern begriffen, was sich vor meinen schockgeweiteten Pupillen ereignete. Hätte gern behauptet, dass ich stark war – bereit, alle zu retten. Dass meine Seele nicht aufgrund der Offenbarungen meiner Mutter in den letzten Minuten in Splitter zerbrochen war, die sich nun mit der Präzision von frisch geschliffenen Messern in meine Organe und die Lunge zu bohren schienen und mich immer mehr am Atmen hinderten. Hätte gern behauptet, dass das Ende der Wahl nicht alles zerstört hatte, wofür ich glaubte zu stehen, zu kämpfen. Woran ich mich in den dunklen Stunden festgehalten hatte.

Die Kugeln glimmten heller.

Keiner regte sich.

Tränen rannen mir aus den Augenwinkeln, zogen ihre Spur über meine dreckigen erhitzten Wangen hinunter bis zu meinem Kinn, von dem sie auf mein Schlüsselbein tropften. Ich wollte nicht schwach sein, doch war ich es.

Tausende Menschen verfolgten das Spektakel hier auf dem Platz, Abertausend auf ihren Bildschirmen zu Hause. Und sie alle sahen, wie die Eiskönigin, meine einzige und doch zum Schluss so wenig effektive Maske, dahinschmolz. Sahen, wie die Farce unserer heilen Welt aufgedeckt wurde, wie die Missstände in California das Zuckerbrot und die Peitsche überwogen, wie die Regeln des Rates, der Gilden und damit das Kaiserreich seit fünfzig Jahren das erste Mal ins Wanken geriet.

Ich zog die Nase hoch.

Meine Tränen hinterließen einen Film auf beiden Wangen, der sich wie ein unsichtbares Tattoo anfühlte. So, als sei ich gezeichnet worden – von mir selbst. Schlussendlich war ich das auch ein Stück weit, weil alles hier aufgezeichnet wurde. Für die Ewigkeit. Damit konservierten meine Taten ein unsterbliches Bild von mir. Auch wenn uns, der Spezies Mensch, ob nun magisch veranlagt oder nicht, diese von der Natur vermutlich gar nicht geschenkt werden würde. Kaiserreich Eterny – Eternity ausgeschlossen.

Wegen Sinessa – meinem Vater – und seinem widerwärtigen Streben nach Macht, das genau wie das des Kaisers alle ins Verderben gestürzt hatte. Und wegen meiner Mutter – der Inkarnation der Rebellion, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ihre Show mit einer Rebellion gemein haben sollte. Bislang sah ich keine Auflehnung einer Gruppe, sondern eine Zurschaustellung ihrer selbst, die für keinen hier gut ausgehen konnte.

Wie hatte nur alles so aus dem Ruder laufen können?

Immer intensiver, regelrecht unangenehm glimmten die Kugeln über uns.

Alle starrten inzwischen – gefangen in der Unwirklichkeit dessen, was sich vor ihren Augen abspielte. Genau wie ich. Nicht einmal die kleine Robobotarmee, die die Umgrenzung der Bühne zum Publikum hin sicherte, regte sich.

Mit zitternder Hand wischte ich mir die Nässe vom Kinn – zog Spuren durch den Sand der Arena, der noch immer daran haftete.

Kalt, so kalt waren meine Finger im Gegensatz zur Haut.

Ich hätte gern behauptet, dass ich noch die Gleiche war wie Stunden zuvor. Doch manche Worte und Taten lassen sich nicht zurücknehmen. Die meiner Mutter gehörten unwiderruflich dazu. Sie betrafen mein Wesen auf eine elementare Weise, dass mir nicht klar war, wie ich mit ihnen umgehen sollte. Ich wusste nicht mehr, wer ich war, wer sie war und was in den letzten einundzwanzig Jahren wirklich echt gewesen war. Mein Herz und meine Seele trugen tiefe Wunden. Mein Körper war nicht gleichermaßen verwundet, doch schien es mir, als hatte ich plötzlich verlernt, ihn zu steuern.

Die Stille und die seltsame Reglosigkeit um mich waren so surreal wie die Situation. Keiner konnte wegschauen, keiner floh, obwohl alle genau wussten, dass im Bruchteil einer Sekunde etwas Schreckliches passieren würde; wir waren dazu verdammt, hinzuschauen, würden das Geschehen durch die Neugier der menschlichen Natur bis zum bitteren Ende verfolgen.

Wir alle gaben meiner Mutter damit die Bühne, die sie sich ausgewählt hatte. Und obwohl ich inzwischen wieder Schmerzen von meinem Kampf in der Arena in allen Gliedern spürte, verankerte sich mit jeder weiteren Sekunde, die ereignislos verstrich, die unterschwellige Vermutung in meinem Bewusstsein, dass dies – ihr Auftreten – der Anfang von etwas Großem war.

Was nicht hieß, dass es sich dabei um etwas Gutes handelte.

Gewiss war ich mir hier und jetzt nur einer Sache: Ich war nicht bereit, das Ende dieser Entwicklung zu erleben, wenn es aus den Menschen, die ich liebte, Monster machte. Oder vielmehr die Monster in ihnen enthüllte, sie ans Tageslicht brachte und vor aller Augen sichtbar werden ließ.

Die Frau auf ihrem Wolkenthron, sie war mir fremd. So fremd. Alle auf der Bühne, die sie wie in Stein gemeißelt verharrten – inklusive meiner selbst –, waren mir auf einen Schlag fremd. Ich blickte auf ein Geschehen, das die Menschen, die ich zu kennen geglaubt hatte, mitgestalteten. Doch erkannte ich sie nicht wieder; erkannte mich nicht wieder. Da war nur noch Leere – in mir, um mich.

Wo war mein Kampfgeist?

Wo war die starke Josi, die ich jetzt doch so sehr brauchte?

Ich konnte die innere Anspannung, die Zerrissenheit, die unzähligen Fragen und die Angst nicht länger ertragen. Nicht, nachdem ich gerade erst Phillipe getötet hatte, um zu überleben. Nicht, nachdem ich die Schrecken der Arena gerade erst gegen diese Bühne eingetauscht hatte. Und nicht in Anbetracht der Tatsache, dass Ivan noch immer so weit entfernt von mir, neben dem Kaiser stand.

Psychischer Schmerz verdrängte einen Schlag lang das Chaos in meinem Kopf. Wandelte es von schwarz-grauem Nichts in rote Glut. Dann war es wieder vorbei. Die Verwundung ließ nach und hinterließ nichts als die Qualen der physischen Wunden beim Ausatmen. Meine Kraftreserven waren erschöpft. Die letzte Aufgabe der Wahl hatte mich fast allem beraubt.

Ich setzte trotzdem ein gezwungenes Lächeln auf – für die Kameras.

Da flackerten die Kugeln hoch oben noch heller.

Meine Mutter hob wieder die Hände, dieses Mal ging es unglaublich schnell. Ihre Fingerspitzen berührten sich und eine hellgrüne Lichtkugel entstand, als sie sie wieder auseinanderzog.

Unsere Blicke verschmolzen, trotz der Distanz, für einen quälenden Herzschlag. Dann blinzelte sie und die Verbindung brach ab.

Sie holte mit einer Hand weit aus, warf die grüne Magie, die sie in dieser gehalten hatte und schloss die Augen. So als wollte sie den Einschlag nicht mitbekommen.

Das hellgrüne Licht raste wie ein Kugelblitz in meine Richtung, auf mich zu und durchdrang im nächsten Moment meine Brust.

Ich spürte ein kurzes Brennen und meine Lippen formten ein gleichermaßen überraschtes wie überrumpeltes O. Doch die begleitende Druckwelle, die mit voller Wucht meinen Magen gegen meine Wirbel­säule presste und meine Rippen zusammenquetschte, machte mir nur zu deutlich, dass die Magie mich voll erwischt hatte. Dass meine Mutter mich voll erwischt hatte.

Das stetige Brennen breitete sich aus. Alles in mir schmerzte, ächzte und rang binnen Kurzem um Aufmerksamkeit. Äußerlich zuckte ich mit keinem Muskel, schwankte nicht einmal. Mein Körper war von magischer Hand zur Salzsäule erstarrt.

