Amerikas Gotteskrieger - Annika Brockschmidt - E-Book

Amerikas Gotteskrieger E-Book

Annika Brockschmidt

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Beschreibung

Sie lehnen alles Staatliche ab, propagieren "White-Supremacy", kämpfen gegen Abtreibung, befürworten erzkonservative Geschlechterrollen und wähnen sich im Krieg gegen satanische Mächte: die Religiöse Rechte in den USA. Seit Jahrzehnten baut diese Bewegung ihre landesweite Infrastruktur aus Organisationen und Medienimperien immer weiter auf, unter der Regierung Trump konnten zahlreiche ihrer Vertreter Posten im Weißen Haus und in den Gerichten besetzen. Annika Brockschmidt geht der Geschichte der heutigen Religiösen Rechten in den USA von den 1960er Jahren bis heute nach und entfaltet das Spektrum einer vielschichtigen Gruppierung, die mittlerweile über Sieg und Niederlage bei Präsidentschaftswahlen entscheiden kann - und den Ton in einer der beiden großen Parteien des Landes angibt. Sie deckt ihre politische Agenda auf und zeigt, wie Geschichtsrevisionismus, Nationalismus, Autoritarismus, Verschwörungsdenken, Apokalypse-Sehnsucht und Rassismus die Religiöse Rechte von Beginn an geprägt haben. Ihre Vertreter sind heute längst im Zentrum der Macht angekommen. Trumps Niederlage war nicht das Ende der Religiösen Rechten in den USA – genauso wenig, wie seine Präsidentschaft ihr Beginn war. 

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Seitenzahl: 582

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Annika Brockschmidt

Amerikas Gotteskrieger

Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet

 

 

 

Über dieses Buch

Präsident Trump lässt sich im Oval Office von evangelikalen Funktionären die Hand auflegen, seine spirituelle Beraterin ist eine radikale Fernsehpfarrerin. Fundamentalistische Weiße Christen waren entscheidend für seinen Wahlsieg 2016 und werden ein Faktor der amerikanischen Politik bleiben. Ihr religiöses Sendungsbewusstsein verbindet sich mit «White Supremacy»-Gesinnung und Hass auf alles Staatliche. Doch wer genau sind diese Leute?

Annika Brockschmidt erläutert das Spektrum der christlichen Rechten in den USA und warum ihre Anhänger glauben, dass sie sich im Krieg gegen satanische Mächte befinden und individueller Reichtum Ausdruck von göttlicher Erwähltheit ist. Sie analysiert den wachsenden Erfolg der «Televangelists» und zeigt die Wurzeln der Bewegung ebenso auf wie die Verbindungen zum Kabinett Trump – ein aktuelles, aufrüttelndes Buch.

Vita

Annika Brockschmidt hat Geschichte, Germanistik und War and Conflict Studies in Heidelberg, Durham und Potsdam studiert. Sie ist freie Journalistin und Autorin, hat für das ZDF-Hauptstadtstudio gearbeitet und den vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft ausgezeichneten Podcast «Science Pie» coproduziert. Sie schreibt unter anderem für den Tagesspiegel, ZEIT Online und ZEIT Geschichte. Außerdem produziert sie derzeit den Podcast «histoPOD» für die Bundeszentrale für politische Bildung. 

Inhaltsübersicht

Widmung

Macht – in Gottes Namen

Kreuz und Flagge

Die Erfindung der Geschichte

Die Suche nach der Agenda

Gotteskrieger im Weißen Haus

Von irdischen Herren

To Rule Them All

Eine disziplinierte Armee

«Säe und du wirst ernten»

Jesus ist ein Navy Seal

Die reine Nation

Wolfskönige

Ströme von Blut: Der Kulturkampf

Kleine Soldaten

Das Ende naht – Verschwörungsglaube

Die Plage

Die neue Dolchstoßlegende

Sturm auf das Kapitol

«Onward, Christian Soldiers»

Dank

Ausgewählte Literatur zum Thema

Für meine Eltern. Danke für alles.

Macht – in Gottes Namen

«Danke, dass du den Vereinigten Staaten erlaubt hast, wiedergeboren zu werden. Danke, dass du uns erlaubt hast, uns der Kommunisten, der Globalisten und der Verräter in unserer Regierung zu entledigen. Wir lieben dich und wir danken dir. Wir beten in Christus’ heiligem Namen.» – Jacob Chansley, ein Angreifer beim Sturm auf das Kapitol, in der Senatskammer, innehaltend zum Gebet[1]

Auf den Transparenten stand «Jesus rettet», christliche Flaggen wehten im Wind, «God, Guns and Guts made in America, let’s keep all three» lautete eine Parole. Eine Menschengruppe betete laut, versammelt um ein großes Holzkreuz, die Köpfe geneigt. Viele von ihnen gehörten zu derselben Menge, die später mit Fahnenstangen auf Polizisten einprügelte, sie mit Bärenspray angriff und die Fenster des Kapitols einwarf. Einige machten sich mit «Hängt Mike Pence!»-Rufen auf die Suche nach dem Vizepräsidenten – der Galgen stand draußen schon bereit.

In Amerika und weltweit verfolgten Menschen live vor dem Fernseher den Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021, bei dem ein bewaffneter Mob, aufgestachelt vom damaligen Präsidenten Donald Trump, einigen Republikanischen Politikern und Aktivisten, die Capitol Police überwältigte und stundenlang das Kapitol besetzte, jenes Gebäude, das wie kein zweites die amerikanische Demokratie symbolisiert. Bei aller Unübersichtlichkeit der Lage fiel auf, wie häufig die Kombination christlicher Symbole mit solchen der White Supremacy-Bewegung war. Dieser Schulterschluss sorgte bei vielen Zuschauern für Verwirrung: Weshalb marschierten hier betende Menschen neben radikalen Nationalisten und Rassisten, um Politikern nach dem Leben zu trachten?

Es handelte sich hierbei nicht um Zufall, sondern um eine seit langem geschmiedete Allianz. Der Christliche Nationalismus, den man am 6. Januar beobachten konnte, tauchte nicht erst mit Donald Trump auf der politischen Bühne auf. Bei näherem Hinsehen war es auch wenig überraschend, dass Rassismus das verbindende Element zwischen der Religiösen Rechten und White Supremacists darstellte: Schon bei den Anfängen der organisierten modernen Religiösen Rechten in den 1960er Jahren war Rassismus die treibende Kraft. Dieses Buch nimmt den Einfluss der modernen Religiösen Rechten in den USA von ihrer Entstehung bis heute systematisch in den Blick und erzählt die Entwicklung einer komplexen, heterogenen Bewegung, die bereits seit Jahrzehnten Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft und Politik nimmt und die maßgeblich für die tiefe Spaltung des Landes verantwortlich ist.

Die Spur des Christlichen Nationalismus zieht sich durch die amerikanische Geschichte. So politisch einflussreich wie heute konnte er allerdings nur durch eine straff organisierte Religiöse Rechte werden. Unter dem Begriff versammelt sich eine Vielzahl von unterschiedlichen Gruppierungen. Sie erkennen die Trennung von Kirche und Staat nicht an, sondern träumen davon, Amerika für Gott «zurückzugewinnen», die christliche und amerikanische Identität sind für sie untrennbar miteinander verbunden. Anhänger der Religiösen Rechten streben eine Gesellschaftsordnung an, in der Gott nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in politischen Institutionen und Gesetzen präsent ist. Sie wollen ein Amerika, in dem konservative Christen alle säkularen Institutionen des Landes besetzen und diese nach ihrem Verständnis im Sinne Gottes leiten.[2] Es geht um die Durchdringung der Gesellschaft in all ihren Bereichen, sei es in der Politik oder im Kulturbetrieb, in der Justiz, im Bildungssystem oder in den Medien. Um ihr Ziel einer durch und durch christlichen Nation zu erreichen, baute die Religiöse Rechte in den letzten Jahrzehnten ein hocheffizientes Netzwerk aus Medienimperien, Kirchen, Organisationen und Lobbygruppen auf, dessen erfolgreiche Wählermobilisierung ihr langsam, aber sicher den Weg ins Machtzentrum von Washington ebnete.

Wer die aktuelle politische Situation in den USA verstehen will, muss die Denkmechanismen der Religiösen Rechten, das Knäuel aus Kulturkampf, Ideologie, Apokalypse-Sehnsucht, Verschwörungsdenken und Macht entwirren. Diese Verbindungen haben dazu geführt, dass es ein Kandidat wie Donald Trump ins Weiße Haus geschafft hat – und dass auch nach dessen Amtszeit eine straff organisierte Bewegung die demokratischen Grundprinzipien der Vereinigten Staaten systematisch untergräbt.

Trump war nicht das Ende. Längst besitzen die religiösen Hardliner eine landesweite politische Infrastruktur, die eingespielt ist und schnell reagieren kann. Bereits seit mehreren Jahrzehnten spielt die Religiöse Rechte das «long game», sie ist zu einem Powerplayer der amerikanischen Politik geworden, dessen hartnäckige Beständigkeit selbst amerikanische Polit-Profis überrascht zu haben scheint. Immer wieder veröffentlichten Medien Nachrufe auf die Religiöse Rechte, prophezeiten ihren Niedergang. Jedes Mal lagen sie falsch.

Der Christliche Nationalismus wie auch die Religiöse Rechte in den USA sind zutiefst politisch, mit realen Machtambitionen und dank Großspendern mit scheinbar unerschöpflichen finanziellen Mitteln gesegnet. Die moderne Religiöse Rechte hat es durch geschickte politische Themensetzung in den Kulturkämpfen geschafft, frühere Konflikte zwischen Denominationen (Konfessionen) zu überwinden und ihre Basis zu einem effektiven Wählerblock zu formieren.