Etwas stimmte ganz und gar nicht. Panik übertünchte sofort meinen inneren Kampf. Was hatte sie mit mir gemacht? Was ging hier vor?

Nach Hilfe und Antworten suchend starrte ich orientierungslos geradeaus.

Niemand schien verstanden zu haben, dass wirklich etwas geschehen war; dass das grüne Licht nicht von mir abgeprallt oder aufgehalten worden war, sondern mich irgendwie äußerlich versteinert und in eine Art lebendige Wachsfigur verwandelt hatte. Keiner rief nach mir oder kam herbei, alle waren auf meine Mutter konzentriert. Was auch daran liegen mochte, dass ich noch immer das verkrampfte Lächeln von eben zeigte, gerade stand und nicht um Hilfe rief – wie auch, es ging nicht.

Alles in mir revoltierte. Doch nach einigen Sekunden erkannte der Rest an klarem Verstand, den ich hatte, dass das nichts brachte. Dass es eine Kraftverschwendung war. Mir blieb nur eine Option: Ich musste mir selbst helfen, der Magie zu entkommen.

Ich startete eine möglichst rationale Bestandsaufnahme meines Zustands, um mehr über diesen herauszufinden.

Es war ernüchternd. Mein Brustkorb ließ sich nur noch ein klein wenig heben, das erschwerte das Atmen. Mein Mund und meine Kehle waren völlig starr wie meine Glieder. Ich konnte meine Arme und Beine nicht bewegen, war tatsächlich in meinem eigenen Körper gefangen.

Immerhin ließen sich meine Augäpfel hin- und herrollen. So erkannte ich, dass sich ein hauchzarter, kaum sichtbarer Grünschimmer wie ein engmaschiges Netz gebündelter Strahlen über das bisschen freie Haut zog, das ich aus meiner Perspektive – mit dem leicht gehobenen Kinn – erspähen konnte. Die hellgrüne Kugel hatte eine Art magischen Käfig aus meiner Gestalt gemacht.

So tief wie es mir möglich war, atmete ich ein. Die verringerte Sauerstoffzufuhr ließ bereits alles schwerfällig werden. Nicht nur mein Herz war müde. Ich war bereit aufzugeben, die Waffen zu strecken. Sie siegen zu lassen. Lanahaa, meine Mutter, Miss Terious – was immer sie bevorzugte –, wenn es nur aufhörte. Das Kämpfen. Das Töten. Das Quälen. Ich wollte ihr Mysterium nicht lösen, weder heute noch in Zukunft. Wie gut ihr selbst gewählter Name doch zu all dem passte. Was tat sie mir nur an?

Ihr blondes Haar wogte hoch oben im Wind der Energiewellen, die ihr Körper selbstbewusst bis hinunter auf die Menge und zu uns auf die Bühne verströmte. Sie sah so unberührt aus. So ungerührt. Die wahre Eiskönigin.

Ich war immer nur eine billige Kopie gewesen – die sie jetzt einfach ›eingefroren‹ hatte. Sie hingegen schien es in sich zu haben. Das Eis. Wasser war eindeutig ihr Element. Daraus bestanden schließlich auch Wolken sowie ihr Thron.

Sie war die Beherrschte und dadurch die Beherrschende.

Ich trug das Feuer in mir. Ein Feuer, das mich einst, während der Wahl, zu verzehren gedroht hatte und nun anscheinend erloschen war. Für immer? Ich spürte kein Fünkchen mehr in mir, nur noch Resignation. Dämmerte vor mich hin, von ihrer grünen Magie in Schach gehalten. Was ist das für eine mächtige Gestaltwandlerlichtkugel gewesen?, fragte die Stimme meiner Neugier. Mein abdriftender Geist hing jedoch anderem nach.

So wie Lanahaa sich gab, wie sie stumm Hof hielt, hatte ich mir immer das Auftreten des ultimativen Superbösewichtes vorgestellt. Sinessas Auftreten im Endkampf gegen den Kaiser – so in der Art. Meiner Mutter dabei zuzusehen erschütterte mich, entzog mir das letzte elementare bisschen kindlicher Liebe, zerriss das natürliche Band zwischen Mutter und Kind – zwischen ihr und mir – unwiderruflich. Machte mich zu der Hülle, die ich dank ihr jetzt nicht nur physisch, sondern auch mental war.

»Ergreift sie!«, hatte der Kaiser vor einer gefühlten Ewigkeit gerufen. Lanahaa?Mich? Und warum eigentlich nicht Sinessa, unseren alten Regenten? Ihn, den Anstoß des Ungemachs, durch seinen versuchten Mord­anschlag auf mich! Wie lange würde es dauern, bis er sich besann und statt wie alle zum Wolkenthron zu gaffen, erneut zu etwas Hinter­listigem ansetzte?

Könnte ein Angriff auf mich den magischen Käfig brechen? Oder war ich derart gefangen nur noch leichter zu töten?

Meiner Mutter wagte bisher keiner entgegenzutreten.

Ein halbwegs tiefer Atemzug entwich mir. Und als hätte ich unbewusst ein Zeichen gesetzt, kam plötzlich Regung in die Szenerie auf der Bühne.

Der Anfang von etwas Großem

Ivan bewegte sich von seiner Position am linken Rand der Marmorfläche, neben dem Kaiser, vor in Richtung Mitte. Mein Herz pochte sofort aufgeregt, als mein Verstand mir kurzzeitig vorgaukelte, er könnte mir zu Hilfe eilen. Doch er rannte weiter in Richtung des vorderen Randes der Bühne und die aufgekeimte Hoffnung in mir wandelte sich zu Enttäuschung.

Meine Rolle als stumme Beobachterin dauerte an.

Sein rötlicher Haarschopf, an dem sich mein Blick nun festsaugte, war mir allzu vertraut. Seine Gestalt, die elegante Art, sich zu bewegen, sein attraktives Gesicht mit den lieb gewonnenen Zügen und den Lippen, die am Morgen noch auf meinen gelegen hatten.

Allein darüber nachzudenken löste eine Welle der Traurigkeit in meinem Körper aus. War das zwischen uns Liebe? Warum hatte alles von Anfang an so verdammt wehgetan? Und versuchte man sich nicht gegenseitig bei Gefahr zu schützen, statt an der Seite verhasster Personen zu verweilen, wie Ivan es bis jetzt getan hatte? Andererseits hatte ich mich, als ich es noch gekonnt hatte, auch nicht vom Fleck bewegt. Und schlussendlich war ich mir keinesfalls sicher, ob er dieselbe Zuneigung spürte wie ich.

Die Enttäuschung in mir stieg.

Geistesgegenwärtig kanalisierte ich die resultierende Verzweiflung und versuchte, mentale Energie daraus zu schöpfen. Enttäuschung, Verzweiflung, Wut – alles war mir recht, solange es meine Lebens­geister erweckte.

Meine Fingerspitzen vibrierten; das Netz aus gebündelten Strahlen, das sich wie eine zweite Haut an meine Gestalt schmiegte, begann daraufhin zu pulsieren. Vermutlich waren es erste Vorboten meines starken inneren Aufruhrs, den weder meine Pixiegene noch die grüne Magie eindämmen konnten.

Davon beflügelt, schürte ich die Emotion. Mir war rätselhaft, was Ivan plante. Ich malte mir das Schlimmste aus, zog mein Bewusstsein in einen Strudel aus Verletztheit und Besorgnis. Immer enger verknüpfte ich die überbordenden Gefühle mit meinem Geist, fokussierte diesen so gut es ging. Ließ die Energie meines Willens zusammenfließen und schleuderte sie dann gezielt als mächtige Kraft wie eine Speerspitze gegen den magischen Käfig, der mich gefangen hielt. Ich gab alles.

Es zeigte sich jedoch kein Loch, kein Riss – nichts.

Der mentale Schlag ließ mich schwach zurück. Einzig die grüne Magie hielt meine Gestalt aufrecht, dem magischen Netz hatte ich aber nicht einmal eine Schwachstelle abgerungen. Es war frustrierend.

Ermattet beobachtete ich nun wieder Ivans kraftvolle Bewe­gungen, die magisch verstärkt sein mussten, so schnell, wie er inzwischen vorwärtskam. Fast hatte er den Rand der Bühne erreicht.

Das rhythmische Aufstampfen von Robobots hinter mir lenkte mich ab. Es dauerte kurz, bis diese in mein Blickfeld rückten. Ein Dutzend der Maschinen bewegte sich seitlich, von dem LED-Bildschirm, der die Rückwand der Bühne bildete, kommend, über den Marmor auf uns zu.

Was hatten sie …?

Plötzlich fühlte ich etwas an meinem Handgelenk. Schnell blickte ich hinunter. Warme Haut: eine Hand. Rayns Hand! … von der ich wusste, dass der schwarze Stoff darüber zu einem perfekt sitzenden Anzug gehörte, der genauso blutbesudelt und sandig war wie mein Kleid. Weil wir beide in der Arena gekämpft hatten.

Erleichterung durchströmte mich. Richtig, Rayn stand ja immer noch neben mir, weilte an meiner Seite. Ich war so mit meinem Kampf gegen die grüne Magie beschäftigt und er so ruhig gewesen, ich hatte ihn ganz vergessen gehabt.

Bang hob ich den Blick, sah ihm ins Gesicht, suchte … Ich wusste selbst nicht so recht, was – Beunruhigung? Beruhigung? –, und registrierte doch nur seine von Furcht umwölkten Züge, die höchstwahrscheinlich die Miene der meisten hier spiegelten.

Er begriff nicht, in welcher Lage ich mich befand. Und das, obwohl ich nicht reagierte. Da fiel mir ein, dass er die Magie der Gulets und der Mensay in sich trug. Vielleicht ließ sich seine doppelte Begabung zu meinem Vorteil nutzen. Besonders seine ausgeprägten Fähigkeiten, Gefühle wahrzunehmen.

Ah!, schrie ich innerlich so laut los wie ich konnte. Ah! Und immer weiter: Ah!

Er zuckte jedoch mit keiner Wimper.

Damit war klar: Wenn ein Empath den Aufruhr, den ich innerlich veranstaltet hatte, nicht wahrgenommen hatte, blockierte die grüne Magie selbst mentale Schwingungen. In meiner Not startete ich einen neuen, verzweifelten Anlauf, um auf mein Elend aufmerksam zu machen und vollführte mit den Augen zuckende Bewegungen. Vielleicht verstand er das. Immerhin sah ich so sicher irre aus – hoffentlich irre genug.

Rechts – links.

Links – rechts.

Warum war mir das nicht gleich eingefallen?

Rechts – links.

Links – rechts.

Verdammt, war das anstrengend.

Rechts – links.

Links – rechts.

Verdammt hoch zwei! Er sah ja gar nicht her.

Ich hörte sofort auf, Energie zu verschwenden. Meine Frustration wuchs augenblicklich.

»Die sind ausschließlich für ihn hier«, flüsterte Rayn mir plötzlich, von meinem Drama unbehelligt, mit rauer Stimme zu und nickte mit dem Kinn an mir vorbei. Zu mir sah er noch immer nicht.

Ich blickte so gut es ging in die angedeutete Richtung.

Die Robobots waren bei ihrem Ziel angekommen. Sie ordneten sich und nahmen den Kaiser links von mir in ihre Mitte. Ihn umgab nun ein schillerndes blaues Licht, das ihm aus jeder Pore drang. Magie. Die Elementmagie der Gulets. Doch so faszinierend das aussah, die entgleisten Gesichtszüge seiner göttlichen Heiligkeit offenbarten jedem hier, dass unserem ranghöchsten Magician die Selbstsicherheit abhanden gekommen war. Na toll.

Allgemeine Furcht lag in der Luft.

Ich konnte es nicht glauben. War es nicht an ihm, tapfer zu sein? Sein Volk zu beschützen? Uns zu führen in der dunkelsten Stunde … oder so ähnlich? Er war der Kaiser! Der mächtigste Mann Eternys – eines der beiden Kaiserreiche der noch existenten Welt! Das sollte ihm doch etwas bedeuten.

Fassungslos sah ich zu, wie die Robobots die Zwischenräume um den anscheinend doch nicht größten Magician unserer Zeit mit einem weiteren, dieses Mal elektrischen Schild schlossen, der sich von ihren metallenen Hüllen aus bildete. Von Rumpf zu Rumpf, von Greifarm zu Greifarm, von Beinstumpf zu Beinstumpf. Einzig die Mündungen ihrer Hightechwaffen blieben außen vor und waren weiterhin schussbereit auf jeden gerichtet, der sich ihnen in den Weg stellen könnte.

Wo war die Blaue Garde?

Ich sah mich um.

Lanahaa war weiter oben gerade damit beschäftigt, ihre vier bunten Energiekugeln von ihrem Wolkenthron aus zu dirigieren. Nach einigen Sekunden meiner Beobachtung meinte ich ein System zu erkennen. Sie hatte die Kugeln geordnet und schickte nun jede schwebende Gildenfarbe nacheinander los, von ihr weg, in eine andere Richtung des Platzes.

Als der Pulk mit dem Kaiser unisono den ersten lautstarken Schritt nach hinten in Richtung der LED-Wand und damit in die Sicherheit des Gebäudes machte, hatte ich genug mitbekommen – alles, was ich wissen musste.

So war das also.

Der Kaiser war ein verdammter Feigling.

Aber hatte ich das nicht längst geahnt, seit mir gesagt worden war, dass er und Lamentos ein und dieselbe Person waren? Dass er meine Vorfahrin Rovenna hinterrücks und kaltblütig ermordet hatte, statt einen fairen Kampf gegen sie zu führen. Was hatte ich von ihm erwartet?

Stattdessen war es Ivan, der nun für uns kämpfen würde – für uns alle. Ich fokussierte meine Augen wieder auf den vor mir befindlichen Teil der Marmorfläche.

Ah. Da!

Der Kardinal der Blauen Garde verharrte reglos am vordersten Rand der Bühne, während sich langsam eine blaue Kugel, ähnlich einer gigantischen Seifenblase, um seine komplette Gestalt bildete. Sie hüllte ihn von Kopf bis Fuß ein. Der Vorgang ging immer schneller vonstatten, bis sich die durchscheinende Haut der Blase mit einem satten Plopp! völlig um ihn schloss. Ein magischer Schutzschild, begriff ich, indes sich die Blase mit Ivan darin zuerst behäbig in die Luft erhob, bevor sie beschleunigte.

Am Himmel zogen Lanahaas Kugeln stumm schnurgerade Bahnen, bis es schien, als hätten sie ihr Ziel erreicht. Sie stoppten an den vier äußersten Enden des Platzes und harrten bewegungslos aus, unzählige Meter über den Köpfen der Menschen.

Warum schwebten sie da? Welche Geheimwaffe würden sie bein­halten? Energieregen? Explosionen?! Feuerwerk?

Meine Mutter sah mit sich zufrieden aus. Sie blickte Ivan fast erwartungsvoll entgegen. Der Kampf würde jede Sekunde beginnen und sie freute sich offensichtlich darüber, denn ein feines Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.

Der Wind frischte wieder auf. Einzelne Böen fegten über den Platz. Sie rissen an meinen wirren blonden Haaren.

Ich registrierte erst jetzt, dass das Getrappel der Robobots auf der Bühne verklungen war. Der Kaiser hatte sich endgültig verabschiedet, war geflohen. Mit den Maschinen und ihren Waffen.

Rovenna steh uns bei.

Innerhalb der Menschenmenge vor der Bühne wurde das Gemurmel immer lauter. Mit der Flucht des Kaisers fiel die Starre von den Zuschauern ab und die Angst nahm mit den stärker werdenden Windböen zu. Die Reaktion des anwesenden Publikums stand in krassem Gegensatz zu der noch immer vorherrschenden Starre aller auf der Bühne.