Dabei bildeten sich in den letzten Jahrzehnten auch neue Allianzen, teils auf der Basis rein wirtschaftlicher Interessen: Neben den Sozial-Konservativen der Republikanischen Partei, die sich mit dem Christlichen Nationalismus identifizieren, ging die Religiöse Rechte auch ein Bündnis mit Neoliberalen ein. Die Verbindungen von Superreichen und radikalen Hardlinern waren essenziell, um das heutige, weit verzweigte Netzwerk der Religiösen Rechten aufzubauen und dadurch massiven Einfluss auf die amerikanische Politik zu nehmen. Einfluss, der schwer nachzuverfolgen ist, weil sich so viele ihrer Think Tanks und Verbände als offiziell unparteiische Wohltätigkeitsorganisationen diverser steuerlicher und gesetzlicher Vorteile erfreuen. Der Oberste Gerichtshof hat, dank der Religiösen Rechten mit einer erzkonservativen 6:3-Mehrheit, im Sommer 2021 seine Hand schützend über die Flüsse von ebenjenem Dark Money gehalten, den nicht nachverfolgbaren Großspenden. Und auch eine weitere Strategie der Religiösen Rechten, um als Minderheit noch an der Macht zu bleiben, wurde vom Obersten Gerichtshof für verfassungskonform erklärt: ein Gesetz in Arizona, das es für BPoC(Black and People of Colour) schwerer macht, wählen zu gehen. Im nächsten Term des Supreme Courts stehen zwei weitere Kernanliegen der Religiösen Rechten an: Abtreibung und Waffenrecht.

Gleichzeitig wird in den USA derzeit ein Kampf um die Deutungshoheit über die eigene Geschichte ausgefochten. Der Geschichtsrevisionismus, der es bis in staatliche Schulen geschafft hat, ist eine der wichtigsten Waffen Christlicher Nationalisten. Lange vor Filterblasen auf Twitter und Facebook hatte die Religiöse Rechte bereits begonnen, ihre eigenen Medienimperien aufzubauen. Religiöse Identität, das soll hier gezeigt werden, besteht aus viel mehr als nur Theologie. Mindestens ebenso stark wird sie geprägt durch Tradition, Politik und Gemeinschaft sowie durch Pop- und Konsumkultur wie Musik, Filme oder Bücher, durch Geschlechtervorstellungen und Definitionen davon, wer «dazugehört» und wer nicht.

In diesem Buch wird nachgezeichnet, wie die Religiöse Rechte Gewalt sakralisiert, als Werkzeug zur Verteidigung einer christlichen Gesellschaftsordnung überhöht und moralisch rechtfertigt.[3] Die Verbindung aus rechten christlichen Medien, Predigern des Wohlstandsevangeliums und gesellschaftlichen Strömungen innerhalb des Christlichen Nationalismus hat in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Radikalisierung des politischen Dialogs geführt.

Doch vor allem waren es die Fußsoldaten, die christlichen Wähler, die am 3. November 2016 zur Wahl gingen, auf ihrem Stimmzettel «Trump» ankreuzten und ihn ins Weiße Haus brachten. Wer die Kirchen in strategisch wichtigen Staaten mobilisiert, so der Gedanke, gewinnt Wahlen. Genau das geschah 2016: Zwischen 79 und 81 Prozent der Weißen Evangelikalen stimmten 2016 für ihn, vor allem diejenigen, die am häufigsten in die Kirche gehen.[4] Politische Beobachter und Analystinnen hatten die Koalition aus der Religiösen Rechten und der sogenannten Alt-Right, der extremen Politischen Rechten unter Führung von Steve Bannon, nicht vorhergesehen: Trumps Wahlkampf bespielte höchst effektiv die nativistischen Anwandlungen beider Bewegungen. Viele unterschätzten außerdem die bemerkenswerte Fähigkeit der amerikanischen Religiösen Rechten, Niederlagen zu ihrem eigenen Nutzen zu verwenden und ihren jahrzehntelang gehegten Plan umzusetzen, die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit zu etablieren, indem sie sich Schlupflöcher im amerikanischen demokratischen System zunutze machte. Wer erwartet hatte, dass Weiße Evangelikale Trump 2020 nach vier Jahren skandalträchtiger Regierungszeit nicht mehr die Treue halten würden, wurde eines Besseren belehrt: 2020 stimmten mit 84 Prozent mehr von ihnen für Trump als noch 2016.[5] Verluste hatte er vor allem unter nicht-religiösen Amerikanern zu verbuchen.[6]

Es genügt jedoch nicht, nur auf Weiße Evangelikale zu schauen, auch wenn sie einen signifikanten Einfluss auf die christlich-nationalistische Kultur haben, denn auch 60 Prozent Weißer Katholiken und 58 Prozent der Protestanten und anderer christlicher Glaubensrichtungen sowie 61 Prozent der Mormonen wählten mit Donald Trump 2016 den Kandidaten des Christlichen Nationalismus.[7] Das Unverständnis, mit dem von vielen Seiten auf das Bündnis von Trump und der Religiösen Rechten reagiert wurde, lässt sich auflösen, wenn wir genauer auf das Selbstverständnis Christlicher Nationalisten schauen, ihre Motivation ergründen sowie ihre Vorstellungen von einem politischen Anführer analysieren.

Das Bedürfnis nach einem stark auftretenden, rassistische Ressentiments bedienenden Anführer, der es «den Linken» mal so richtig zeigt und die angeblich christliche Identität des Landes bewahrt, indem er klare Grenzen zwischen «wahren» und «falschen» Amerikanern zieht, ist auch nach Trumps Niederlage 2020 noch vorhanden, vielleicht sogar stärker denn je. Die Basis scheint noch motivierter als zuvor, der Einfluss des Trumpismus auf die Republikanische Partei, der sich durch einen aggressiven Christlichen Nationalismus auszeichnet, ist ungebrochen – auch wenn unklar ist, wie die Zukunft Trumps selbst aussieht. Unabhängig von seiner Rolle in der Republikanischen Partei – sein Erbe, die «Große Lüge» von der gestohlenen Wahl, wird bleiben und die Basis motivieren.

Wer diese Bewegung als Eskapaden einiger religiöser Fanatiker abtut, verkennt ihre Mobilisierungskraft und ihre Zielsetzung. Trumps Präsidentschaft ist ein Kapitel in der einflussreichen Geschichte der Religiösen Rechten – aber es wird keineswegs das letzte sein. Stattdessen war Amerika unter Trump eine Vorschau auf das, was die Zukunft bringen kann. Die Wahl 2020 hat der Religiösen Rechten erneut gezeigt, wie weit sie gehen kann. Die Fähigkeit der Bewegung, aus Niederlagen zu lernen, darf nicht unterschätzt werden – denn sie denkt in anderen Zeiträumen als ihre politischen Gegner. Statt von Wahl zu Wahl rechnet man in der Religiösen Rechten in Jahrzehnten und Jahrhunderten. Eine verlorene Wahl macht da wenig aus. Denn ein Blick auf die Geschichte macht deutlich, dass der Religiösen Rechten die Wiederauferstehung gerade dann oft gelungen ist, wenn man sie bereits für tot erklärt hatte.

Kreuz und Flagge

«Das Christentum wird Macht haben. Wenn ich da bin, habt ihr viel Macht, ihr braucht niemand anderen. Ihr werdet jemanden haben, der euch sehr, sehr gut repräsentiert. Merkt euch das.» – Donald Trump[1]

Einer der Schlüsselmomente des Wahlkampfs 2016 war ein Satz der Rede, die Trump im Januar in Iowa vor evangelikalen Zuschauerinnen und Zuschauern im christlichen Dordt College in der Stadt Sioux Center gehalten hat. Dort machte er die berühmte Aussage, er könne auf der 5th Avenue stehen und jemanden erschießen und würde trotzdem keine Wählerstimmen verlieren. Die mediale Empörung über diese Äußerung überschattete – wie so oft – den eigentlichen Kern von Trumps Rede. Denn was er den Menschen an diesem Tag erzählte, hätte viel über seine Wahlkampfstrategie verraten können. Das Christentum sei im Belagerungszustand, rief er der Menge zu. Sie, die gläubigen Christen, seien eine unterdrückte Gruppe. Die Botschaft war deutlich: Ihr seid die Opfer, und es herrscht Krieg, aber ich werde für euch kämpfen.[2]

Es war ein klares Versprechen an die Religiöse Rechte, die nach acht Jahren Obama Morgenluft witterte. Hier war jemand, der Christlichen Nationalismus ins Herz von Washington, ins Weiße Haus führen würde.

Wenn in diesem Buch über Christlichen Nationalismus gesprochen wird, dann ist damit nicht das Christentum als Oberbegriff für verschiedene Glaubensgemeinschaften gemeint, die teils sogar im Gegensatz zu den darin vertretenen Überzeugungen stehen. Christlicher Nationalismus muss vielmehr als kulturelles Phänomen verstanden werden, das zwar stellenweise seine Legitimation aus der Bibel ableitet, aber das in erster Linie eine politische, keine rein religiöse Bewegung ist.

Die Religiöse Rechte beruft sich zwar auf die Unfehlbarkeit der Bibel und belegt ihre Positionen mit entsprechenden Stellen aus dem Neuen und Alten Testament, aber sie geht dabei sehr selektiv vor. Ihr Gott ist nicht versöhnend und sanft, sondern rachsüchtig und kriegerisch. Es gibt große Überschneidungen zwischen Christlichem Nationalismus und Protestantischem Fundamentalismus, der sich ebenfalls durch eine wörtliche Auslegung der Bibel konstituiert. Die Rolle Israels im Alten Testament wird dieser Ansicht nach in der Gegenwart durch das amerikanische Volk erfüllt – daher seien die Forderungen, die Gott im Alten Testament an Israel stellt, als Leitlinien für das Verhalten Amerikas heute zu sehen.[3]

Die Forscher Samuel L. Perry und Andrew L. Whitehead haben 2020 mit ihrem Buch Taking America Back for God die erste umfassende quantitative Datenerhebung zu Christlichem Nationalismus in Amerika veröffentlicht. Ihre Untersuchung ist enorm hilfreich, wenn man die Grundzüge dieser vielschichtigen Strömung verstehen will. Die Autoren werten in ihrer Umfrage die Zustimmung oder Ablehnung der Probanden zu sechs Statements aus – von «stimme völlig damit überein» zu «lehne völlig ab».

1. «Die Regierung sollte die USA zu einer christlichen Nation erklären.»

2. «Die Regierung sollte christliche Werte bewerben.»

3. «Die Regierung sollte eine strenge Trennung von Kirche und Staat durchsetzen.»

4. «Die Regierung sollte die Ausstellung religiöser Symbole an öffentlichen Plätzen erlauben.»

5. «Der Erfolg der USA ist Teil von Gottes Plan.»

6. «Die Regierung sollte Beten in staatlichen Schulen erlauben.»[4]

Perry und Whitehead teilten ihre Probanden entsprechend der Ergebnisse in vier Kategorien ein: Auf der einen Seite stehen «Rejecters» (21,5 Prozent), die Christlichen Nationalismus komplett ablehnen, und «Resisters» (27 Prozent), die ihm zumindest mit Unbehagen begegnen. Auf der anderen Seite finden sich «Accomodators» (32,1 Prozent) – Menschen, die den Ideen des Christlichen Nationalismus eher zugeneigt sind, und «Ambassadors» (19,8 Prozent), eine Gruppe, die dessen Werte nicht nur stark befürwortet, sondern auch aktiv predigt. Knapp mehr als die Hälfte aller Amerikanerinnen und Amerikaner, 51,9 Prozent, sind dieser repräsentativen Umfrage zufolge entweder starke Befürworter des Christlichen Nationalismus oder tendenziell eher positiv dazu eingestellt.[5] 49 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, dass die Bibel «großen» oder «einigen Einfluss» auf die Gesetze der USA haben sollte, unter amerikanischen Christen glauben das sogar 68 Prozent.[6]

Unter dem Begriff Christlicher Nationalismus finden sich konservative Katholiken ebenso wie Pfingstkirchler, Charismatiker (ebenfalls in pfingstkirchlicher Tradition), Wohlstandsevangelisten, Calvinisten und Baptisten, aber auch orthodoxe Juden, Mormonen und Menschen, die keiner bestimmten Glaubensgemeinschaft angehören oder nicht regelmäßig zur Kirche gehen. Diese Pluralität innerhalb der Bewegung soll in diesem Buch mit der Benutzung der Begriffe «Religiöse Rechte», «Christliche Rechte» und «Christliche Nationalisten» betont werden. An Stellen, wo der Einfluss vor allem Weißer Evangelikaler auf die Bewegung näher erläutert wird – denn dieser ist beachtlich –, wird diese Gruppe Gläubiger explizit genannt. Weiße Evangelikale machten 2020 laut Umfrageergebnissen 14 Prozent der Gesamtbevölkerung aus – ein drastischer Abstieg von noch 23 Prozent im Jahr 2006. Damit fallen Weiße Evangelikale hinter die Weißen Mainline-Protestanten zurück. Weiße Christen insgesamt machten 2020 44 Prozent der amerikanischen Bevölkerung aus, ein leichter Anstieg seit 2018.[7]

Der Begriff «Evangelikale» ist ebenfalls ein Sammelbegriff, der Baptisten, Methodisten, Pfingstkirchler, evangelikale Episkopale und Anglikaner, Pietisten sowie Anhänger der reformierten Kirchen umfasst – aber auch Christen, die sich keiner speziellen Glaubensrichtung zuordnen, sich aber als «evangelikal» bezeichnen. Die derzeit wohl gängigste Definition des Evangelikalismus ist das Bebbington’sche Viereck, geprägt durch den Theologen und Evangelikalen David B. Bebbington. Er nennt als die vier zentralen Säulen Biblizismus, Kruzifizismus, Konversionismus und Aktivismus, also die besondere Relevanz der Bibel als das unfehlbare Wort Gottes, die Hervorhebung der zentralen Rolle des Kreuzes und des Leidens Jesu, die Missionierung und Verbreitung des Glaubens sowie der religiöse Aktivismus.

Diese Merkmale sind jedoch sehr weit gefasst und bei näherem Hinsehen nicht immer hilfreich bei der Identifizierung der Gruppe. Viele Evangelikale formulieren ihre eigenen Glaubenssätze, andere betonen die Relevanz einer persönlichen Beziehung zu Gott, da der einzige Weg zur Erlösung die persönliche Akzeptanz von Jesus als Herr und Retter sei. Dieses spirituelle Erlebnis, oft «Born-Again»-Erfahrung genannt, markiert den Beginn einer neuen Identität als evangelikaler Christ.

Bebbingtons Standard-Definition wurde in den letzten Jahren vermehrt kritisiert, weil sie die politischen und weltanschaulichen Aspekte ausklammere und bestimmte Entwicklungen verharmlose. Eine neue Generation (teils selbst evangelikaler) Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wirft führenden Intellektuellen des Evangelikalismus vor, eine geschönte Geschichte ihrer Glaubensgemeinschaft vorgelegt zu haben. Durch ihre rein theologische Definition hätten sie zu der «Überraschung» beigetragen, mit der die Öffentlichkeit auf die enorme Unterstützung Donald Trumps durch Weiße Evangelikale reagiert habe.[8] So argumentiert beispielsweise der Historiker Michael S. Hamilton, dass Bebbingtons Viereck längst zu einem Achteck ausgeweitet worden sei: Zu den vier Säulen seien Christlicher Nationalismus, Christlicher Tribalismus, politischer Moralismus und Antistatismus hinzugefügt worden, also der Glaube daran, dass die USA eine christliche Nation seien, Weiße evangelikale Identitätspolitik, die Überzeugung, dass Politik von christlicher Moral geprägt sein solle, und der Wunsch nach einem Staat, der hart gegen moralische Verfehlungen durchgreift, sich aber in wirtschaftlichen Fragen raushält. «Weiße Evangelikale sind generell beunruhigter über die Ausweitung von staatlichen Programmen, die kostenloses Essen an kleine Kinder verteilen, als über die Ausweitung von staatlichen Gefängnissen oder die Erweiterung der Größe und Feuerkraft der lokalen Polizeikräfte», schreibt Hamilton.[9]

Die Geschichte des Weißen Evangelikalismus in den USA weist ein Muster auf: Gemäßigtere Evangelikale setzen sich immer wieder öffentlichkeitswirksam von den angeblichen «Randfiguren» mit extremeren Ansichten ab. «Als Evangelikale der Arbeiterklasse um 1900 begannen, in fremden Zungen zu sprechen, erklärten ‹respektable› Evangelikale die Bewegung als eine Wahnidee Satans. Das sind nicht wir, betonten sie», schreibt der Historiker Timothy Gloege über das Talent scheinbar moderater Evangelikaler, sich von den für sie peinlichen Extremen ihrer Bewegung abzusetzen, die aber längst im Mainstream gelandet waren. In den 1940er und 1950er Jahren, analysiert Gloege, hätten «respektable» Evangelikale diese Technik perfektioniert: «Indem sie das fundamentalistische Label ablegten (obwohl sie nahezu identische Dinge glaubten), schufen sie eine neo-evangelikale Identität, durch die sie sich von Verschwörungsideologen und Kommunisten-Hassern distanzieren konnten. Seitdem sind die toxischen Nebenprodukte ihrer Bewegung aus dem evangelikalen Lager verbannt worden. Ob Televangelisten-Skandale oder Jeremiaden darüber, dass Hurrikans eine Strafe Gottes seien, oder homosexuellenfeindliche Proteste bei Militärbegräbnissen: Das sind nicht wir.»[10]

Gloege und andere treten für eine Neu-Schreibung der Geschichte des Evangelikalismus ein und fordern eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen ihrer eigenen theologischen Tradition. Mit dem Beharren auf dem Bebbington’schen Viereck gelinge dies nicht: «Anstatt Selbstreflexion zu inspirieren, lässt es Evangelikale die schweren Fragen ignorieren, während die Bewegung, die sie geholfen haben heraufzubeschwören, das Land niederbrennt», schließt Gloege.

Evangelikalismus ist mehr als ein Bündel theologischer Standpunkte. Wenn in diesem Buch also von «Evangelikalen» die Rede ist, sind damit Weiße Evangelikale mit konservativer Ausrichtung gemeint. Das ist deswegen wichtig, weil die Entwicklung der «Black Church» sich stark von der Geschichte des Weißen Evangelikalismus unterscheidet. Natürlich gibt es auch BPoC, die Mitglieder in evangelikalen Kirchen sind. Doch es hat einen Grund, dass Schwarze* Gläubige, die theologische Übereinstimmungen mit Evangelikalen haben, sich trotzdem nicht als solche bezeichnen. Jemar Tisby, der Gründer der Organisation The Witness: A Black Christian Collective und selbst über viele Jahre evangelikal, hat sich in zahlreichen Texten mit dieser Frage auseinandergesetzt und festgestellt, dass Schwarzen Christen in Weißen evangelikalen Räumen rasch Grenzen aufgezeigt werden.[11] Laut Tisby gibt es für ihn im Weißen Evangelikalismus keinen Platz. Er ist einer von vielen Schwarzen Christen, die ihre Weißen oder multiethnischen evangelikalen Kirchen verlassen haben. 2018 veröffentlichte die New York Times einen Artikel mit dem Titel A Quiet Exodus: Why Black Worshipers Are Leaving White Evangelical Churches. Schwarze Gläubige seien mit ihren Versuchen, Rassismus und White Supremacy innerhalb des Weißen Evangelikalismus zu thematisieren, gegen verschlossene Türen gerannt. Unter dem Hashtag #LeaveLoud erzählen sie nun ihre Geschichten – auf Twitter und im Podcast von The Witness: Black Christian Collective. Während Schwarzer Evangelikalismus oft eher auf den «Social Gospel» ausgerichtet ist und in der Tradition der «Liberation Theology» und damit auch der Sklavenbefreiung steht, geht der Evangelikalismus, der für die Entstehung und Beschaffenheit des Christlichen Nationalismus relevant ist, mit expliziten Konnotationen von Whiteness einher.