Der Drang, sich zu retten vor dem, was auch immer kommen mochte, breitete sich plötzlich wie ein Lauffeuer auf dem Platz aus. Die Menschen rissen sich an der Kleidung und den Schultern herum und packten einander, nur um den Nebenstehenden beiseitezu­schieben; um einen Vorteil zu erringen, um sich vorzudrängen. Soweit ich sah, strömten die, die konnten, so schnell es ihnen möglich war, in die Gassen zwischen den Häusern, die vom Platz führten. Doch steckte der Hauptteil der Masse an Leibern noch immer inmitten der Panik fest.

Ivans blaue Blase bewegte sich derweil hoch oben auf Lanahaa zu, hatte sie fast erreicht …

Sie reagierte.

Blaue Lichtblitze prallten von Ivans Schild ab. Das Geräusch, welches das Aufeinandertreffen der Magie verursachte, war ohrenbetäubend. Wie das Donnergrollen eines starken Gewitters, kurz bevor der Blitz einschlägt. Der Kampf hatte begonnen. Würde einer der beiden Magicians, die mir das Wichtigste im Leben waren, sterben, so wüsste ich nicht, um wen ich mehr trauern würde. Trotz allem, was passiert war.

Mein Magen revoltierte. Meine Fingerspitzen vibrierten wieder, als der magische Käfig um meine Glieder noch stärker pulsierte. Das Herz klopfte schneller in meiner Brust und meine Lunge ächzte nach Sauerstoff. Mich überkam, als Reaktion auf meine hochkochenden Emotionen, das äußerst befremdliche Gefühl, langsam – Zelle für Zelle in der Hülle, die sich mein Körper nannte – zu ersticken.

Hier auf dieser Bühne hatte alles angefangen. Die Wahl, der Zerfall meines Lebens, mein Untergang. Damals, am ersten Tag der Wahl, hatte ich gedacht, es könnte nicht schlimmer kommen – wie sehr ich mich geirrt hatte. Hier würde es voraussichtlich nicht enden. Aber wenn ich ehrlich war, war unabhängig des Ausgangs des Kampfes heute, doch bereits eine der beiden Personen in der Luft für mich gestorben: meine Mutter. Die Frau, die mich aufgezogen hatte, hatte sich selbst in dem Augenblick ausgelöscht, in dem sie zu einer anderen geworden war.

Vertrauen konnte so schnell zerstört werden.

Man sagte, Ivan sei einer der größten Magicians unserer Zeit. Nun würde sich zeigen, wie mächtig er und wie überlegen meine Mutter sich tatsächlich präsentieren konnte. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen.

Ängstlich verfolgte ich, wie Lanahaas Hände in kaum wahrnehmbarem Tempo immer weiter Lichtblitze auf ihn abfeuerten und sie dabei nicht im Geringsten angestrengt wirkte. Obwohl sie die elek­trische Energie, die unter blauem Flackern von Ivans Schild absorbiert oder ab und zu auch zurückgeworfen wurde, unglaublich viel Kraft kosten musste.

Ivans Gesicht war mir abgewandt, während seine Blase Lanahaas Thron zu umkreisen begann. Mehr und mehr blaue Blitze zuckten von der Außenhaut seines Schildes zu ihr zurück, ganz so, als wollte es nun all die absorbierte Energie wieder loswerden. Dabei wurde die Blase so schnell, dass ich sie bald nur noch als verschwommenen Schemen wahrnahm. Dieser schuf optisch, infolge der Kreisbe­wegung, einen blauen Ring um den Wolkenthron.

Unruhe beschleunigte meine künstlich ruhig gehaltene Atmung weiter.

Durch die fortwährende Erhöhung der Geschwindigkeit wirkte es, als ob Ivan Lanahaa von allen Seiten bombardierte.

Ich stand kurz vor einer Ohnmacht. In meinem Gehirn verknotete sich das bisschen Hintergrundwissen über Physik, das ich von meiner Mutter aufgeschnappt hatte, mit dem Geschehen. Wie lange würde Ivan der selbst geschaffenen Zentrifugalkraft standhalten, bis sie ihn aus seiner Umlaufbahn schleudern würde? Oder nutzte er die entstandene Energie und setzte sie irgendwie zu seinen Gunsten ein?

Jede Synapse in mir stand in Flammen und der Flächenbrand weitete sich aus – von meinem Gehirn kroch er langsam in den Rest meines Körpers. Ich spürte zum dritten Mal ein Kribbeln in meinen Fingerspitzen, richtete meine Aufmerksamkeit jedoch ausschließlich auf das Spektakel in der Luft. Ich wollte keine Sekunde verpassen!

Lanahaa reagierte just auf Ivans Angriffe, indem sie ihre Taktik änderte. Für einen Wimpernschlag hatte ihr Thron noch im Mittelpunkt der energetischen Bombardierung geschwebt, im nächsten war er durch eine einzelne Aufwärtsbewegung an seiner jetzigen Position: zwei Meter weiter oben. Damit hatte sie sich den Magiestößen geschickt entzogen. Und deren Schicksal nahm unvermindert ihren Lauf …

Die von Ivans Blase noch Sekunden danach unermüdlich abgefeuerten Blitze prallten in der Luft zusammen, genau dort, wo einst der Wolkenthron gewesen war und kehrten ihre Bewegung von der Stelle ihres Aufeinandertreffens nach außen um. Wie die Zacken eines Sterns lenkte die Energieerhaltung sie zurück zu Ivans Umlaufbahn, aus der er anscheinend nicht so einfach ausbrechen konnte. Nun war es fast unausweichlich, dass ihn einer davon traf.

Das würde er doch nicht zulassen, oder? Geschlagen mit seinen eigenen Waffen, das wäre … zu einfach. Nicht wahr? Die Sorge, die meinen Brustkorb enger werden ließ, zeigte mir, dass das, was ich für Ivan fühlte, nichts war, was so schnell vorbeigehen würde. Nein, wollte ich schreien, wollte ihn vor etwas warnen, das er längst gesehen hatte, nur um irgendetwas zu tun, um nicht untätig zu sein, indes er da oben kämpfte.

Ich musste dem magischen Käfig entkommen! Musste die starke Josi in mir finden und die Macht der grünen Magie brechen. Doch wie?

Ich hielt die Luft an, um dem Stechen in meiner Lunge für einen Augenblick zu entkommen. Hatte das Gefühl, dass sich die Zeit verlangsamte. Ignorierte die Taubheit in Höhe meines Brustbeins, die einsetzte, als mir mein Körper zu verstehen gab, dass er eine offene, wenn auch begrenzte Sauerstoffzufuhr allemal bevorzugte und fixierte stattdessen starr die noch immer rasanten Bewegungen in der Luft.

Ich blendete alles um mich aus, mobilisierte den letzten Rest Magie in mir. Ein mentaler Funkenregen brachte mich näher an die Grenze zur Bewusstlosigkeit, dann traf schillernde Magie in mir auf grüne Magie.

Es zerriss mich fast, als die Kräfte gewaltige Spannungen in meinem Körper erzeugten. Diese rasten durch meine Zellen, bevor sie von dem Grünschimmer auf meiner Haut absorbiert wurden.

Der Käfig war stärker denn je.

Was für ein Fehlschlag, dachte ich resigniert – der schwache Abklatsch einer starken Emotion –, saugte wieder Luft wie eine Ertrinkende in meine Lunge, entging damit der Dunkelheit, die bereits an meinem Gesichtsfeldrand lauerte und konnte den Blick nicht von Ivan abwenden. Gleich, gleich würde einer der Blitze … Ein Ansatz von Grollen bildete sich in meiner Kehle, nur um infolge meiner Starrheit zu ersterben, bevor er meinen Mund verließ.

Ivan wich erfolgreich seinen eigenen Blitzen aus, indem er nun auch in der Luft aufstieg. Halleluja.

Aber es kam schlimmer. Lanahaa setzte zum Gegenschlag an. Gelbe Energiekugeln bombardierten die Ränder der Umlaufbahn, die Ivans Kugel noch immer in einer Art Spiralflug bestritt. Sie fielen senkrecht von oben auf ihn herab wie große Glühwürmchen – von denen jedes einzelne ihn töten konnte, dessen war ich mir sicher. Und ein Treffer würde nur eine Frage der Zeit sein.

Just traf einer der gelben Schemen hart auf Ivans Schutzschild.

Ich fühlte mich, als hätte die Energie meinen Magen getroffen, statt ihn aus seiner Kreisbewegung zu katapultieren.

Die blaue Blase, in der er sich befand, schlingerte nach rechts. Gelbe Flammen fraßen aggressiv an der durchsichtigen Außenhaut und ließen den Schild wie den überdimensionierten Kopf eines angezündeten Streichholzes wirken.

Mein Herz zersprang fast, so sehr litt ich mit. Krampfhaft suchte ich einen Weg, um Ivan zu helfen. Dazu musste ich endlich den magischen Käfig zerbrechen! Jede Art von Magie hatte einen Schwachpunkt. Ich musste ihn nur entdecken und zu meinen Gunsten nutzen.

Mein Verstand jagte sinnvollen Gedanken hinterher. Ich saugte bewusst so viel Sauerstoff wie möglich in meine Lunge. Für mein Gehirn – um eine Lösung zu finden.

Weitere Energiekugeln rasten mit zischenden Geräuschen an Ivan vorbei.

Grün!, kam mir da ein Geistesblitz. Grün war die Farbe der Magie, die mich gefangen hielt und es war auch schon die ganze Zeit über der imaginäre Schlüssel zum Käfig gewesen – wenn ich richtiglag. Die Farbe der Gestaltwandler war ein Fingerzeig. Denn wenn ich bei der Wahl eines gelernt hatte, dann, dass das Wappentier, das in mir schlummerte, Wunder bewirken konnte. Meine Verwandlung in eine Sphinx, die magisch aktivierten Cuinygene, hatten mich gegen das Gift im Schmetterlingshaus immun werden lassen. Womöglich würden sie mich auch gegen die grüne Magie feien.

Ich hatte, seit mich die grüne Lichtkugel getroffen hatte, nicht daran gedacht, mich zu verwandeln, schließlich war meine Gestalt fixiert – außerdem hatte ich mich auch noch nie willentlich zur Sphinx gemacht. Ich wusste gar nicht, ob ich es überhaupt konnte. Meine Augen waren allerdings ein anderes Thema. Würde ihre Verwandlung ausreichen, um mich zu befreien?

Ich konzentrierte mich, starrte blicklos geradeaus – und da, keine drei Sekunden später hatte ich das erweiterte Blickfeld der Sphinx. Meine Pupillen waren zu Schlitzen verengt, meine Iriden golden.

Der nächste Atemzug fühlte sich befreiend an. Die Luft füllte meine Lunge bis zum Maximum und ich wusste sofort, dass sich der magische Käfig aufgelöst hatte. Unglaublich! Doch jetzt gab es Wichtigeres.

Gesteigerte Panik war mittlerweile aufgrund der sich zuspitzenden Situation über uns ausgebrochen. Vielleicht nahm ich sie jetzt aber auch nur wahr. Lanahaas gelbe Energiekugeln, die für Ivan gedacht gewesen waren, kamen den Köpfen der Menge auf dem Platz immer näher. Und würden die gelben Kugeln schließlich einschlagen, würde es viele Menschenleben kosten!

»Rayn!« Meine Stimme überschlug sich, klang rau. »Wir müssen Ivan helfen – den Menschen helfen –, etwas tun!« Aber was konnten wir tun, um den baldigen Horror zu vermeiden? Um die Menschen zu retten? Damit sie nicht vernichtet werden würden? Verbrannt. Ausgelöscht – einfach so. Weil sie zum falschen Zeitpunkt an der falschen Stelle stehen würden. Opfer, die mit dem, was sich am Himmel abspielte, nichts zu tun hatten. Die zu einer Feier gekommen waren – und sich nun inmitten eines magischen Duells befanden.

Das bisherige Schieben und Drängen war von einer Massenpanik in ihrer schlimmsten Form ersetzt worden. Schrille Schreie, Wimmern und Heulen drangen zu mir, als die Schaulustigen und die, die bisher aufgrund der Vielzahl an Menschen und den wenigen Aus­gängen nicht hatten fliehen können, begriffen, dass es jetzt um Leben und Tod ging. Dass Schaulust sie Ersteres kosten konnte. Und ihnen ihr Leben doch wichtiger war als alles andere – selbst ihre Sensations­gier. Aber auch wichtiger als Menschlichkeit, Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft.

Während ich auf das blickte, was eigentlich eine fröhliche Veranstaltung hätte sein sollen, keuchte ich entsetzt auf und konnte nicht begreifen, wie es so weit hatte kommen können. Von dem Sauerstoff­entzug zuvor und meinem Kampf gegen die grüne Magie weiter entkräftet, schwankte ich. War aber nicht gewillt, mich meiner körperlichen Schwäche unterzuordnen.

Die Menschen versuchten derweil völlig unkoordiniert zu flüchten. Sie schubsten einander, drückten und rempelten. Vor der Bühne war es bis eben noch recht voll gewesen. Vielleicht hatten die Zuschauer sich so nah an den daraufstehenden mächtigen Magicians sicher gefühlt.

Ich wandte den Kopf nach hinten.

Zweiauge, das Oberhaupt der Gilde der Mensay, ein zahnloser weißhaariger Mann mit spitzem Bart und weißem Mantel, rückte in mein Blickfeld. Er verströmte ein durchdringendes weißes Licht, das in nebelartigen Wellen von ihm ausgesandt wurde und die Menschen auf dem Platz sicher in einen beruhigenden Mantel hüllen sollte.

Er kämpfte gegen die Massenpanik, den inneren Feind.

Ich sah voll unguter Vorahnung nach oben, wo sich Ivan und Lanahaa weiter mit blauen Blitzen sowie gelben Energiekugeln bombardierten und riss sofort die Arme hoch. Eine der gelben Kugeln von Lanahaas erster Angriffswelle war bereits viel zu nah bei den Menschen. Feuer züngelte an meinen Fingerspitzen, als ich meine Kräfte zu bündeln versuchte.

Da zuckte ein blauer Elementarblitz über den Himmel und prallte gegen die gelbe Kugel. Beide Ladungen verbanden sich zu einem gleißenden Ball. Dieser schlug mit lautem Krachen nur Nanosekunden später in das Dach eines nahen Hauses ein.

Glas splitterte, Metallstreben ächzten.

Panisch duckte ich mich, um mich zu schützen. Der Reflex kam viel zu spät. Aber ich war nicht unmittelbar in der Gefahrenzone. Zum Glück. Als ich mich langsam wieder aufrichtete, schaute ich mich um. Soweit ich es beurteilen konnte, gab es keine Verletzten.

Rayn neben mir holte währenddessen weitere gelbe Energiekugeln mit Elementarblitzen vom Himmel und nutzte die uns umgebenden Häuserfassaden als Bremse. Er wusste eindeutig was er tat; würde so viele gelbe Kugeln unschädlich machen, wie er konnte.

Mein Herzschlag pochte laut in meinen Ohren, meine Atmung erzeugte hektische Geräusche und mir war seltsam warm, so schnell zirkulierte das Blut in meinen Adern. Ich versuchte meine Panik zu verdrängen.

Andere waren schneller im Regenerieren und vor allem Reagieren – einige Menschen vom Platz versuchten nun in ihrem Streben nach Leben auf die Bühne zu gelangen. Doch war diese noch immer von Robobots umstellt. Maschinen, die sich bis jetzt nicht geregt hatten. Die keine einzige ihrer Hightechwaffen angehoben hatten, um meine Mutter vom Himmel zu schießen, um dem ganzen Spuk ein Ende zu bereiten. Warum? Ich wusste nicht, ob ich es bedauern oder mich darüber freuen sollte.

Mutiger straffte ich mich, war bereit, mein Elementarfeuer einzusetzen.