Wenn wir uns also die Geschichte des Weißen Evangelikalismus ansehen, wird rasch deutlich, was Historikerinnen, Soziologen, Theologinnen und Aktivisten, teils auch aus der (ehemaligen) evangelikalen Szene, wie Kristin Kobes Du Mez, Andrew Whitehead, Samuel L. Perry, Bradley Onishi, Chrissy Stroop und Bruce Chastain in den letzten Jahren aufgezeigt haben: Religion ist mehr als die Summe von Glaubenssätzen. «Religiöser Glaube ist nicht beschränkt auf eine Reihe theologischer Ideen, denen man sich verschreibt oder nicht – so hat Religion historisch nicht funktioniert und tut es auch heute nicht. Man sieht beispielsweise in den USA eine Reihe gläubiger, regelmäßig in die Kirche gehender Evangelikaler, die quasi theologische Analphabeten sind. Das bedeutet aber nicht, dass sie keine Christen sind: Sie sind trotzdem tiefreligiös», sagt die Historikerin Kobes Du Mez. Statt durch theologische Debatten sei ihr Glaube vor allem durch ihre Umgebung geprägt: ihre Pastoren, ihre Bibelkreise, die Filme, die sie sehen, die Musik, die sie hören, die Bücher, die sie lesen.[12]

Dieser Ansatz ist essenziell, um das Erstarken der Religiösen Rechten und die Folgen für die amerikanische Gesellschaft zu verstehen. Nicht allein die Bibel, sondern Kultur, Gender, Politik und race* spielen eine Rolle bei der Herausbildung von derchristlichen Identität, die für Christliche Nationalisten so untrennbar mit der amerikanischen Identität verschmolzen ist. So verständlich es auch ist, dass progressive Christen sich von dieser antidemokratischen Bewegung abgrenzen wollen und das auch tun, ist es dennoch problematisch, Christliche Nationalisten als «falsche Christen» zu framen. Der Religionswissenschaftler Bradley Onishi erläutert: «Als Wissenschaftler muss ich sagen: Natürlich sind das Christen. Sie sagen mir, sie sind Christen, sie verwenden christliche Texte, sie benutzen christliche Symbole.»[13] Sie beziehen sich genauso auf die Bibel wie andere, und die Religionsgeschichte lehrt uns, dass es keine «reine» Interpretation eines religiösen Textes gibt. Deshalb ist es umso wichtiger, den größeren Kontext des Christlichen Nationalismus zu betrachten. Nur wenn die Mischung von White Supremacy, entfesseltem Kapitalismus, Gender, Sexualität, dem Streben nach politischer Macht, autoritären und teils faschistischen Tendenzen analysiert wird, ist es möglich, die Bewegung nicht einfach als angebliche Randerscheinung der extremen Religiösen Rechten abzutun.

An dieser Stelle ist es trotzdem wichtig, klarzustellen: Christlicher Nationalismus und amerikanisches Christentum sind nicht dasselbe. Im Gegenteil: Vermehrt melden sich Vertreterinnen und Vertreter verschiedenster Glaubensgemeinschaften zu Wort, etwa die Initiative Christians Against Christian Nationalism: «Christlicher Nationalismus zielt darauf ab, christliche und amerikanische Identitäten zu vereinen, und so sowohl den christlichen Glauben, als auch Amerikas konstitutionelle Demokratie zu verfälschen», ist auf ihrer Website zu lesen. Außerdem benennt das Bündnis die Gefahren des Christlichen Nationalismus: Allzu oft «überschneidet er sich mit und bildet Schutz für White Supremacy und rassistische Unterdrückung.» Ihr Urteil ist eindeutig: «Als Christen müssen wir mit einer Stimme sprechen und Christlichen Nationalismus verurteilen als Verzerrung der Lehren Jesu und als Bedrohung für die amerikanische Demokratie.»[14] Zu den Unterzeichnern gehören Pastorinnen und Pastoren sowie Bischöfe aus unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften.

Ein Weißer Evangelikaler ist nicht automatisch auch Anhänger des Christlichen Nationalismus. Es gibt jedoch häufig Korrelationen, etwa ein lang gehegter Groll gegenüber allem, was in den Augen vieler Evangelikaler für eine neue, permissive und dekadente Gesellschaft steht – die Bürgerrechtsbewegung, Feminismus, LGBTQIA*-Rechte*, säkularer Humanismus, Verhütung und Abtreibung.

Es wird oft argumentiert, Christlicher Nationalismus sei die Reaktion auf gesellschaftliche Neuerungen – eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach einem «alten Amerika», das es in dieser Form nie gegeben hat. Doch hierbei handelt es sich um einen Trugschluss. Der heutige Christliche Nationalismus ist nicht als Gegenbewegung zu gesellschaftlichen Errungenschaften der Moderne entstanden, sondern stattdessen von Grund auf so konzipiert, dass er ein ständiges Feindbild braucht, das angeblich seine Existenz bedroht. Die Bewegung brauchte die Neuerungen, um in ihrer inneren Logik zu funktionieren.

Ihr Ziel ist sehr weltlicher Natur: Es geht um Macht, und zwar in erster Linie um politische Macht. Viele Anhänger neigen laut den Ergebnissen von Perry und Whitehead beispielsweise eher dazu, autoritäre Kontrollmechanismen wie staatliche Gewalt zu verteidigen, besonders, wenn sich diese gegen Minderheiten richtet.[15] Zu sehen ist das in der Ablehnung vieler einflussreicher Akteure und Akteurinnen gegenüber den Forderungen für ein Ende der Polizeigewalt gegenüber BPoC, wie sie unter anderen die Black Lives Matter-Bewegung vertritt.

Wie durch Trumps Äußerungen zu Beginn des Kapitels verdeutlicht, sehen sich Christliche Nationalisten oft selbst als Opfer: Christen seien die eigentlich Verfolgten und würden von dem, was sie als «Religion» des Humanismus bezeichnen, massiv diskriminiert.[16] Dieses Opfernarrativ ist ein zentrales Merkmal der Bewegung und dient als einer ihrer größten Motivatoren. Auch wenn Christliche Nationalisten oft auf die Religionsfreiheit verweisen, ist eindeutig, dass ihre Form des Christentums gegenüber andersgläubigen Amerikanerinnen und Amerikanern bevorzugt behandelt werden soll. Das geschieht nicht nur in Randbereichen der amerikanischen Gesellschaft, sondern zieht sich bis ins Amt des Präsidenten. So sagte George W. Bush der Washington Times im Jahr 2005, dass Religionsfreiheit zwar elementar für die USA sei, er aber «auf der anderen Seite nicht wisse, wie man Präsident sein könne, […] ohne eine Beziehung zum Herrn zu haben».[17]

Gleichzeitig wäre es ein Fehler, die Ablehnung von Christlichem Nationalismus mit fehlender Religiosität oder Atheismus gleichzusetzen. Perrys und Whiteheads Analysen zeigen, dass die Hälfte der «Rejecters» an eine höhere Macht glaubt. Dabei identifiziert sich ein Drittel der Befragten dezidiert als christlich und ein Drittel als atheistisch. Bei den «Resisters» bezeichnen sich sogar zwei Drittel selbst als christlich[18] – daraus lässt sich schließen, dass die Ablehnung von Christlichem Nationalismus keinesfalls gleichzusetzen ist mit der Ablehnung von Religion im Allgemeinen.

Perrys und Whiteheads Untersuchungen zu den vier Gruppen machen deutlich, wie heterogen Christlicher Nationalismus ist. Trotzdem lässt sich, was den Faktor race angeht, eine deutliche Tendenz feststellen: 70 Prozent der «Ambassadors», also der uneingeschränkten Unterstützer des Christlichen Nationalismus, sind Weiß, nur elf Prozent Schwarz und elf Prozent Hispanic. Sie sind diejenigen, die am häufigsten zur Kirche gehen und die Bibel lesen. Auch politisch sind die «Ambassadors» homogener als «Accomodators» und «Resisters» – zwei Drittel von ihnen bezeichnen sich als konservativ, 56 Prozent bezeichnen sich als Republikaner. Allerdings gibt es, wenn auch in deutlich geringerer Anzahl, auch Christliche Nationalisten im liberalen Spektrum.[19]

Gleichzeitig ist «Christlicher Nationalismus» keine Eigenbezeichnung der Gruppe selbst, sondern vielmehr eine Beschreibung durch externe Beobachter. Es gibt kein «Hauptquartier» der Christlichen Nationalisten in den USA, keinen offiziellen Sprecher, der einheitliche Botschaften verlauten lässt. Daher ist es auch einfach für Mitglieder der Religiösen Rechten, sich von dem Begriff zu distanzieren. Christlicher Nationalismus beinhaltet die Verschmelzung einer bestimmten religiösen Identität mit einer nationalen. Kreuz und Flagge werden vereint.

Ein Mythos ist ebenfalls, dass sich Christlicher Nationalismus nur in sozial benachteiligten Landstrichen mit vergleichsweise niedrigem Bildungsgrad findet. Zwar ist es richtig, dass die meisten derer, die die Bewegung strikt ablehnen, einen Masterabschluss oder einen höheren akademischen Grad haben, trotzdem kann aus den Ergebnissen noch nicht geschlossen werden, dass hier ein kausaler Zusammenhang besteht. Denn auch Menschen mit hohem akademischem Abschluss finden sich, wenn auch in geringerer Zahl, unter «Ambassadors» und «Accomodators». Christlicher Nationalismus hat, so Perry und Whitehead, unabhängig von Kategorien wie regionaler Herkunft, Bildungsgrad, Parteizugehörigkeit oder Denomination 2016 die Wahl zugunsten von Trump beeinflusst. Je höher Wählerinnen und Wähler auf der Skala lagen, desto eher haben sie für Trump gestimmt. Für die Wahl 2020 gibt es noch keine vergleichbaren Zahlen.[20]

Heute sind nach dem 2020Census of American Religion des Pew Research Centers 70 Prozent der USA christlich, davon sind 22 Prozent katholisch und 27 Prozent protestantisch (nicht-evangelikal). Vier von zehn Amerikanern identifizieren sich als Weiße Christen (44 Prozent), das schließt Weiße Evangelikale mit ein (14 Prozent). Insgesamt lässt sich ein leichter Aufwärtstrend in dem seit Jahren sinkenden Anteil Weißer Christen in den USAbeobachten. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass die Gruppe der Weißen Mainline-Protestanten mit 16 Prozent größer ist als die Weißer Evangelikaler – eine Entwicklung, die sowohl auf das hohe Durchschnittsalter Weißer Evangelikaler als auch auf Abwanderungsbewegungen innerhalb der Denomination zurückzuführen sein kann. Mehr als ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung sind Christen und BPoC.[21] Dem Christlichen Nationalismus gehören nicht nur Evangelikale an, sondern auch Anhänger anderer christlicher Konfessionen und Juden. Unter Mormonen in Utah sind laut einer Umfrage aus dem Jahr 2020 beispielsweise 76 Prozent überzeugt von Christlichem Nationalismus oder stehen ihm zumindest positiv gegenüber.[22] Trotzdem ist die Geschichte des Christlichen Nationalismus im 20. und 21. Jahrhundert vor allem mit bestimmten Formen des Evangelikalismus verknüpft, die deshalb auch einer der Fokuspunkte dieses Buches sind.