Auf einmal ertönte ein kollektives Knacken, dann ein Ratschen.

Ich sah verblüfft, wie die Maschinen im Angesicht der panischen Menschen ihre Waffen hoben, statt diesen zu helfen.

Sie konnten doch nicht? Würden doch wohl nicht wirklich … schießen? Wer gab hier die Befehle oder waren sie alle KI – Künstliche Intelligenzen – und entschieden selbst? Hatten sie kein oder ein verqueres Urteilsver­mögen; folgten einzig dem irrsinnigen Befehl, die Bühne zu schützen?

Ein Knall aus der Luft ließ mich aus den Gedanken schrecken und hochblicken.

Die Ereignisse überschlugen sich.

Ivan segelte im freien Fall, ohne seinen Schutzschild nach unten. Sein rechter Arm wirkte seltsam verrenkt, die ganze Gestalt leuchtete gelblich, machte keinen wirklich lebendigen Eindruck. Lanahaa hatte ihn mit weiteren ihrer Energiekugeln erwischt.

Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Ich versuchte abzuschätzen, wo er aufkommen würde. Begann in Sekundenschnelle eine Bestandsaufnahme meiner Kräfte. Könnte ich rechtzeitig …?

Rayn sprang überraschend neben mir in die Luft und surfte unglaublich schnell auf einer für mich unsichtbaren Strömung in Ivans Richtung.

Ich gaffte mit offenem Mund, als er dessen Körper einige Herzschläge später mühelos aus der Luft über dem Platz pflückte und nur kurz ins Schleudern geriet, als dessen Gewicht seinen Schwerpunkt veränderte. Dass die Luft Rayns Element war, wusste ich. Aber nicht, was sich alles damit anstellen ließ. Das war ja phänomenal! Ich konnte gar nichts, wurde mir einmal mehr klar, nichts im Gegensatz zu ihm oder anderen Magicians, die ihre Magie beherrschten – oder Ivan. Trotzdem hatte Lanahaa den Kardinal der blauen Garde gerade besiegt – mit einem Knall. Welch akustische Untermalung.

Mir entwich ein gequälter Seufzer. Das bloße Stehen verlangte mir, wenn ich ehrlich war, einiges ab. Trotzdem drückte ich den Rücken durch, stabilisierte meinen Stand und täuschte äußerlich Stärke vor. Meine Kräfte regenerierten sich langsam, das spürte ich, seit ich mich aus dem magischen Käfig befreit hatte. Zu langsam. Aber immerhin.

Geschwind surfte Rayn währenddessen mit Ivan auf mich zu, ließ sich nur Zentimeter über dem Marmor mit seiner Last auf die Füße plumpsen und drückte Ivans Körper in derselben Bewegung in meine Arme. Dann trat er einen Schritt nach hinten und ließ gleichzeitig los.

Uff! Durch Ivans Gewicht wurde mir die Luft aus der Lunge gepresst. Ich krallte meine Finger in seinen Rücken, um Halt bemüht. Er war sowieso bewusstlos und bekam es nicht mit. Überfordert schielte ich zu Rayn.

Dessen Fokus lag allerdings nicht mehr auf mir. Sein Gesichtsausdruck war mörderisch. Seine Haltung zeigte unterdrückte Aggression. Er spannte die Schultern an, als ob er sich rüstete.

Er wollte Lanahaa gegenübertreten. Ich wusste es. Tu das nicht!, wollte ich rufen. Aber er war eindeutig fitter, schneller und konsequenter als ich, denn er stieß sich bereits wieder vom Boden ab.

Rayn schoss einer Rakete gleich fast senkrecht nach oben. Der Luftzug, den seine Bewegung verursachte, brachte mich und meine Last zum Schwanken. Die Muskeln in meinen Armen brannten unter der Anspannung. Automatisch packte ich Ivan stärker, schloss die Arme so eng wie möglich um die mir bekannten Glieder. Sein Kopf kollidierte dabei mit meinem und ich bekam eine ernüchternde Kopfnuss sowie einen Mund voll roter Haare ab. Prustend holte ich Luft und versuchte, unsere Körper endlich ins Gleichgewicht zu bringen, während Rayn sich Lanahaa näherte.

Mein Kampf mit all den Gliedmaßen, meiner Verwirrung und meinem Kräftehaushalt vereinnahmte mich sekundenlang. Erst dann hob ich den Blick.

Blinzelnd erkannte ich hoch oben eine athletische Gestalt, die, in blaues Licht gehüllt, fast bei Lanahaas Wolkenthron angekommen war. Rayn.

Als ob er meinen Blick spürte, drehte er den Kopf. Ein grimmiger Zug lag um seinen Mund. Blaue Funken tanzten wild auf den Spitzen seiner braunen Locken und seine Augen glänzten hart. Seine sanftmütige Maske war verschwunden. Nichts als purer Hass sprach aus einem Blick, der mich frösteln ließ, obwohl er – wie schon beim letzten Mal, als Rayn bei der Wahl bezüglich seiner Absichten ehrlich gewesen war – nicht mir galt.

Plötzlich wünschte ich, meine Mutter würde gleich denselben Schock verspüren wie ich, als ich zum ersten Mal den Mann hinter der zivilisierten Fassade gesehen hatte. Als ich verstanden hatte, wie Rayn sein konnte, wenn man ihn gegen sich aufbrachte.

Noch lächelte Lanahaa und wartete, inzwischen wieder bequem auf ihrem Wolkenthron sitzend, auf ihn. Ganz als handle es sich bei Rayns raschem Näherkommen um den Gang zu einer zuvorkommend gewährten Audienz bei ihr. Noch hatte er ihr sein Gesicht auch nicht wieder zugewandt.

Der Kampf der Magicians

Ich drehte meinen Kopf weg. Lanahaas Lächeln sagte mir trotz meines Vertrauens in Rayn alles, was ich wissen musste. Rayn würde als Nächster vom Himmel fallen. Mein Herz verbat mir daraufhin, noch länger zum Wolkenthron zu starren. Mein Geist gaukelte mir bereits Visionen von Rayns Scheitern und Lanahaas Triumph über ihn vor. Wie sollte er sie auch besiegen, wenn es Ivan nicht gelungen war?

Aber was war die Mission meiner Mutter? Wenn sie alle besiegen wollte, konnte sie das schneller und einfacher haben – oder? Wozu diese Aufführung?

Mein Brustkorb fühlte sich ausgehöhlt an. Gleichzeitig schmerzte mein Magen. Ich konnte Rayn nicht allein kämpfen lassen – genauso wenig, wie ich Ivan hier unten ungeschützt ablegen konnte. Nicht in diesem Zustand, oder? Das Gefühl des Zwiespalts mischte sich mit dem Brennen in meinen Armen, mit denen ich weiterhin Ivans Körper umklammerte, als hinge sein Leben davon ab. Die Verantwortung, ihn zu beschützen und sei es nur mit meinen Gliedern als Schild, lastete schwer auf mir.

Ein anschwellendes Sirren, das nun so laut wurde, dass ich es unmöglich ignorieren konnte, machte mir auf einen Schlag bewusst, dass uns bald noch andere Gefahren drohten als Lanahaa. Hatte sie darauf gewartet? Alarmiert suchte ich die Luft nach der Ursache des Geräusches ab.

Ich fühlte mich in der Pflicht, etwas zu unternehmen. Wieso war ich so furchtbar schwach? Nach Schritt 1: Befreiung von der grünen Magie musste ich dringend zu Schritt 2: Kraft schöpfen übergehen, um danach Schritt 3: Kick their asses verwirklichen zu können.

Drohnen flogen in Massen in mein Blickfeld, über die Häuserdächer, auf uns zu. Sie verursachten das Sirren! Noch bestand der Schwarm aus gerade identifizierbaren Punkten am Horizont. Doch beging ich nicht den Fehler, die Bedrohung zu unterschätzen. Es war eine Armada aus geflügelten Maschinen, die stetig näher kam.

Wunderschön. Tödlich? Gehörten sie den Rebellen oder vielleicht doch Eterny?! Dem Kaiser?

Es klackte ein Mal laut.

Zu laut, um weit entfernt zu sein. Ich riss den Kopf herum.

Die Robobots vor der Bühne richteten gerade unisono ihre Gewehre mit der Laser-Zielvorrichtung auf etwas aus. Sie hatten soeben die Waffen entsichert, wurde mir klar.

Klack-Klack-Klack, schickten sie auch schon Geschosse nach oben, in Lanahaas und Rayns Richtung.

Sie verteidigten keineswegs die Bühne vor den Menschen – sondern vielmehr die Menschen vor der Gefahr aus der Luft. Ich hatte mich geirrt. Angst und Hoffnung pulsierten ungeahnt heftig durch meine Adern. Angst um Rayn. Hoffnung darauf, dass das Spektakel schnell ein Ende fand. Zivile Opfer und Schäden an zivilen Einrichtungen hatten meine Mutter bisher nicht interessiert. Die Notwendigkeit eines Gegenangriffs war damit längst gegeben. Die Robobots waren stark, aber wie sollten sie entscheiden, wann welche Form und Intensität von Gewalt angemessen war, um den Angriff von Lanahaa zu stoppen?

Ich nahm an, dass die Robobots eigens dafür geschaffen worden waren, in Konflikten mit dem eigenen Volk zu intervenieren. Es waren vermutlich nicht die wahren Kampfmodelle, die Tekre Indus­tries herstellte. Ihr Algorithmus sollte die Anwendung von Schusswaffen außer zur Verteidigung von Zielpersonen oder Bauwerken nicht wählbar machen. Und sie sollten keine Gewalt im eigentlichen Sinn gegen Menschen anwenden dürfen, auch wenn ihre Waffen tödlich sein konnten und ich gerade jetzt hoffte, dass sie etwas ausrichten würden – ohne Rayn zu treffen.

Auf die Situation, in der wir steckten, war weder Mensch noch Maschine vorbereitet. Außer jemand steuerte die Robobots, die nun zum Leben erwacht waren. Griff der Kaiser durch? Übernahm Verantwortung?

Die Aussicht darauf begann in mir zu arbeiten, wandelte sich in Erleichterung, die zunahm wie die Intensität von Strahlen bei einem Sonnenaufgang. Sie kroch bis zu meinem Gesicht und den Fingerspitzen und wärmte mich von innen.

Langsam begannen meine klammen Hände von Ivans steifen Gliedern abzurutschen. Ich konnte ihn nicht mehr lange halten. Was sollte ich tun?

Schüsse hallten ohrenbetäubend über den ganzen Platz. So laut, dass sie mich aus der Überforderung rissen. Sanft ließ ich den schlanken Körper an mir herabgleiten. Spürte dabei den Atem, der ihm entwich. Er atmete, das war gut, auch wenn seine Gesichtsfarbe bedenklich blass wirkte.

Voll Bedauern legte ich seine Gestalt auf dem Marmor ab. Da ich wusste, dass man Blitzen wenig Angriffsfläche bieten und die Füße zusammenstellen sollte, sodass diese sich berührten und den Boden nur an einer Stelle, platzierte ich Ivans Körper in einer dement­sprechend abgewandelten Version der stabilen Seitenlage. Vielleicht würde das auch bei magischen Energieladungen helfen. Im Moment konnte ich nichts mehr für ihn tun.

Als ich mich unsicher erhob, wurde mir die vorhergehende Hoffnung allerdings auf einen Schlag genommen. Die Schüsse der Robobots verhallten in der Luft, ohne etwas auszurichten. Die noch anwesenden Menschen drängten sich im hinteren Teil des Platzes zusammen. Dort lagen die verstopften Ausgänge. Jegliche Schreie waren verstummt. Die Geräuschvielfalt war durch das Stakkato der Gewehre ersetzt worden.

Klack-Klack-Klack!

Ich blickte nach oben.

In der Luft vollführte Rayn weit ausholende Armbewegungen. Unsichtbare Ströme schienen wie Seile zwischen ihm und meiner Mutter zu verlaufen. Ihre Bewegungen spiegelten sich auf eine eigenartige Weise wie bei einem Paartanz.

Momentan fiel das Ergebnis des Seilziehens, das sie veranstalteten, zu Lanahaas Gunsten aus. Meter für Meter zog sie Rayn näher zu sich. Was würde sie mit ihm machen, wenn sie ihn hatte?

Zutiefst beunruhigt biss ich mir auf die Unterlippe. Sah der Drohnen­armada entgegen, die schon fast die umliegenden Häuser­dächer erreicht hatte. Was würde diese tun, wenn sie bei uns angekommen war? Würde sie feuern? Auf wen?!

Noch einmal blickte ich zu Ivans exponierter Gestalt am Boden. Die Gegend um mein Herz fühlte sich seltsam flüssig an, als ich Bedauern spürte. Alle Gefühle, die die Leere in mir zuvor verschluckt hatte, vermischten sich, während meine inneren Barrieren fielen.

Ich brach fast in die Knie, war nicht darauf gefasst gewesen, dass es sich so anfühlte, wenn das eigene Herz glaubte, das Wichtigste auf­geben zu müssen. Unabsichtlich biss ich mir auf die Zunge und keuchte vor Schmerz. Indes ich den metallischen Geschmack von Blut zusammen mit all dem mentalen Ballast zu verdrängen versuchte, krampfte mein Körper und schüttelte sich, als hätte er plötzlich ein krankhaftes Eigenleben entwickelt. Ekel ließ mich innehalten und wieder einen Fokus finden.

Gefasst hob ich mein Kinn und erstarrte.

Die vier Kugeln, die von Lanahaa zu Beginn erschaffen worden waren, hatten sich durch Lichtschnüre in den Farben der Gilden verbunden. An jeder der Schnüre bildete sich nun, ähnlich eines sich von oben ausrollenden Vorhangstoffs, ein schillernder Schutzschild. Über Häuserdächer, -wände und den betonierten Untergrund ergoss sich die Magie in einer Kaskade aus Energie und schnitt jegliche Fluchtwege ab. An den Ecken vereinte sie sich und umschloss den Platz, die Bühne sowie den Luftraum darüber wie eine kubistische Glocke. Selbst oben hatte sich, ähnlich eines Daches, ein hell glühendes Flicken­werk aus Magie gebildet.

Ich blinzelte einmal und schon schlossen sich die letzten Lücken restlos. Wir waren in einer Art magischer Büchse der Pandora gefangen, aus der es keinen Ausweg gab. Die vier bunten Energiekugeln an den oberen Ecken leuchteten mit jedem verstrichenen Augenblick heller.

Ein seltsames Geräusch ließ mich eine Seite des Schildes genauer betrachten. Ratter, ratter, ratter. Es wurde immer lauter.

Der beachtliche Drohnenschwarm hatte Sekunden zu spät den Schild erreicht und offensichtlich sofort das Feuer von außen eröffnet. Ich konnte nicht genau sehen, mit was geschossen wurde, erkannte nur einzelne Blitze und die Einbuchtungen, die die Geschosse bei ihrem Aufprall am Schild verursachten.

Was, wenn der Schild irgendwann in sich zusammenbrechen würde und das Schussstakkato auf die Menschen niedergehen würde, die nicht mehr hatten fliehen können?

Ein paar wenige magisch Begabte versuchten direkt mutig an den Rändern des Schildes einen Durchgang zu schaffen, schlussfolgerte ich aus ihren Versuchen, es von innen zu attackieren. Soweit ich sehen konnte, erfolglos. Vielleicht schafften wir es aber gemeinsam. Voll Tatendrang sah ich mich auf der Bühne um.

Sir Isaacs schmale Gestalt in blauen Kniebundhosen mit blauem Leinenhemd und einem ebenfalls blauen Barett, seines Zeichens Oberhaupt der Gilde der Gulet, stand noch immer ganz auf der rechten Seite. Sein Blick fixierte voll grimmiger Entschlossenheit die blaue Kugel, die hoch oben fast in direkter Linie über ihm schwebte. Seine Lippen bewegten sich im stillen Klang unausgesprochener Worte, die er wohl schon eine Weile murmelte da er mitten im Singsang war. Seine blau glühenden Hände malten komplizierte Muster in die Luft.