Sich gegen Christlichen Nationalismus auszusprechen oder davor zu warnen, sollte nicht damit verwechselt werden, dass hier Christen abgesprochen wird, sich politisch zu engagieren. Doch es besteht ein gewaltiger Unterschied darin, ob man sich aus einer persönlichen religiösen Überzeugung heraus politisch engagiert, oder ob man sich für eine Bewegung einsetzt, die zum Ziel hat, die eigene Religion in eine gesellschaftliche Vormachtstellung zu bringen und andere Gruppen zu diskriminieren.

Die Erfindung der Geschichte

«Ich denke wir sind vom rechten Weg abgekommen, als wir vergessen haben, dass Gott diese Nation geschaffen hat, dass er die Verfassung geschrieben hat, dass sie auf biblischen Prinzipien beruht.»[1] – Tom DeLay, früherer House Majority Speaker der Republikanischen Partei (2003–2005)

«Kneel for the Lord, stand for the Flag» («Kniet nieder für den Herrn, steht auf für die Flagge») steht auf einem Schild, das man in einer der über 900 Hobby-Lobby-Filialen in den USA kaufen kann. Besitzer der Kette ist die Familie Green, die zu den Großspendern der Religiösen Rechten gehört. 2014 klagte Hobby Lobby erfolgreich vor dem Obersten Gerichtshof dagegen, im Rahmen einer Krankenversicherung für seine Angestellten die Kosten für Verhütungsmittel übernehmen zu müssen.[2]

Begründet wurde die Ablehnung mit der religiösen Überzeugung der Unternehmerfamilie. Die Greens sind Christliche Nationalisten, und das spiegelt sich auch im Sortiment ihrer Filialen wider. Hier wird beispielsweise eine amerikanische Flagge mit einer dünnen blauen Linie verkauft, das Symbol der Gegenbewegung zu «Black Lives Matter» – «Blue Lives Matter», geschmückt mit Bibelversen. Ein weiterer Spruch auf einem Deko-Objekt: «God, Guns & Guts Made America Free – Let’s Keep It That Way». Kreuz und Flagge, Gott und Waffen, Amerika als christliche Nation – wem diese Kombinationen gefallen, der wird in Hobby-Lobby-Geschäften fündig werden. Es werden sogar Holzkreuze mit dem aufgemalten Muster der amerikanischen Flagge verkauft.

Das Herzstück des Christlichen Nationalismus, der sich auch in den profanen Objekten der Hobby-Lobby-Geschäfte präsentiert, ist sein Geschichtsrevisionismus, der den Mythos eines Weißen, christlichen Amerikas kreiert. Er findet sich auch in Form von Sonderausgaben der Bibel, in denen die Gründungstexte der Vereinigten Staaten zusammen mit dem biblischen Text abgedruckt sind, um zu betonen, dass sie gleichermaßen von Gott inspiriert seien.[3] Die jüngste Variante dieser «patriotischen» Bibeln ist die «God Bless the USA Bible»: Das lederne Cover ziert die Aufschrift «Die heilige Bibel», darunter «Gott segne die USA» und eine wallende amerikanische Flagge.[4] Empfohlen wird sie für «jeden, der Amerika liebt», Haushalte, in denen Kinder zu Hause unterrichtet werden, Angehörige des Militärs, Bräute und «Befürworter von Glauben und Werten». Neben dem Bibeltext kann man darin den Pledge of Allegiance, die Verfassung, die Unabhängigkeitserklärung und die Bill of Rights nachlesen.[5]

Tatsächlich ist die Geschichte des Christlichen Nationalismus eng mit der Amerikas verbunden. Schon die Puritaner in Neuengland sahen sich als die neuen Israeliten, Gottes neues, auserwähltes Volk. Der indigenen Bevölkerung des Landes wiesen sie die Rolle der Kanaaniter zu. So rechtfertigten die Puritaner ihre kolonialen Eroberungskriege als den Beginn der biblischen apokalyptischen Eröffnungsschlacht, schreibt der Soziologe Philip Gorski.[6]

Im 19. Jahrhundert kam mit «Manifest Destiny» die Vorstellung eines göttlichen Auftrags an das amerikanische Volk auf, den ganzen Kontinent zu erobern, die sich bis zu heutigen Formen des Amerikanischen Exzeptionalismus, in dem Gott für Amerika eine besondere Rolle in der Welt vorgesehen hat, fortsetzt. Besonders in Zeiten großer Migrationsbewegungen hat Christlicher Nationalismus Konjunktur, aber auch militärische Konflikte dienen ihm als Zündstoff – so beispielsweise in den 1920er Jahren und während des Kalten Krieges. Die Entwicklung unter und nach Trump ist die neue Version eines alten Topos mit angepassten Feindbildern. Wandte sich der Weiße Christliche Nationalismus der 1920er Jahre noch explizit gegen Katholiken, finden sich heute viele konservative Katholiken in der Bewegung der Religiösen Rechten, ebenso wie einige orthodoxe Juden und Mormonen. Das aktuelle Feindbild wird mit Muslimen, Atheisten, Linken, säkularen Humanisten und LGBTQIA*-Menschen besetzt.

Nach Ansicht Christlicher Nationalisten wurden die USA explizit als christliche Nation gegründet. Die Trennung von Kirche und Staat sei von den Gründervätern nie vorgesehen gewesen, sondern eine satanische Lüge, die «Humanisten» und Linke verbreiteten, um das amerikanische Volk vom rechten Weg abzubringen. Mit dieser Behauptung bauen Anhänger des Christlichen Nationalismus jedoch selbst auf einer Lüge auf. Die USA wurden explizit nicht als christliche Nation gegründet. Im Gegenteil: Keine Religion sollte vom Staat gegenüber einer anderen bevorzugt werden. Thomas Jefferson (1743–1826), einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, war der Überzeugung, der erste Artikel der Verfassung errichte «einen Trennwall zwischen Kirche und Staat».[7] Im Vertrag von Tripolis aus dem Jahr 1796 steht geschrieben: «Die Regierung der Vereinigten Staaten ist in keiner Weise auf der christlichen Religion begründet.»[8]

Das Märchen von den USA als christlicher – gemeint ist hier meist «Weißer» – Nation hat es bis in den politischen Mainstream geschafft. Dabei werden die Kultur der indigenen Bevölkerung und deren Genozid ausgeblendet. Rick Santorum, ehemaliger Senator und Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur, anschließend Kommentator bei CNN, sagte im April 2021: «Wir haben eine Nation aus dem Nichts geboren. […] Gut, es waren einheimische Amerikaner hier, aber, um ehrlich zu sein, war nichts Amerikanisches an der Kultur der einheimischen Amerikaner.»[9] Santorum wurde nach dem öffentlichen Aufschrei, der dieser Äußerung folgte, von CNN gefeuert.[10]

Eine der bekanntesten Figuren der Religiösen Rechten, die diese falsche Version der amerikanischen Geschichte propagieren, ist David Barton, ein evangelikaler Prediger und politischer Aktivist aus Texas. Bartons Aufstieg ist ein Beispiel dafür, wie weit das Gedankengut christlicher Hardliner in den konservativen Mainstream eingesickert ist und sich in der Popkultur auch über die extremen Ränder der Bewegung hinaus verbreitet hat. Bereits in den 1990er Jahren hatte Barton, der über keinerlei geschichtswissenschaftliche Ausbildung verfügt, es zum selbsternannten «Star-Historiker» der Religiösen Rechten gebracht. Er erwarb an der evangelikalen Oral Roberts University einen Bachelor in Religious Studies, gegenwärtig hält er einen Ehrendoktortitel des Pensacola Christian College in Florida. Doch Barton blickt nicht wissenschaftlich auf die Geschichte, Methodik und Objektivität sind für ihn keine Maßstäbe. Im Gegenteil – auch Geschichte ist für ihn ein Akt des Glaubens: «Wenn man nicht die göttliche Hand sieht, die hinter den Kulissen der Geschichte wirkt, wird Geschichte ein unverständliches Rätsel bleiben.»[11]

Seine Organisation WallBuilders ist heute maßgeblich für die Verbreitung der geschichtsrevisionistischen Version eines Weißen, christlichen Amerikas verantwortlich. Der Name ist Programm: Wie die Israeliten im Buch Nehemia die Stadtmauern Jerusalems erneut errichten und zum wahren Glauben zurückkehren, so müsse Amerika wieder auf die christliche Basis des Landes aufbauen.[12] Bartons Argumentation für den angeblich inhärent «christlichen» Ursprung Amerikas wird nahezu von allen führenden Vertretern der Religiösen und Politischen Rechten übernommen, auch wenn sein Name nicht immer erwähnt wird: Sein Einfluss findet sich etwa beim ehemaligen Vizepräsidenten Mike Pence, bei Tony Perkins (Präsident des Family Research Councils) und dem rechtskonservativen Radiomoderator Rush Limbaugh.[13] Auch der ehemalige Republikanische Präsidentschaftsanwärter Mike Huckabee macht keinen Hehl aus seiner Bewunderung für Bartons Wirken. 2011 sagte er: «Ich wünschte fast […], es gebe eine gleichzeitige Ausstrahlung (Telecast) und alle Amerikaner würden gezwungen – und zwar mit vorgehaltener Waffe gezwungen, jeder Botschaft von David Barton zu lauschen.»[14]

David Barton ist der vielleicht einflussreichste Multiplikator der falschen Geschichte von den USA als explizit christlicher Nation und ein Anhänger des Seven Mountains Dominionism, auf den später noch eingegangen wird (siehe Kapitel «To Rule Them All»).