Er versuchte die Kugel zu zerstören, wurde mir klar. Und diese wirkte bei genauerem Hinsehen tatsächlich, als würde ein fein­maschiges Netz aus helleren Energiefäden um sie wachsen. Vielleicht wollte er sein Magiegebilde am Ende zuziehen und die Kugel so zerstören? In Teile schneiden – implodieren lassen?

Der Gedanke an Zerstörung fühlte sich gut an. In meinem Bauch regte sich Wut. Besonders, da ich von den ehemals vier Gildenoberhäuptern, die auf dem Marmor gestanden hatten, nur noch ein weiteres entdeckte. Zwei der vier mächtigsten Vertreter der magischen Begabungen des Kaiserreiches waren übrig, wenn es hart auf hart kam. Die anderen beiden hatten sich heimlich aus dem Staub gemacht; hatten lieber ihre eigene Haut gerettet als die der Menschen, die ihnen ihre Position ermöglichten – ganz wie der Kaiser.

Bitterkeit stieg in mir auf. Missy Verovena, das weibliche Oberhaupt der Gestaltwandler, eigentlich leicht zu erkennen unter den Männern, sowie das Oberhaupt der Veritas, Meister Lemary, mit seinem beachtlichen Wanst und dem großen Schädel, fehlten. Zweiauge, das Oberhaupt der Gilde der Mensay, stand hingegen weiterhin an der Seite von Sir Isaac.

Ich sah, wie das nebelige Weiß der Iriden seine Pupillen fast vollkommen verschluckt hatte. Er sandte noch immer nebelartige Wellen aus und versuchte die übrigen Menschen zu beruhigen. In dem Moment begann seine Gestalt zu schwanken, wohl weil es ihm bereits einiges abverlangte, so viele so lange gleichzeitig zu beeinflussen.

Sir Isaac, ein Mann weniger Worte, hakte ihn unter, ohne in dem innezuhalten, was er tat. Zweiauge zu stabilisieren kostete ihn kurz­zeitig die Bewegungsfreiheit seiner Hände, doch seine Lippen bewegten sich weiter.

Mein Blick schnellte nun ganz nach rechts, wo ich Sinessa vermutete. Wenn er sich nicht auch aus dem Staub gemacht hatte.

Mit großer Überraschung registrierte ich, dass er noch auf der gleichen Position wie zu Beginn der missglückten Zeremonie stand und sein Blick sowie der von Sir Isaac auf eine der Kugeln über uns gerichtet war. Er fixierte die gelbe und schickte Feuerbälle nach oben. Schweiß lief ihm über die Stirn und die Wangen. Er arbeitete wohl auch schon eine Weile daran. Sein Körper flackerte im Gelb seiner Gildenmagie und doch musste er auch mindestens doppelt begabt sein.

Feuer – meine Gabe. Die Entdeckung verband uns enger, als mir lieb war. »Habe ich das von ihm geerbt?«, flüsterte ich unwillkürlich. Dass Sinessa auch nur einen Finger krümmte, geschweige denn für etwas schwitzte, brachte ich nicht mit meinem Bild von ihm in Einklang. Er kämpfte gerade auf der richtigen Seite. Das erste und einzige Mal, so vermutete ich. Eine Macht, die alles zu zerstören drohte, verbündete sogar Todfeinde.

Ich schöpfte aus meiner wiedererwachten Kraft und macht es wie bei der letzten Aufgabe der Wahl. Meine Gedanken schufen ein Bild, das so echt, so lebendig wurde, dass ich es nicht nur vor meinem inneren Auge, sondern schließlich auch in der Realität sah: Mit bloßen Händen formte ich zwei immer größer werdende und heller brennende Feuerbälle.

Ich schleuderte je einen in Richtung der weißen und der grünen Kugel.

Mein Feuer erreichte die Kugeln jedoch nicht. Es war nicht heiß genug und erlosch auf dem Weg. Wenigstens hatte ich es probiert. Aber ich brauchte eine effektivere Kraftquelle. Mein Körper regenerierte sich viel zu langsam. Oder … Vielleicht musste ich einfach üben und besser werden?

Ein Funkeln im Augenwinkel zeigte mir, zusammen mit dem unablässigen Klack-Klack-Klack!, dass die Robobots noch immer feuerten. Doch war in einer Luft, die aus gelenkten Luftströmen und magischen Energieladungen bestand, wohl kein normales Verlaufen jeglicher Flugbahnen möglich.

Meine Mutter und Rayn grillten sich indes hoch oben wie Zitter­aale, die durch einen magischen Faden verbunden waren. Ich sah, wie Schmerz ihrer beider Gesichter verzerrte, als Rayn wieder und wieder seine Elementarkraft, die sein Haar schon bei unserer ersten Begegnung hatte leuchten lassen, entfesselte. Plötzlich verstand ich, dass er das Tauziehen nur mitgespielt hatte, um näher an sie heranzu­kommen. Um sie in dem Glauben zu wiegen, dass sie gewann, während er sich einen Vorsprung verschaffte, sie immer näher an sich band, um die beste Chance zu erhalten, seine Energie ohne Verlust in sie fließen zu lassen. Sie von innen heraus auseinanderzureißen oder etwas in der Art. Nun hieß es: mitgefangen, mitgehangen und sie litten beide.

Während ich neue Feuerbälle formte – dieses Mal war es einfacher, wohl weil ich den Dreh raushatte –, stieg eine Erinnerung in mir auf. Ich hatte einmal in meinem ersten Semester halbautonome Robobots mit Elektroschockpfeilen bei einer Kundgebung an meiner Uni beobachtet. Sie waren zusätzlich mit Tränengas ausgerüstet gewesen und hatten beides eingesetzt, als sich ein paar meiner Kommilitonen nicht mit Worten davon hatten abbringen lassen, die ungenehmigte Kundgebung zu beenden. Jeder Pfeil, der sein Ziel getroffen hatte und das daraufhin zitternde Häufchen Mensch hatte ein Bild des Grauens vor meine Augen gezeichnet.

Aber das hier – das war weit schlimmer.

Ich schickte meine Feuerbälle in die Senkrechte, ohne ihre Flugbahn zu verfolgen.

Taumelte leicht, bevor ich mich auf meinen Stand und mein Wissen konzentrierte. Wenn ich mich nicht irrte, begann dort oben bei meiner Mutter und Rayn bereits die Phase der Muskelver­krampfungen. Ich wusste, dass fast alle menschlichen Organe aufgrund elektrischer Impulse, die vom Gehirn ausgehen, funktionieren. Dass diese Impulse unsere Bewegungen steuern, dass sie für unsere Sauerstoffversorgung und dadurch indirekt unsere Hirntätigkeit verantwortlich sind. Denn ich hatte unmittelbar nach der Kundgebung einiges nachgelesen.

Die Gefahr des Herzkammerflimmerns war nun bei Lanahaa und Rayn allgegenwärtig. Und würde es zu Herzrhythmusstörungen kommen, könnte als Folge davon die Herztätigkeit ausfallen. Es käme höchstwahrscheinlich zum Kreislaufstillstand. Aufgrund des Sauerstoffmangels würde dies schon nach kurzer Zeit zu einer Schädigung des Gehirns führen. Spätestens dann würden sie abstürzen und mit ihnen die vier Kugeln, die meine Mutter zu Beginn geschaffen hatte und bestimmt noch immer kontrollierte.

Der Schild, der die Projektile der Drohnen von uns trennte, würde seiner Magiequelle beraubt, im Bruchteil einer Sekunde erlöschen. Und wir würden sterben – genau wie Lanahaa und Rayn. Die Drohnen würden uns erwischen, sie würde entweder der Sauerstoffentzug, der Aufprall ihrer Körper am Boden oder einer der Robobots mit seinem Gewehr töten.

Kalte Schauer liefen mir den Rücken hinunter.