Teil seines Geschichtsrevisionismus sind auch objektiv falsche Ansichten zum Thema Sklaverei, die er von dem christlichen Theologen Rushdoony übernommen hat, dessen Einfluss auf die Religiöse Rechte auch heute noch groß ist (siehe Kapitel «To Rule Them All»). Dieser Ansatz verfolgt vor allem zwei Ziele: Zum einen geht es darum, die Gründerväter der USA von ihrer Beteiligung am System der Sklaverei freizusprechen, zum anderen soll die heutige Demokratische Partei als die eigentlich rassistische Partei, die Sklaverei unterstützt hat, diffamiert werden. Die Mehrheit der Gründerväter, so Barton, sei gegen Sklaverei gewesen und habe sie als «unbiblisch» angesehen[15] – eine Behauptung, der Historikerinnen und Historiker widersprechen. Eine dieser Stimmen ist Diana Butler Bass: «Es war beinahe universell von weißen, christlichen Männern akzeptiert, dass die Bibel Sklaverei lehrte, unterstützte oder bewarb, und es war selten, einen führenden amerikanischen Intellektuellen – christlich oder nicht – zu finden, der die Praxis auf der Basis in Frage stellte, dass sie ‹unbiblisch› sei.»[16] Als Gegner der Sklaverei begannen, mit der Bibel gegen sie zu argumentieren, stieß das vor allem auf Widerstand: «Man befand sie für radikal. Und oft wurden sie als Ungläubige angesehen, denn wie konnten sie sagen, dass Gott gegen Sklaverei sei, wenn doch so offensichtlich in der Bibel dargestellt wurde, dass er das nicht war?», sagt auch der evangelikale Historiker Mark Noll.[17]

Bartons Narrativ der historischen Demokraten als Partei der Sklaverei ist dagegen in Teilen zutreffend – das macht es so effektiv. Er verschweigt dabei jedoch den Wandel in der Demokratischen Partei, der mit der Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung begann. Stattdessen zieht Barton eine direkte Linie von den rassistischen Südstaaten-Demokraten zur heutigen Demokratischen Partei – eine Taktik, die Sachverhalte schlichtweg verfälscht. Seiner Darstellung nach sind die Republikaner die Anti-Sklaverei-Partei, schließlich habe der erste Republikanische Präsident, Abraham Lincoln, mit der Emancipation Proclamation (1863) und dem dreizehnten sowie dem vierzehnten Zusatzartikel zur Verfassung Meilensteine für die Gleichberechtigung gesetzt. Barton ignoriert jedoch, dass die Republikaner in dem Moment, als sich die Demokraten der Bürgerrechtsbewegung zuwendeten, damit begannen, verärgerte, rassistische Südstaaten-Demokraten abzuwerben – mittels der sogenannten Southern Strategy (mehr dazu im Kapitel «Von irdischen Herren»), die besonders auf rassistische Vorurteile abzielte. Diese Strategie bildet, wie die Autorin Julie Ingersoll feststellt, auch die Grundlage für die Rhetorik der States’ Rights, die bestimmte Macht für Bundesstaaten reservieren will und die bis heute im konservativen Mainstream und in der rechtspopulistischen Tea-Party-Bewegung beliebt ist.[18] Stattdessen betont Barton, man dürfe nicht alle Südstaatler pauschal als Rassisten abstempeln, und wälzt die alleinige Schuld auf die Demokratische Partei ab: «Um ein korrektes Bild Schwarzer Geschichte darzustellen, müssen Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Weißen gemacht werden. Daher [wäre es] sehr viel historisch korrekter – wenn auch ‹politisch inkorrekter›, wenn es hieße: ‹Demokratische Gesetzgeber im Süden etablierten, dass in Vorwahlen nur Weiße wählen durften.›»[19]

Das Framing der heutigen Demokraten als der eigentlich rassistischen Partei, die Sklaverei unterstützte, findet sich auch bei anderen Aktivisten der Religiösen und Politischen Rechten. Dinesh D’Souzas Dokumentarfilm Death of a Nation (2018) – konstruiert als Pendant zu dem rassistischen Kassenschlager The Birth of a Nation (1915) – greift dieses Narrativ auf und versucht, Mitglieder der heutigen Demokratischen Partei als Erben von Sklavenhaltern, Nationalsozialisten und Kommunisten darzustellen, vereint im Kampf gegen ein redliches, christliches Amerika. Dennoch ist diese Argumentation ein Drahtseilakt, schließlich müssen Barton und seine Mitstreiter die Bibelstellen, in denen Sklaverei befürwortet wird, rechtfertigen. Dazu bedienen sie sich ganz offen der Theologie Rushdoonys. In einem Artikel von Stephen McDowell, dem Präsidenten der Providence Foundation auf Bartons WallBuilders-Website, wird dies eindrücklich demonstriert.[20] Tatsächlich, so McDowell, erlaube die Bibel zwei Versionen der Sklaverei: die, in der Sklaven gut behandelt würden und im Tausch für ihre Arbeit Schutz, Kost und Logis erhielten, und jene, in der kriminelle Sklaven als Wiedergutmachung für ihre Taten verkauft werden könnten. Außerdem ist McDowell der Meinung, dass «Heiden», damit sind alle Nicht-Christen gemeint, dauerhaft versklavt werden können – eine Ansicht, die David Barton in Bezug auf die Rechte von «Heiden» unter dem ersten Zusatzartikel der Verfassung teilt, so Julie Ingersoll in ihrem Buch Building God’s Kingdom.[21]

Amerikanische Sklaverei sei zwar nicht mit der Bibel begründet worden, aber die Institution der Sklaverei wird auf WallBuilders trotzdem verteidigt. McDowell argumentiert in seinem Essay, Sklaverei sei auch nicht der «zentrale Auslöser» für den Bürgerkrieg gewesen, sondern vor allem Steuerstreitigkeiten und Übergriffigkeit des Nordens in lokale, südstaatliche Angelegenheiten – eine Blaupause des States’ Rights-Narrativs der Tea Party.[22]

Barton muss das in seinen eigenen Texten relativieren, da sein Narrativ der Demokraten als rassistische Partei damit steht und fällt, dass diese als gesetzgebende Gewalt in den Südstaaten Sklaverei legitimiert hätte. Trotzdem folgt er Rushdoony und McDowell darin, dass bestimmte Formen der Sklaverei durchaus biblisch gedeckt seien. Diese seien durch den Sündenfall bedingt und ursprünglich nicht Teil von Gottes Plan gewesen.[23] Außerdem hätten Sklaven wählen können zwischen der Sicherheit, die ihre Herren ihnen gewähren würden, oder der Freiheit. Beides sei nicht möglich gewesen.

Diese Darstellung impliziert, dass versklavte Menschen ihre Situation hätten ändern können, wenn sie es denn nur gewollt hätten. Unverhohlen wird das zutiefst rassistische Vorurteil reproduziert, dass BPoC nicht imstande oder zu faul seien, für sich selbst zu sorgen. Mit diesem geschichtsrevisionistischen Bild der Sklaverei schlägt Barton die Brücke zur Gegenwart. «Weil der sündige Mensch dazu neigt, in Gefangenschaft zu leben, haben andere Formen der Sklaverei das offensichtlichere System früherer Jahrhunderte ersetzt.» Was früher Sklavenhalter gewesen seien, sei heute der moderne Staat mit seinen liberalen Sozialhilfe-Geschenken: «Der Staat hat für viele die Rolle des Herren angenommen und übt damit mehr und mehr Kontrolle über diejenigen aus, die nicht in der Lage sind, sich zu beschützen.»[24]

Ganz im Sinne Rushdoonys (siehe Kapitel «To Rule Them All»), der illegale Einwanderung und «offene Grenzen» ablehnte, hat Barton eine Bibelstelle parat: Er zitiert das Buch Deuteronomium 32,8: «Als der Höchste den Völkern Land zuteilte und der Menschen Kinder voneinander schied, da setzte er die Grenzen der Völker.»[25] Barton schließt daraus: «Nationale Grenzen sind von Gott gegeben; er ist derjenige, der die Linien für die Nationen gezogen hat. Wenn man offene Grenzen hat, sagt man damit: ‹Gott, du hast es alles falsch gemacht.›»[26] In derselben Episode von WallBuilders Live behauptete William Gheen 2010, dass Einwanderer mit Hilfe Obamas die wahren Amerikaner ersetzen wollten, indem sie zahlreiche Kinder zeugten – ein Echo des rassistischen Verschwörungsmythos vom «Great Replacement» oder der «Umvolkung», wie sie in deutschen rechten Kreisen genannt wird.

Randall Balmer, selbst evangelikaler Christ, ist einer der zahlreichen Historiker und Historikerinnen, die Bartons Auslegung der Geschichte vehement widersprechen: «David Barton hat die Lüge verbreitet, dass die Gründerväter beabsichtigt hätten, dass Amerika eine christliche Nation sei. Er war sehr effektiv. Aber die Logik ist absolut verrückt. Er sagt, der Ausdruck, ‹Trennung von Kirche und Staat› sei nicht in der Verfassung enthalten. Da hat er recht. Aber damit dieses Argument funktioniert, müsste man behaupten, dass der Satz keine genaue Zusammenfassung des Ersten Verfassungszusatzes ist. Und Thomas Jefferson, der ihn geschrieben hat, war der Meinung, dass das der Fall sei.»[27]

Auch unter anderen evangelikalen und konservativen Historikern gab es kritische Stimmen, vor allem zu Bartons 2012 erschienenem Buch The Jefferson Lies, das es bis auf die Bestseller-Liste der New York Times schaffte.[28] Die Kritik war vernichtend – Andrew L. Seidel, ein Verfassungsrechtler, war nur einer von vielen Fachleuten, die Bartons Buch auseinandernahmen. Tatsächlich fanden sich darin so viele Unwahrheiten und Fehler, dass die konservativen Historiker Warren Throckmorton und Michael Coulter, die beide an einem christlichen College lehren, als Reaktion selbst ein Buch über Bartons Geschichtsrevisionismus am Beispiel Jeffersons schrieben. In Getting Jefferson Right: Fact Checking Claims about Our Third President (2012) wurde Bartons Pseudo-Geschichtswissenschaft mit deutlichen Worten und klaren Fakten bloßgestellt. Dieser zeigte sich wenig beeindruckt: Die christlichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihn kritisierten, seien von «heidnischen Professoren» dazu indoktriniert worden, Gott zu hassen. Allein das sei der Grund für ihre Missbilligung seines Buches.[29]

Nach dieser Blamage erhofften sich einige den Rückzug Bartons von der öffentlichen Bühne, doch das war nicht der Fall, zu wertvoll waren seine Märchenerzählungen für Christliche Nationalisten. Denn es ging Barton und seinen Verteidigern nie um historische Fakten oder Erkenntnisgewinn. Für ihn ist Geschichte nur ein Werkzeug im Kampf gegen Linke, «Humanisten» und sämtliche Gottlosen, die Amerika durch ihren Un- oder Irrglauben ins Verderben stürzen wollen.[30]

Bartons Einfluss darf auch jenseits der extremen Ränder nicht unterschätzt werden, denn seine Ideen haben längst ihren Weg in den konservativen Mainstream und sogar in staatliche Schulen gefunden. Er wurde als Experte und Zeuge am Obersten Gerichtshof gehört, pflegt beste Beziehungen nach Washington und spricht regelmäßig bei Abgeordneten vor. 2004 redete er im Auftrag des Republican National Committee in Ohio in Kirchen mit Gläubigen über die anstehende Wahl.[31] Er ist außerdem der Chief Advisor des National Council on Bible Curriculum in Public Schools (NCBCPS), einer Organisation, die von anderen großen Institutionen der Christlichen Rechten unterstützt wird, darunter von der American Family Association, dem American Center for Law and Justice, dem Center for Reclaiming America, Concerned Women for America, den WallBuilders, dem Conservative Caucus und dem Mayflower Institute.[32] Der NCBCPS verbreitet eine christlich-nationalistisch aufgeladene Version der Geschichte Amerikas, in der die Zehn Gebote als Grundlage für das amerikanische Rechtssystem propagiert werden, die Unabhängigkeitserklärung und Verfassung beide primär auf der Bibel aufbauen und die Heilige Schrift auch die Basis für das amerikanische Bildungssystem ist.[33]

2005 beauftragte Bill Frist, der damalige Republikanische Mehrheitsführer im Senat, Barton damit, eine Spiritual Heritage Tour, also eine Tour zum geistlichen Erbe, in Washington zu leiten.[34] Die Religionswissenschaftlerin Lauren R. Kerby forscht zu christlich-nationalistischer Pseudo-Geschichtsschreibung und beschreibt die Narrative, die bis heute auf Christian Heritage Tours in Washington als Echo der Botschaft David Bartons verbreitet werden. Sie betont die Verbindung von White Supremacy mit dem Gedanken eines «christlichen» Amerikas: «[E]ines der markantesten Merkmale von Touren zum christlichen Erbe ist die Art und Weise, wie dort Weiße Christen in der amerikanischen Geschichte hervorgehoben und alle anderen ausgeschlossen werden. […] Wenn die Touristen [auf diesen Touren] ‹christliches Amerika› sagen, meinen sie das Weiße, evangelikale Amerika. Es hat eine viel engere Bedeutung, als es zunächst scheint.»[35]

2009 wurde Barton als «Experte» in das Texas State School Board of Education berufen, das die Curricula für staatliche Schulen festlegt. Sein Gedankengut ist mittlerweile in Schulbüchern in ganz Amerika zu finden – in Unterrichtsmaterialien, die von christlichen Homeschooling-Organisationen verbreitet werden, aber auch in Schulbüchern für staatliche Schulen in Texas.[36] Der Bundesstaat ist der größte Abnehmer für Schulbücher – weshalb Verlage sich nach den Vorgaben aus Texas richten, um möglichst viel verkaufen zu können. Bildungsstandards in diesem Staat haben also Einfluss auf das gesamte Land.[37]

Bartons Organisation WallBuilders schickt zudem eigene Gesetzentwürfe an Abgeordnete, um auf Bundesstaatsebene die Grenze zwischen Kirche und Staat weiter zu verwischen. In diesen Entwürfen zeigt sich deutlich die Auffassung der Organisation, dass staatliche Bildung und Wohltätigkeit «unbiblisch» seien und diese Aufgaben den Familien und der Kirche zufallen sollten. Hier gibt es, wie bei Rushdoony, Überschneidungen mit neoliberalen Ansichten (siehe Kapitel «To Rule Them All»). Der Staat führe im Falle der Bildung und der Wohlfahrt illegitime Funktionen aus, die dazu erhobenen Steuern seien «legalisierter Diebstahl».[38] Diese Rhetorik findet sich später auch bei der rechtspopulistischen Tea Party. Es ist nicht verwunderlich, dass Barton zum Darling der Tea Party wurde, die 2013 gar versuchte, ihn davon zu überzeugen, sich für einen Senatssitz zu bewerben.[39] Für Barton ist illegale Einwanderung ein Verstoß gegen das biblische Mandat des Staates, das Eigentum seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen, während Gesetze, die zum Umweltschutz beitragen und beispielsweise globale Erwärmung eindämmen sollen, für ihn Verstöße gegen das Recht auf Herrschaft (Dominion) darstellen, das Gott den Menschen über die Erde erteilt habe.[40] Bartons Ansichten verdeutlichen zudem, dass hinter dem Kampf für «Religionsfreiheit» alles andere als ein pluralistischer Ansatz steckt, denn seine Definition von «Religion» ist exklusiv auf das Christentum gemünzt. In einer Stellungnahme vor Gericht schrieb er: «[…] ob dieses Gericht darin übereinstimmt, dass ‹Religion› Monotheismus meint oder ob es glaubt, dass damit ‹Christentum› gemeint ist … es ist klar, dass Atheismus, Heidentum und Paganismus nicht Bestandteil der Definition von ‹Religion› waren.» Den Islam zählt Barton ebenfalls nicht als Religion.[41] Hier ist, wie so oft im Christlichen Nationalismus, mit ‹Religion› vor allem ein Weißes, konservatives Christentum gemeint, höchstens das Judentum wird mitgezählt.[42]

Auch in der Trump-Regierung musste man nicht lange nach Unterstützern von David Barton suchen. Sam Brownback, von Trump zum US-Botschafter für internationale Religionsfreiheit ernannt, ist ein dezidierter Fan des selbsternannten «Star-Historikers».[43] Menschenrechtsorganisationen hatten sich gegen die Ernennung ausgesprochen. Die Wahl im Senat war knapp, die entscheidende Stimme gab Mike Pence ab, der als Senatsvorsitzender bei einem Patt die Wahl entscheiden konnte. Brownback nannte Barton in einem Radioprogramm der WallBuilders «einen meiner Helden».[44] Seine Ernennung zum Botschafter wurde in der Religiösen Rechten mit Freuden aufgenommen.[45] Aber auch Michelle Bachmann, eine rechtskonservative Republikanerin, und Ted Cruz, Republikanischer Senator aus Texas, äußern sich lobend über Barton. Cruz verdankt ihm die Unterstützung seiner Präsidentschaftskandidatur 2016 durch sein finanzstarkes Super PAC (Political Action Committee – eine mächtige Lobbygruppe) namens Keep the Promise PAC. Wer Weiße evangelikale Stimmen will, braucht Bartons Unterstützung, und so hat er viele prominente Politiker auf seiner Seite, darunter auch Newt Gingrich. 2004 half er George W. Bush, Evangelikale in Texas an die Wahlurne zu bringen. Dort war er von 1997 bis 2006 der stellvertretende Vorsitzende der Republikanischen Partei.[46]

Barton vertritt auch sonst extreme Ansichten: Er ist ein entschiedener Gegner des sogenannten Johnson Amendments, einer Ergänzung des Bundessteuergesetzes, eingebracht 1954 vom späteren US-Präsidenten Lyndon B. Johnson. Es sieht vor, dass sich als gemeinnützig anerkannte Organisationen und Verbände, so auch Kirchen, politisch nicht engagieren und bestimmte Kandidatinnen und Kandidaten nicht durch Spenden unterstützen dürfen. Damit sollte verhindert werden, dass steuerbegünstigte Spenden an Kirchen oder andere Organisationen an Wahlkampf-Fonds weitergereicht werden können.[47]

Den Vertretern und Vertreterinnen der Religiösen Rechten ist das Johnson Amendment schon lange ein Dorn im Auge. Donald Trump traf einen Nerv, als er im Februar 2017 beim National Prayer Breakfast seinem Publikum verkündete: «Ich werde das Johnson Amendment loswerden und total zerstören, damit unsere Glaubensführer frei und ohne Angst vor Vergeltung sprechen können.»[48] Er hatte schon 2016 mit diesem Versprechen Wahlkampf gemacht und unterzeichnete 2017 eine Executive Order (Durchführungsverordnung), die sich mit «Religionsfreiheit» befasste, aber das Johnson Amendment nicht außer Kraft setzte. Trotzdem hat Trump seitdem mehrfach behauptet, er habe das Gesetz abgeschafft.[49]

Barton wechselte bereits 2016, nachdem klar war, dass nicht der Evangelikale Ted Cruz, sondern Trump die Republikanische Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten gewinnen würde, ins Trump-Lager und machte massiv für ihn Wahlkampf. Es sei die Verpflichtung eines jeden Christen, sagte Barton bei einem Teleforum von My Faith Votes, entsprechend dem Willen Gottes zu wählen. Wer dagegen verstoße, müsse nach seinem Tod beim Schöpfer dafür geradestehen. Trump sei «Gottes Kerl», so Barton. Auch für Trumps lasterhafte Umtriebe hatte er ein passendes Gleichnis parat: «Und ich kann nicht den falschen Standard anwenden, dass ich jemanden [als Kandidaten] haben muss, der perfekt ist, weil es niemanden gibt, der perfekt ist, außer Jesus; und als er auf Erden war, dachten sie übrigens nicht, dass er perfekt war. Wir denken nur, dass er jetzt perfekt ist. Damals nannten sie ihn einen Trinker und einen Vielfraß; es gab alle möglichen Kampagnen gegen ihn.»[50]

Christlicher Geschichtsrevisionismus findet sich auch in säkularen Räumen und ist oft mit Implikationen bezüglich race verbunden. Die Religionswissenschaftlerin Ruth Bernstein macht dies deutlich, indem sie die beiden dominanten Erzählungen von Amerika als christlicher Nation herausstellt: Das erste Narrativ ist offen rassistisch, Amerika wird als ursprünglich Weiße, christliche Nation beschrieben – eine Version, die besonders unter White Supremacists beliebt ist. Strukturell ähnlich im Aufbau, aber durch eine Codierung nicht offen rassistisch, ist das zweite Narrativ vom farbenblinden «jüdisch-christlichen» Amerika. Die Bezugnahme auf «jüdisch-christliche» Werte findet sich nicht nur im rechtsextremen Milieu, nicht einmal ausschließlich in konservativen Kreisen. Populär machte die Bezeichnung Franklin D. Roosevelt mit dem Versuch, die Amerikaner gegenüber der Bedrohung durch die Nationalsozialisten zu vereinen. Während des Kalten Krieges wurde daraus schnell ein Codewort für «religiös» als Abgrenzungsfolie gegen den atheistischen Kommunismus.[51] Seitdem wird «jüdisch-christlich» von der Religiösen Rechten verwendet, um Vorwürfe des Antisemitismus und Rassismus abzuwehren. Doch oft wird der Begriff genutzt, um sich speziell von muslimischen und nicht-gläubigen Menschen abzugrenzen, etwa im Kontext der Ablehnung von muslimischen Einwanderern. Außerdem verschließt man mit dieser Bezeichnung bewusst die Augen davor, dass jüdische Menschen in den Ländern, die sich heute gern als «jüdisch-christlich» bezeichnen, historisch ausgegrenzt und verfolgt wurden.[52]

Während also das Narrativ vom explizit Weißen, christlichen Amerika am Rand des politisch rechten Spektrums existiert und nur in Ausnahmefällen wie bei der Unite the Right-Rally 2017 in Charlottesville, Virginia, in das öffentliche Bewusstsein vordringt, ist das «farbenblinde» Narrativ im konservativen Mainstream und auch darüber hinaus sehr beliebt. Braunstein bezeichnet die strukturelle Ähnlichkeit der beiden Narrative gar als «symbolische Brücke zwischen dem Mainstream-Konservatismus und der rassistischen/antisemitischen Extremen Rechten.»[53] Das bedeutet, dass rechte Gruppen, je nach Publikum, zwischen den beiden Narrativen hin- und herspringen können.[54] Der Begriff «Christentum» bezeichnet hier also eine ethnische Identität.[55]

Apologeten des Christlichen Nationalismus behaupten vielfach, dass Geschichtsrevisionismus in ihren Reihen nicht existiere und lediglich ein erfundenes Konzept linker Christen und säkularer Aktivisten sei. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel von Bill Donohue, dem Vorsitzenden der Catholic League. Der vielleicht absurdeste Einwand, den er vorbringt, ist der, dass es Christlichen Nationalismus gar nicht gebe, schließlich könne man kein «Hauptquartier» der Bewegung finden: «[W]enn wir nicht herausfinden können, wo der Böse sich versteckt, ist es dann nicht möglich, dass er nicht existiert? Immerhin konnte man Kommunisten zuverlässig im Hauptquartier der Kommunistischen Partei herumhängen sehen.»[56] Hierbei handelt es sich um ein Strohmann-Argument, denn natürlich muss eine Bewegung keine organisierte Parteistruktur haben, um zu existieren.

Christlicher Nationalismus ist eine kulturelle und politische Bewegung, deren Grenzen fließend sind. Gerade weil Aspekte ihrer Ideologie mittlerweile Teil des Mainstream-Diskurses geworden sind, ist es manchmal schwer, sie zu erkennen und abzugrenzen. Doch Donohue zeigt mit seinem nächsten «Gegenargument», dass diejenigen, die die Existenz einer Bewegung wie des Christlichen Nationalismus abstreiten, unter Umständen selbst zu ihren Anhängern zählen. Donohue nennt zwar niemanden namentlich, aber er adressiert seine Rede offensichtlich an eine vage Gruppe in der Annahme, dass sich viele angesprochen fühlen werden: «Wenn jemand glaubt, dass die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung göttlich inspiriert sind, macht ihn das zu einem Christlichen Nationalisten?»[57] Es ist eine rhetorische Frage. Denn der Glaube daran, dass Verfassung und Unabhängigkeitserklärung göttlich inspiriert sind und sich damit in der Bedeutungshierarchie auf dem gleichen Level befinden wie die Bibel, ist einer der Grundpfeiler des Christlichen Nationalismus.

Ferner behauptet Donohue in seinem Artikel, dass nach dieser Definition auch Thomas Jefferson ein Christlicher Nationalist gewesen sei, ein klassisches Beispiel der Geschichtsklitterung. Was nicht überraschend ist, wenn man bedenkt, dass Donohue 2005 auf einer Justice Sunday Rally sagte: «[…] [D]iese Leute der säkularen Linken, sie halten euch nun für eine Bedrohung. Und wisst ihr was? Sie haben recht.»[58]

Christliche Nationalisten setzen zudem auf Lücken in der historischen Bildung ihres Publikums. Denn steht nicht auf amerikanischen Geldscheinen «In God We Trust»? Sicher – doch dabei handelt es sich nicht um eine altehrwürdige Tradition, die auf die Gründerväter zurückgeht, wie Christliche Nationalisten gern behaupten. Tatsächlich geht die Popularisierung dieses Mottos auf die 1930er und 1940er Jahre zurück, in denen fundamentalistische Pastoren und Geschäftsleute eine Allianz aus Christentum und Kapitalismus gegen Roosevelts Serie von Wirtschafts- und Sozialreformen, den New Deal, bildeten, um «eine Nation unter Gott» zu forcieren.[59]

Die massive Kampagne war erfolgreich: Religion, speziell das Christentum, hielt verstärkt Einzug in den öffentlichen Raum. 1952 forderte der Fernseh-Prediger Billy Graham (1918–2018), einer der großen evangelikalen Prediger seiner Zeit, einen «National Day of Prayer», was prompt umgesetzt wurde. 1953 wurde zum ersten Mal das National Prayer Breakfast abgehalten, das seitdem jährlich in Anwesenheit des Präsidenten, damals Dwight D. Eisenhower, stattfindet. Veranstaltet wird es von einer geheimniskrämerischen, christlich-nationalistischen Organisation, die auch als The Family bekannt ist (auf die im Kapitel «Wolfskönige» eingegangen wird). 1954 fügt der Kongress «In God We Trust» dem «Pledge of Allegiance» («Treuegelöbnis») hinzu, den Kinder täglich in Schulen aufsagen. Nur ein Jahr später unterschrieb Eisenhower ein Gesetz, durch das «In God We Trust» auf alle Geldscheine gedruckt wurde. 1956 wurde es als nationales Motto übernommen.[60] Die Etablierung von «In God We Trust» war das Ergebnis einer gewaltigen PR-Aktion, getrieben von Fundamentalisten und Geschäftsleuten, das sich politisch hervorragend als Statement gegen den gottlosen Kommunismus nutzen ließ.

Der Ausspruch «God Bless America», mit dem amerikanische Präsidenten ihre Reden einleiten oder beenden, ist ebenfalls keineswegs ein Relikt der Gründerväter, sondern geht auf Richard Nixon zurück, der damit versuchte, vom Watergate-Skandal abzulenken, indem er seine erste Rede an das amerikanische Volk, nachdem der Skandal öffentlich geworden war, mit «Gott segne Amerika und Gott segne jeden Einzelnen von euch» beendete.[61] Ronald Reagan nahm Nixons Strategie auf – anders als Ford und Carter vor ihm – und begann seine Antrittsrede als Republikanischer Präsidentschaftskandidat mit einem Gebet und «Gott segne Amerika».[62]

Die Bestrebungen, die amerikanische Geschichte umzuschreiben, haben im Washington, D.C., der Gegenwart währenddessen Form angenommen: die eines Gebäudes. Dort hat der Unternehmer Steve Green (wir kennen seine Familie bereits als Besitzer der Hobby-Lobby-Kette) zusammen mit dem Kreationisten Ken Ham im November 2017 das Museum of the Bible eröffnet – mit dem Ziel, Amerika als rein christliche Nation zu präsentieren. Zielgruppe für das Museum sind nicht nur Schulklassen und Familien, sondern auch explizit gewählte Volksvertreter in Washington, die an den Hebeln der Macht sitzen. «Wir glauben, dass der Kongress das Fundament der Nation, die er heute regieren will, kennen sollte», sagte Green in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Time.[63] Seine Familie hatte den Großteil der benötigten 500 Millionen Dollar gespendet, die zum Aufbau des Bibel-Museums nötig gewesen waren. Ein Teil des Geldes kam von der National Christian Foundation (NFC), die vor allem Unternehmungen und Organisationen unterstützt und die alles andere als politisch neutral ist: Die Non-Profit-Organisation (die dementsprechend auch keine Steuern zahlen muss) hat allein zwischen 2015 und 2017 56,1 Millionen Dollar im Auftrag ihrer Klienten an 23 weitere Non-Profit-Organisationen gespendet, die das Southern Poverty Law Center als «Hate Groups» («Hassgruppen») definiert.[64] Da ein Teil der Spenden an das Bibel-Museum durch die NCF fließt, kann das Museum sich eine öffentliche Wohltätigkeitsorganisation nennen, was weitere steuerliche Vorteile mit sich bringt. Denn Spenden, die durch eine Organisation wie die NCF gemacht werden, gelten automatisch als «öffentliche Zuwendungen». Das Personal des Museumsvorstands besteht fast ausschließlich aus Weißen, evangelikalen Männern, darunter auch Gregory S. Baylor, der gleichzeitig für Alliance Defending Freedom (ADF) arbeitet,[65] die ebenfalls als «Hate Group» charakterisiert wird. Die ADF ist eng eingebunden in das Netzwerk aus Organisationen der Religiösen und Politischen Rechten, die vor Gericht für ihre Interessen kämpfen.[66]

Obwohl das Museum behauptet, keine besondere Religion zu bewerben, wird dort, wenn man seinem Gründer Green Glauben schenkt, eine andere Geschichte erzählt: «Unsere Religionsfreiheit und viele der Prinzipien, auf denen unsere Nation aufgebaut wurde, entstammen der Bibel.»[67] Die Eröffnungsgala des Museums, das sich als unpolitisch bezeichnet, fand im Trump Hotel in Washington statt. Geladen war das Who is Who der Religiösen Rechten. Die Preise für Tickets variierten – von 2500 Dollar für eine Einzelperson bis zu 25000 Dollar für einen Zehnertisch. Es gab exklusive Extras für Spender, die bis zu 250000 Dollar springen ließen. Gleichzeitig konnten Gäste Zimmer im Trump Hotel in Kombination mit ihren Tickets für 524 bis 5699 Dollar pro Nacht erstehen.[68]

Green hat in seinem Museum eine der größten Kollektionen von Artefakten mit angeblichem Bezug zur Bibel weltweit ausgestellt. Noch vor seiner Eröffnung hatten die Greens über 40000 biblische Ausstellungsstücke (oder was sie dafür hielten) angesammelt.[69] Das Museum ist seit seiner Gründung immer wieder in die Schlagzeilen geraten – meist, weil sich Objekte, die dort ausgestellt waren, als Fälschungen entpuppten oder weil unklar war, wem sie eigentlich gehörten. 2020 verkündete Green, dass er 11500 zuvor erstandene Exponate an den Irak und Ägypten zurückgeben werde, weil die Besitzverhältnisse nicht eindeutig geklärt seien – eine Reaktion auf die massive Kritik von Historikerinnen und Archäologen.[70]